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Der kleine Fürst
– 240 –

Ein romantisches Geheimfach

Silvia macht eine wichtige Beobachtung

Viola Maybach

Impressum:

Epub-Version © 2019 KELTER MEDIA GmbH & Co. KG, Sonninstraße 24 - 28, 20097 Hamburg. Geschäftsführer: Patrick Melchert

Originalausgabe: © KELTER MEDIA GmbH & Co.KG, Hamburg.

Internet: https://ebooks.kelter.de/

E-mail: info@keltermedia.de

Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-74095-514-4

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»Ist er nicht wunderschön?«, fragte Jeremias Wingert leise.

Er war ein feingliedriger, schmaler Mann, zu dem die großen schwieligen Hände nicht recht zu passen schienen, mit denen er jetzt behutsam über die Sprünge und Risse im Holz strich und die hier und da innehielten, als könnten sie darin lesen. Seine Haare wurden langsam grau, in seine Stirn und um die Augen herum hatten sich Falten gegraben, aber noch immer war er ein sehr attraktiver Mann, vor allem, wenn er über sein Lieblingsthema sprach, wie jetzt: Dann leuchteten seine dunklen Augen und seine Stimme bekam einen zärtlichen Unterton. Er strich über die Schnitzereien in den Türen des alten Schranks. Der Blick, mit dem er ihn betrachtete, war der Blick eines Liebenden.

Er schien nicht zu sehen, was die neben ihm stehende Silva von Staden sah, deren braune Locken um ihr hübsches Gesicht tanzten, wenn sie sich bewegte. Sie sah nichts anderes als ein abgenutztes Möbelstück, das vielleicht vor vielen Jahren einmal schön gewesen war, aber jetzt nur noch dafür taugte, an die Straße gestellt zu werden. Die Schnitzereien waren bestimmt einmal großartig gewesen, doch der Schrank an sich war nach Silvias Meinung zu nichts mehr zu gebrauchen. Die Türen hatten sich verzogen und hingen schief, von den ehemals vier Füßen des Schranks fehlten zwei, das Holz war rissig, wurmstichig, glanzlos. Der ganze Schrank bot einen jämmerlichen Anblick.

Silvia war sich über ihren zukünftigen Beruf noch nicht im Klaren. Sie hatte ein Praktikum bei einem Schreiner gemacht und studierte jetzt seit einem Jahr Kunstgeschichte. Die Arbeit in der Schreinerei hatte ihr gefallen, und doch hatte ihr etwas gefehlt. Aber auch bei ihrem Studium fehlte ihr etwas, deshalb war sie auf die Idee gekommen, ihre beiden Lieben – die Kunst und das Handwerk – miteinander zu verbinden.

Jeremias Wingert und seine Frau waren gute Freunde der Familie von Staden, und schließlich hatte sie sich ein Herz gefasst und Jeremias wegen eines Praktikums während der Semesterferien gefragt. Jeremias war ein sehr gefragter Restaurator von alten Möbeln. Er arbeitete nicht nur für Privatleute, sondern auch in Kirchen, Museen, Schlössern.

»Aber nicht, wenn du nur zusehen willst«, hatte er sofort gesagt.

»Nein, das will ich nicht, ehrlich nicht. Ich möchte möglichst viel lernen und bin froh, wenn ich etwas tun darf«, hatte sie ihm versichert.

Und nun war sie hier, seit einem Monat. Sie hatte schon sehr viel gelernt, wenn ihr auch, nach Jeremias Wingerts Ansicht, immer noch das Wichtigste fehlte: »Du musst sehen lernen, Silvia, sonst kannst du niemals in diesem Beruf arbeiten. Du musst sehen, was sein könnte, du musst dich von dem Anblick befreien, den du vor Augen hast.«

»Für mich sieht der Schrank ziemlich fertig aus«, sagte sie jetzt zögernd. »Ich weiß, was du denkst: dass ich immer noch nicht gelernt habe zu sehen, aber ich weiß einfach nicht, wie ich das machen soll. Für mich sieht der Schrank aus wie… wie ein Möbelstück, das man am besten ausrangiert.«

Er nickte, aber keineswegs, um ihr Recht zu geben, wie sie feststellte, als er ihr antwortete.

»Komm her«, sagte er. »Noch näher. So, und jetzt leg deine Hand auf diese Stelle hier. So ist es gut. Fahr über das Holz, schließ die Augen. Stell dir vor, dass das, was du fühlst, wunderschön aussieht. Lass dich nicht täuschen, von dem, was du vorher gesehen hast, sondern lass dich von deiner Fantasie leiten. Stell dir die satte Farbe des Nussbaumholzes vor, blank poliert, ohne Risse, ohne Wurmstiche. Stell dir ein schönes großes Zimmer vor, in dem der Schrank steht, vor einer schlichten Tapete. Durch eins der Fenster fällt ein bisschen Sonnenlicht, es wirft einen feinen Streifen auf den Schrank. Neben ihm hängt ein wunderschönes Gemälde, das eine blühende Wiese voller Mohnblumen zeigt. Es passt mit seinem Nussbaumrahmen perfekt zum Schrank, die Besitzer haben ihn extra anfertigen lassen, der Schrank und das Bild sind zu einer Einheit verschmolzen. Jeder, der den Raum betritt, nimmt sie so wahr.«

Er machte eine Pause, um sicherzugehen, dass sie ihm folgte.

»Aber das ist noch nicht alles«, fuhr er schließlich fort. »Die Tür zum Garten steht offen, es ist warm, von draußen weht ein Sommerduft in den Raum, in dem der Schrank steht. Die Vorhänge vor den Fenstern blähen sich im leichten Windhauch, sie haben die Farbe der Mohnblumen auf dem Bild, und so gehören auch sie dazu, ergänzen Bild und Schrank auf perfekte Art und Weise.«

Etwas Hypnotisches ging von diesen Worten aus, dem sich Silvia nicht entziehen konnte, obwohl sie es zuerst albern gefunden hatte, sich Dinge vorzustellen, die es so nicht gab. Aber dann, mit einem Schlag, geschah etwas Unerwartetes: Sie sah das Zimmer mit dem glänzend polierten Schrank und dem daneben hängenden Bild vor sich. Sie sah die sich bauschenden Vorhänge, und sie roch den Sommerduft aus dem Garten.

Sie sah sogar noch mehr, sie sah Dinge, die der Restaurator nicht erwähnt hatte: ein altes, gemütliches Sofa neben dem Schrank zum Beispiel, auf dem zwei Menschen saßen, die sich an den Händen hielten. Sie sah ein Kind von draußen hereinkommen, es hatte einen Pfirsich in der Hand, in den es gleich hineinbeißen würde. Es blieb neben dem Schrank stehen, lehnte sich leicht daran. Dem Schrank machte es nichts aus. Silvia sah das ganze Zimmer vor sich, und sie fragte sich, wie es möglich gewesen war, die Schönheit des Schranks, so wie sie sie jetzt vor Augen hatte, nicht sofort wahrzunehmen. Er brauchte Unterstützung, damit diese Schönheit wieder sichtbar werden konnte, aber dazu waren sie ja da: um ihm diese Unterstützung zuteil werden zu lassen.

Sie öffnete die Augen und stellte fest, dass Jeremias Wingerts Blick auf ihr ruhte. Er lächelte.

»Na, endlich«, sagte er. »Das wurde aber auch Zeit.«

»Wieso konnte ich das vorher nicht sehen?«, fragte Silvia. »Ich meine, jetzt sehe ich alles, was du mir eben gesagt hast, sogar jetzt noch, wo ich den Schrank wieder in seinem jetzigen Zustand vor Augen habe.«

»Man muss Vorstellungskraft entwickeln bei alten Möbeln, und man muss Dinge sehen können, die im Verborgenen liegen. Manche können das, andere können es nicht. Bei dir war ich immer sicher, dass es dir eines Tages gelingen würde. Du hast dich zu sehr an das gehalten, was du vor Augen hattest, das war der Fehler. Man muss tiefer blicken, man muss zum Kern der Dinge vorstoßen. Sieh dich doch mal in der Werkstatt um. Kein einziges Möbelstück sieht schön aus, und genau deshalb sind sie hier. Wir werden bei jedem die Schönheit wieder hervorholen.«

Noch während er den letzten Satz sagte, tauchte an der Tür zur Werkstatt ein kräftiger Mann von etwa dreißig Jahren auf: Mark Holm, Jeremias Wingerts Mitarbeiter. »Ich habe die Farbe von dem alten Tisch endlich runter, Herr Wingert«, sagte er. »Es war mehr Arbeit, als ich dachte.«

»Ich habe es befürchtet, Mark, aber ich denke immer noch, es hat sich gelohnt. Machen Sie Schluss für heute, es ist ja schon ziemlich spät, das Wochenende hat eigentlich schon angefangen.«

»Ich wollte unbedingt vorher mit dem Tisch fertig werden.«

»Komm Silvia, wir sehen uns den Tisch noch schnell an, und dann gehst du auch.«

Sie folgten Mark Holm in den Raum nebenan, wo der Tisch stand, der Mark so viel Arbeit gekostet hatte. »Jetzt sieht man erst, wie schön er einmal gewesen sein muss!«, rief Silvia.

»Wenn wir mit ihm fertig sind«, bemerkte Mark, »wird man sich um ihn reißen. Ich werde nie begreifen, wie Leute auf die Idee kommen können, so ein schönes altes Stück rosa anzumalen.«

Jeremias Wingert hatte den alten Tisch bei einem Trödler entdeckt und ihn für wenig Geld erworben: Mehrere Schichten Farbe hatten die schönen Schnitzarbeiten fast völlig verdeckt, die letzte tatsächlich rosa. Es war unglaublich aufwändig gewesen, die Schichten geduldig abzutragen, statt, wie es zum Teil immer noch gemacht wurde, den Tisch mit Hilfe eines Säurebads von der Farbe zu befreien. Das schadete dem Holz, es erholte sich von einer solchen Behandlung nie mehr.

»Gute Arbeit, Mark«, sagte Jeremias Wingert zufrieden, während seine Hände so liebevoll über die Tischplatte strichen wie zuvor über den Schrank, den er als nächstes bearbeiten würde.

Mark Holm freute sich über die Anerkennung. Er hatte ein kantiges Gesicht mit vorspringendem Kinn und kräftiger Nase. Die dunklen Haare trug er militärisch kurz, in seinem linken Ohrläppchen blitzte ein goldener Ring, aber das war die einzige Extravaganz in seinem Äußeren. Er war ein völlig anderer Typ als sein Chef, auch äußerlich, aber in ihrer Freude über eine gelungene Arbeit ähnelten sie sich.

Silvia war mit Mark Holm noch nicht richtig warm geworden. Zwar war er immer freundlich zu ihr und beantwortete ihre Fragen geduldig, aber sie wurde den Eindruck nicht los, dass er lieber allein war bei der Arbeit und sie ihn störte. So blieb sie, wenn möglich, bei Jeremias, der immer Zeit für Erklärungen zu haben schien, auch wenn die Arbeit noch so drängte.

»Bis Montag dann«, sagte Mark. »Schönes Wochenende, Herr Wingert. Dir auch, Silvia.«

»Gleichfalls, Mark.«

»Machen Sie etwas Schönes?«, fragte Jeremias.

Der junge Mann verzog das Gesicht. »Ich habe versprochen, einem Freund beim Umzug zu helfen. Die reine Freude wird das nicht, aber hinterher feiern wir sicher ein bisschen.«

»Dann viel Vergnügen.«

Als er gegangen war, sagte Jeremias: »Sonja und ich gehen in ungefähr drei Wochen zu einer Ausstellungseröffnung – es ist eine Ausstellung über antike Möbel. Wenn du mitgehen möchtest? Wir haben Einladungen bekommen und dürfen einen Gast mitbringen. Ich dachte, das könnte dich interessieren.«

»Da fragst du noch?«, rief Silvia. »Natürlich würde ich gern mitkommen, das kannst du dir doch denken!«

»Gut, dann sage ich Sonja Bescheid. Den genauen Termin weiß ich nicht auswendig, aber es ist ja noch ein bisschen Zeit bis dahin.«

»Danke«, sagte Silvia. Sie gab ihm einen Kuss auf die Wange. »Ich habe vielleicht ein Glück, dass ich bei dir mein Praktikum machen kann! Ich lerne so viel, ich habe Spaß, und jetzt nehmt ihr mich auch noch zu so einer Veranstaltung mit.«

Er lächelte nur, aber sie sah ihm an, dass er sich über ihre Worte freute. Eine Viertelstunde später verabschiedete sie sich von ihm. Wie üblich würde er die Werkstatt erst später verlassen. Er arbeitete gern noch eine Stunde oder auch länger allein.

»Ich höre dann ganz laut klassische Musik«, hatte er einmal erzählt, »und dabei bereite ich mich allmählich auf den Feierabend vor. Sonja kennt das schon, sie hat längst aufgehört, darüber zu schimpfen, dass ich immer so spät nach Hause komme, weil ich nämlich nur dann gute Laune habe, wenn ich noch eine Weile mit den alten Sachen allein war und mir in Ruhe vorgestellt habe, wie die Arbeit am nächsten Tag fortsetzen werde.«

Silvia war glücklich an diesem Abend, ohne Einschränkung. Zum ersten Mal war es ihr gelungen, ›zu sehen‹. Es war ein großartiges Erlebnis gewesen.

*

»Raus aus meiner Küche!«, rief Marie-Luise Falkner, die begabte junge Köchin im Sternberger Schloss. »Du hast jetzt schon drei Mal geniest, Jannik, du bist erkältet. Hüte dich, hier deine Bazillen zu verbreiten.«