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Sophienlust
– 296 –

Sie waren der Tante lästig

Kinder brauchen Geborgenheit!

Marisa Frank

Impressum:

Epub-Version © 2019 KELTER MEDIA GmbH & Co. KG, Sonninstraße 24 - 28, 20097 Hamburg. Geschäftsführer: Patrick Melchert

Originalausgabe: © KELTER MEDIA GmbH & Co.KG, Hamburg.

Internet: https://ebooks.kelter.de/

E-mail: info@keltermedia.de

Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-74095-530-4

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»Mutti, hier ist eine Eisdiele.« Henrik wollte über die Straße stürmen, doch Denise von Schoeneckers Hand hielt ihn gerade noch rechtzeitig fest.

»Moment, mein Sohn. Wir sind doch in die Stadt hereingefahren, um Einkäufe zu machen. Wir wollten vor allem Geschenke kaufen. Zwei unserer Kinder haben nächste Woche Geburtstag.«

Henrik seufzte laut und deutlich. »Du hast recht«, gestand er dann. Kurz fixierte er seine Schuhspitzen, dann hob er wieder entschlossen den Kopf und fragte: »Ich war doch brav, nicht wahr? Kein Wort habe ich gesprochen, als du deinen Besuch gemacht hast.« Seine grauen Augen forschten erwartungsvoll im Gesicht der Mutter.

Denise von Schoenecker, die Verwalterin des Kinderheims Sophienlust, strich ihrem Jüngsten über den widerspenstigen Haarschopf. Sie lächelte. »Ich kann nicht sagen, daß du kein Wort gesprochen hast, aber du hast ausnahmsweise einmal nicht zuviel gesprochen.«

Zuerst sah es so aus, als wollte sich das Gesicht des Neunjährigen beleidigt verziehen, doch dann besann sich der Junge eines Besseren. Er frohlockte: »Also, gib schon zu, daß ich brav war.«

Denise nickte.

»Und weißt du, was du mir versprochen hast, wenn ich mich gesittet benehme?« trumpfte Henrik auf.

»Ein Eis.« Jetzt konnte Denise ein Lächeln nicht mehr unterdrücken. »Du siehst, ich habe es nicht vergessen. Nur, die Eisdiele läuft uns nicht davon. Zuerst wird eingekauft.«

»Die Geschenke...«

Henrik unterbrach sich selbst. Er hatte sagen wollen, die Geschenke laufen uns auch nicht davon. Aber er sah ein, daß das nicht passend war. Seine Mutter hielt ein einmal gegebenes Versprechen immer.

Begeistert war Henrik dann dabei, als seine Mutter die Geschenke aussuchte. Er sparte auch nicht mit Ratschlägen, und Denise ließ ihn gewähren. Sie fand, Henrik war in der letzten Stunde wirklich sehr ruhig gewesen. Sie hatte einen ehemaligen Schützling aufgesucht und sich davon überzeugt, daß es diesem Kind gut ging.

»Mutti, sieh nur! Das wäre ein schönes Geschenk! Darüber würde Rosemarie sich sicher freuen.« Henrik zeigte zu einem Regal hinüber. Da er keine Antwort bekam, sah er seine Mutter an. »Du hast mir überhaupt nicht zugehört«, maulte er. »Woran denkst du denn?«

»An Karin, die wir soeben besucht haben«, gab Denise Auskunft.

»Bei der ist doch alles in Ordnung. Du hast schon die richtigen Adoptiveltern für sie ausgesucht. Na ja, das machst du ja immer. Für so etwas hast du eine Nase.« Damit war der Fall für Henrik erledigt. Er ergriff die Hand seiner Mutter und zog sie zum Regal.

Denise hörte ihm nur mit halbem Ohr zu. Sie dachte zwar nicht mehr an Karin, die tatsächlich liebevolle Adoptiveltern bekommen hatte, sondern an die anderen Kinder. Es gab noch viele Kinder, die Hilfe brauchten, die durch irgendein Unglück ihre Eltern verloren hatten. Solcher Kinder wegen verwaltete sie das Kinderheim Sophienlust. Sie tat viel für diese Kinder. Nicht umsonst wurde Sophienlust das Heim der glücklichen Kinder genannt.

Wenig später standen Mutter und Sohn wieder auf der Straße. Sie hielten einige Pakete in den Händen. Henrik strahlte über das ganze Gesicht. Er war mit den Einkäufen sehr zufrieden.

»Mutti, du mußt Rosemarie aber sagen, daß ich das Geschenk für sie ausgesucht habe«, forderte er. Dann sah er über die Straße. Sein Blick fiel wieder auf die Eisdiele, so daß er die Antwort seiner Mutter nicht abwarten konnte. »Jetzt bekomme ich aber ein Eis. Ein riesengroßes«, erklärte er.

»Natürlich! Aber wollten wir nicht auch noch hinauf zur Festung Marienberg gehen?« warf Denise ein.

»Festung?« Henrik überlegte. Dann schüttelte er entschieden den Kopf. »Das Eis geht vor. Danach können wir noch einmal darüber reden.«

»Na gut!« Denise lächelte. Sie wollte Henrik wieder über das Haar streichen, doch der Junge tauchte unter ihrer Hand hinweg.

»Zuerst das Eis«, erklärte er hoheitsvoll.

Denise hatte nichts dagegen. Sie überquerte mit Henrik die Straße und betrat die Eisdiele.

Henrik entdeckte als erster den freien Tisch und steuerte sofort darauf zu.

»Ist hier frei?« fragte er höflich zum Nebentisch hin. Dort saßen drei Frauen und zwei Kinder.

»Das siehst du doch«, sagte die eine der Frauen kurz, um dann das Mädchen, das verschüchtert am Tisch saß, anzuschnauzen: »Sitz gerade! Man muß sich ja mit dir schämen.«

Henrik schüttelte den Kopf und drehte sich zu seiner Mutter um. In seinem Gesicht war deutlich zu lesen, was er dachte.

Auch als ein großes Eis vor ihm stand, schielte er noch immer zum Nebentisch hinüber.

Die zwei Kinder hatten sein Interesse geweckt. Sie saßen so ruhig auf ihren Stühlen, und trotzdem konnten sie der einen Frau nichts recht machen. Immer wieder hatte sie etwas an ihnen auszusetzen.

Denise deutete Henriks Blick richtig, denn der Junge rutschte bereits unruhig auf dem Stuhl hin und her. Deshalb mahnte sie: »Iß dein Eis.«

»Mutti.« Henrik beugte sich zu seiner Mutter hinüber. Seine Augen blitzten vor Empörung. »Hast du das gehört?«

»Henrik, es geht uns nichts an.«

»Aber das Mädchen ist in meinem Alter. Warum läßt es sich das alles gefallen?« Verächtlich stieß er die Luft aus. »So stelle ich mir eine böse Stiefmutter vor.«

In diesem Moment fiel am Nebentisch etwas klirrend zu Boden. Henrik sah hin.

Es war ein Löffel heruntergefallen. Offensichtlich war er dem Mädchen aus der Hand gefallen.

Die Frau fuhr wie eine Furie hoch. »Na, was sage ich?« kreischte sie. »Mit diesen Kindern kann man nicht einmal in ein Café gehen. Sie haben nicht die geringste Erziehung.« Drohend hob sie die Hand.

Da glitt der Junge, er mochte etwa ein Jahr jünger sein als das Mädchen, vom Stuhl. Mit ausgebreiteten Armen stellte er sich vor seine Schwester. »Das hat sie doch nicht absichtlich gemacht, Tante.«

»Der Junge hat Mut«, flüsterte Henrik anerkennend.

»Na, na«, meinte eine der anderen Damen begütigend.

Da seufzte die Frau, die der Junge mit Tante angesprochen hatte, schwer. »Ihr habt ja keine Ahnung! Aber was sollte ich machen? Ich mußte die beiden ja bei mir aufnehmen. Ich gebe mir solche Mühe mit ihnen, aber noch immer können sie nicht verleugnen, daß sie auf dem Land aufgewachsen sind.« Sie seufzte und setzte sich wieder. Dann sah sie den Jungen an und fragte tadelnd: »Götz, warum stehst du noch? Setz dich doch wieder!«

Der Junge ging zu seinem Stuhl zurück.

Henrik hatte jetzt nur noch Augen und Ohren für den Nebentisch. »Sie ist also die Tante«, stellte er murmelnd fest.

»Ich weiß nicht, was du hast. Es sind doch wirklich nette Kinder«, sagte jetzt die zweite der drei Frauen vom Nebentisch. Sie wandte sich an die Kinder. »Möchtet ihr noch etwas haben? Ein Stück Torte vielleicht?«

Henrik sah genau, daß der Junge bereits den Mund öffnete, um das Angebot erfreut anzunehmen, doch dann schloß er ihn wieder und schüttelte stumm den Kopf. Seine Tante hatte ihn durchdringend angeblickt.

»Man sagt: danke nein«, belehrte die Tante nun den Jungen ziemlich barsch.

Henrik flüsterte wieder seiner Mutter zu: »Die ist schlimmer als eine Stiefmutter. Ihr gehört der Hals umgedreht.«

»Henrik!«

Aber der Neunjährige ließ sich nicht mehr stoppen. Er fuhr fort: »Schade, daß man so eine Frau nur im Märchen auf glühenden Kohlen tanzen lassen kann.«

»Iß auf, damit wir gehen können«, mahnte Denise. Sie fand, Henrik sollte seine Meinung erst außerhalb der Eisdiele kundtun.

Gehorsam begann Henrik zu löffeln. Das Eis schmeckte köstlich, aber er wurde schon wieder abgelenkt. Die Tante der Kinder hatte eine sehr schrille Stimme, und so konnte er jedes Wort verstehen, das sie sagte.

»Ich weiß nicht mehr, was ich tun soll. Das Mädchen ist schon neun Jahre alt, aber zu rein gar nichts zu gebrauchen. Drücke ich ihr das Geschirrtuch in die Hand, gibt es sicher Scherben. Beim Staubwischen geht es nicht viel besser. Als ich in ihrem Alter war, habe ich meiner Mutter schon fest in der Küche geholfen. Meine Schwester, Gott hab sie selig, könnte das bestätigen.« Sie sprach völlig ungeniert in Gegenwart der Kinder.

Henrik biß die Zähne zusammen. Er sah, daß das Mädchen den Kopf senkte. Es schämte sich. Er sah aber auch, daß der Junge, den die Frau Götz genannt hatte, seiner Schwester liebevoll die Hand auf den Arm legte und ihr etwas zuflüsterte.

Das hatte aber auch die Frau gesehen. Sofort fuhr sie die beiden Kinder an: »Was gibt es da zu flüstern? Ich sage ja, ein Benehmen haben die beiden... Keine Sekunde können sie ruhig sitzen. Ich wage mich mit ihnen kaum noch auf die Straße.«

»Ich finde, da übertreiben Sie«, sagte die Frau, die neben dem Jungen saß. »Die Kinder haben sich während der ganzen Zeit kaum gerührt.«

»Da sieht man wieder einmal, wie wenig Sie von Kindern verstehen. Götz und Elke brauchen eine strenge Hand. Leider muß ich zugeben, daß meine Schwester hier etwas versäumt hat. Das muß nachgeholt werden. Wir suchen bereits seit drei Monaten nach einem Kinderheim. Natürlich darf es nicht das erstbeste sein.«

»Hast du das gehört, Mutti?« rief Henrik eine Spur zu laut. Die Blicke vom Nebentisch wandten sich ihm dadurch zu.

»Meine Mutti verwaltet ein Kinderheim. Sie verwaltet es für meinen großen Bruder.« Henrik war jetzt in seinem Element. Er glitt vom Stuhl und trat an den Nebentisch. »Es ist das beste Kinderheim, das es überhaupt gibt. Es heißt Sophienlust, aber man nennt es auch das Heim der glücklichen Kinder.« Er sah die Tante der Kinder an. »Sagt das nicht genug?«

»Nun hör mal«, begann die Frau empört. »Was fällt dir denn ein? Wie kannst du dich einfach in unser Gespräch einmischen? Ich sage es ja, die heutige Erziehung! Zu meiner Zeit wäre so etwas undenkbar gewesen.«

Henrik lief rot an. »Verzeihung.« Er machte eine exakte Verbeugung und fuhr fort: »Ich vergaß mich vorzustellen. Mein Name ist Henrik von Schoenecker.« Dann sah er sich jedoch hilfesuchend nach seiner Mutter um.

Denise hatte sich nun ebenfalls erhoben. »Sie haben recht. Mein Sohn war etwas vorlaut, aber nachdem von einem Kinderheim die Rede war...« Sie lächelte verbindlich, stellte sich danach ebenfalls vor und erzählte von Sophienlust.

»Das ist aber interessant.« Die Frau beugte sich etwas vor. »Das Kinderheim liegt, wie Sie sagen, im Süden, und die Kinder hätten dort die Möglichkeit, die Schule zu besuchen. Bitte, setzen Sie sich. Sie müssen mir mehr von diesem Heim erzählen.« Plötzlich war sie die Liebenswürdigkeit in Person. Sie rückte einen Stuhl zurecht und bot Denise etwas zu trinken an.

Während Denise sich setzte, wandte Henrik sich unbefangen an die Kinder. »Ich bin der Henrik. Wie heißt ihr?«

»Götz und Elke«, sagte der Junge leise. Er schielte zu seiner Tante hin­über und schien es nicht so recht zu wagen, Henriks dargebotene Hand zu ergreifen.

Die Frau erkannte nun, daß sie sich ihrerseits noch nicht vorgestellt hatte. »Na, Kinder, steht auf«, sagte sie in gönnerhaftem Ton, »und macht einen Diener. Das sind Götz und Elke Schröder«, fügte sie, zu Denise gewandt, hinzu. »Es sind die Kinder meiner verstorbenen Schwester. Mein Name ist Wiedmann. Hedwig Wiedmann. Mein Mann ist Postangestellter.« Sie wollte schon wieder über die Familie ihrer Schwester herziehen, da fiel ihr ein, daß sie die beiden anderen Damen, die ebenfalls am Tisch saßen, noch nicht vorgestellt hatte. Mit einem freundlichen Lä­cheln holte sie es nach.

*

Die fünfzehnjährige Irmela Groote war auf der Suche nach Denise von Schoenecker. Mit langen Schritten eilte sie durch den großen Park, in dem das Kinderheim Sophienlust stand.

Das große Mädchen mit den langen blonden Haaren gehörte auch zu den Schützlingen von Sophienlust. Es wollte in Deutschland die Schulzeit beenden und nicht in Indien. Dort lebte die Mutter, die nach dem Tod des Vaters ein zweites Mal geheiratet hatte.

Nun verhielt Irmela ihren Schritt. Wo sollte sie die geliebte Tante Isi, so wurde Denise von Schoenecker von den Kindern liebevoll genannt, suchen?

Da klangen fröhliche Stimmen zu ihr herüber. Irmela lächelte. Die Kinder tummelten sich also auf der Spielwiese. Sicher war Tante Isi in deren Nähe. Sie wußte immer die schönsten Spiele, und wenn sie dann auch noch selbst mitspielte, kannte die Begeisterung der Kinder keine Grenzen mehr.

Irmela folgte den übermütigen Stimmen und trat kurz darauf unter den großen, alten Bäumen hervor. Sie hatte sich nicht geirrt. Denise von Schoenecker befand sich mitten unter den Kindern.

Heidi, das jüngste Dauerkind von Sophienlust, entdeckte die Fünfzehnjährige zuerst. »Du, ich glaube, da will uns jemand stören«, sagte sie und zog an Denises Hand. Dabei warf sie Irmela einen bitterbösen Blick zu, obwohl sie das große Mädchen eigentlich sehr gern mochte. Sie fand, Irmela konnte so schöne Geschichten von Indien erzählen. Trotzdem fuhr sie sie jetzt ärgerlich an: »Merkst du nicht, daß du störst?«

»Es tut mir leid.« Irmela wandte sich an Denise von Schoenecker. »Besuch für dich, Tante Isi.«

»Nein«, empörte sich nun auch Henrik. »Mutti empfängt jetzt niemanden mehr. Ich bin doch schon hier, um sie abzuholen. Mutti fährt mit mir nach Schoeneich.«

»Ja, eigentlich wollte ich heute früher Feierabend machen«, stimmte Denise ihm zu.

Gut Schoeneich, der Stammsitz der Familie von Schoenecker, lag nicht allzu weit von Sophienlust entfernt. So konnten auch Henrik und Nick, dessen eigentlicher Name Dominik von Wellentin-Schoenecker war, viel Zeit in Sophienlust verbringen.

»Ich kann ja sagen, daß ich dich nicht gefunden habe«, schlug Irmela vor.

»Ja, das mußt du machen.« Henrik nickte anerkennend. »Wenn es wichtig ist, dann soll der Besuch morgen wiederkommen.«

»Dann können wir ja weiterspielen«, sagte auch Heidi zufrieden. Sie nahm den Gummiball auf und warf ihn Denise zu.

Denise fing den Ball auf und meinte danach: »Es ist sicher besser, wenn ich schnell nachsehen gehe. Irmela kann ja für mich inzwischen weiterspielen.« Sie warf dem großen Mädchen den Ball zu.

»Aber du mußt den Besuch wegschicken«, forderte Henrik, um gleich darauf Irmela zu fragen: »Wer ist es denn?«

»Eine Frau mit zwei Kindern. Ich habe sie bei uns noch nie gesehen.«

»Dann hat es sicher Zeit bis morgen. Mutti, laß dich ja nicht um den Finger wickeln. Vielleicht ist es doch besser, wenn ich mitgehe. Ich sage der Frau, daß du für heute schon genug gearbeitet hast. Wie heißt die Frau?«

»Wiedmann. Sie hat gesagt, sie kennt Tante Isi persönlich.«

»Wiedmann! Mutti, ich glaube, ich werde verrückt!« Ungestüm wirbelte Henrik zu seiner Mutter herum. »Das muß die fürchterliche Tante von gestern sein. Und Götz und Elke sind dabei.« Henrik machte einen Luftsprung. »Da haben wir natürlich Zeit.« Schon schoß er davon und war gleich darauf verschwunden.

*

Regine Nielsen von allen nur Schwester Regine genannt, war Kinder- und Krankenschwester im Kinderheim Sophienlust. Sie hatte Frau Wiedmann begrüßt und sie gebeten, in der Nähe des offenen Kamins Platz zu nehmen.