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Der neue Dr. Laurin
– 7 –

Das Findelkind

Der kleine Moritz lässt Isabellas Herz höher schlagen

Viola Maybach

Impressum:

Epub-Version © 2020 KELTER MEDIA GmbH & Co. KG, Sonninstraße 24 - 28, 20097 Hamburg. Geschäftsführer: Patrick Melchert

Originalausgabe: © KELTER MEDIA GmbH & Co.KG, Hamburg.

Internet: https://ebooks.kelter.de/

E-mail: info@keltermedia.de

Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-74095-515-1

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Kristin Cornelius entschied sich innerhalb von Sekunden. Sie wusste es einfach: Diese blonde Frau mit den freundlichen blauen Augen und ihr Mann mit dem netten Lächeln waren die Richtigen. Sie war ja schon länger auf der Suche, aber bisher war der Funke nicht ein einziges Mal übergesprungen. Schon mehrmals war sie nahe dran gewesen, aber etwas hatte dann doch immer gefehlt. Nicht so dieses Mal. Sie war ihrer Sache sicher. So sicher, wie ein Mensch nur sein konnte. Nun mussten nur die Umstände noch passen …

Sie folgte dem verliebten Paar unauffällig. Darin hatte sie es in den vergangenen Wochen zur Meisterschaft gebracht. Sie wusste, wie man Leute so verfolgte, dass sie es nicht bemerkten. Sie konnte natürlich Pech haben: Wenn die beiden Touristen waren und in einem Hotel verschwanden, würde das ganze Unternehmen eine sehr aufwändige Sache werden. Aber sie vertraute auf ihr Glück. Bisher war es nicht gerade auf ihrer Seite gewesen, aber irgendwann war sie schließlich auch mal an der Reihe mit dem Glückhaben.

Die beiden blieben immer wieder stehen, um sich zu küssen, bevor sie eng umschlungen weitergingen. So hätte es bei ihr und Wolle auch sein sollen. Wolle hieß eigentlich Wolfgang, weil sein Vater ein großer Fan von Mozart war. Wolle hingegen konnte mit Mozart nichts anfangen, und er hasste seinen Namen, weil er ihn altmodisch fand. Kristin fand ihn eigentlich, schön, aber in dem Punkt ließ Wolle nicht mit sich reden.

Er würde froh sein, wenn sie ihm sagte, dass sie die Richtigen gefunden hatte. Es war eher ihr Plan gewesen, er hatte ihn am Anfang nicht gut gefunden. Aber sie hatte ihn schließlich überzeugen können, dass es anders nicht ging. Letzten Endes, schätzte sie, war er er­leichtert gewesen. Denn ohne ihren Plan – wie sähe es jetzt für sie beide aus? Ziemlich düster, so viel stand mal fest.

Die beiden vor ihr blieben vor einem hübschen Einfamilienhaus stehen. Kristin wagte nicht, an ihr Glück zu glauben. Wenn sie hier wohnten … Das wäre ja wie ein Geschenk des Himmels! Nicht zu nah und nicht zu weit weg – jedenfalls wie sie und Wolle im Südwesten von München.

Der Mann blieb stehen und holte einen Schlüssel aus der Tasche, aber bevor er die Haustür öffnete, küsste er seine Frau noch einmal.

»Jetzt mach schon!«, hörte Kristin sie lachend sagen, als ihr Mann sie wieder freigab. »Sonst sterben wir beide noch vor Hunger!«

Er lachte auch, gleich darauf verschwanden beide im Haus.

Kristin verlangsamte ihre Schritte. Das Haus war nicht sehr groß und schon etwas älter. Es sah gepflegt und gemütlich aus. Ihr gefiel, was sie von hier aus vom Garten sehen konnte: Der sah ein bisschen wild aus, sie fand das schöner als schnurgerade eingefasste Beete und akkurat geschnittene Rasenflächen. Kinder hatten die beiden offenbar noch nicht, sie waren ja auch noch ziemlich jung.

Kurz blieb sie stehen, um den Namen zu lesen, der über dem Briefkasten stand, dann schlenderte sie weiter. Ihr war plötzlich ganz leicht ums Herz. Endlich kamen die Dinge ins Rollen. Natürlich mussten Wolle und sie mit den Leuten reden und sie überzeugen, aber das traute sie sich zu. Wenn sie etwas wirklich wollte, konnte sie sehr überzeugend sein – und das hier, das wollte sie wirklich!

Plötzlich fiel ihr ein, dass sie ja noch einen Termin hatte an diesem Nachmittag. Ein Blick auf ihre Uhr sagte ihr, dass sie es gerade noch rechtzeitig zur Kayser-Klinik schaffen konnte, wenn sie sich beeilte.

Sie kam drei Minuten zu spät, aber niemand schimpfte mit ihr. Moni Hillenberg, die nette Sekretärin, zwinkerte ihr sogar zu. »Du kannst gleich reingehen, Kristin, Herr Dr. Laurin kommt sofort.«

Sie betrat also das Sprechzimmer des Klinikchefs und setzte sich auf den Stuhl vor seinem Schreibtisch. Dr. Laurin war Gynäkologe und Chirurg – er hatte ihr bei einem ihrer letzten Besuche erzählt, dass es ganz schön anstrengend gewesen war, auch noch den zweiten Facharzt zu machen, aber er hätte sich einfach nicht entscheiden können zwischen den beiden Fachgebieten. »Ich habe es nun einmal gern mit neuem Leben zu tun, aber ich stehe auch gern im Operationssaal. Also mache ich jetzt beides, und es gefällt mir immer noch.«

Dr. Laurin war ein toller Typ. So einer hätte ihr auch gefallen können, aber natürlich war er viel zu alt für sie. Er sah gut aus, und sie war davon überzeugt, dass sich viele seiner Patientinnen sofort in ihn verliebten. Aber sie hatte einmal seine Frau gesehen, und die war eine richtige Schönheit. Da wäre ja Herr Dr. Laurin schön dumm gewesen, mit einer seiner Patientinnen etwas anzufangen. Bestimmt hätte seine Frau ihn dann sofort verlassen, und das konnte er nicht wollen.

Ihr gefiel an ihm, dass er noch nie versucht hatte, ihr etwas vorzumachen und dass sie sich auf das, was er sagte, verlassen konnte. Als sie vor ein paar Monaten in seiner Sprechstunde gelandet war, hatte er schon schlucken müssen, das hatte sie ihm ansehen können. Aber er hatte sie sofort als Patientin angenommen und es schließlich sogar akzeptiert, als sie ihm erklärt hatte, warum sie ›diese Sache‹ ohne ihre Eltern zu regeln gedachte.

»Hallo, Kristin«, sagte er in diesem Augenblick. Sie hatte ihn gebeten, sie zu duzen, damit fühlte sie sich wohler. Sie war schließlich gerade erst sechzehn geworden. »Wie geht’s dir?«

»Gut, und wie geht’s Ihnen?«

Er lachte. »Es gibt nicht viele Patientinnen, die sich danach erkundigten. Also, mir geht es auch gut. Irre ich mich oder ist heute ein besonders guter Tag für dich?«

»Ich habe Eltern für Moritz gefunden«, antwortete Kristin. »Sie wohnen nicht allzu weit weg und als ich sie gesehen habe, wusste ich gleich, dass sie die Richtigen sind.«

Moritz war das Kind, das sie erwartete, Dr. Laurin hatte ihr gesagt, dass es ein Junge sein würde. Wolle und sie hatten den Namen ›Moritz‹ gemeinsam ausgesucht.

»Kristin, Kristin, du weißt, was ich davon halte«, seufzte Dr. Laurin.

Sie grinste ihn an. »Sie können mir ruhig vertrauen, ich irre mich nicht, Herr Dr. Laurin.«

»Ich glaube dir sofort, dass die Leute sympathisch und liebenswürdig sind, aber das heißt noch lange nicht, dass sie ein Kind adoptieren würden. Die meisten jungen Paare wollen eigene Kinder haben.«

»Weiß ich«, erklärte Kristin ungerührt, »aber wenn sie Moritz sehen, werden sie ihn sofort ins Herz schließen.«

»Und wenn nicht? Nein, nein, wisch diese Frage nicht gleich beiseite, sondern zwing dich mal, ernsthaft darüber nachzudenken. Was machst du, wenn sie ihn nicht haben wollen? Du musst über diese Möglichkeit wenigstens nachdenken!«

»Tu ich ja«, behauptete Kristin. »Und ich gucke mir die Leute ja noch ein paar Mal an, bevor ich mich festlege. Wenn sie ihn wirklich nicht wollen …« Sie zog die Stirn in Falten, plötzlich war ihre gute Laune wie weggeblasen. Das passierte immer, wenn Herr Dr. Laurin sie zwang, über Dinge nachzudenken, die für sie längst klar waren. Sie verstand nicht, warum er immer wieder davon anfing, dass ihr Plan vielleicht fehlschlagen könnte. Wieso hatte er so wenig Vertrauen?

»Kristin!« Seine Stimme klang jetzt ganz sanft. »Ich will dir doch keine Angst machen, sondern dich nur auf den Fall vorbereiten, dass nicht alles so läuft, wie du es dir jetzt vorstellst. Du kannst nicht einfach davon ausgehen, dass andere deine Wünsche teilen. Für dich wäre es schön, wenn du dir die Eltern für deinen Sohn aussuchen könntest – aber dieses junge Paar hat vielleicht völlig andere Vorstellungen von seiner Zukunft. Das musst du einfach bedenken.«

»Dann suche ich noch zwei andere Paare aus«, sagte sie trotzig. »Falls es nicht klappt, nehme ich eins von denen. Und wenn Sie unbedingt wollen, rede ich vorher mit ihnen, dann wissen wir schon vor der Geburt, ob sie einverstanden sind oder nicht.«

Sie sah ihm an, dass er noch immer nicht ganz zufrieden war, aber er widersprach nicht, und darüber war sie froh. Erwachsene konnten schrecklich anstrengend sein mit ihren ständigen Diskussionen.

»Du solltest unbedingt mit den Leuten reden, bevor es so weit ist«, sagte er nur. »Und jetzt untersuche ich dich erst einmal, einverstanden?«

Sie nickte.

Er zeigte ihr Moritz im Ultraschall, und sie konnte nur staunen, wie groß er jetzt schon war, und wie gemütlich er es sich in ihrem Bauch gemacht hatte.

»Das hier ist sein Herz«, sagte Dr. Laurin. »Siehst du es?«

Sie nickte, dann wandte sie den Kopf ab. »Mehr möchte ich nicht sehen«, sagte sie, »sonst verliebe ich mich in ihn und kann ihn dann nicht mehr weggeben. Wir sind aber noch zu jung, Wolle und ich, um gute Eltern zu sein. Wolle ist ja noch ein halbes Jahr jünger als ich, er ist noch nicht mal sechzehn. Das ist einfach zu früh.«

»Und deine Eltern? Wie gehen die jetzt damit um?«

Kristin zuckte mit den Schultern. »Die halten sich raus. Meine sowieso, weil sie wissen, dass ich mir von ihnen nichts sagen lasse, und Wolles Eltern sind auch froh, dass wir uns selbst um alles kümmern. Seine Mutter hat ja beinahe einen Herzinfarkt bekommen, als sie gehört hat, dass ich schwanger bin. Aber jetzt lassen sie uns in Ruhe, weil sie sehen, dass alles läuft.«

Leon Laurin schwieg und behielt für sich, was er über Eltern dachte, die froh darüber waren, wenn ihre Teenager-Kinder sich in einer Situation, die ein Leben aus der Bahn werfen konnte, ›selbst um alles kümmerten‹. Er hatte darauf bestanden, zumindest Kristins Eltern kennenzulernen, aber schnell begriffen, dass von ihnen keine Hilfe oder Unterstützung zu erwarten war. Allerdings auch kein Widerstand. Es war ihm ein Rätsel, wie dieses träge, übergewichtige Paar eine Tochter wie Kristin hatte bekommen können. Eine Patientin wie sie hatte er noch nie gehabt, und bei jedem ihrer Besuche erhielt er neue Einblicke in eine Lebenswelt, die von seiner eigenen meilenweit entfernt war.

Kristin war so alt wie seine ältere Tochter Kaja. Er hatte keine Vorstellung, wie Kaja reagiert hätte, wäre sie in Kristins Situation geraten. Nur eins wusste er: Sie hätte nicht so energisch, so kreativ und vor allem selbstständig wie Kristin nach einer in ihren Augen guten Lösung gesucht.

Nach der Untersuchung sagte er: »Alles in Ordnung mit euch beiden, Kristin. Vier Wochen bleiben dir noch, um mit den Eltern für Moritz, die du dir ausgesucht hast, ein Gespräch zu führen.« Er stockte kurz, bevor er hinzusetzte: »Wenn du dabei Hilfe brauchst …«

Ihr Augen wurden groß. Kristin war ein hübsches Mädchen mit dunkelbraunen Locken, ebenfalls braunen Augen und einer niedlichen Stupsnase. »Wollen Sie mir etwa helfen?«

»Mir wäre wohler bei dem Gedanken, dass du das nicht alles allein machst. Vier Augen sehen mehr als zwei – das hast du doch bestimmt schon einmal gehört? Und wenn dieses junge Paar vielleicht doch nicht geeignet wäre, um die Eltern von Moritz zu werden, würde es jemand mit mehr Lebenserfahrung vielleicht eher als du sehen.«

»Ich mache es lieber allein!«, erklärte Kristin nicht zum ersten Mal. »Sie wissen doch, welche Erfahrungen ich mit Erwachsenen gemacht habe. Vielen Dank auch, bei mir weiß ich wenigstens, woran ich bin.«

Er hatte keine andere Antwort erwartet, und so nickte er nur. Kristin Cornelius entwickelte sich immer mehr zu einer echten Herausforderung für ihn.

*

»Du schwärmst ja richtig von dem Jungen«, stellte Oliver Heerfeld mit einem Lächeln fest.