Back to Wonderland

Back to Wonderland

Hinter dem Schleier

Elke Aybar

Drachenmond Verlag

Für Berkman

love of my life

Inhalt

1. Ein für Alice bedeutsames Ereignis in der Zukunft, bei dem sie nicht dabei ist

2. Brandgefahr

3. Essig für das Eichhörnchen

4. Der Klang von Regen

5. Wer fährt schon einen verdammten Leichenwagen?

6. Sehr spontan und ohne Ring

7. Du sollst keinen Tee von Fremden trinken

8. Nie hat man Mondlicht, wenn man es braucht

9. Schafblöken

10. Zweimal öffnet sich die Tür

11. Drachenflug bei schlechtem Wetter und noch schlechterer Laune

12. (Nicht)willkommen im neuen Heim

13. Der Duft von Haferkeksen

14. Malena

15. Das neue England wird Alltag

16. Gespräch im Herrensalon

17. Im Eisloch

18. Zwei Stunden früher - Alice

19. Alice

20. Ein vager Plan nimmt Gestalt an

21. Fran

22. Gespräch mit Adlon

23. Santinas Magie

24. Balancieren auf einem vereisten Seil

25. Annäherung

Lust auf mehr?

1

Ein für Alice bedeutsames Ereignis in der Zukunft, bei dem sie nicht dabei ist

Myrkur war ein notorischer Lügner und die erste Lüge war sein Geruch. Daran dachte ich, als ich seine Höhle betrat. Es roch nach Heu und herben Kräutern. Fast konnte man glauben, über eine Blumenwiese im Spätsommer zu spazieren. Es war der ureigene Duft des Drachen, seine Tarnung, seine Version von einem guten Witz. Nicht nur einmal hatte ich beobachtet, wie Lämmer direkt unter seiner Nase friedlich weideten. Myrkur kauerte unterdessen geduldig über ihnen, seinen Wohlgeruch verströmend, mit einem gierigen Ausdruck in den Augen. Er wartete, bis ihre Mägen mit Gras und Blumen gefüllt waren. Danach senkte er das gewaltige Haupt, öffnete das Maul und gab ihnen einen ersten gehauchten Vorgeschmack auf den Geruch der Verwesung. Schlagartig wurden sie unruhig, doch es war zu spät. Der Drache rupfte sie ebenso beiläufig von der Wiese, wie die Mädchen meiner Heimat Gänseblümchen für ihre Blumenkrone pflückten. Die Lämmer starben einen grausamen Tod. Myrkur stopfte sich ein paar Exemplare in seine Backentaschen und wartete, bis sein Speichel sie halb zersetzt hatte, ehe er zu kauen anfing. Eine Notwendigkeit, wie er behauptete; seinem empfindlichen Magen geschuldet, da sie auf diese Weise bekömmlicher würden. War er sich im Klaren darüber, dass er das Leid der Tiere mit dieser barbarischen Praktik vervielfachte? Vermutlich. Er musste ihr dünnes, angstvolles Blöken hören, musste spüren, wie sich winzige Hufe im Todeskampf in seine Wange bohrten. Nervöser Magen hin oder her, ein Gefühl sagte mir, dass er ihre Qual genoss und ich vielleicht bald auch, falls mein Plan aufgehen sollte.

Ich blieb stehen, atmete schwer in der Dunkelheit. Meine Hände ballten sich zu Fäusten. Ich spürte, wie meine Fingernägel sich in die Handballen gruben. Der Schmerz war mir willkommen. Ich war konditioniert darauf, mit geschärften Sinnen auf ihn zu reagieren, und nie zuvor in meinem Leben hatte ich einen wachen Verstand mehr gebraucht, als in diesem Moment. Mein Plan sah vor, dass ich meinen Geist mit Myrkurs Geist verschmelzen würde. Freiwillig. Schlimmer noch, denn ich hatte Myrkur hierzu erst überreden müssen, hatte ihm ein Versprechen gegeben. In der Höhle war es stockfinster. Unter meinen bloßen Fußsohlen spürte ich die Glätte der kostbaren Seidenteppiche, die an manchen Stellen gleich fünffach übereinanderlagen. Ich war nackt, doch es war trocken und warm, ich fror nicht.

Da bist du endlich. Die Stimme des Drachen flüsterte in meinem Schädel. Du stinkst nach Angst.

Und du nach Selbstgefälligkeit.

Hast du dein Wort gehalten und sie geheiratet?, fragte er.

Das habe ich.

Einen Herzschlag später zischte an meiner linken Flanke ein greller Flammenstrahl vorbei. Durch die vorsorglich zusammengekniffenen Augenlider sah ich den rötlichen Widerschein. Der Gestank nach brennendem Pech verriet mir, dass Myrkur die Fackeln an der hinteren Wand entzündet hatte.

Sein Gelächter hallte in meinem Schädel wider. Es war ein unangenehmes Gefühl. Du hast gezuckt!

Das hättest du wohl gern.

Forderst du mich heraus?

Wir wissen beide, dass dir zumindest heute mein unversehrter Körper nützlicher ist, erinnerte ich ihn.

Verlass dich nicht darauf, dass das so bleibt.

Das tue ich nicht. Das meinte ich bitterernst. Ich nahm zwar nicht an, dass Myrkur mich aus einer Laune heraus töten würde, denn ich war eine der wenigen Zerstreuungen, die er hatte. Andererseits hatte er nie Skrupel, mich mit einer Flamme zu kitzeln, um beispielsweise ein Argument zu bekräftigen. Meistens waren die Verbrennungen oberflächlicher Natur; schmerzhaft, ja, dank meiner Selbstheilungskräfte jedoch nie lange während. Je nachdem, wie er sein inneres Feuer einstellte, konnte er allerdings Brandwunden verursachen, gegen die meine Heilmagie machtlos war. Meine linke Hand, die ich wegen des hässlichen Narbengewebes unter einem Lederhandschuh verbarg, war eine stete Erinnerung daran. Während ich darauf wartete, dass er das Gespräch fortführte, ging ich langsam tiefer in die Höhle hinein. Das Licht der Fackeln genügte gerade so, um den Eingangsbereich zu erleuchten. Der gewaltige unterirdische See am entgegengesetzten Ende dagegen lag weitgehend im Dunkeln. War der Drache zu Hause, hielt er sich gewöhnlich im Wasser auf. Auch jetzt ragte nur sein ausgemergelt aussehender Schädel über dem Wasserspiegel auf. Die hunde­ähnliche Schnauze lag auf dem steinumfassten Uferrand. Feiner Dampf quoll aus seinen Nüstern, die so riesig waren, dass ich mich nicht einmal bücken müsste, um hineinspazieren zu können. Unter knochigen Augenbrauenwülsten lagen die Augen mit den geschlitzten Pupillen. Myrkurs Schuppenkleid war tiefschwarz. Klappte er die Augenlider herab, war er nahezu unsichtbar. Jetzt jedoch blinzelte er nicht einmal. Es kostete mich wie immer eine Überwindung, mich ihm zu nähern. Ich zwang mich zu einem entspannten Lächeln und schlenderte auf ihn zu. Genießt du dein Bad?

In der Mitte des Sees blubberte es und der Gestank nach mit Schwefel versetzten Fäkalien waberte durch die Höhle.

Angewidert verzog ich das Gesicht.

Myrkur kicherte und löste damit das irritierende Gefühl aus, als würde etwas die Innenseite meines Schädels kitzeln. Du hast gefragt.

Furzen ist keine gesellschaftlich anerkannte Antwort.

Jaja, bla, bla, bla. Lass mich sehen.

Etwa fünf Meter vom Beckenrand entfernt blieb ich stehen. Ich hatte keinen Zweifel, dass Myrkur gleich nach dem Entzünden der Fackeln mit einem raschen Blick überprüft hatte, ob ich meinen Teil der Abmachung eingehalten hatte. Dennoch streckte ich den linken Arm vor. Der Drache ließ sich Zeit damit, die feinen weißen Verästelungen zu studieren, die Alice’ Einverständnis bekundeten, meine Ehefrau zu werden. Meine Ehefrau. Dieser Gedanke löste einen Gefühlssturm in mir aus. Bedauern, Begehren und so heftige Sehnsucht nach ihr, dass es schmerzte. Doch ich war hierhergekommen, um sie zu schützen. Wenn mir das gelingen sollte, musste ich umgehend zu meiner Gelassenheit zurückfinden. Schließlich knurrte Myrkur zufrieden. Ausgezeichnet. Dann können wir beginnen.

Deswegen bin ich hier.

Deswegen bist du hier. Setz dich.

Das Herz dröhnte mir in der Brust, als ich mich im Schneidersitz vor ihm niederließ. Ich schloss die Augen und unternahm im Geiste einen Spaziergang durch sämtliche Muskelregionen, um sie nacheinander zu entspannen. Das Ritual erforderte, nichts am Körper zu tragen, keine Kleidung, keinen Schmuck. Ich fühlte mich unbehaglich. Selbst im Hochsommer trug man in Wynterhaav eine leichte Jacke und mit Einbruch des frühen Winters war jedermann bemüht, so viele Kleiderschichten wie nur irgend möglich übereinander zu tragen. Nackt zu sein setzte ich folglich ganz automatisch mit schutzlos gleich. Ich drängte das Gefühl entschlossen beiseite und unternahm einen zweiten geistigen Spaziergang durch meinen Körper. Nach und nach wich die Anspannung, mein Atem ging ruhig, so auch mein Herzschlag. In der Bibliothek des Königshofes hatte ich ein einziges schmales Buch ausfindig machen können, das sich mit dem längst vergessenen Ritual der Trârakyi befasste. Darin stand, dass der Grad der körperlichen und geistigen Entspannung entscheidend für das Gelingen war. Die Trârakyi waren die Vorfahren der heutigen Drachen. Der Schrift zufolge hatten sie das Ritual der Geistverflechtung praktiziert, um bei einem Angriff gegen ihr Volk ihre magischen Kräfte zu vereinen. Dem Trârakyos, dem es gelang, während des Rituals die geistige Oberhand zu gewinnen, war es bestimmt, die Führung im Kampf zu übernehmen. Ich war entschlossen, alles, wirklich alles zu tun, um Myrkur auf keinen Fall diese Rolle zu überlassen. Ein letztes Mal wanderte ich durch meinen Körper, ließ jegliche Anspannung los, bis ich am Ende einen Zustand vollkommener Entspannung erreicht hatte.

Doch natürlich machte Myrkur mir einen Strich durch die Rechnung. Ein Drache besitzt kein Mienenspiel, er lässt dich fühlen, was er empfindet. Eine Welle ungefilterter Wut schlug über mir zusammen. Das Gefühl war so intensiv, dass ich kampfbereit aufgesprungen war, noch ehe ich nachdenken konnte. Adrenalin schwappte durch meine Adern. Weshalb bist du zornig?

Myrkur bedachte mich mit einem verschlagenen Blick und ich fühlte mich wie eines der Lämmer, die er vor wenigen Stunden gefressen hatte. Kein Zorn. Jagdfieber.

Und dann ging es los.

2

Brandgefahr

Um vier Uhr in der Früh schlich ich auf Zehenspitzen durch den Flur in die Küche. Ich war so aufgeregt und glücklich, dass ich die Müdigkeit nicht spürte. Lewis, der samtschwarze Kater, der mir vor einigen Wochen zugelaufen war, humpelte hinter mir her. Seit er gestern Abend zurückgekommen war, schonte er das linke vordere Bein. Sein Maunzen hörte sich zum Glück aber nicht schmerzerfüllt an, sondern vorwurfsvoll. Normalerweise kraulte ich ihn nach dem Aufwachen lang und ausgiebig. Heute war ich allerdings vor der üblichen Zeit aus dem Bett gehüpft. Das hatte er mir offenbar übel genommen, wie das erneute lautstarke Maunzen kundtat. Ich legte einen Zeigefinger an die Lippen. »Pst! Mit deinem Gemecker weckst du Kjell auf.«

Prompt wurde Lewis zu einem schweigenden schleichenden Schatten. Er und Kjell konnten einander nicht ausstehen. Das war natürlich keine Erklärung dafür, warum Lewis eben reagiert hatte, als habe er genau verstanden, was ich gesagt hatte. Andererseits, was wusste ich schon von Katzen? Vor Lewis hatte ich nie zuvor eine zur Gesellschaft gehabt. In der Küche stapelten sich verschmutzte Teller und einige Salatschüsseln im Waschbecken, doch das war halb so wild. Durch die Terrassentür fiel mein Blick jedoch auf ein durchweichtes Brötchen am Boden, aus dem Zigarettenkippen wie Igelstacheln herausragten. Ärger blitzte in mir auf und drängte die gute Laune für einen Augenblick beiseite. Im Nu war ich in den Nieselregen hinausgesaust, um das matschige Ding mit einer Papierserviette aufzunehmen. Ich hatte nicht übel Lust, es Kjell unter die Nase zu halten, warf es dann aber doch nur in den Mülleimer. Dabei hatte ich die Streitereien der letzten Zeit gründlich satt. Deshalb hatte ich auch nichts gesagt, als Kjell gestern Abend spontan Geschäftsfreunde zu uns eingeladen hatte. Noch vor einigen Wochen hätte ich sie spontan wieder ausgeladen und die darauffolgende Auseinandersetzung in Kauf genommen. Zurzeit schluckte ich jedoch lieber ein paar Kröten mehr, wenn ich dadurch meine Nerven schonen konnte. Seit einem guten halben Jahr arbeitete ich unermüdlich daran, mir den Traum vom eigenen Café zu erfüllen. Ich hatte eigenhändig den alten Dielenboden im Wonderland geschliffen und geölt, die Wände verputzt und sämtlichen Regalen und Vitrinen, die ich auf Flohmärkten erstanden hatte, einen neuen Anstrich verpasst. Der Eröffnungstag war für morgen geplant und daher wartete heute noch ein letzter anstrengender Tag in der Backstube auf mich.

Bei dem Gedanken an mein wundervolles Café erhielt meine Laune erneut Aufwind. Summend ließ ich heißes Wasser ins Spülbecken laufen. Ich hätte das Geschirr auch in die Spülmaschine räumen können, doch ich mochte es, von Hand zu spülen, weil ich dabei gut nachdenken konnte, und noch war ich gut in der Zeit. Kjells Geschäftskollegen waren mir nie zuvor begegnet und mein Gefühl sagte mir, dass er sie ebenfalls nicht näher kannte. Die drei waren mir alles andere als sympathisch gewesen. Immer wieder hatte ich einen der Männer erwischt, wie er mich beobachtete, und zwar ein wenig zu gründlich für meinen Geschmack. Dabei konnte ich mich nicht des Eindrucks erwehren, dass keiner von ihnen an mir als Frau interessiert gewesen war. Es hatte eher etwas vom Blick eines Menschen gehabt, der ein Schmuckstück in der Vitrine eines Juweliers taxiert, ehe er die Entscheidung fällt, ob die Beute den Überfall wert ist oder nicht. Kjell hatte sie auch nicht gemocht, das hatte ich an hundert Kleinigkeiten gemerkt. Normalerweise hätte er mich nicht von seiner Seite gelassen und in das Gespräch eingebunden. Gestern hatte er jedoch ständig Gründe gesucht, mich aus dem Wohnzimmer zu schicken, hatte mich gebeten, Kaffee, Nüsse und Ähnliches zu holen, was dann unberührt geblieben war. Bereits gegen neun hatte er, mit Hinweis auf den anstrengenden Tag heute, vorgeschlagen, dass ich mich doch ins Schlafzimmer zurückziehen solle. Was ich zu gern getan hatte.

Hinter mir war ein schleifendes Geräusch zu hören. Ich drehte mich zu Lewis um und beobachtete amüsiert, wie er seinen Futternapf Richtung Kühlschrank schob. Auffordernd richtete er den Blick auf mich. Lewis’ Augen hatten mich von unserer ersten Begegnung an fasziniert, sie waren dämmergrau, doch um die Pupille herum tanzten bernsteinfarbene Sprenkel. Obwohl jeder weiß, dass man einen derartigen Wettbewerb gegen eine Katze unmöglich gewinnen kann, hielt ich seinem Blick stand. »Für dich wird diese Tür nicht aufgehen, das weißt du.«

Er starrte.

Ich starrte. »Vergiss es!«

Sein Blick blieb fest auf mich gerichtet.

»Im Kühlschrank ist sowieso nur Grünzeug. Willst du Spinat haben?« Meine Augen begannen zu tränen. Gleich musste ich wegsehen.

Überraschenderweise war es Lewis, der den Kopf senkte. Wenn auch nur, um seinen Fressnapf ein weiteres Stückchen auf den Kühlschrank zuzuschieben. Egal, der Sieger des heutigen Starrwettbewerbs war ich! Ich stellte den Napf zurück in die dafür vorgesehene Ecke und gab eine ordentliche Portion Trockenfutter hinein. »Lass es dir schmecken, mein Lieber.«

Lewis drehte mir den Rücken zu.

Ich unterdrückte ein Lachen. »Beleidigt zu sein hilft dir nicht weiter, du bleibst nur länger hungrig.«

Er fing an, eine Pfote zu lecken. Ein Bild vollkommener Gleichmut, wäre da nicht sein Schwanz gewesen, der ärgerlich hin und her peitschte. Ich ignorierte ihn meinerseits, trocknete das Geschirr und räumte es in den Schrank. Es dauerte nicht lange, bis aus der Katerecke gierige Knusperlaute zu hören waren. Yay! Zwei zu null für Alice! Nachdem ich das Spülbecken trocken gerieben hatte, holte ich eine Packung Mandelmilch aus der Vorratsschublade, um eine Goldene Milch zuzubereiten. Ich schüttete die Mandelmilch in einen Topf, gab Zimt, Kokosöl und Pfeffer dazu und brachte die Mischung zum Köcheln. Unterdessen hatte Lewis sein Frühstück beendet, kam zu mir und strich fordernd um meine Beine.

»Nervensäge.« Lächelnd ging ich in die Hocke. Noch ehe meine Finger über seinen seidenweichen Pelz glitten, schnurrte er bereits.

Schließlich war es Zeit, mich wieder um die Goldene Milch zu kümmern. Ich erhob mich. »Du willst raus, oder?«

Das war eine rhetorische Frage, denn Lewis ignorierte seit jeher das Katzenklo. Er trabte zur Terrassentür und sah zu mir auf.

»Du könntest eine Wohnungskatze werden.«

Aufforderndes Maunzen.

Widerwillig öffnete ich die Tür für ihn. Wenigstens herrschte so früh am Morgen noch kein allzu dichter Verkehr. »Pass auf dich auf, okay?«

Mein Kater warf mir einen unergründlichen Blick zu, rieb sich zum Abschied an meiner Wade und schoss dann wie ein schwarzer Blitz über die Straße und aus meinem Sichtfeld. Verblüfft starrte ich ihm hinterher. Von seinem Humpeln war nichts mehr zu erkennen gewesen.

Für die Goldene Milch fehlte nur noch ein Esslöffel Kurkumapaste, die ich im Kühlschrank aufbewahrte. Mein Blick wanderte suchend über die gut bestückten Fächer abwärts. Spinat, eine halbe Ananas, Zitronengras und Kokoswasser … dann stutzte ich. Was zum Teufel?! Perplex starrte ich das dicke Stück Frühstücksspeck an, das in Folie eingeschweißt neben meinem Tofu lag. Kein Wunder, dass Lewis so viel Interesse am Kühlschrank gezeigt hatte! Diesmal überwog der Zorn meine Abneigung gegen einen Streit. »Verdammt, Kjell!«

Im Wohnzimmer herrschte weniger Chaos als in der Küche, dafür roch es nach Kneipe, in der man seit Wochen nicht gelüftet hatte. Drei leere Whiskyflaschen standen auf dem Couchtisch, aber keine Gläser. Hatten sie den Whisky etwa direkt aus der Flasche getrunken? Und wer zum Teufel vertrug solche ungeheuren Mengen Alkohol? Ich hatte angenommen, dass Kjell auf dem Sofa geschlafen hatte, um mir vor einem anstrengenden Tag eine ungestörte Nacht zu gönnen. Nun sah es danach aus, als sei er einfach nur zu betrunken gewesen, um es bis ins Schlafzimmer zu schaffen. Würde er überhaupt begreifen, was ich von ihm wollte, wenn ich ihn weckte? Unschlüssig sah ich auf ihn hinunter.

Kjell war höllisch attraktiv, was er leider nur zu gut wusste. Seine Gesichtszüge waren männlich, seine Schultern breit und sein Hintern so sexy, dass ihm Frauen auf der Straße ungeniert hinterherschauten, vor allem wenn er seine geliebten hautengen Jeans trug. Mit seinen eins dreiundneunzig war er zu groß für das zierliche Sofa und hatte daher seine Knie angezogen. Sein Kopf war in einem ungemütlichen Winkel zurückgebogen. Mein Blick wanderte über das stoppelige Kinn, die gerade edle Nase, verharrte auf den violetten Schatten unter seinen geschlossenen Lidern und langsam, ganz langsam verrauchte meine Wut. Kjell hatte oft Albträume und seit ein paar Wochen war es sogar schlimmer als sonst. Das schreckliche Unglück in unserer Kindheit hatte uns aneinandergeschmiedet, wir hatten das Erlebnis jedoch auf unterschiedliche Weise aufgearbeitet. Wobei ich in Kjells Fall nicht der Ansicht war, dass verarbeitet der richtige Ausdruck war. Nach außen hin trotzte er dem Feuer, stand mit der Zigarettenkippe im Mundwinkel am Lagerfeuer und wärmte sich demonstrativ die Hände. Nachts schreckte er schweißgebadet und schreiend aus seinen Träumen hoch. Er sprach nie über das Erlebte, während ich bereits vor einer Weile meine Therapie abgeschlossen hatte. Seufzend schnappte ich mir das Wollplaid von der Sofalehne, um ihn zuzudecken. Ich wollte mich schon abwenden, um in die Küche zurückzugehen, als mir ein Fleck im pflaumenfarbenen Samt der Rückenlehne ins Auge stach. Das würde doch nicht etwa …? Ich beugte mich hinüber, schnupperte und fand meinen Verdacht bestätigt. Nach kurzem Suchen wurde ich fündig. Neben der Armlehne, auf Höhe von Kjells rechter Hand, entdeckte ich einen Zigarettenstummel. »Verdammte Scheiße.« War er mit der brennenden Zigarette zwischen den Fingern eingeschlafen? Alles in mir verkrampfte sich. Vor Wut am ganzen Körper zitternd, starrte ich auf den Mistkerl hinunter. »Wach auf!«

Er rührte sich nicht.

»Kjell!« Ich rüttelte ihn an den Schultern. »Ernsthaft, das ist zum Kotzen! Wir haben darüber gesprochen. Du hast mir …« Ich verstummte. Kjells Lider sprangen auf, aber er sah nicht so aus, als wüsste er, wen er vor sich habe. »Hey! Bist du wach?«

Keine Reaktion, nur dieses beängstigende Starren. Lag es am Restalkohol? Auf einmal schien es die beste aller Ideen, ihn ausschlafen zu lassen. Instinktiv dämpfte ich meine Stimme, ließ sie beruhigend klingen. »Okay, schlaf noch eine Ru…«, weiter kam ich nicht.

Mit einem Ruck richtete Kjell sich auf. Ein harter Schlag gegen den Brustkorb nahm mir die Luft und ließ mich rückwärts taumeln. Heftig mit den Armen fuchtelnd landete ich rücklings auf dem Couchtisch, fegte dabei die Fernbedienung und einige Zeitschriften hinunter und erwischte auch die Whiskyflaschen. Ehe ich begriff, was geschehen war, hatte Kjell sich auf mich gestürzt. Seine Hände schlossen sich um meinen Hals, drückten zu. Ich reagierte instinktiv und fuhr ihm mit den Fingernägeln quer übers Gesicht.

»Verdammt!« Kjell gab mich frei und richtete sich auf. Er befühlte die langen Kratzer auf Wange und Kinn, die ich ihm beigebracht hatte. Verwirrt betrachtete er erst das Blut an seinen Fingerkuppen, dann sah er mich an. »Was ist in dich gefahren?! Spinnst du?«

Mein Herz raste, ich spürte es im Hals klopfen, in den Ohren, überall. »Ich? Ob ich spinne?«

Er ließ einen schnellen prüfenden Blick durch das Wohnzimmer gleiten, dann strich er sich durch das blonde halblange Haar. Er wirkte nun vollkommen verwirrt. »Was ist passiert? Was hab ich getan?«

»Du hast mich gewürgt! Arschloch!« Vorsichtig betastete ich meinen Hals. Dabei ließ ich ihn nicht aus den Augen. War er wirklich wach oder hielt ihn noch der Albtraum gefangen? Denn das musste es gewesen sein, was ihn zu dieser krassen Aktion gebracht hatte, nicht wahr? Ein Albtraum.

»Ich soll dich gewürgt haben? Ich?«

»Sonst jemand hier?«

Wieder sah er sich um, als sei das nicht so ganz klar. Schließlich wandte er sich mit besorgter Miene mir zu. »Bist du okay?«

»Nein, du Arsch, bin ich nicht!«

»Verdammt, Alice! Das wollte ich nicht.« Er streckte seine Hand nach mir aus. »Tut mir leid. Wirklich.«

Ich sah ihn kühl an und ignorierte die Geste. Diesmal würde ich nicht gleich wieder schwach werden und die Sache unter den Teppich kehren. Der brodelnde Zorn in meinem Inneren bekämpfte erfolgreich meine Sehnsucht nach Harmonie. Es war gut, sich so zu fühlen. Der Zorn war echt. Echt? Ich horchte diesem Wort nach. Was meinte ich damit? Verwirrt runzelte ich die Stirn.

Er zog die Hand zurück und strich sich verlegen eine Haarsträhne hinter das Ohr. Sein Blick wich meinem jedoch nicht aus. »Verstanden, du bist sauer. Und mit Recht. Die einzige Entschuldigung, die ich dir bieten kann, ist, dass du mich aus einem ziemlich«, für einen Moment schloss er die Augen, »ziemlich wüsten Traum gerissen hast.«

»Wovon hast du geträumt? Vom Feuer?«

Er presste die Lippen aufeinander.

»Kjell! Du musst endlich darüber sprechen.«

»Das machen wir doch ab und zu.«

»Wir haben das Thema ein einziges Mal angeschnitten und – lass mich überlegen – sind ganze zwei Minuten dabei geblieben, ehe du wieder abgebrochen hast. Aber ich verlange auch gar nicht, dass du mit mir sprechen sollst. Du brauchst professionelle Hilfe. Ernsthaft. Das eben war …«, ich unterbrach mich, um zu schlucken. Es tat weh, nicht nur auf körperlicher Ebene, und nun wurde mir endgültig die Tragweite des Geschehens klar. Das hätte für mich verdammt übel ausgehen können! Mit leiser, ernster Stimme fuhr ich fort: »Du hast mich zu Tode erschreckt.«

»Alice«, Kjell ging vor dem Tisch auf die Knie und sah mich flehend an, »es wird nie wieder vorkommen! Nie, nie wieder. Versprochen.«

Ich hatte in seinem wunderschönen Gesicht nie zuvor einen solchen Ausdruck von Qual gesehen. »Such dir Hilfe.«

»Wenn ich das verspreche, ist dann alles wieder gut?«

Ich nickte zögernd.

Offensichtlich erleichtert, weil er vermutlich annahm, dass er nun vom Haken war, sprang er auf und streckte mir beide Hände entgegen, um mir hoch zu helfen.

Ich ignorierte die Geste ein weiteres Mal. »Das solltest du lieber ernst meinen.«

»Verstanden.« Er wollte meine Hände ergreifen.

Ich zog sie jedoch zurück und setzte eine eiskalte Miene auf. »Du wirst mich sehr lange nicht anfassen, Kjell.«

»Das meinst du nicht ernst.«

»Mir war selten etwas ernster.«

Zu meiner Überraschung wagte er einen weiteren Versuch. Es gelang ihm, zärtlich über meine Wange zu streicheln. »Komm schon, Alice … würdest du mir bitte verzeihen?«

»Lass das!« Ich bewegte meinen Kopf ruckartig zur Seite. Doch bereits die leise Berührung hatte genügt, um das bekannte Gefühl der Sehnsucht im mir zu wecken. Oft konnte ich selbst nicht glauben, was für ein Glück ich hatte, denn die Chemie zwischen uns war einfach nur perfekt. Die andere Seite der Medaille war jedoch, dass ich viel zu schnell in die Harmoniefalle tappte. Es gelang mir nur noch mit Mühe, den kalten Gesichtsausdruck zu wahren. »Du erwartest nicht im Ernst, dass ich da so rasch darüber hinweggehe, oder?«

»Nein.« Er senkte den Blick.

Ich hatte das verräterische Glitzern in seinen Augen jedoch gesehen. Auf einmal kam es mir grausam vor, was ich hier tat. Es ging Kjell nicht gut. Er musste endlich Hilfe in Anspruch nehmen. Durfte ich ihn aber wirklich mit Liebesentzug erpressen, damit er das tat, von dem ich glaubte, dass es gut für ihn war?

Er hob den tränenfeuchten Blick, sah ernst und wunderschön aus. »Bitte, Alice, was du gerade mit mir machst, ist grausam. Das weißt du, nicht wahr? Ich halte es nicht aus, dich nicht anfassen zu dürfen.«

Tatsächlich konnte ich mir keine schlimmere Strafe für ihn ausdenken. Kjell berührte mich ständig, immer und in jeder Situation. Wenn wir nicht gerade sowieso Händchen hielten, ließ er seine Finger zärtlich über jedes freie Fleckchen Haut wandern, das er finden konnte. Selbst in einem Restaurant schob er unter dem Tisch seine Füße zu mir herüber.

»Bitte sag was.«

Noch nie hatte er so zerknirscht ausgesehen. Ich seufzte. Und dann, ganz gegen meinen Willen, schmolz das Eis in mir. »Idiot.«

Er spürte, dass ich zum Nachgeben bereit war. Stürmisch zog er mich hoch und in seine Arme. Das war’s. Für einen kurzen Moment sträubte ich mich noch, dann schmiegte ich mich mit einem Gefühl unendlicher Erleichterung an ihn, genoss den Schauer kleiner Küsse, die er auf meine Stirn, Schläfen und Wangen regnen ließ. Seine Lippen fanden meine. Es folgte ein langer, sanfter, liebevoller Kuss, der nicht darauf aus war, meine Leidenschaft zu entfachen, sondern der sich vergewissern wollte, dass zwischen uns noch alles in Ordnung war. Wir würden über das Thema reden und wenn ich wieder davon anfing, war er es mir schuldig, zuzuhören. Ich würde ihn – und mich – jedoch nie wieder mit Liebesentzug bestrafen. Mit einem letzten tiefen Seufzer ließ ich die restliche Anspannung aus mir entweichen. »Ich mag deine Geschäftskollegen nicht.«

»Du wirst sie nicht wiedersehen.«

Ich sah überrascht zu ihm hinauf. »Was ist passiert? Ich dachte, der Kontakt sei dir so wichtig?«

»Ich hab mich getäuscht. Im Lauf des Abends stellte sich heraus, dass wir unterschiedliche Ansichten hatten über dieses und jenes. Über alles eigentlich. Ich kann mir zum Glück aussuchen, mit wem ich zusammenarbeiten will. Außerdem haben sie dich ein bisschen zu lüstern angestarrt.«

»Lüstern? Das Gefühl hatte ich gar nicht. Sie wirkten eher, als wäre ich, keine Ahnung, irgend ein exotisches Tier im Zoo. Eins, das sie nie zuvor zu Gesicht bekommen haben.«

»Mein süßer Schatz, du merkst doch nie, wie Männer dich ansehen. Frauen übrigens auch. Der Blick der drei war eindeutig lüstern.« Mit leisem Grollen in der Stimme fügte er hinzu: »Ich weiß, wenn dir jemand an die Wäsche will.«

Ich lachte auf. »Tu nicht so, als wärst du eifersüchtig.«

»Aber ich bin es.«

Ich stellte mich auf die Zehenspitzen, um ihn zu küssen. Mir fiel auf, dass er gar keine Fahne hatte. Ich schob meine Hand unter sein T-Shirt, strich mit den Fingerspitzen die Wirbelsäule hinauf, zart, sehr, sehr zart, damit ich spüren konnte, wie sich die kleinen Härchen auf seiner Haut aufrichteten.

Kjells Kuss wurde drängender. Weit hinten in meinem Kopf tauchte das Bild einer Alice an der Ausgangstür auf, die ungeduldig mit dem Autoschlüssel klimperte. Ich wusste, dass mein schönes Zeitpolster gerade dabei war zu schmelzen, doch das war völlig unwichtig. Nur Kjell zählte, seine Lippen, seine Hände, seine Zunge, die mit meiner spielte, sie neckte und herausforderte.

Ein durchdringendes Maunzen erklang. Ich wandte den Kopf. Vor dem Fenster war Lewis. Er stand aufgerichtet auf den Hinterbeinen, die Vorderpfoten drückten gegen das Fensterglas. Auffordernd starrte er zu uns herein.

Kjell nahm mein Gesicht in beide Hände und sah mich mit vor Verlangen dunklen Augen an. »Der Kater wartet heute mal!«

Wir küssten uns erneut. Lewis’ zunehmend schriller werdendes Maunzen war der Romantik jedoch nicht förderlich. Der Zauber verflog. Ich machte mich los und öffnete das Fenster.

»Alice, ziehst du gerade ernsthaft den Kater mir vor?«

»Vielleicht hat er Schmerzen. Gestern Abend kam er verletzt nach Hause.«

»Er hat doch ständig was. Ich kenne keine andere Katze, die so tollpatschig ist.«

Beinahe schien es, als wolle Lewis diese Aussage widerlegen, denn er sprang in einem höchst eleganten Satz vom Fenstersims. Mit hochgerecktem Schwanz trottete er zum Sofa, ein weiterer Sprung und er ließ sich auf der Lehne nieder, von wo aus er Kjell mit der Gelassenheit einer Sphinx fixierte.

Dieser starrte böse zurück. »Wir werden ihn kastrieren lassen.«

Empört fuhr ich zu ihm herum. »Kommt nicht infrage.«

»Er hat meine nagelneuen Wildlederschuhe markiert. Das wird aufhören!«

»Meine Schuhe lässt er in Ruhe. Sei netter zu ihm, dann verschont er auch deine.«

»Dafür setzt er sich auf deine Unterwäsche.«

Mit einem Auflachen ging ich ins Schlafzimmer, um nach meiner Strickjacke zu suchen, die dort irgendwo liegen musste. »Das denkst du dir aus.«

Kjell folgte mir. »Möglich. Aber du solltest dich jedenfalls nicht allzu sehr an ihn gewöhnen. Er ist ein Streuner. So wie er mit dir nach Hause spaziert ist, verschwindet er irgendwann wieder.«

»Das wär dir wohl recht.« Ich sah böse zu Kjell und fügte frostig hinzu: »In der Küche steht ein Topf Goldene Milch für dich. Tu deiner Leber etwas Gutes und trink eine Tasse. Und schlaf dann noch eine Runde.«

»Ich bin hellwach und meiner Leber geht es ausgezeichnet. Ich sagte doch, ich habe nicht getrunken.« Er musterte mich kritisch. »Willst du so gehen?«

»Was ist daran falsch?« Ich sah an mir herunter. Zu einem maronenfarbenen langärmligen Shirt trug ich einen kurzen ockerfarbenen Cordrock und dicke Wollstrumpfhosen. Ein gemütlicher Herbstlook, wie ich fand, passend zu den fallenden Blättern und dem weichen goldenen Licht meiner Lieblingsjahreszeit. Fehlte nur noch die Strickjacke. Suchend sah ich mich um.

Kjells Mienenspiel war zu entnehmen, dass er meine Ansicht darüber nicht teilte, was ein passender Herbstlook war. »Wie wäre es, wenn wir demnächst shoppen gehen? Du hast in den vergangenen Wochen so geschuftet, ich möchte dich verwöhnen.«

»Das ist lieb, aber ich brauche nichts.«

»Das sagst du immer. Ich wüsste gern, was verkehrt daran ist, dass ich dir etwas schenken möchte?«

»Nichts.« Das stimmte. Irgendwie. Es war nicht so, dass ich von Kjell nichts annehmen wollte. Das Problem war, dass er mich mit seinem Geschenk in jemanden zu verwandeln versuchte, der ich nicht war, nicht sein wollte. Kjell mochte es edel. Selbst an den Jeans, die er kaufte, hingen Preisschilder, für deren Gegenwert ich mich für eine komplette Saison einkleiden könnte. Seit ich auf eigenen Füßen stand, kaufte ich in Secondhandläden. Jeder auf diese Weise gesparte Penny war auf meinem Sparbuch gelandet und steckte nun im Wonderland. Es gab absolut keine Notwendigkeit, daran etwas zu ändern.

»Na gut.« Er seufzte. »Von mir aus können wir auch eine Tour über die Flohmärkte machen – in Paris zum Beispiel. Das ist ein Kompromiss. Paris für mich, Flohmarkt für dich.«

Ich lächelte. »Sehr raffiniert und ich finde die Idee gut, aber …«

»Ich weiß, das Wonderland ist im Augenblick wichtiger. Dann im Frühling, wenn der erste Stress vorbei ist?«

»Na gut.« Ich zwang mich zu einem Lächeln, doch in meinem Bauch war ein kleiner unwilliger Knoten entstanden. Kjell wusste besser als jeder andere, dass ich kein Interesse am Reisen hatte. Ich war am liebsten zu Hause in London, das ich in- und auswendig kannte. Ich mochte meine Routine, ich mochte mein eigenes Bett, mein Bad, meine Küche und ich wollte vor allem das Wonderland nicht für ein Wochenende schließen, nur um in Paris neue Kleider zu kaufen. Kjell sprach davon, mich belohnen zu wollen, doch in Wirklichkeit, das wurde mir nun erst richtig bewusst, war ich es, die ihm mit dieser Zusage einen Gefallen tat.

Er rieb sich die Hände und sah mich unternehmungslustig an. »Was kann ich sonst tun, um dir wieder ein Lächeln zu entlocken?«

»Ich glaub, vorhin sind die Whiskyflaschen in Scherben gegangen. Kümmerst du dich bitte darum, ehe Lewis sich daran verletzt?«

»Mach ich später. Er will sowieso in fünf Minuten wieder vor die Tür.«

»Möglich. Aber du hast gefragt und mir ist es wichtig. Also? Kümmerst du dich?«

Kjell wirkte nun deutlich irritiert. So einen scharfen Ton war er nicht von mir gewohnt. Doch ich ärgerte mich zum einen über mich selbst, weil ich nicht eher an die Scherben gedacht hatte. Und zum anderen – warum fragte er überhaupt, wie er helfen konnte, wenn er nicht bereit war, es zu tun?

Schließlich verschwand er grummelnd, um Schaufel und Besen zu holen. Ich suchte unterdessen weiter nach meiner Strickjacke. In Küche und Backstube war ich ordentlich und organisiert, überall sonst in der Wohnung herrschte Chaos. Auf dem Nachttisch im Schlafzimmer türmten sich Koch- und Backbücher übereinander, gekrönt von ineinander gestapelten Teetassen. Zwei Wäschekörbe, einer mit frischer Kleidung und einer mit Schmutzwäsche, standen mitten im Raum. Eine Stolperfalle, wie Kjell behauptete. Ich nannte es eine gute Idee. Ich hatte die Körbe nämlich nur deshalb dort platziert, weil ich davon erfahrungsgemäß irgendwann so genervt war, dass ich die Arbeit endlich in Angriff nahm. Kjell, der seine Kleidung zu einer Reinigung brachte, bot regelmäßig an, eine Haushaltshilfe anzustellen, doch das kam nicht infrage. Ich achtete akribisch darauf, dass wir uns alle Haushaltskosten teilten, und so schön es auch gewesen wäre, ich konnte mir das einfach nicht leisten. Ich ließ einen nachdenklichen Blick über das Chaos auf dem Boden gleiten. Vor ein paar Tagen hatte ich den abgegriffenen Schuhkarton unter dem Bett hervorgezogen, der mich begleitete, seit ich ein Teenager gewesen war. Man konnte genau erkennen, wo ich gesessen hatte, um darin zu stöbern. Wie ein Regenbogen waren die Erinnerungsstücke um den Platz herum aufgefächert. Auf den meisten Fotos war ich als Baby und Kleinkind zu sehen. Fast immer war nur meine Mutter mit auf dem Bild. Vater hatte viel auswärts gearbeitet, was höchstwahrscheinlich der Grund dafür war. Vielleicht war er aber auch nur extrem kamerascheu gewesen, wie Kjell vermutete. Leider konnte ich ihn nicht danach fragen. In dem Karton bewahrte ich auch einige wenige Gegenstände auf, die aus meiner Babyzeit stammten; die ersten Babyschuhe aus butterblumengelbem Satin, eine Hasenrassel, zerlesene Bilderbücher, eine geliebte Puppe, das Miniaturteeservice aus echtem Porzellan, das ich zu meinem sechsten Geburtstag bekommen hatte. Ich kniete mich nieder, um die Sachen rasch wieder in den Karton zurückzulegen, und schob ihn anschließend unter das Bett zu seinen beiden Kartonfreunden. In einem befanden sich Ausschnitte aus Zeitschriften und Notizzettel, auf denen ich Ideen fürs Wonderland gesammelt hatte. Im letzten Schuhkarton, dem heimlichen Karton, sammelte ich alles für meine Hochzeit. Kjell und ich hatten zwar über dieses Thema noch nicht gesprochen, ich nahm jedoch fest an, dass es auch für ihn keine Frage war. Es wäre nichts dabei gewesen, ihm den Inhalt zu zeigen. Eigentlich war es albern, es nicht zu tun. Vor allem, weil er inzwischen ohnehin wusste, was sich darin befand. Ich wusste es deshalb, weil etwas nicht ganz oben lag, was sich eigentlich dort hätte befinden müssen. Stattdessen befand sich dort der Flyer einer Floristin, die bezaubernd einfache und natürliche Brautsträuße fertigte. Mit meinem Hochzeitskarton verhielt es sich wie mit einem Baumkuchen, Schicht für Schicht fügte ich neues Material hinzu. Papiermuster für Einladungskarten mischten sich unter ausgerissene Seiten aus Zeitschriften mit Ideen für die Hochzeitstorte, die Dekoration, das Blumenarrangement und die Gastgeschenke. Dazu kamen Adressen von Fotografen und einem vegetarischen Cateringservice. Schuhe, Handtasche und eine leichte Jacke würde ich bestimmt secondhand finden, doch beim Hochzeitskleid wollte ich eine Ausnahme machen und es schneidern lassen. Ich wusste haargenau, wie es aussehen sollte, seit ich es auf dem Cover eines Liebesromans entdeckt hatte. Auf der Stelle hatte ich mich in die Vorstellung verliebt, in himbeerroter Seide zu heiraten, war in die Buchhandlung gestürmt, um das Buch zu kaufen. Der Umschlag war in meiner Hochzeitskiste gelandet, während das Buch selbst in einem Regal im Wonderland auf Leser wartete. Weil ich den Buchumschlag so oft in die Hand nahm und mich hineinträumte, lag er gewöhnlich obenauf im Karton. Beim letzten Mal, als ich hineinsah, hatte ich jedoch den Flyer der Floristin obenauf gefunden und dann in den Papierlagen wühlen müssen, bis ich ihn endlich am Boden des Kartons gefunden hatte. Ganz klar. Kjell war neugierig gewesen. Es hätte mich vielleicht stören sollen, dass er in meinen Sachen kramte, doch das tat es nicht. Im Gegenteil freute ich mich sogar darüber.

Lewis schlenderte zur Tür herein und sprang auf die halbhohe Kommode, in der ich die Bettwäsche aufbewahrte. Nachdem ich mich vergewissert hatte, dass meine Strickjacke nicht unter dem Bett lag, erhob ich mich und ging zu ihm. Am Vorabend hatte ich Wäsche aus dem Trockner auf der Kommode platziert. Lewis hatte sich natürlich genau in die Mitte des Haufens gesetzt. Ich schimpfte jedoch nicht mit ihm, da ich in diesem Moment den Jackenärmel entdeckte, der unter dem Wäschehaufen hervorblitzte. »Danke fürs Finden. Gehst du bitte runter?«

Lewis gähnte.

Ich hob ihn hoch, setzte ihn auf dem Boden ab und zog meine Strickjacke unter dem Wäschehaufen hervor. Dabei stieß ich die gerahmte Fotografie um, die meine Eltern als junges Paar am Pier von Brighton zeigte. Ich stellte den Rahmen wieder auf. Mit einem wehmütigen Gefühl im Bauch betrachtete ich das Foto. Mum naschte aus einer gigantisch großen Tüte Fish und Chips. Dad stand hinter ihr, ein bisschen gebückt, damit er sein Kinn in ihre Halsbeuge schmiegen konnte, die Arme hatte er um ihre Taille geschlungen, eine Hand lag schützend auf ihrem Bauch. Man sah es nicht, doch ich war an diesem Tag bei ihnen gewesen, klein wie ein Reiskorn in Mums Bauch. Beide strahlten mit dem wolkenlosen Sommerhimmel um die Wette. Für mich sah Liebe ganz genau so aus! Jedes Mal, wenn ich das Bild betrachtete, erinnerte es mich daran, dass ich mich nie mit weniger zufriedengeben könnte, und wie dankbar ich sein konnte, dass Kjell und ich zusammengefunden hatten.

Heute war das Gefühl allerdings gedämpft. Mit einem Grummeln im Bauch dachte ich an den Angriff vom Morgen. Kjell und ich kannten uns unser ganzes Leben lang, aber kannte ich ihn wirklich oder erfand ich nur Entschuldigungen für ihn?

Lewis maunzte leise. Ich sah zu ihm. So intensiv, wie er mich anstarrte, wollte er wohl auf einen zweiten Starrwettbewerb hinaus. »Sorry, mein Bester, aber ich muss los.« Ich strich ein letztes Mal über seinen Rücken, schlüpfte in die Jacke und eilte in den Flur. Kjell tauchte im Türrahmen auf. In der Hand hielt er Schaufel und Besen. Er leckte sich über die Lippen. »Danke für die Milch.«

Ich nickte knapp. Also hatte er sich entschieden, erst seine Goldene Milch zu trinken, ehe er sich um die Scherben kümmerte.

Er warf einen irritierten Blick auf den Autoschlüssel in meiner Hand. »Wolltest du gerade ohne Abschiedskuss verschwinden?«

»Ich bin ja noch da.«

»Du machst Ausflüchte, Liebling, aber heute darfst du dir erlauben, was du willst. Du hast etwas gut bei mir.« Kjell hob einen Mundwinkel zu dem Halblächeln, das ich so sehr an ihm liebte, weil es ihn jungenhaft und unglaublich verführerisch aussehen ließ. Gleichzeitig zog er sein T-Shirt halb hoch, um sich am Bauch zu kratzen, und präsentierte dabei rein zufällig sein Sixpack.

»Du bist so was von eitel. Glaubst du, das wirkt bei mir?«

»Nicht?«

»Kein Stück.« Das war gelogen, wir wussten es beide. So unwichtig mir Äußerlichkeiten sonst im Leben auch waren, fuhr ich auf Kjells anmutigen schönen Körper total ab.

»Mmmh, ich mag deinen Blick. Soll ich das T-Shirt für dich ausziehen?« Er wedelte mit seinem Handbesen. »Ich könnte nackt putzen. Nur für dich. Bist du interessiert?«

»Vielleicht.« Diesmal war mein Lächeln so echt, wie es nur sein konnte. Ich wusste, dass für viele Menschen der Reiz einer Beziehung schwand, wenn die Partner sich zu gut kannten. Für mich war das genaue Gegenteil der Fall. Ja, Kjell traf nicht immer ins Schwarze, wie sein Vorschlag mit Paris vorhin gezeigt hatte, und er beurteilte die Dringlichkeit von Scherben im Wohnzimmer anders als ich, dennoch kannte er mich besser als jeder andere Mensch. Er war meine Familie. So wie eben, mit ihm herumzuplänkeln war vertraut und gab mir ein Gefühl von Geborgenheit. »Ich werde auf deinen Vorschlag sicher zurückkommen. Du könntest zum Beispiel meine Wäsche machen, während ich im Bett liege und dir dabei zuschaue.«

»Abgemacht, und weil ich ein egoistischer Arsch bin, komme ich heute mit ins Wonderland und helfe dir.« Er zwinkerte mir zu. »Dann bist du am Abend nicht so müde.«

Ich ließ einen bezeichnenden Blick zu seinem immer noch nackten Bauch wandern. »Du würdest mich nur ablenken.«

»Ich verspreche hoch und heilig, dass mein T-Shirt unten bleibt.«

»Hm.«

»Also, kann ich mitkommen?«

Ich nickte zögernd. Kjell würde mich in jedem Fall ablenken, da machte ich mir gar keine Illusionen, doch ich wollte die gute Stimmung zwischen uns nicht schon wieder zerstören. »Einverstanden.«

»Fantastisch. Lass mich nur schnell noch wie versprochen die Scherben im Wohnzimmer beseitigen, dann können wir gehen.« Er zwinkerte mir zu und bewies erneut, wie gut er in mir lesen konnte. »Ich weiß, dass dir die Idee nicht behagt, aber spätestens wenn du mich nachher wie einen Packesel mit dem ganzen Zeug aus deinem Auto beladen kannst, wirst du froh sein, dass ich mitgekommen bin.«

»Heute wird hart gearbeitet, Kjell, ich sag es dir gleich! Für mehr reicht die Zeit nicht.«

»Ist mir klar.«

Statt in der Wohnung auf ihn zu warten, beschloss ich vorauszugehen, um schon mal den Beifahrersitz für ihn frei zu machen. Kjell hatte recht. Mein uralter Mercedes war mit Einkaufstaschen vollgestopft. Doch bereits auf dem Weg zu meinem Parkplatz überlegte ich es mir anders. Ich kannte Kjell. Ich kannte uns. Es war immer dasselbe. Schloss er mich in seine Arme, schmolz meine Widerstandskraft schneller dahin als Schokolade im Wasserbad. Kurz entschlossen setzte ich mich hinter das Steuer. Heute würde ich ihm zur Abwechslung keine Gelegenheit geben, seinen unwiderstehlichen Zauber auf mich zu wirken.

3

Essig für das Eichhörnchen

Ich kauerte unter einem tropfenden Busch und beobachtete Alice, die vor ihrer alten Karre stand, den Nacken leicht eingezogen. Der Nieselregen färbte den herrlichen Rotton ihrer Wuschellocken dunkler. Sie klopfte die Taschen ihrer Strickjacke ab, dann durchsuchte sie zunehmend hektisch ihre riesengroße Handtasche. Ah ja, das Handy. Sie hatte es vermutlich in der Ladestation vergessen, wie so oft. Ich sah, wie sie die Unterlippe zwischen die Zähne sog. Wenn sie das tat, war sie gewöhnlich im Begriff, etwas zu tun, wofür sie sich später entschuldigen musste. Gespannt wartete ich, was passieren würde. Sie ließ den Blick zum Haus hinüberhuschen, in dem sie und Kjell wohnten, dann stieg sie ein. Nach zwei stotternden Versuchen sprang der Motor an und sie brauste davon. Einerseits war das nicht gut. Es wäre besser gewesen, wenn Kjell sie begleitet hätte. Andererseits, wenn wirklich eine Abteilung der Grauen Garde in der Anderswelt auftauchen sollte, um sich Alice zu schnappen, würde ein Mensch ohnehin nichts ausrichten können. Kurz war ich in Versuchung, in meinem feuchten Versteck auszuharren, bis Kjell herausgekommen war. Es würde mir Vergnügen bereiten, die Enttäuschung in seinem Gesicht zu sehen. Kaum war Alice zur Tür hinaus, hatte der Schweinehund mich zur Terrassentür hinausgescheucht. Na gut, ich hatte ohnehin gehen wollen, aber der Punkt war, dass er das nicht gewusst hatte. Allmählich spitzte sich die Lage zwischen uns zu. Vor zehn Tagen hatte er bei einem Tierarzt angerufen und einen Termin für die Kastration ausgemacht. Alice wusste noch gar nichts davon. Ich hatte es auch nur deshalb mitbekommen, weil ich oben auf dem Kleiderschrank gelegen und vor mich hin gedöst hatte, als er sich für das Gespräch ins Schlafzimmer verkrümelt hatte. Seither lief ich ihm im ungünstigsten Moment vor die Füße und brachte ihn damit zum Stolpern, setzte mich auf Alice’ Schoß, wenn er in zärtlicher Stimmung war, und hatte erst kürzlich mit ungeahntem Genuss seine Schuhe markiert. Würde ich mich unauffällig verhalten, wie es die Vernunft gebot, würde er sich mit meiner Gegenwart früher oder später bestimmt arrangieren. Kjell war nicht bösartig, vielleicht ein bisschen zu besitzergreifend, was Alice anbelangte. Sie bedeutete ihm alles. Zumindest hatte ich das angenommen, bis ich vorhin die Würgemale an ihrem Hals entdeckt hatte. Womöglich war es doch gut, dass sie ohne ihn ins Wonderland gefahren war. So gern ich Alice rund um die Uhr bewacht hätte, es war leider nicht möglich. Ab und zu musste ich mich am Königshof blicken lassen und jetzt war es zum Beispiel nötig, einen Abstecher in den Park zu machen. Dort lagen nämlich gleich drei übel zugerichtete Tierleichen, die meiner Aufmerksamkeit bedurften.