Copyright der deutschen Ausgabe: © Junfermann Verlag, Paderborn 2020

Copyright der Originalausgabe: © Imi Lo 2018. This edition in arrangement with Hodder & Stoughton / An Hachette UK Company.

Übersetzung: Renate Weitbrecht, Tübingen

Coverfoto: © Liudmyla – Adobe Stock

Covergestaltung / Reihenentwurf: Junfermann Druck & Service GmbH & Co. KG, Paderborn

Satz, Layout & Digitalisierung: Junfermann Druck & Service GmbH & Co. KG, Paderborn

Alle Rechte vorbehalten.

Erscheinungsjahr dieser E-Book-Ausgabe: 2020

ISBN der Printausgabe: ISBN 978-3-95571-835-0

ISBN dieses E-Books: 978-3-7495-0093-2 (EPUB), 978-3-7495-0095-6 (PDF), 978-3-7495-0094-9 (MOBI).

Einleitung

Manche Menschen empfinden mehr als andere.

Wenn Sie zu diesen Menschen gehören, erleben Sie Gefühle besonders tief und intensiv. Und Ihre Stimmung kann schnell umschlagen. Erst sind Sie himmelhoch jauchzend, dann zu Tode betrübt. Sie wissen sowohl, was Verzweiflung heißt, als auch, was Schönheit und Begeisterung bedeuten. Sie nehmen auch Feinheiten deutlich wahr, deshalb sehen, spüren, bemerken und erinnern Sie viel. Ihr Gehirn verarbeitet Informationen mit einer solchen Geschwindigkeit und Komplexität, dass Sie Ihre Gedanken manchmal gar nicht so schnell in Worte fassen können. Sie haben die angeborene Fähigkeit, sich in die Energie anderer Menschen einzufühlen. In Beziehungen sind Sie von Natur aus intuitiv, liebevoll, idealistisch und romantisch. Sie suchen immer nach einem tieferen Sinn im Leben und haben ein ständiges Bedürfnis, sich weiterzuentwickeln. Vielleicht bekamen Sie schon zu hören, dass Sie „zu intensiv“, „zu sensibel“ oder „zu emotional“ seien und dass Ihr Verhalten entweder „zu dramatisch“ oder „zu schüchtern“ sei.

In den letzten Jahren steigerte ein wachsendes Bewusstsein für emotionale Intensität und Sensibilität das Interesse an diesem Thema, doch bisher konnten sich die Psychologen auf keine Definition einigen. Einige meinen, dass 15 bis 20 Prozent der Bevölkerung hochsensibel sind und deshalb anders ticken. Andere nennen solche Menschen empathisch oder übersinnlich veranlagt oder schlicht dünnhäutig. Schlimmstenfalls unterstellt man ihnen fälschlicherweise eine psychische Erkrankung wie eine Borderline-Persönlichkeitsstörung (BPS), eine bipolare Störung, eine Aufmerksamkeitsdefizit- oder Hyperaktivitätsstörung (ADHS) oder eine Depression.

In diesem Buch werden die Begriffe „Sensibilität“, „emotionale Intensität“ und „emotionale Begabung“ praktisch synonym verwendet. Diese Eigenschaft ist an sich keine Schwäche, sondern eine Stärke, die in unserer Kultur leider oft missverstanden wird. Viele besonders sensible und emotional intensive Menschen verstehen die Absichten, Beweggründe und Wünsche anderer Menschen außergewöhnlich gut und sind auch fähig, ihre eigenen Gefühle, Ängste und Beweggründe zu analysieren. Ihre Intensität ist oft gepaart mit außergewöhnlichen Fähigkeiten auf anderen Gebieten wie der Musik, der bildenden Kunst, des logischen Denkens, des Körperbewusstseins und des Sports. Wie in späteren Kapiteln deutlich werden wird, ist Sensibilität nicht nur eng mit Begabung verknüpft, sondern selbst eine Gabe.

Doch emotional intensive Menschen müssen auch besondere zwischenmenschliche Herausforderungen meistern. Da sie die Fähigkeit, tief und intensiv zu empfinden, oft von klein auf besitzen, also bereits in einem Alter, in dem Kinder ihre Gefühle noch nicht regulieren können, können sie seelische Schäden erleiden, die mit Zurückweisung, Scham und Einsamkeit zusammenhängen. Als begabte Kinder wurden sie entweder überstimuliert oder unterstimuliert, waren also entweder zu vielen oder zu wenigen Reizen ausgesetzt, oder sie wurden durch gesellschaftliche oder kulturelle Vorstellungen von „Angemessenheit“ ausgebremst. Vielleicht fühlten sie sich unzulänglich, schuldig oder für Dinge mitverantwortlich, auf die sie gar keinen Einfluss hatten, oder ihnen wurde vorgeworfen, sie würden „überreagieren“ oder seien „zu empfindlich und zu theatralisch“.

Als Erwachsene werden sie oft von Selbstzweifeln und einem anhaltenden Gefühl existenzieller Einsamkeit gequält. Einerseits müssen sie mit der Feindseligkeit und den Urteilen anderer über sie fertigwerden, andererseits müssen sie Menschen, die von ihrem besonderen Wahrnehmungsvermögen und ihrer Intuition profitieren möchten, Grenzen setzen.

Menschen, die von Geburt an emotional intensiv, sensibel und begabt sind, sind wie Besitzer von Rennwagen. Diese Autos haben extrem starke Motoren, die ein spezielles Benzin und eine besondere Pflege benötigen. In gutem Zustand und richtig gewartet können sie zu den leistungsfähigsten Maschinen der Welt gehören und viele Rennen gewinnen. Problematisch wird es jedoch, wenn ihre Besitzer im Umgang mit diesen Hochleistungsfahrzeugen nicht geschult sind.

Mit diesem Buch möchte ich sensiblen Menschen wie Ihnen den Umgang mit der Erfahrung, intensiv zu leben, erleichtern, indem ich Ihnen helfe, die folgenden Fragen zu untersuchen:

Wenn Sie erst einmal erkannt haben, wo Ihre Schwierigkeiten herkommen, können Sie anfangen, Ihre lange verschütteten Talente wiederzuentdecken. Plötzlich ergibt Ihre Lebensgeschichte einen Sinn. Auf Ihrer Reise zur Heilung und Selbstverwirklichung werden Themen wie authentisches Leben und der Sinn und Zweck des Daseins in den Vordergrund rücken.

Wenn Sie in Ihre eigene Wahrheit eintreten, werden Sie Vertrauen in Ihre ganz eigene Art, die Welt zu erleben, gewinnen und entdecken, was Sie zu bieten haben. Und Sie werden hoffentlich erkennen, dass das Bewusstsein und die Fähigkeiten, die Sie als einzigartiger Mensch haben, nicht nur ungewöhnlich, sondern auch äußerst wertvoll sind.

Intensität und persönliches Wachstum

Oft wissen emotional begabte Menschen nicht, dass es für sie normal ist, Phasen intensiver innerer Konflikte durchzumachen, die manchmal wie „emotionale Krisen“ erscheinen. Diese Phasen sind weder zufällig noch sinnlos und auch kein Zeichen emotionaler Schwäche. Vielmehr gehören sie zu dem lebenswichtigen Prozess, der „positive Desintegration“ genannt wird. Dieses Konzept stammt von dem polnischen Psychologen Kazimierz Dabrowski, der sein Leben der Erforschung der psychologischen Struktur von intellektuell und künstlerisch begabten Menschen widmete. Seine Arbeit bestätigt, dass emotionale Intensität eine Voraussetzung für die Weiterentwicklung solcher Menschen ist. Das Gefühl der Zerrissenheit ist die gespürte Kluft zwischen dem idealen Selbst (wie man gerne wäre) und dem gegenwärtigen Zustand (wie man momentan ist). Es ist intensiv, denn persönliches Wachstum wird erst möglich, wenn man existierende Strukturen niederreißt. Dazu gehört auch, dass man die eigene Art zu denken, zu empfinden und zu leben infrage stellt.

Wachstum bedeutet zu sehen, was man bisher nicht gesehen hat, zu empfinden, was man bisher nicht empfunden hat, und zu tun, was man bisher nicht getan hat. Es setzt voraus, dass man sein bisheriges Selbstbild aufgibt, konventionelle Lebensziele hinterfragt und in einen Zustand des Nichtwissens gerät. Vielleicht muss man auch eine Phase der Einsamkeit durchmachen, in der man sich von seiner sozialen Bezugsgruppe entfremdet, weil deren Normen mit der neu gefundenen Authentizität und höheren Werten unvereinbar sind.

Innere Konflikte sind für emotional begabte Menschen nicht schädlich, sondern entwicklungsfördernd – sie sind „Wachstumsschmerzen“. Nach Dabrowski sind solche Menschen nach einer Phase „positiver Unangepasstheit“ fähig, im Einklang mit ihren höheren Werten wie Vergebung, Authentizität und Kreativität zu leben (Dabrowski, 1966). Mit anderen Worten, emotionale Intensität ist nicht nur ein Nebenprodukt des persönlichen Wachstums, sondern eine wichtige Voraussetzung dafür. Diese Menschen befinden sich aufgrund ihrer intensiven Art und ihres Bestrebens, ihr bestes Selbst zu sein, in einem ständigen schnellen Lernprozess, bei dem sie das Alte abschütteln, um Platz für das Neue zu schaffen. Selbst wenn die damit einhergehenden Schwierigkeiten ihnen manchmal Verdruss bereiten, treibt ihr Bedürfnis nach Authentizität und Erfüllung sie voran.

In jedem emotional intensiven Menschen steckt jemand, der sehr kreativ und leidenschaftlich ist und viel zu geben hat. Sie werden Ihre emotionale Intensität nicht überwinden – aber welchen Grund sollten Sie auch dafür haben? Stattdessen können Sie sie schätzen lernen. Sie können die konventionelle medikalisierende – und letztlich falsche – Sichtweise Ihrer Erfahrung verwerfen und sich eine solche aneignen, die Ihnen hilft, Ihr Potenzial zu verwirklichen.

Was macht dieses Buch anders?

In den letzten Jahren ist in der Psychologie und den Mainstream-Medien das Interesse an Sensibilität, Empathie, Introversion und anderen verwandten Themen stark gestiegen. Doch viele Fragen bleiben offen. Dieses Buch soll eine Lücke füllen, indem es eine alternative Perspektive auf die gegenwärtige Sichtweise von Sensibilität in der modernen Gesellschaft anbietet.

„Es geht nicht nur darum, helles Licht und laute Geräusche zu meiden“: Über die Vermeidung hinausgehen

Wenn man die Literatur für sensible Menschen durchsieht, findet man darin höchstwahrscheinlich Themen wie „Überleben“, „Schutz“ und „Vermeidung“. Leider entsteht bei diesem Ansatz der Eindruck, dass sensible Menschen „zu zerbrechlich für diese Welt“ sind. Die Ratschläge konzentrieren sich darauf, was man gegen das Überwältigtwerden tun kann, zum Beispiel sich von Reizen fernhalten, Grenzen setzen, Kontakte einschränken und Gefühlsvampiren aus dem Weg gehen. Solche Ratschläge haben zwar ihren Wert, aber sie bergen die Gefahr, dass sie die Vorstellung aufrechterhalten, sensible Menschen wären irgendwie unzulänglich oder für diese Welt schlecht gerüstet.

Sensible Menschen sehen und empfinden tief und haben feine Antennen für das, was um sie herum vor sich geht, aber das ist nur ein Aspekt ihrer Natur. Sie sind nicht nur sensibel, sondern auch sehr leidenschaftlich und liebevoll. Viele sind extrovertiert und ziehen Stärke aus dem Zusammensein mit anderen Menschen. Der Schlüssel zu einem erfüllten Leben liegt daher nicht in völliger Zurückgezogenheit und Vermeidung oder in einer Welt ohne Kontakte und Reize.

Viele sensible und emotional intensive Menschen sind auch begabt, und begabte Menschen brauchen ein gewisses Maß an Stimulation, um ihr optimales Funktionsniveau aufrechtzuerhalten. Besonders motiviert und mit anderen verbunden fühlen sie sich, wenn sie Beziehungen zu Menschen haben, deren – intellektuelles, psychologisches und emotionales – Niveau dem ihren entspricht. Für sie ist Unterstimulation, im Leben wie in Beziehungen, ebenso problematisch wie Überstimulation.

Wenn wir uns für Menschen halten, die irgendwie gebrochen und unfähig sind und Schutz brauchen, müssen wir unser Leben auf eine Art gestalten, die eher auf Vermeidung als auf Wachstum und Entfaltung abzielt. Schließlich schrumpft unsere Welt, und wir verlieren unser unendliches Potenzial aus den Augen.

Es wäre jedoch sehr viel hilfreicher, wenn wir uns darauf konzentrieren würden, unsere Resilienz zu stärken und fähig zu werden, offen zu bleiben und mit dem Auf und Ab des Lebens zurechtzukommen. In diesem Buch wird ein anderer Ansatz präsentiert, der zunächst widersinnig erscheinen mag: Statt nach Möglichkeiten zu suchen, uns vor den unvermeidlichen Herausforderungen des Lebens zu schützen, entscheiden wir uns für Offenheit. Statt uns klein zu machen, entfalten wir uns. Um als sensibler Mensch zu gedeihen, muss man sich der Welt öffnen, statt sich abzuschotten.

Unser oberstes Ziel sollte sein, die in uns schlummernden Talente freizusetzen, sodass wir hinausgehen und der Welt zeigen können, was in uns steckt. Das geht nicht, wenn wir in einer Lebensweise gefangen sind, die von Angst bestimmt ist und uns einschränkt. Deshalb möchte ich Sie dazu ermutigen, Ihre Meinung über emotionale Intensität völlig zu ändern: Wir sind keine hilflosen Opfer unserer Eigenschaften, und die Welt ist kein Schlachtfeld, auf dem ein „Ich-gegen-sie“-Kampf tobt. Statt das Bedürfnis, sich zu verstecken und klein zu machen, zu verstärken, werden wir gemeinsam einen Weg finden, uns als die leidenschaftlichen, liebevollen und gebenden Seelen zu zeigen, die wir sind.

„Es braucht viel mehr als nur gute Ernährung und Meditation“: Probleme an ihren emotionalen Wurzeln packen

Zurzeit gibt es jede Menge Lebenshilfe-Bücher für sensible Menschen. Sie enthalten zum Beispiel Tipps, wie sie ihren Schlaf verbessern und durch Meditation, Ernährung und Nahrungsergänzungsmittel Stress reduzieren können. In diesem Buch möchte ich, trotz seiner Praxisbezogenheit, über „Alltagsratschläge“ hinausgehen und tiefer gehend erforschen, wie die persönliche Entwicklung verläuft und welche psychologischen Auswirkungen es hat, wenn man sensibel, emotional intensiv und begabt ist.

Sensibilität ist zwar keine Krankheit, doch sie bringt gewisse Schwierigkeiten mit sich, die wir in diesem Buch thematisieren werden, zum Beispiel den Kummer darüber, missverstanden zu werden, das Gefühl, anders zu sein und zu ticken, und die Frage, wie man mit einem Spektrum an intensiven Gefühlen von Furcht bis Scham umgeht. Obwohl dieses Buch auch praktische Ratschläge enthält, ist es keine „Anleitung“, wie man Probleme löst. Die tief greifendsten und nachhaltigsten Veränderungen ergeben sich aus einer Änderung unserer Einstellung und unserer Grundüberzeugungen über uns selbst und die Welt. Wir werden uns mit den Kernerinnerungen auseinandersetzen, die die auftretenden Probleme verursachen, sodass wir emotionale Schwierigkeiten an ihren Wurzeln packen und beseitigen können. Der Prozess, der vor Ihnen liegt, ist mehr als ein rein intellektueller – er geht mit Veränderungen auf der emotionalen Ebene einher. Das Ziel unserer Arbeit ist, Ihnen durch die Kombination von traditionellen psychologischen Theorien und spiritueller Weisheit zu helfen, verborgene emotionale Schmerzpunkte freizulegen und Ihr angeborenes Potenzial zu verwirklichen.

Das Thema Begabung

Die meisten begabten Menschen wissen aus eigener Erfahrung, was es heißt, hochsensibel zu sein und intensiv zu empfinden. Wie ich in späteren Kapiteln noch ausführen werde, reagieren die meisten begabten Menschen überdurchschnittlich stark auf intellektuelle, sinnliche, körperliche und emotionale Reize. Psychologen nennen diese starken Reaktionen „Erregungen“. Studien zeigen, dass Erregbarkeit ein Merkmal eines hohen Entwicklungspotenzials ist, das oft mit besonderen Fähigkeiten und Talenten einhergeht. Doch nur sehr wenige untersuchten bislang die Beziehung zwischen emotionaler Intensität, Sensibilität und Begabung, vielleicht weil Begabung in unserer Gesellschaft ein überfrachteter Begriff ist. Für viele ist Begabung eng über den IQ definiert. Tatsächlich kommt Begabung jedoch in allen Formen und Größen vor und beschränkt sich nicht auf intellektuelle Fähigkeiten. Neben außergewöhnlichen Talenten auf den Gebieten der Musik, der bildenden Kunst oder des Sports gibt es auch noch die interpersonale Intelligenz, die intrapersonale Intelligenz und die spirituelle Intelligenz, mit denen sich allerdings nur wenige beschäftigen.

„Begabt“ ist einfach ein Wort, mit dem Menschen beschrieben werden, die eine andere neurologische Ausstattung und andere Bedürfnisse haben. So wie die Augenfarbe oder die Körpergröße ist Begabung eine neutrale angeborene Eigenschaft. Begabt zu sein heißt nicht, dass Sie anderen überlegen sind. Es kann einfach bedeuten, dass Sie anders ticken. Und es stellt Sie vor spezielle Herausforderungen. Begabte brauchen unbedingt einen sicheren Raum, der frei von Urteilen und Kritik ist, in dem sie über die Freuden und Leiden reden können, die diese Eigenschaft mit sich bringt.

Lassen Sie uns beginnen

Ihre Identität als emotional und empathisch begabter Mensch zurückzugewinnen heißt, dass Sie Ihre speziellen Bedürfnisse respektieren und vor allem, dass Sie sich nicht dafür schämen, anders zu sein. Gerade Ihre Sensibilität und Intensität können Sie zu außergewöhnlichen Leistungen befähigen. Für Ihr persönliches Wachstum – und den Menschen um Sie herum zuliebe – ist es daher sehr wichtig, dass Sie Ihre wahre Identität bejahen und erkennen, dass Ihre einzigartigen Eigenschaften keine Schwächen, sondern Vorzüge sind.

In diesem Buch werden wir uns mit einer ganzen Reihe von Themen auseinandersetzen. Durch verschiedene Übungen möchte ich Ihnen helfen, zu einer neuen Sichtweise Ihrer Vergangenheit zu gelangen, neue Weg zu finden, Ihr gegenwärtiges Leben zu meistern, und sich neue Möglichkeiten zu erschließen. Ihre persönlichen Lebensumstände, Werte und Überzeugungen werden Ihnen Ihren eigenen Weg aufzeigen. Manche Ideen und Konzepte werden Sie mehr ansprechen als andere. Es steht Ihnen frei, nur die aufzugreifen, mit denen Sie etwas anfangen können, und den Rest zu vergessen.

Imi Lo

http://www.eggshelltherapy.com

Denkanstöße

Bevor Sie beginnen, möchten Sie vielleicht über die folgenden Fragen nachdenken:

  1. Wo befinden Sie sich auf Ihrer Reise von der Heilung zur Selbstverwirklichung?
  2. Welche Aspekte Ihres Lebens erfordern momentan die größte Aufmerksamkeit?
  3. Was hoffen Sie durch die Lektüre dieses Buches vor allem zu erreichen?
  4. Welche Art von Unterstützung könnten Sie während dieses Prozesses benötigen?
  5. Was ist der erste Schritt, den Sie auf dem Weg zu Ihrem psycho-spirituellen Wachstum gerne machen würden?

4. Emotionale Intensität und geistige Gesundheit

4.1 Was ist normal?

Die Gesellschaft hat bestimmte Maßstäbe für das, was normal ist. Traditionell hat die Forschung den Eigenarten von Menschen, die nicht ganz der Norm entsprechen, entweder wenig Beachtung geschenkt oder, was noch schlimmer ist, sie als krankhaft betrachtet. Selbst auf dem Gebiet der Psychologie hat nur Dabrowskis Theorie der emotionalen Entwicklung die Gaben jener Menschen gewürdigt, die Gefühle intensiv erleben. Doch aufgrund technologischer und medizinischer Fortschritte erkennen inzwischen immer mehr Forscher das Konzept der Neurodiversität an. Es macht deutlich, dass es unendlich viele Variationen in der Vernetzung des menschlichen Gehirns gibt und die Vorstellung von einer „normalen“ oder „gesunden“ Seinsweise auf dieser Welt schlicht ein kulturelles Konstrukt ist.

Intensive Menschen besitzen Fähigkeiten und Eigenschaften, die sich von dem, was „neurotypisch“ ist, unterscheiden. In diesem Sinne entsprechen sie nicht den vorherrschenden gesellschaftlichen Vorstellungen von „Normalität“. Als intensiver Mensch erfahren Sie vielleicht das Leben anders als die Menschen um Sie herum, und es gibt viele Möglichkeiten, wie Sie missverstanden werden können. Vielleicht fällt es Ihnen beispielsweise schwer, sich an bestimmte gesellschaftliche Konventionen oder Standardabläufe zu halten – besonders wenn Sie keinen Sinn in ihnen sehen –, und andere betrachten Ihre Haltung als rebellisch oder unkooperativ. In einer konventionellen Einrichtung können Ihre Wissbegierde und Neugier unerwünscht sein. Oder man könnte Sie wegen Ihrer breit gefächerten Interessen für entscheidungsschwach oder desorganisiert halten. Ihre angeborene Fähigkeit, schnell viele Informationen zu sammeln und viele verschiedene Möglichkeiten zu erkennen, kann es Ihnen schwer machen, Geduld zu bewahren, wenn Sie mit dem Status quo unzufrieden sind. Und Ihre Fähigkeit, kritisch über sich selbst und andere nachzudenken, kann Sie intolerant erscheinen lassen. Wegen all dieser Eigenschaften können andere Sie als „zu viel“ empfinden oder für „exzessiv“ halten. Doch was andere für extrem oder neurotisch halten, kann für Sie ganz natürlich sein. Wie wir im vorigen Kapitel gesehen haben, ist es eine hinlänglich bekannte Tatsache, dass begabte Menschen eine erhöhte emotionale, intellektuelle, imaginationale, sensorische und psychomotorische Erregbarkeit besitzen. Vielleicht sind Sie gar nicht „zu sensibel“ oder „zu viel“. Vielleicht ist es so, dass die Welt durch die Stärke und Erfahrung jener Menschen, die mit psychologischer Komplexität und Reaktionsschnelligkeit gesegnet sind, „auf Trab gebracht“ werden muss.

Da es den meisten Menschen, auch vielen Psychiatern und Psychotherapeuten, an genauen Informationen und Kenntnissen über Sensibilität und emotionale Intensität fehlt, werden die meisten kreativen, fortschrittlich und unabhängig denkenden Menschen falsch eingeschätzt und falsch diagnostiziert. Ihre starken Gefühle werden als bipolare Störung missverstanden, und ihre extremen Stimmungsschwankungen können – zusammen mit häufigen Komplikationen in Beziehungen und heftigen emotionalen Reaktionen – wie eine Borderline-Persönlichkeitsstörung aussehen. Es ist wichtig, zu begreifen, dass nicht jeder Mensch, der Gefühle intensiv erlebt, eine psychische Störung hat – nur Rigidität, also eine fehlende Flexibilität, ist pathologisch. Zudem beschreibt eine psychiatrische Diagnose nur ein Muster von Symptomen, die auf einen inneren Konflikt und eine Erkrankung hindeuten. Der tatsächliche Unterschied zwischen der einen und der anderen Störung ist in Wahrheit unklar. Diese willkürlichen Kategorien existieren, damit Kliniker auf ein standardisiertes Bezugssystem zurückgreifen können, in dessen Rahmen sie Studien durchführen oder Medikamente verschreiben können. In manchen Teilen der Welt erfüllen sie auch für die Versicherungsindustrie einen bestimmten Zweck. Das dominante medizinische Modell ist ein relativ begrenztes Rahmenkonzept und birgt die Gefahr zu übersehen, dass psychologischer Distress einfach das Ergebnis davon sein kann, dass wir unsere absolute Einzigartigkeit als Individuen nicht würdigen.

4.2 Die Borderline-Persönlichkeitsstörung und Empathie

Trotz der Bezeichnung „Persönlichkeitsstörung“ hat die BPS nichts mit Charakterfehlern zu tun. Typisch für sie ist eine eingeschränkte Fähigkeit, Gefühle zu regulieren. Sie beginnt gewöhnlich während der Pubertät oder im frühen Erwachsenenalter und äußert sich durch extreme emotionale Reaktionen im Kontext von instabilen Beziehungen. Menschen mit BPS können auch häufige Stimmungsumschwünge erleben oder ein chronisches Gefühl innerer Leere empfinden, und manche wenden impulsive Selbstberuhigungsstrategien an, um diesen Symptomen entgegenzuwirken. Die BPS wird immer noch weiter erforscht, um sie besser zu verstehen, aber es besteht Einigkeit darüber, dass sie sowohl durch genetische Faktoren als auch durch Umwelteinflüsse verursacht wird.

Es wird zunehmend anerkannt, dass viele Menschen, die die Diagnose BPS erhalten, eine erhöhte Sensibilität und ein gesteigertes Wahrnehmungsvermögen besitzen. Was früher als genetische Vulnerabilität betrachtet wurde, könnte tatsächlich eine Erscheinungsform einer außergewöhnlichen Fähigkeit sein. Studien zeigten, dass Menschen mit einer BPS offenbar eine verblüffende Sensibilität für unbewusste mentale Inhalte anderer Menschen haben – für Gedanken und Gefühle und sogar für körperliche Empfindungen. Anscheinend haben sie auch ein Talent, andere zu beeinflussen (Park et al., 1992). Es wurde festgestellt, dass Menschen mit einer BPS im Vergleich zu Menschen ohne BPS eine erhöhte Sensibilität für nonverbale Signale zeigten (Domes, Schulze und Herpertz, 2009). Eine bekannte Studie untersuchte zum Beispiel, wie Menschen mit BPS im Vergleich zu Versuchspersonen ohne BPS auf Fotos von menschlichen Augenpaaren reagierten. Die Forscher stellten fest, dass die BPS-Gruppe besser in der Lage war, richtig einzuschätzen, welche Gefühle diese Augen ausdrückten, dass sie also eine gesteigerte Sensibilität für die Seelenzustände anderer zeigten (New et al., 2012).

Obwohl die Verbindung zwischen BPS und Empathie umstritten bleibt, identifizieren sich viele Menschen, die unter einer BPS leiden, mit den Eigenschaften eines „Empathen“ oder einer hyperempathischen Person. Ein Empath ist extrem empfänglich für die Gefühle und die Energie von anderen Menschen, Tieren und Orten (Orloff, 2018). Psychologen stellten fest, dass hochgradig empathische Menschen stärker auf soziale Stimuli reagieren (Eisenberg und Miller, 1987), Gefühle bei anderen besser erkennen und anfälliger für „empathischen Distress“, das Mitgefühlserschöpfungssyndrom und einen Burn-out sind (Chikovani et al., 2015). Doch Menschen mit einer BPS haben trotz ihrer gesteigerten Empathiefähigkeit Schwierigkeiten im Umgang mit sozialen und interpersonalen Situationen. Weil sie nicht fähig sind, ihre Gefühle zu regulieren, und in Beziehungen Bindungsprobleme haben, äußert sich ihre Hypersensibilität in Form von Gefühlsstürmen und Stimmungsschwankungen (Fonagy, Luyten und Strathearn, 2011). Obwohl Menschen mit einer BPS die Gabe besitzen, andere zu durchschauen, können sie von stressigen Situationen leicht getriggert werden und unter der ständigen Angst leiden, zurückgewiesen und verlassen zu werden (Fertuck et al., 2009). Dieses Phänomen ist als Borderline-Empathie-Paradox bekannt (Franzen et al., 2011).

4.3 Die Beziehung zwischen Sensibilität und psychischer Krankheit

Die Beziehung zwischen emotionaler Begabung und psychischer Krankheit ist kompliziert. In manchen Fällen entwickelten Menschen eine hohe Empathie, weil sie in einem unberechenbaren und traumatisierenden Umfeld aufwuchsen. Viele Menschen mit BPS haben eine Vorgeschichte von Missbrauch, Vernachlässigung oder längerer Trennung von ihren wichtigsten Bezugspersonen während ihrer Kindheit. Einige Studien belegen, dass ein hoher Prozentsatz der Menschen mit dieser Störung Missbrauch erlebt hat (Zanarini, 1997). Als Reaktion auf Misshandlung und Vernachlässigung lernten solche Kinder, ihre Empathiefähigkeit zu verbessern, um sich zu schützen. Ihr Umfeld brachte sie dazu, feine Antennen für die unbewussten Signale der Erwachsenen zu entwickeln, von denen sie abhängig waren, um gegen deren unberechenbare Verhaltensweisen besser gewappnet zu sein.

Doch Umweltfaktoren allein können das Auftreten einer psychischen Störung nicht vollständig erklären. Geschwister, die im selben Haushalt aufwuchsen, sind nicht immer gleichermaßen betroffen. Deshalb müssen auch biologische und angeborene temperamentbezogene Faktoren berücksichtigt werden, die die individuellen Reaktionen auf traumatische Ereignisse beeinflussen. Wie die Psychologen Bockian und Villagran (2011, S. 30) schrieben: „Es ist extrem unwahrscheinlich, dass jemand mit einem ruhigen, passiven, zurückhaltenden, reservierten Temperament je eine Borderline-Persönlichkeitsstörung entwickelt.“ Kinderpsychologen fanden heraus, dass es eine Untergruppe von Kindern mit erhöhter Sensibilität für die soziale Mitwelt gibt, deren Entwicklung und emotionale Stabilität entscheidend von Bedingungen in ihrer frühen Kindheit abhängen (Tschann et al., 1996). Bei einer frühen Traumatisierung besteht bei dieser Gruppe von Kindern das Risiko, psychische Störungen zu entwickeln.

Mit anderen Worten, ernsthafte Schwierigkeiten mit der Gefühlsregulation sind keine direkte Folge einer angeborenen emotionalen Intensität, sondern das Ergebnis von zwei zusammenwirkenden Faktoren:

  1. Eine angeborene gesteigerte Sensibilität und Wahrnehmungsfähigkeit.
  2. Negative Kindheitserfahrungen in einem unzulänglichen Umfeld, das den emotionalen Bedürfnissen des Kindes nicht gerecht wurde.

Unter günstigen oder „passablen“ Bedingungen entwickelt sich ein Kind, das sensibel und emotional intensiv geboren wurde, nicht zu einem Erwachsenen mit ernsten emotionalen Problemen. Doch wenn seine wichtigsten Bezugspersonen unfähig sind, sich auf es einzustimmen, oder es wegen seines scharfen Wahrnehmungsvermögens sogar als lästig oder bedrohlich empfinden und es vernachlässigen oder misshandeln, kann das seine gesunde Entwicklung nachhaltig stören. Bindungstheorien besagen, dass Kinder alles tun, was sie können, um ein gutes Bild von ihren Eltern zu bewahren, weil es ihnen in jungen Jahren unmöglich ist, die Menschen, von denen sie abhängig sind, als „böse“ wahrzunehmen (Winnicott, 1960). Selbst wenn ihre Eltern unfähig sind und sie vernachlässigen, misshandeln oder missbrauchen, werden sie deshalb automatisch sich selbst die Schuld geben.

Einige Studien ergaben, dass ein ständiges negatives Feedback auf die intuitiven Wahrnehmungen des jungen Menschen besonders schädlich ist (Park et al., 1992). Wenn die Eltern die Eigenarten des Kindes explizit oder implizit ablehnen, wird das Kind die Scham über die Zurückweisung verinnerlichen und sich als durch und durch schlecht empfinden (toxische Scham), und sein angeborenes Empfindungs- und Wahrnehmungsvermögen wird von negativen Verzerrungen und Projektionen überlagert. Ohne ein Umfeld, in dem es sichere Bindungen erlebt und lernen kann, gesunde Grenzen zu setzen, hat es auch keine Möglichkeit zu lernen, wie es sich selbst beruhigen und Gefühle regulieren kann. Solche Kinder leben auch noch als Erwachsene mit einer ständigen Angst, verlassen, verraten und zurückgewiesen zu werden, und einem tiefen Gefühl innerer Leere.

Selbst wenn emotional intensive Menschen und ihre Eltern die besten Absichten haben, erkennen oder würdigen sie manchmal nicht, dass sie begabt sind, und sind sich deshalb der Auswirkungen ihrer Übererregbarkeiten nicht bewusst. Wenn ein Kind mit dem Gefühl durchs Leben geht, dass es fehl am Platz ist, ohne zu wissen warum, kann es schnell zu dem Schluss gelangen, dass mit ihm etwas nicht stimmt. Das führt zu einem Teufelskreis von Depressionen, der schließlich zu einer tatsächlichen klinischen Störung eskaliert.

Wir wollen hier nicht die Richtigkeit aller psychiatrischen Diagnosen oder die Notwendigkeit einer angemessenen Behandlung im Falle eines schweren psychischen Traumas infrage stellen. Aber es ist wichtig, Schwierigkeiten auf den Grund zu gehen. Sie können angeborene Tendenzen widerspiegeln und sind oft eher eine Folge der wiederholten Erfahrung, missverstanden zu werden, als ein Zeichen für irgendeine Störung. Wir müssen uns sehr davor hüten, irgendwelche restriktiven Kategorien, Diagnosen und Stigmatisierungen im Zusammenhang mit emotionaler Intensität zu bestärken.

Selbst wenn es Ihnen schwerfällt, Ihre Gefühle zu kontrollieren, oder wenn Sie mit toxischer Scham zu kämpfen haben, hoffe ich, dass Sie Ihre Lebensgeschichte neu überdenken können: Ihre Schwierigkeiten sind nicht Ihre Schuld, und die Scham, die Sie mit sich herumtragen, ist eine natürliche Reaktion darauf, dass Sie als Kind von Ihrem Umfeld nicht ausreichend unterstützt wurden. Mit dem richtigen Wissen und durch Übung können Sie lernen, die Wellen des Lebens mit Leidenschaft und Gelassenheit auf und ab zu reiten. Ihre Seele strebt immer in Richtung Heilung und Integration. Selbst wenn Sie verletzt wurden – sobald Sie erkennen und darauf vertrauen, dass Sie im Grunde gut sind, werden die Genesung und Integration von selbst beginnen.

Sie können die Vergangenheit zwar nicht ändern, aber Sie können die Geschichte, die Sie sich selbst erzählen, neu schreiben. Sie sind keineswegs „schlecht“ oder „zu viel“. Sie sind ein sensibler, intuitiver, begabter Mensch, der möglicherweise als Kind nicht die richtige Unterstützung erhielt. Ihre besondere Fähigkeit, Feinheiten sehr bewusst und genau wahrzunehmen, ist etwas Seltenes und Kostbares. Wenn Sie auf die innere Stimme der Vernunft und Wahrheit hören (die manchmal zwar schwach ist, aber immer wusste, dass eigentlich nichts falsch daran ist, wie Sie sind und empfinden), können Sie auf Ihre Befreiung hinarbeiten und die lange vergessenen Gaben, die in Ihnen schlummern, wiederentdecken.

7. In der Seele

7.1 Die Scham darüber, „zu viel“ zu sein

Viele sensible Menschen haben schon oft die Erfahrung gemacht, dass sie missverstanden und ausgegrenzt werden. Wenn Ihre Versuche, Ihr spontanes natürliches Selbst zu sein, auf Ablehnung stoßen, empfinden Sie Scham. Nach einer Weile verinnerlichen Sie möglicherweise die Botschaft, dass mit Ihnen etwas nicht stimmt. Anders zu sein kann einsam machen, aber was wirklich schmerzt, ist das Gefühl, dass Sie als Mensch „nicht in Ordnung“ sind.

Wenn Scham toxisch und chronisch wird, wird das Selbstgefühl völlig von ihr bestimmt. Jemand, der immer wieder zurückgewiesen oder gedemütigt wird, spürt, dass das daran liegt, wie er ist, und nicht an irgendetwas, was er getan hat. Wenn er eine chronische Scham entwickelt und verinnerlicht, meint er schließlich, von Natur aus schlecht und völlig unzulänglich zu sein. Das ist nicht nur ein Gefühl, sondern wird zu seinem Selbstverständnis, seinem Seinszustand.

Chronische Scham schwächt und lähmt. Vielleicht sind Sie überwachsam und neigen zu übertriebener Besorgnis, weil Sie glauben, dass Sie nicht das Recht haben, Fehler zu machen. Und wenn Ihnen einer unterläuft, meinen Sie vielleicht, dass Sie selbst der Fehler sind. Sie finden sich schnell abstoßend, hässlich, dumm oder unzulänglich. Vieles von dem, was wir als Angst oder Panik kennen, ist auf Scham zurückzuführen. Zum Beispiel ist eine Sozialphobie die Furcht davor, sich von anderen Leuten bloßgestellt oder gedemütigt zu fühlen. Sie entspringt einem tiefen Gefühl der Unzulänglichkeit und der Sorge, dass dieses „unzulängliche Selbst“ entlarvt werden könnte.

Wenn Sie von Situationen im Leben, in denen Sie sich bloßgestellt, gedemütigt oder blamiert fühlen oder sich als „zu viel“ empfinden, getriggert werden, bekommen Sie vielleicht eine Schamattacke mit körperlichen Symptomen – Ihr Körper gerät in einen Schockzustand, Ihr Puls beschleunigt sich und Ihre Handflächen beginnen zu schwitzen. Nach der anfänglichen Schockreaktion verwandelt sich die Scham in einen Zustand der Hilflosigkeit und Verzweiflung. Sie brechen zusammen, sowohl äußerlich als auch innerlich. Sie können das Gefühl haben, dass alles Blut aus Ihnen abfließt und dass Sie sich zusammenkauern, den Kopf senken und es vermeiden müssen, irgendjemandem in die Augen zu sehen. Viele Menschen beschreiben die Erfahrung einer Schamattacke als „ein Erdbeben“ oder „als würde mir der Boden unter den Füßen weggezogen“. Danach fühlen sie sich ungeschützt und wund, „als liefen sie ohne Haut herum“. In extremeren Fällen können Selbsthass und Hilflosigkeit zu Selbstmordgedanken und selbstverletzendem Verhalten führen.

Scham kann sich auch auf eine andere Art zeigen, nämlich als strenger innerer Kritiker – eine innere Stimme, die sagt: „Du bist zu nichts nutze“, „Die Leute mögen dich nicht“, „Du wirst es nie schaffen, wahre Liebe zu finden und dazuzugehören“. Die Scham sagt: „Nichts, was du tust, ist gut genug“, „Mit dir stimmt etwas ganz und gar nicht“, „Du bist schlecht und gefährlich“. Sie kann sogar zu einer erschreckend zerstörerischen Stimme werden, die sagt, dass Sie keinen Platz auf dieser Welt verdienen.

Scham ist der stärkste aller Faktoren, die Sie von einem authentischen Leben abhalten. Wenn Sie Scham verinnerlicht haben, versuchen Sie möglicherweise, Ihr wahres Selbst vor sich zu verbergen. Wenn Sie den leidenschaftlichsten, kreativsten und spontansten Teil Ihrer Persönlichkeit verdrängen, wird er Ihnen fremd. Im Grunde versuchen Sie, diesen Teil Ihrer Wahrheit zu vergessen, indem Sie Ihre Gefühle, Bedürfnisse und Neigungen verleugnen. Um zu überleben, präsentieren Sie der Welt vielleicht ein „falsches Selbst“ und verbergen, wie Sie wirklich sind. Dadurch wird es für Sie immer schwerer, Ihr wirkliches Selbst zu akzeptieren. Wenn Sie Ihr Leben lang versuchen, anderen mit einer Maske, die Sie sich aufgesetzt haben, zu gefallen, werden Sie sich schließlich gar nicht mehr vorstellen können, dass Ihr authentisches Selbst liebenswert ist. Der Teufelskreis setzt sich fort, was dazu führt, dass Sie sich weiter zurückziehen und passiv bleiben.

Scham blockiert auch Ihr kreatives Potenzial. Wenn Sie sich ständig beobachten, kontrollieren und einschränken, bleibt wenig Raum für Verspieltheit, Spontaneität und Freude. Sie schieben Dinge auf die lange Bank, weil Sie meinen, Sie sollten sie entweder perfekt machen oder gar nicht. Oder Sie fühlen sich zu müde, um irgendetwas zu tun, weil Sie Ihre ganze Energie darauf verwenden, Ihr verletztes Selbst vor weiteren Schamattacken zu schützen. Da Sie aufhören, sich frei auszudrücken, fühlen Sie sich mehr und mehr von Ihrer natürlichen Vitalität abgeschnitten, und Ihre Kreativität wird erstickt.

Doch es wird Ihnen nicht sehr lange gelingen, Ihr Verlangen nach Selbstausdruck zu unterdrücken. Selbst wenn Sie die Stimme Ihres wahren Selbst ignoriert und zum Schweigen gebracht haben, ist sie trotzdem noch da und wird sich zwangsläufig wieder melden. Hinter Ihrer leichten Depression und Ihrer inneren Leere verbirgt sich der Schmerz über den Verlust Ihres wagemutigen und leidenschaftlichen Selbst. Je mehr Sie sich dagegen wehren, desto heftiger rüttelt das Leben Sie irgendwann wach. Möglicherweise sehen Sie sich plötzlich mit unerwarteten persönlichen Ereignissen konfrontiert, die das Gebäude Ihres Lebens gewaltsam niederreißen. Ernste Erkrankungen, Unfälle und spirituelle Krisen können Wendepunkte darstellen, die Ihnen keine andere Wahl lassen, als sich mit Ihrem emotionalen Ballast auseinanderzusetzen. Andere, subtilere Warnsignale können erst mit der Zeit erkennbar werden: Vielleicht können Sie nicht länger leugnen, wie müde und unzufrieden Sie sich in einem Job ohne Perspektive, einer Stellung ohne Aufstiegsmöglichkeiten oder einer hoffnungslos verfahrenen Beziehung fühlen. Vielleicht rebellieren Ihr Körper und Ihre Seele und reagieren mit einer körperlichen Erkrankung oder einem Nervenzusammenbruch.

Weil Scham uns völlig machtlos macht und schrecklich unangenehm ist, lassen wir meistens nicht zu, dass sie lange anhält. Unsere automatischen Schutzreaktionen sind die dissoziative Abspaltung und die Vermeidung. Wir können emotional taub werden oder versuchen, uns durch Vergnügungen, zwanghafte Verhaltensweisen oder die Übererfüllung von Aufgaben abzulenken. Oder wir überspielen die Scham mit Wut oder aufgeblasenem Stolz. Keine dieser Strategien bietet dauerhafte Lösungen. Je mehr wir Scham zu vermeiden suchen, desto stärker bestimmt sie unser Leben. Ein wichtiger erster Schritt ist das Kennenlernen der Scham, ohne sich vorzuwerfen, dass man sich schämt. Um aus chronischer Scham herauszukommen, können mehr als ein paar Schritte nötig sein. Doch Ihr Körper und Ihre Seele streben von Natur aus nach Heilung und Integration. Mit den richtigen Werkzeugen können Sie wachsen und sich von demütigenden Erfahrungen erholen, so schmerzlich sie auch gewesen sein mögen.

Die nachfolgende Liste fasst einige der Anzeichen zusammen, die auf chronische Scham hindeuten:

 Übung: Ihre Scham kennenlernen

  1. Schließen Sie die Augen, lassen Sie den Kopf hängen und den Körper zusammensacken. Durchforsten Sie nun Ihr Gedächtnis nach einer Situation in Ihrer Kindheit, in der Sie sich entweder von einer Autoritätsperson oder von einem Kind aus Ihrem Bekanntenkreis gedemütigt fühlten. Es kann jede Situation sein, in der Ihnen unmissverständlich gesagt wurde, dass Sie irgendwelche gravierenden Fehler oder Defizite hätten. Scham hat viel damit zu tun, dass wir die Erwartungen anderer Menschen nicht erfüllen – auf eine Art verinnerlichten wir einfach die Werte derjenigen, die uns zu demütigen versuchten.
  2. Betrachten Sie im Geiste die damalige Situation. Wie alt waren Sie? Wo waren Sie? Was geschah? Wurden Ihre Schamgefühle von einer anderen Person oder von einem harten Urteil Ihres inneren Kritikers oder von beidem ausgelöst?
  3. Achten Sie auf Ihre unwillkürlichen Reaktionen auf Scham. Scham kann sich anfühlen, als würde man sich zusammenziehen. Verspannte sich Ihr Körper? Spürten Sie Hitze in Ihrem Kopf und Ihrem Gesicht? Hatten Sie vielleicht einen Blackout? Verloren Sie vorübergehend das Zeitgefühl oder die Erinnerung?
  4. Rufen Sie sich ins Gedächtnis zurück, wie Sie damals mit der Scham umgingen. Was geschah nach dem Vorfall? Wurden Sie wütend und wehrten sich? Oder brachen Sie zusammen und zogen sich zurück?
  5. Erinnern Sie sich nun, da das Gefühl der Scham noch in Ihnen nachwirkt, an eine Situation aus der letzten Zeit, in der Sie Scham empfanden. Es kann ein großes oder kleines Geschehnis daheim oder am Arbeitsplatz sein – irgendeine Situation, in der Sie eine ähnlich beschämende Erfahrung machten wie damals als Kind. Betrachten Sie sie wieder im Geiste. Wo waren Sie? Was geschah?
  6. Rekapitulieren Sie nun, wie Sie als erwachsener Mensch mit der Scham umgingen. Wandten Sie die gleiche Strategie an wie als Kind? Empfanden Sie Wut oder Rachegelüste? Oder hätten Sie sich vielleicht am liebsten verkrochen? Verfielen Sie in eskapistische Verhaltensmuster wie übermäßiges Essen oder Trinken? Manchmal greifen wir, ohne uns dessen bewusst zu sein, auf weniger offensichtliche Strategien zurück und legen zum Beispiel ein zwanghaftes Kontrollverhalten an den Tag oder versuchen, anderen zu gefallen, um unsere chronische Scham zu bekämpfen.

7.2 Gefühlsstürme und Kontrollverluste

Ein häufiges Problem von emotional intensiven Menschen sind Gefühle des Kontrollverlusts. Vielleicht haben andere Sie schon einmal als „emotional instabil“ beschrieben, weil Ihre emotionalen Reaktionen und Stimmungswechsel so schnell und intensiv sind. Doch es ist mehr als nur ein Stimmungsumschwung, wenn man sich außer Kontrolle fühlt. Es ist, als wären in Ihnen verschiedene Personen, von denen jede ihre eigenen Marotten, Gefühle und Charaktereigenschaften hat. Sie können das Gefühl haben, dass Sie von einer Minute zur anderen aus Ihrem „normalen Modus“ in einen anderen „Modus“ geraten, in dem Sie wie eine ganz andere Person empfinden und handeln. Zum Beispiel können Sie in einem „wütenden Modus“, einem „traurigen Modus“ und einem „abgeschalteten Modus“ sein. Vielleicht sind Sie im einen Moment impulsiv und im nächsten distanziert und innerlich taub. Wenn Sie in einem „zerstörerischen Modus“ sind, scheinen die anderen, gesünderen und kreativeren Teile von Ihnen zu verschwinden, und Sie sind unfähig, sich wieder zu beruhigen. Dann tun Sie Dinge, die Sie nicht tun wollen, empfinden Dinge, die Sie nicht empfinden wollen, und sagen Dinge, die Sie nicht sagen wollen. Erschwerend kommt noch hinzu, dass Sie manchmal die Auslöser Ihrer plötzlichen Anwandlungen gar nicht kennen. Sie können sich beim Aufwachen einfach schlecht fühlen, ohne zu wissen warum.

Die Macht unserer Erinnerungen

Schauen wir mal, wie erkenntnispsychologische und neurowissenschaftliche Theorien diese plötzlichen und drastischen Veränderungen Ihrer Gefühle und Ihres Verhaltens erklären.

Tagtäglich nehmen wir mit unseren fünf Sinnen Informationen aus der Außenwelt auf. Als Erwachsene verbinden wir die gesammelten Informationen automatisch mit dem Wissen, das bereits in unserem System gespeichert ist, um zu verstehen, was vor sich geht. Zum Beispiel verbinden Sie im Augenblick die Worte, die Sie lesen, mit Ihren Kenntnissen der Grammatik, der Syntax und des Wortschatzes der deutschen Sprache, die in Ihrem Gedächtnis gespeichert sind. Auf die gleiche Weise bilden Ihre Erinnerungen die Grundlage Ihrer gegenwärtigen Wahrnehmungen. Wie Sie auf Menschen und Ereignisse in Ihrem Leben reagieren, wird zum großen Teil von Ihren bisherigen Erfahrungen bestimmt.

Aus psychologischer Sicht lässt sich das Verhältnis zwischen bewussten und unbewussten Erinnerungen mit einem Eisberg vergleichen: Der größte Teil unserer Erinnerungen ist verborgen und unbewusst. Alles, was Ihnen je widerfahren ist, ist in Ihrem Gedächtnis erfasst, selbst wenn Sie sich nicht bewusst daran erinnern. Ihre gegenwärtigen Ansichten, Emotionen und Empfindungen sind nicht bloß Reaktionen auf aktuelle Ereignisse, sondern auch Ausdruck von Informationen, die physiologisch in Ihrem Gedächtnis gespeichert sind.

Nach dem Modell der adaptiven Informationsverarbeitung, kurz AIP-Modell (Shapiro, 2007), hat unser Gehirn ein Verarbeitungssystem, das auf Integration und Heilung programmiert ist. Solange es nicht gestört wird, kann es nützliche und stärkende Erinnerungen mit den schwierigen verbinden, um uns zu helfen, ein gewisses emotionales Gleichgewicht aufrechtzuerhalten.

Doch wenn wir eine ungewöhnlich schmerzliche oder traumatische Situation erleben, die uns überwältigt, zum Beispiel wenn wir als Kind wiederholt gedemütigt und beschämt werden, wird die adaptive Verarbeitung gestört.

In den ersten sechs Lebensjahren leben wir in einem sogenannten Delta-Theta-Gehirnwellen-Zustand. Bevor wir fähig sind, rational zu denken oder uns auszudrücken, werden all unsere Erfahrungen – gute, schlechte und hässliche – auf der Denkebene eines Kindes erfasst. Das ist besonders problematisch, denn die Erinnerung an die schmerzliche Situation wird in ihrer ursprünglichen Version im Gehirn gespeichert, mit den instinktiven Reaktionen und dem logischen Denken eines kindlichen Geistes. Falls wir uns zum Beispiel als fünfjähriges Kind ungeliebt oder von der Welt abgelehnt fühlten, bliebe die Erinnerung so in uns erhalten – mit der ganzen Hilflosigkeit, Hoffnungslosigkeit und Furcht eines fünfjährigen Kindes –, selbst wenn damals, objektiv betrachtet, gar nichts besonders Schlimmes passiert ist. Das schmerzliche Geschehnis bleibt so in unserem Gedächtnis gespeichert, wie wir es damals wahrnahmen, als wäre die Erinnerung daran zu jener Zeit eingefroren worden. Sie wurde zu einer isolierten Information, die nicht mit den anderen Teilen unseres Erinnerungsnetzwerks verbunden ist. Mit anderen Worten, wir sind festgefahren, weil diese traumatische Erfahrung isoliert im Gedächtnis gespeichert ist, also nicht in das neuere, nützlichere und adaptive Wissen, das die Heilung fördert (zum Beispiel: „Ich bin jetzt erwachsen und weiß mir zu helfen“), integriert wurde. Selbst wenn wir uns an solche dysfunktional gespeicherten Informationen nicht bewusst erinnern, sind sie die treibende Kraft hinter unseren unkontrollierbaren Gefühlen und Verhaltensweisen.

Was bedeutet all das heute für Sie?

Bei traumatisierten, emotional intensiven und sensiblen Kindern war das Trauma oft keine einmalige Erfahrung, sondern ein chronisches Beziehungstrauma. Vielleicht erlebten Sie zum Beispiel Ihre Eltern als kalt oder unberechenbar oder wurden „unsichtbar“ missbraucht. Und vielleicht kam noch hinzu, dass Sie in der Schule drangsaliert und nicht verstanden wurden. Wenn es in Ihrer Vergangenheit zu viele solcher traumatischen Erfahrungen gab, sind Ihre Erinnerungen daran in Bruchstücke aufgespalten.

Da Ihr Unbewusstes assoziativ arbeitet, können scheinbar beliebige Bilder und sensorische Assoziationen schmerzliche Erinnerungen auslösen. Manchmal geschieht das so subtil und schnell, dass Ihr Verstand nicht mitkommt oder nicht erkennen kann, was geschieht.