Copyright: © Junfermann Verlag, Paderborn 2021

Coverfoto: © MIKE RICHTER – stock.adobe.com

Übersetzung der Beiträge von Keith Tudor, Rosemary Napper und Julie Hay: Claudia Campisi

Lektorat: Dunja Reulein

Covergestaltung / Reihenentwurf: Junfermann Druck & Service GmbH & Co. KG, Paderborn

Satz, Layout & Digitalisierung: Junfermann Druck & Service GmbH & Co. KG, Paderborn

Alle Rechte vorbehalten.

Erscheinungsjahr dieser E-Book-Ausgabe: 2021

ISBN der Printausgabe: 978-3-7495-0127-4

ISBN dieses E-Books: 978-3-7495-0128-1 (EPUB), 978-3-7495-0130-4 (PDF),  978-3-7495-0129-8 (Kindle).

Vorwort

Die Grundidee dieses Buches und die Motivation für unsere Arbeit als Herausgeber waren, die breite thematische, konzeptionelle und methodische Vielfalt der transaktionsanalytischen Supervisionskultur in und außerhalb von Deutschland sichtbar zu machen sowie einen Anteil zu ihrer Professionalisierung und Weiterentwicklung beizusteuern. Bei unserer Arbeit als Herausgeber ließen wir uns einerseits von den theoretischen Grundlagen und Weiterentwicklungen der Transaktionsanalyse und anderseits auch stark von der konzeptionellen und praktischen Anwendung leiten und hatten die Integrationsfähigkeit der transaktionsanalytischen Konzepte und Modelle in andere humanistische Ansätze im Blick.

Es gibt nicht „die eine Transaktionsanalyse“ (TA). Schon zu Lebzeiten ihres Begründers, Dr. Eric Berne, wurden unterschiedliche Schwerpunkte von den Anwendern gesetzt und der Einfluss ist bis heute spürbar. In den 1980er-Jahren wurde noch von einzelnen Schulen (Barnes, 1977) der Transaktionsanalyse gesprochen, doch heute ist eigentlich die Bezeichnung „merkmalsgekennzeichnete“ Transaktionsanalyse (Hagehülsmann, 2008) zutreffender.

Hieran anknüpfend lassen wir bekannte Vertreterinnen und Vertreter dieser „merkmalsgekennzeichneten“ Transaktionsanalyse (z. B. systemische Transaktionsanalyse oder co-kreative Transaktionsanalyse) zu Wort kommen. Aber auch Nichttransaktionsanalytiker / -innen in Organisationen, die mit den Konzepten und Modellen der Transaktionsanalyse gerne und erfolgreich arbeiten, forderten wir auf, aus ihrer jeweiligen Praxis zu berichten und ihre integrativen Supervisionskonzepte vorzustellen. Im Besonderen sollten die Leser etwas über die biografische, persönliche, kritische und vor allem reflexive Art und Weise, transaktionsanalytisch zu supervidieren, erfahren.

Obwohl seit der Anwendung der Transaktionsanalyse in Deutschland in der transaktionsanalytischen Fort- und Weiterbildung Supervision als fester Bestandteil des Curriculums gilt, beteiligten sich bisher wenige bis gar keine Weiterbildner im deutschsprachigen Raum an fachlichen Diskursen zu dem Instrument transaktionsanalytischer Lehrsupervision und zu den Standards für deren Lehrsupervisorinnen und Lehrsupervisoren. So wurde bisher z. B. wenig thematisiert, ob eine Trennung der Lehrsupervision von der Ausbildung und damit die Verringerung der Abhängigkeit von dem Ausbildungsanbieter mehr Vorteile als Nachteile bringen würde.

Mit der Darstellung der Differenzierung des supervisorischen Prozesses (Sell, 2019) in der transaktionsanalytischen Fort- und Weiterbildung, der Betrachtung der gemeinsamen theoretischen Basis von Supervisand und Lehrsupervisor sowie des daraus abzuleitenden konkreten Vorgehens soll ein weiterer Diskurs entstehen, wiederbelebt oder bereichert werden.

Unser Ziel war es nicht, ein Buch für den wissenschaftlichen Kontext zu veröffentlichen, sondern für die Supervisionspraxis in Einrichtungen und Organisationen, kleinen und mittelständischen Unternehmen, zur Orientierung von Trainees, die sich in einer transaktionsanalytischen Fort- und Weiterbildung befinden, und für die Ausbildung von zukünftigen Supervisoren und Supervisorinnen bei der Europäischen Gesellschaft für Coaching und Supervision (EASC).

Mit diesem Buchformat und der Auswahl der Beiträge sehen wir die Chance, dem Potenzial und der Vielfalt des Handelns in der transaktionsanalytischen Supervisionspraxis noch mehr Ausdruck zu verleihen. Es stellt kein klassisches Fachbuch dar, sondern ein Buch für die Praxis: Die Inhalte dienen der Selbstreflexion, bezogen auf das eigene supervisorische Handeln und das Beratungssystem, in dem dieses Handeln stattfindet, und sie bieten zugleich Chancen der Weiterentwicklung.

Wir danken allen Autorinnen und Autoren, dass sie ihr umfangreiches Wissen, ihre langjährige Erfahrung und ihr Know-how als Supervisorinnen und Transaktionsanalytiker in dieses Buch eingebracht haben und so interessante Einblicke in den supervisorischen und lehrenden Berufsalltag gewähren.

Zur Vereinfachung und Erleichterung des Leseflusses verzichten die Autoren und wir, die Herausgeber, in diesem Buch teilweise auf das „Gendern“.

Karola Brunner

Matthias Sell

Literatur

Barnes, G. et al. (1977): Transaktionsanalyse seit Eric Berne. Band 1. Schulen der Transaktionsanalyse und Praxis. Berlin: Institut für Kommunikationstherapie.

Hagehülsmann, H. & U. (2008): „Beziehungsorientierte Transaktionsanalyse“, in: Zeitschrift für Transaktionsanalyse, 1, S. 64.

Sell, M. (2019): „Lehrsupervision in der transaktionsanalytischen Weiterbildung für Praktiker und lehrende Transaktionsanalytiker*innen (PTSTA)“, in: Zeitschrift für Transaktionsanalyse, 2, S. 102.

Einleitung: Supervision und Transaktionsanalyse – die Arbeits- und Lebenswelt
(Karola Brunner & Matthias Sell)

„Das Leben wird vorwärts gelebt und rückwärts verstanden.“

(Sören Kierkegaard)

Während wir die Einleitung für dieses Buch schreiben, beeinflusst die Coronakrise tief den Lebensalltag der Menschen. Es ist praktisch fast alles zum Stillstand gekommen. Die Welt schreibt am 21. März 2020 von der „Ökonomischen Vollbremsung“, die den größten wirtschaftlichen Einbruch seit 1930 darstellt: Fabriken und Geschäfte sind geschlossen, fast alle übrigen Wirtschaftsaktivitäten ruhen. Freiheiten wie Reisen sind nur eingeschränkt möglich. Annähernd alle Routinen und der Normalbetrieb wurden unterbrochen. Vielen Menschen macht das Gefühl der Ohnmacht und des Kontrollverlusts zu schaffen und sie suchen nach Strategien, um ihre Ängste zu bewältigen. Die Verletzlichkeit der Wirtschaft mit ihren globalen Lieferketten wurde uns allen drastisch vor Augen geführt.

Ende 2020, bei den abschließenden Arbeiten am Buch, befinden wir uns alle noch immer im Krisenbewältigungsmodus. Es bleibt abzuwarten, welche langfristigen Folgen diese Pandemie haben wird. Sicher ist aber, dass ein Transformationsprozess (Welzer, 2020) in Gang gesetzt wurde, der Arbeitsprozesse und die Bewertung der Arbeit sowie das soziale Miteinander verändert.

Bis jetzt fanden das berufliche Handeln, die berufliche Orientierung in modernen Organisationen und die Identifikation mit der beruflichen Aufgabe in einer komplexen Umwelt statt. Diese Umwelt war gekennzeichnet durch eine Dynamik, die ineinander verwobene industrielle Prozesse vereinte, welche charakterisiert waren durch VUCA: Volatilität (volatility), Unsicherheit (uncertainty), Komplexität (complexity) und Ambiguität (ambiguity). Dabei stellen lineare Lösungen und lineares Denken in einer derartig dynamischen, volatilen, veränderungsstarken und mehrdeutigen Welt keine Lösung dar, sondern eher ein Problem. Denn in ihr muss Mehrdeutigkeit ausgehalten, nach integrativen Lösungen gesucht sowie die Komplexität reduziert werden. Eine Herausforderung, denn alles, was über dem eigenen Komplexitätslevel liegt, kann nicht in seiner vollen Komplexität und Funktionalität erkannt werden und wird deshalb abgewertet.

Die Suche nach Lösungen

Reflexion ist bei der Suche nach Lösungen notwendig. Der Suchende sieht sich schnell damit konfrontiert, sich selbst im Prozess der Suche nach einer Lösung oder Orientierung wahrzunehmen und sich sofort bei dieser Suche zu hinterfragen und zweifelnd eine erneute Schleife reflexiv zu vollziehen. In einem solchen suchenden Prozess wird er sich darüber bewusst, wie das eigene Denken funktioniert. Dieses „Denken des Denkens“, dieses Erfassen der Funktionsweise des eigenen Denkens, gerade auch in Bezug auf Wahrnehmungsprozesse, auf das Finden eines eigenen Beobachtungsstandpunkts1, öffnet den Blick auf neue Möglichkeiten, Wirklichkeit zu sehen und zu interpretieren.

Das Reale, sagt Baudrillard (2013, S. 9), ist nicht mehr mit dem Denken verbunden, es ist losgelöst, und somit kommt er zu dem Schluss: „Denken und Reales sind unvereinbar.“ Was verbirgt sich in dieser Aussage? Eine Beschreibung der bisherigen modernen Welt, in der alles zur Virtualität, zum Bild und damit zur Illusion wird und eben auch das Reale nur noch eine Virtualität darstellt?

Glückliche Zeiten der Verbindung von Idee und Realität sieht er noch in der Aufklärung gegeben, die heroische Formen des kritischen Denkens hervorbrachte: Das kritische Denken wandte sich gegen eine bestimmte – abergläubische, religiöse oder ideologische – Illusion. Dieser Vorgang löste den Begriff der Realität ab – unter dem Druck einer gigantischen technischen und mentalen Simulation, zugunsten einer „Autonomie des Virtuellen“ (Baudrillard, 2013, S. 9). Denken ist vom Realen getrennt, gleichzeitig existiert die Autonomie des Realen, das in einer in sich kreisenden, taumelnden Selbstbezogenheit bis ins Unendliche für sich bleibt.

Dieser Selbstbezogenheit begegnen wir heute in der Darstellungssucht (oder sogar Darstellungsnotwendigkeit?). Es geht nicht mehr darum, sich zu positionieren, sondern darum, sich zu orientieren: „Warum sollte es nicht ebenso viele reale Welten geben wie imaginäre?“ Welche Alternative schlägt Baudrillard vor? Das Aushalten der Spannung dieser Trennung von Realem und Denken geschieht durch Alternieren und durch die Distanz im Gegensatz zur Suche nach Alternativen.

Identitätsstiftende Prozesse des Menschen in der VUCA-Welt

Der identitätsstiftende Prozess des Individuums entwickelte sich anders als bisher sicher geglaubt wurde, nämlich als entwicklungsbedingte allmähliche Zunahme von Erkenntnissen, als Reifungsprozess. Nein, die Reifung gelingt eben nur durch das phasenweise Hineinnehmen des Virtuellen, durch das imaginäre Oszillieren mit Erfahrungswelten, durch das ständige Distanzieren und Wiederannähern. Autonomie wird sich von hier aus neu definieren, es wird ein Prozess sein von Kollisionen und Verwerfungen, von Kreuzungspunkten und Kraftlinien, die zwischen Sinn und Unsinn hin und her schweben.

Identität wird sich auf Fähigkeiten stützen, solche Reifungsprozesse neueren Typs zu steuern, hoch- und runterzufahren, an- und abschwellen zu lassen. Diese Entwicklung ist eher dynamisch definiert statt semantisch, eher prozesshaft statt inhaltlich.

Hierin liegt denn auch gerade das neue Schwierige, ohne inhaltliche Orientierung eine Orientierungssuche zu organisieren. Dies kann zu Verwechslungen führen, Zustände hervorrufen von gefühlsmäßiger Unsicherheit, von Ungewissheit, Ereignisse zu interpretieren mit einhergehenden Ahnungen, für die es kaum erfassbare objektivierbare Tatsachen gibt. Dies gilt es zu kompensieren.

Wie nun können wir andere darin begleiten, wenn diese uns die Nichtigkeit ihrer Werte vorhalten, uns ihre Ruhelosigkeit zeigen, keine Kontinuität eines selbst gesuchten Sinns finden, auch wenn dieser nur als Motivation und Antrieb dient? Dies ist das Narrativ über unsichere Werte und über Ruhelosigkeit in den vorgetragenen Fragen und Problemen in den supervisorischen Gesprächen. Hier setzt die eigentliche Fähigkeit der Supervisorin ein. Sie ist Supervisorin in einem Gesprächsprozess, führt den Prozess dialogisch und integriert das alltagsorientiert berufliche Leben aus einer Metaperspektive beleuchtend.

In diesen supervisorischen Prozessen werden lösungsorientierte und handlungsstabile Alternativen erarbeitet, doch zugleich müssen die Interpretationen des eigenen Vorgehens und des eigenen Denkens in den Blick genommen werden. Dies gelingt mit Zeit, Geduld und durch den Aufbau einer arbeitsfähigen supervisorischen Begegnung.

Unbewusstes, Imaginatives, Ästhetisches braucht hier einen Platz, das supervisorische Geschehen ist so gesehen selbst ein ästhetischer Prozess und nur so identitätsstiftend.

Supervision – ein moderndes Konzept zur Reflexion beruflicher Zusammenhänge

Die Wurzeln der Supervision finden sich in der Tradition sozialer Arbeit (1889)2 und der Psychoanalyse (1923). Nach 1980 wurde die einseitige Bindung von Supervision an die Sozialarbeit und an das therapeutische Berufsfeld gelockert. Es entwickelte sich ein eigenständiges Supervisions- und Professionsverständnis. 1989 wurde die DGSV als Berufsverband der Supervisoren und Supervisorinnen gegründet und die Festlegung von Standards für die Ausbildung von Supervisoren trug maßgeblich zur Entwicklung und Professionalisierung der heutigen Form der Supervision bei. Damit einhergehend hielt sie Einzug in Wirtschafts- und Dienstleistungsunternehmen und Organisationen, etwa in Gesundheitswesen, Verwaltung und Politik.

Der Gegenstand und die Zielsetzung von Supervision

Es findet sich keine einheitliche Definition von Supervision und Coaching, trotz der umfangreichen Literatur zu diesem Thema, und damit auch kein einheitliches Vorgehen. Einer der Berufsverbände, die European Association for Supervision and Coaching (EASC), einer der Herausgeber dieses Buches war hier Gründungsmitglied, engagiert sich seit 1994 auf gesamteuropäischer Ebene für die Weiterentwicklung von Coaching und Supervision sowie für definierte einheitliche Qualitätsrichtlinien.

Auf das EASC-Selbstverständnis beziehen wir uns bei der Beschreibung des Gegenstandsbereichs und der Ebenen von Supervision3:

„Supervision dient Einzelpersonen, Teams, Gruppen und Organisationen, ihre berufsbezogenen Handlungen und Strukturen zu reflektieren und damit Entwicklung zu begleiten und zu fördern. Mit Hilfe einer Supervisorin oder eines Supervisors werden berufsbezogene Problem- und Aufgabenstellungen auf Lösungen, Veränderungen und Professionalisierung hin bearbeitet. …

Supervision vereinigt theoretische Grundlagen aus Psychologie, Soziologie, Sozialarbeit und Kommunikationswissenschaften. Sie nimmt Anleihen bei psychoanalytischen, kommunikationstheoretischen, transaktionsanalytischen, systemischen, verhaltenstherapeutischen sowie gestalttherapeutischen Grundauffassungen und bezieht gruppendynamische wie organisationstheoretische Konzepte ein. …

Supervision fokussiert die individuelle Entwicklung im Sinne einer beruflichen Identitätsfindung oder die Entwicklung eines Teams. Emotionale Entwicklungen, organisationsstrukturelles Verständnis, kreatives Denken und die Entwicklung von neuen Perspektiven für berufliches Handeln stehen im Vordergrund. …

Vor allem die Arbeit mit Menschen ist eines der Hauptfelder supervisorischen Arbeitens. Führungsarbeit bedarf in hohem Maße der laufenden Reflexion, um die eigenen Anteile von denen der anderen zu trennen und mit neuen kreativen Ansätzen Lösungen zu entwickeln. …

Supervision kann jeder in Anspruch nehmen, der einen berufsbezogenen Aspekt mit den eigenen Anteilen im Zusammenhang reflektieren möchte.“

Vor dem Hintergrund dieses Selbstverständnisses ist Supervision ein Konzept, in dem verschiedene Beratungs- und Reflexionsmethoden eine Verbesserung des beruflichen Handelns ermöglichen. In vertiefter Betrachtung ist Supervision auch ein Modell für Lernprozesse, in dem durch die Art und Weise, wie berufsbezogene Fragestellungen bearbeitet werden, Arten der Organisation von Denken und Lernen vorgestellt werden. Supervision ist ein Theoriekonzept zur Reflexion und Benennung von beruflichen Kommunikationszusammenhängen. Damit einhergehend werden auch Begrifflichkeiten entwickelt, solche Zusammenhänge zu definieren.

Supervision ist ein Konzept, das vielfältige berufliche Zusammenhänge überspannt sowie berufliche, personale und organisationale Situationen. Es braucht dabei Reflexion und andere grundlegende Überlegungen methodischer Art. In der Anleitung und professionellen Begleitung supervisorisch bearbeiteter Themen sollten neben Kreativität und Innovation personale, professionelle und organisationale Entwicklungen aufgegriffen werden.

In der Ausbildung in einer bestimmten Methode werden supervisorische Verfahren (Lehrsupervision) zur Implementierung der jeweiligen Methode genutzt. Bei einem bestimmten Verfahren kommen dann auch bestimmte Formen des Denkens zur Anwendung.

Die Unterscheidung von Supervision und Coaching lässt sich an einem Punkt festmachen: Supervision ist in ihrem inneren Kern auf Reflexion und Stimulation von neuen Perspektiven ausgerichtet, während Coaching in seinem Kern auf Lösungen und Verhalten orientiert ist (siehe EASC).

Die Reflexion erster und zweiter Ordnung

Die Logik der transaktionsanalytischen Supervision – also die Reflexion erster und zweiter Ordnung – bezieht wesentlich auch die aus der dialogischen Erfahrung mit dem Supervisanden gewonnenen Kenntnisse (Reflexion erster Ordnung ) sowie die aus dieser Erfahrung abgeleiteten supervisorischen Prozesskenntnisse (Reflexion zweiter Ordnung ) mit ein.

Faktoren zweiter Ordnung sind die Art und Weise, wie supervisorisches Geschehen (Reflexion erster Ordnung) erfasst (wahrnehmen und interpretieren) und strukturiert (Erfahrungen und Modellen zuordnen) werden kann.

Beispielsweise der Vertrag, der durch einen Vertrag reflektiert wird, der Prozess, der durch den Prozess gesteuert wird, der Parallelprozess, der durch die Betrachtung des Parallelprozesses erkannt wird, die Spiegelung, die durch die Spiegelung erkannt wird und so weiter. All diese Überlegungen sind prozessorientierte Betrachtungen und eigenständig in ihrer Dynamik sowie spezifisch in der Supervision. Die Prozessebenen werden wiederum auf Prozessebenen beobachtet.

Die Transaktionsanalyse und ihr Begründer Eric Berne

Die Transaktionsanalyse geht auf den amerikanischen Arzt Eric Berne zurück. Berne entwickelte nach zwei Lehranalysen bei Paul Federn und Erik Erikson in den Jahren 1949 bis 1956 die Grundüberlegungen zur Transaktionsanalyse. In dem zentralen Buch TA in Psychotherapy (Berne, 1961, S. 31) betrachtete er Transaktionsanalyse und Psychoanalyse als sich gegenseitig ergänzende methodische Ansätze. 1964 wurde die International Transactional Analysis Association mit Sitz in San Francisco gegründet. Allein in Europa sind heute über 10.000 Mitglieder in der European Association for Transactional Analysis organisiert.4 Die Ausbildung dauert in der Regel fünf bis sieben Jahre und schließt mit einem international anerkannten Zertifikat ab. Die Prüfung kann in vier Bereichen abgelegt werden: Psychotherapie, Organisation, Bildung sowie Beratung. Die Tätigkeit Supervision wird in jedem Ausbildungsbereich der Transaktionsanalyse genutzt.

Die Transaktionsanalyse ist kognitiv und emotional orientiert. Erlebnisaktivierende Verfahren wie Gestalt- oder Psychodrama erweitern die Effektivität der Analyse und ergänzen das Vorgehen beispielsweise bei der Analyse der Persönlichkeit, von zwischenmenschlichen Beziehungen, Dynamik von Gruppen sowie die Analyse und Steuerung von sozialen Systemen. Diese kognitive Ausrichtung kann den Widerstand von Supervisanden, die mit erfahrungsbezogenem Arbeiten wenig vertraut sind, reduzieren. Grundelemente der Transaktionsanalyse sind das Modell der Ich-Zustände, die Analyse der Transaktionen, Skript- und Spielanalyse.

Wenn Menschen in Beziehung treten, sei es bei der Mahlzeit, in der Schule, bei irgendwelchen geselligen Anlässen oder in beruflichen Zusammenhängen, können wir beobachten, dass sie sich sehr unterschiedlich verhalten. Sogar ein und dasselbe Individuum kann während einer Unterhaltung seinen Verhaltensstil verändern, „nämlich in der Art eines befangenen oder unbefangenen Kindes oder dann kritisierend, herablassend, jovial oder wohlwollend wie eine Elternfigur oder aber auch sachlich und rational auf die Realität bezogen sein“ (Schlegel, 1979, S. 16). Berne sieht in diesen unterschiedlichen Zuständen unterschiedliche Zustände des Ichs repräsentiert. Unter einem Ich-Zustand versteht er dabei ein zusammenhängendes System von Denken, Fühlen und Verhaltensweisen. Diese Verhaltensweisen signalisieren Muster von bestimmten Erlebniswelten (ego states). Im Begriff der Ich-Zustände liegt der Schlüssel für die Transaktionsanalyse, denn ausgehend von den aktivierten und mit Energie besetzten Ich-Zuständen entwickelt sich die soziale Kommunikation (Transaktionen) in Kommunikationsverläufen (Spiele), die sich mit wiederkehrenden Verläufen – Mustern (pattern) – beschreiben und erkennen lassen sowie Mustern, die über Jahre aufrechterhalten werden und sich in Skripts manifestieren (Steiner, 2009, S. 27 ff.).

Berne ordnet die in jedem Menschen vorhanden gebliebene Fähigkeit, Erlebnisse aus der Kindheit zu aktivieren, der archäologischen Funktion zu und nennt sie vereinfacht Kind-Ich (K). Ebenso verfährt er mit den anderen Fähigkeiten, z. B. sich elternhaft zu verhalten ordnet er der exteropsychischen Funktion – dem Eltern-Ich (EL) – zu, und die Fähigkeit, sich der inneren und äußeren Welt gegenüber sachgerecht und angemessen zu verhalten, der neopsychischen Funktion, dem Erwachsenen-Ich (ER).

Die vier Möglichkeiten, eine Diagnose zu stellen, sind zentrale prozessuale Steuerungsqualitäten:

Im Zentrum ist die Beziehung

In der supervisorischen Beziehung ist uns die Verfahrensweise, nach vier Diagnoseformen einen Ich-Zustand in der Kommunikation zu sichten und ihn in den Transaktionen wiederzuerkennen, sehr hilfreich. Die Weiterentwicklungen der TA greifen Bernes Analyse der Übertragungen in den Sozialen Diagnosen auf und verstehen die Ich-Zustände als repräsentierende Beziehungszustände. Es gilt, mittels der vier Diagnosen in unterschiedlichen Situationen die verschiedenen Aspekte von Verhalten, Gefühl und Denken in der sozialen Begegnung sowie die berichteten historischen, vergangenen Ereignisse und das Selbsterlebnis des Supervisanden zu ordnen und hierin die Lebens- und Rollenwelt des Supervisanden und seines beruflichen Kontexts zu erkennen und zu verstehen. Ohne hinreichende innere Konzeptualisierung der Wahrnehmung und Beobachtung – hierzu dient die vierfache Diagnose – kann kein angemessenes Verständnis des Supervisanden und keine angemessene Planung einer unterstützenden Intervention stattfinden.

Das Modell der vierfachen Diagnose der Transaktionsanalyse unterstützt prozessual dabei, die Beobachtung zu ordnen und weitere intuitive Wahrnehmungen hinzuzufügen. Gerade darin liegt die Qualität dieser Art der prozessualen Organisation. Sie ist unspezifisch, das bedeutet, dass sie auf alle menschliche Kommunikation angewendet werden kann.

Wir können das Geschehen in folgendem Diagramm (Abbildung 1) darstellen.

Abbildung 1: Die Supervisionsbeziehung (© M. Sell)

Der Einfluss des Eltern-Ichs aufseiten des Klienten oder der Supervisandin wird durch die supervisorische Arbeit verändert, dadurch ergeben sich neue Perspektiven, neue Erlaubnisse und neue Handlungsmöglichkeiten. Dieser intrapsychische Prozess benötigt die entsprechende emotionale Basis. Sie wird in der supervisorischen Beziehung hergestellt durch die Bereitschaft der Supervisorin, sich emotional auf die supervisorische Beziehung einzulassen; gleichzeitig verbietet die professionelle Haltung, in den kommunikativen Mustern des Supervisanden mitzuspielen. Die professionelle Supervisorin verfügt über die Fähigkeit, sich trotz des Konzepts der inneren Abstinenz emotional zu beteiligen.

Dies erfolgt durch eine emotional teilnehmende Beobachtung. Voraussetzung hierfür ist die durch Ausbildung und Eigenanalyse erworbene Fähigkeit der Supervisorin, deutlich zwischen den eigenen emotionalen Ansprüchen und der durch die Gegenübertragung hervorgerufenen emotionalen Bewegtheit unterscheiden zu können.

Natürlich sind die Aspekte des Konzepts eher traditionsbezogene und damit elterliche – exteropsychische. Die emotionale Beteiligung entwickelt sich meistens aus den Kind-Ich-Erfahrungen, während die Planung der Interventionen von der Angemessenheit und der logisch-sachlichen Situation der aktuellen (beruflichen) Realität abhängt und so die neopsychische Funktion zum Tragen kommt. So gesehen, stellt die Transaktionsanalyse ein gutes methodisches Verfahren für die systematische Steuerung unspezifischer Faktoren (Sell, 2004) in der supervisorischen Reflexion dar.

Die Tätigkeit von Supervisoren und Supervisorinnen beinhaltet eine bestimmte Art der Reflexion. Kern dieser bestimmten Art, reflexive Prozesse zu stimulieren, zu moderieren und zu begleiten (und dies schließt selbstverständlich den Einbezug emotioneller Vorgänge mit ein), ist der Umgang mit unspezifischen Faktoren (Schlegel, 1979).

Unspezifischen Faktoren sind Prozessvariablen, die – an die jeweilige Supervisionssituation sinnvoll angepasst – helfen, Reflexionsprozesse zur Verbesserung des beruflichen Handelns zu bewirken. Zu diesen Faktoren rechnen wir Setting, Vertrag, Inhalt, Prozess, Metaebene, Parallelprozess, Spiegeln und Konfrontieren.

Die Transaktionsanalytische Supervision

Die Transaktionsanalyse stellt eine erfolgreiche Methodenintegration dar, auf der einen Seite mit ihrer engen Verwandtschaft zur Psychoanalyse und auf der anderen Seite mit dem Bezugsrahmen oder der Spielanalyse, welche ins Systemische hinüberreichen.

Die Transaktionsanalyse bietet damit eine Vielzahl von Methoden, die sich sehr gut für die Bearbeitung von Supervisionsanliegen und alle Formen der Supervision – wie Gruppen-, Einzel- und Teamsupervision – eignen.

Insbesondere wird die Supervision in Ausbildungszusammenhängen als Lehrsupervision zur Integration des methodischen Denkens genutzt.

Supervision und Transaktionsanalyse ergänzen sich gegenseitig. Beide lernen: Die Transaktionsanalyse, wie Annäherungen an berufliche organisationale Zugänge mit supervisorischen Fragen erreicht werden können, und die Supervision, wie beziehungsrelevante und persönliche Zugänge transaktional gestaltet werden können. Die für das Buch ausgewählten verschiedenen Artikel spiegeln die Fülle von supervisorischer Annäherung an die unterschiedlichsten Fragestellungen wider. Hier werden transaktionsanalytische Sichten bevorzugt und deren Nutzen deutlich.

Literatur

Baecker, D. (1990): Im Netz der Systeme. Berlin: Merve.

Baudrillard, J. (2013): Das radikale Denken. Berlin: Matthes & Seitz.

Belardi, N. (1992): Supervision. Von der Praxisberatung zur Organisationsentwicklung. Paderborn: Junfermann.

Berne, E. (1961): Transactional Analysis in Psychotherapy. New York: Grove Press.

Schlegel, L. (1979): Grundriss der Tiefenpsychologie. Tübingen: Francke.

Sell, M. (2004): „Supervision und Transaktionsanalyse“, in: Heiling, A., Knopf, W. & Walther, I. (Hrsg.): Brush up your Tools! Innsbruck: Studien Verlag der Österreichischen Vereinigung für Supervision.

Steiner, C. (2009): Wie man Lebenspläne verändert. Paderborn: Junfermann.

Welzer, H. (2020): „Unsicherheit zwingt zum Nachdenken über uns selbst“, After Corona Club, NDR Doku, https://www.youtube.com/watch?v=xX6mJilRHdo (zuletzt abgerufen am 22.8.2020).


1  Wir folgen dabei Beobachtungen von Dingen, Ereignissen und Unterscheidungen. Beobachtung wird selbst in einem weiteren Schritt untersucht, da ja Beobachtung in Verbindung mit Wahrnehmung eine zentrale Kategorie der Supervision darstellt. „Dass die Beobachtung ihrerseits als Ding, Ereignis, Unterscheidung beobachtet werden kann, ist in diesem Verfahren eine zusätzliche Komplikation, die aber nur begrüßt werden kann, belegt man die Anwendbarkeit des Konzeptes auf sich selbst.“ (Baecker, 1990, S. 10).

2  Mary Richmond arbeitete 1889 als Buchhalterin bei der Charity Organization Society (C.O.S.) in Baltimore. Sie bemühte sich, die „soziale Arbeit geschäftsmäßig zu organisieren“ (Belardi, 1992, S. 34). Sie tat dies mithilfe bezahlter Arbeitskräfte, die sie Supervisoren – eher mit „Vorarbeiter“ zu übersetzen – nannte. Sie organisierte regelmäßige Fortbildungen, und in vielen sogenannten Case Works, vielleicht auch Fall-Betreuungen zu nennen, hatten die festangestellten Mitarbeiter*innen die Ehrenamtlichen zu betreuen, zu schulen und auch zu kontrollieren oder zu supervidieren. Mary Richmond unterstützte diese Entwicklung, indem sie systematisch das vorgebrachte Material sammelte und 1917 in dem Buch Social Diagnosis veröffentlichte. Dieses Buch schilderte Möglichkeiten der sozialen Diagnose, lange bevor Freud das Das Ich und das Es (1923) geschrieben hatte (Belardi, 1992, S. 37). Supervision ist nicht auf psychoanalytischem Hintergrund entstanden.

3  Die folgenden Zitate finden sich auf https://www.easc-online.eu (zuletzt abgerufen am 24.3.2020).

4  Siehe EATA: https://eatanews.org (zuletzt abgerufen am 15.3.2020).

1.5 Erfolgreich Kommunikation schaffen und gestalten (Rainer Musselmann)

Dieser Artikel gibt einen ersten Einblick in Dr. Taibi Kahlers Process Communication Model® (PCM) – ein Persönlichkeits- und Kommunikationsmodell, das auf Kahlers Beiträgen zur Transaktionsanalyse aufbaut (Antreiber, Miniskript) und von ihm in den letzten 50 Jahren weiterentwickelt wurde. Heute findet es weltweit Anwendung in Beratungskontexten sowie in Ausbildungen in der Wirtschaft, Pädagogik, Supervision, Coaching und allen Bereichen, in denen Menschen miteinander in Beziehung stehen. Kahler Communication – KCG bietet seit 20 Jahren im deutschen Sprachraum für Supervisoren und Coaches Fortbildungen an, um die PCM-Konzepte in ihrer Tätigkeit nutzen und das PCM-Persönlichkeitsprofil für ihre Klienten erstellen zu können.

Als junger Mann lernte ich in meiner TA-Ausbildung Ende der 1980er-Jahre Kahlers Konzepte kennen und war fasziniert von der Klarheit seines Denkens. PCM wurde für mich zur inneren Landkarte im „Dschungel“ der zwischenmenschlichen Beziehungen.

1997 entschloss ich mich, in den USA meine PCM-Ausbildung bei Taibi Kahler zu absolvieren. In den folgenden Jahren erwarb ich die PCM-Rechte für Deutschland, Schweiz und Österreich und gründete 2000 Kahler Communication – KCG.

In diesem Artikel möchte ich nach einem kurzen Überblick über Taibis Persönlichkeitsmodell den Fokus auch auf das PCM-Kommunikationsmodell richten, denn ich bin überzeugt, dass die Kenntnis und Anwendung des Modells einen erheblichen Beitrag zu einer konstruktiv-wertschätzenden Kommunikation und zum Verständnis von Verhaltensweisen im Beratungs- und Supervisionskontext liefern.

Antreiber und Miniskript – vom klinischen Konzept zur Methodologie für Kommunikation und Beziehungsgestaltung

Dr. Taibi Kahler, amerikanischer Psychologe und Transaktionsanalytiker, entdeckte Anfang der 1970er-Jahre in seiner klinischen Ausbildung fünf Verhaltensmuster – beobachtbar anhand von Wortwahl, Tonfall, Gestik, Mimik und Körperhaltung –, die er Antreiber nannte. Um diese im TA-Bezugsrahmen zu beschreiben, unterteilte Kahler im Funktionsmodell sowohl das fürsorgliche als auch das kritische Eltern-Ich in einen positiven und negativen Teil und ordnete diesen Verhaltensmerkmale zu. Dasselbe war für das angepasste Kind-Ich notwendig. Die Antreiber können sowohl introjiziert (aus dem negativ angepassten Kind-Ich / –aK) als auch projiziert (aus dem negativ fürsorglichen Eltern-Ich / –f-EL) auftreten.

Er erkannte folgendes Muster: „Gleichgültig, ob das Verhalten eines Patienten die Diagnose Psychose, Neurose, Persönlichkeitsstörung oder einfach nur ganz normales Fehlverhalten nahelegte, unmittelbar vor einem Ausbruch von Distressverhalten zeigten die Patienten sehr kurze Verhaltensmuster, die wie Abwehr aussahen“ (Kahler, 2010, S. 20).

Wissenschaftlicher Hintergrund seiner Arbeit sowohl am Miniskript als auch der Weiterentwicklung zum Process Communication Model® waren die Verhaltenspsychologie sowie Konzepte aus der Transaktionsanalyse von Eric Berne und seinen Schülern. Weitere Forschungen zeigten Kahler, dass diese Antreiber der Einstieg in eine Aufeinanderfolge von Distressverhalten waren, die er damals Miniskript (heute Distresssequenz) nannte. Diese Distresssequenzen zeigen nicht nur Patienten, sondern sie treten in nichtklinischer Form auch bei „gesunden“ Menschen auf. Ursprünglich nahm Kahler an, dass es bis zu 60 Varianten dieser Miniskriptsequenzen gibt. Seine weiteren Untersuchungen ergaben, dass nur sechs dieser negativen Verhaltenssequenzen beobachtbar sind. Für das Konzept der Antreiber und des Miniskripts wurde Dr. Kahler der Eric Berne Memorial Scientific Award der ITAA verliehen.

Dr. Kahlers Interesse war es nun, nicht nur die negativen Verhaltenssequenzen zu beobachten, sondern auch die positiven Verhaltensmuster näher zu untersuchen. Weitere Forschungen ließen ihn menschliche Persönlichkeit als eine Schichtung von sechs Persönlichkeitstypen betrachten, die er „Architektur der Persönlichkeit“ nannte. Bewegen wir uns in unserer Architektur, so haben wir Zugang zu all unseren positiven Verhaltensmustern. Unter Stress verlassen wir diese wertschätzende Haltung und zeigen unsere Antreiber, bevor unsere destruktiven, negativen Verhaltensmuster zutage treten.

Diese sechs Persönlichkeitstypen, über deren Merkmale jeder Mensch – in mehr oder weniger starker Ausprägung – verfügt, nannte er Beharrer, Logiker, Empathiker, Rebell, Träumer und Macher.

Er schreibt dazu: „Meine Hypothese der Merkmale umfasste: Charakterstärken, positive Persönlichkeitsanteile und Kommunikationskanäle, Wahrnehmungsarten, bevorzugte Sozialumgebung, Führungs- und Interaktionsstile, Gewohnheiten, Gesichtsausdruck, bevorzugter Wohn- und Arbeitsplatzstil und psychische Bedürfnisse als Motivatoren. Ich betrachtete nun nicht mehr nur ein einziges negatives Muster eines Menschen im klinischen Sinn, sondern sah jeden Menschen mit einer Persönlichkeitsstruktur aus allen sechs Persönlichkeitstypen, alle aktivierbar, und zwar in einer messbaren Reihenfolge“ (Kahler, 2008, S. 43 f.).

Weitere Untersuchungen waren nun notwendig. Dr. Kahler wurde 1979 von Terry McGuire, dem Chefpsychiater der NASA für den bemannten Raumflug, eingeladen, um an der Auswahl der Astronautenkandidaten mitzuarbeiten. Da sich langwierige Auswahlinterviews als ineffizient erwiesen, entwickelte Kahler einen Fragebogen, um die Persönlichkeitsarchitektur des Bewerbers zu erkennen. Dies war die Geburtsstunde des Personality Pattern Inventory (PPI) – eines Persönlichkeits- und Kommunikationsprofils, das heute PCM-Trainings und -Beratungen als wissenschaftlich fundiertes Werkzeug begleitet. Aus dem Miniskript und dem Antreiberkonzept wurde nun eine nichtklinische Methodologie für Kommunikation und Beziehungsgestaltung.

Die Architektur der Persönlichkeit

Um menschliche Persönlichkeit zu beschreiben, haben Philosophen und Sozialwissenschaftler schon seit der Antike versucht, Menschen in Typen einzuordnen. Auch Dr. Taibi Kahler hat in seinen Forschungen sechs verschiedene Grundtypen mit bestimmten Charakteristika und Verhaltenspräferenzen gefunden. Allerdings packt er Menschen dadurch nicht in Schubladen, sondern macht deutlich, dass sich die jeweilige menschliche Persönlichkeit aus allen sechs Typen zusammensetzt – mit mehr oder weniger starker Ausprägung.

Er entwickelte das Bild der „Architektur der Persönlichkeit“ und beschreibt die menschliche Persönlichkeit als Haus mit sechs Stockwerken.

Das unterste Stockwerk bezeichnet er als unsere Basis und wir erleben und zeigen die Merkmale dieses Persönlichkeitstyps am häufigsten.

Abbildung 1: Die Persönlichkeitsarchitektur

Dr. Kahler sagt hierzu: „Man kann sich die Persönlichkeitsstruktur als ein sechsstöckiges Gebäude vorstellen. In diesem Buch verwende ich dafür den Begriff ‚Persönlichkeitsarchitektur‘.

Wahrscheinlich ist die Veranlagung für die erste Etage, die Basis, verantwortlich; die Reihenfolge der folgenden ‚Etagen‘ zwei bis sechs wird durch die Interaktionen mit den Menschen der Umgebung und ihren natürlichen ‚Temperamenten‘ ausgebildet. Zu diesen ‚Erziehungsfaktoren‘ gehören als Variable die Persönlichkeitsarchitekturen der Eltern, die Erfahrungen in den jeweiligen entwicklungspsychologischen Phasen, der Einfluss anderer wichtiger Menschen, Tod, Scheidung, Geschwister(folge) und Verletzungen oder andere Traumata.

Aus diesen Gründen entwickelt jeder Mensch innerhalb seiner Persönlichkeitsarchitektur eine ganz bestimmte Reihenfolge an Typen, und zwar eine von 720 möglichen Kombinationen.“ (Kahler, 2008, S. 55)

Das PCM-Profil stellt diese Reihenfolge dar und zusätzlich die relative Energiemenge, die uns auf jeder Etage der Architektur zur Verfügung steht. Per Definition ist das gesamte Verhalten innerhalb der Persönlichkeitsarchitektur gesund und „o. k.“. Keiner der inneren Persönlichkeitstypen ist besser oder schlechter, keiner mehr oder weniger intelligent. Sorgen wir nicht gut für uns und unsere Bedürfnisse, haben wir nicht mehr die Energie zur Verfügung, unsere gesunden Verhaltensweisen zu aktivieren, sondern zeigen, abhängig von unserer Persönlichkeitsarchitektur, voraussagbare negative Muster.

Dr. Kahler identifizierte drei jeweils aufeinanderfolgende Grade von Distress, die für jeden Persönlichkeitstypen in uns spezifisch und anhand von Wortwahl, Tonfall, Gestik, Mimik und Körperhaltung beobachtbar sind. Er gibt uns für diese Stressverhalten Interventionsstrategien, die den anderen einladen, wieder in konstruktive Kommunikation zurückzukehren.

Der Einstieg in das destruktive Verhaltens- und Kommunikationsmuster erfolgt über unser sogenanntes Antreiberverhalten. Taibi Kahler wollte mit diesem Begriff deutlich machen, dass dieses Verhalten uns und andere „antreibt“, tiefer in das jeweilige Stressverhalten einzutauchen.

Da jeder Typ in uns durch charakteristische und beobachtbare Verhaltensweisen definiert ist, lassen sich über die Persönlichkeitsbasis eines Menschen Hypothesen aufstellen, genauso, wie wir über die Beobachtung Vermutungen anstellen können, aus welcher Etage ihrer Architektur heraus eine Person agiert bzw. reagiert.

Hierzu ein Gedankenexperiment:

Wenn wir ein Blatt Papier nehmen, eine Person beobachten, den sechs Typen jeweils eine Farbe zuordnen und jeweils einen Punkt machen in der Farbe der Etage, die wir beobachten, werden wir ein sehr buntes Bild erhalten. Allerdings wird eine Farbe im Vordergrund sein – die der Basis.

Neben der externen Beobachtung haben wir noch eine zweite Möglichkeit, Hypothesen über den Menschen zu bilden. Wir können die andere Person bitten, den PCM-Fragebogen zu ihrem Persönlichkeitsprofil auszufüllen (die Innensicht), und wir werden dadurch eine Vielzahl von Informationen über diese Person erhalten, etwa

Wir können auch Vermutungen anstellen, wie sich diese Person unter Stress verhält und welche negativen Muster sie dann beruflich und privat zeigt.

Anhand des Persönlichkeitsprofils können wir also unsere Hypothesen in Bezug auf die Persönlichkeitsstruktur der anderen Person (externe Beobachtung) durch deren Innensicht überprüfen.

Die sechs Persönlichkeitstypen in uns

Collignon, Legrand und Parr beschreiben in ihrem Buch Erfolgreich Beziehung schaffen und halten die sechs Typen und geben Tipps für den Umgang mit dem jeweiligen Basistyp in der Beziehungsgestaltung. Die Empfehlungen der Autoren für die unterstützende Haltung des Coaches gelten ebenso für Supervisoren (Collignon, Legrand & Parr, 2018, S. 47 ff.).

Das Profil des Empathikers

Nicht im Stress

Sie sind sensibel und warmherzig.

Eine warmherzige und aufmerksame Beziehung ist die Voraussetzung, dass sie sich auf den Coachingprozess einlassen.

Sie nehmen ihre Umwelt durch den Filter ihrer Gefühle wahr.

Sie sind intuitiv und haben zuweilen Schwierigkeiten, den Ursprung ihrer Gefühle rational zu erklären „Ich kann das nicht beschreiben … ich fühle das halt so!“

Sie sind in der Regel gute Zuhörer und bemühen sich, ihr Gegenüber zufriedenzustellen.

Sie arbeiten am besten in einer Umgebung mit einem wohlwollenden Führungsstil.

Sie ziehen die Kommunikation vor, die auf persönlicher Aufmerksamkeit beruht.

Sie sind unsicher damit, was sie als „emotional kalte“ Umgebungen definieren, die sie häufig als feindlich empfinden.

Ihre existenzielle Frage lautet: Bin ich liebenswert?

Im Distress

1°-Distress: Sie neigen dazu, sich übermäßig anzupassen, zu viel zu tun, um es anderen recht zu machen. Sie zeigen in ihren Entscheidungen einen Mangel an Selbstsicherheit und Bestimmtheit.

Beispiel: „Vielleicht könnte ich einen Vorschlag machen? Nun, ich habe das Gefühl, wissen Sie …“

2°-Distress: Sie sehen sich selbst in der untergeordneten Position und zeigen sich als Opfer oder machtlos. Sie machen unfreiwillig „dumme“ Fehler, die sie in Misskredit bringen („–/+“- Position).

Beispiel: „Was ist nur mit mir los? Es war so dumm von mir, die Akte in meinem Auto zu vergessen! Das ist so typisch für mich, solche Fehler zu machen. Ich könnte mich in den Hintern beißen.“

Die unterstützende Haltung des Coachs

Der Coach zeigt Verständnis für die Gefühle des Klienten und bietet Zuspruch.

Um mit einem Basis-Empathiker effizient zu kommunizieren:

Das Profil des Logikers

Nicht im Stress

Sie sind logisch, verantwortungsvoll und gut organisiert.

Sie beschäftigen sich damit, Ziele zu erreichen, das ist ihre hauptsächliche Motivation.

Sie sammeln Fakten.

Sie denken, bevor sie handeln.

Sie brauchen einen demokratischen Führungsstil, der auf der Analyse von Fakten und der Weitergabe von Informationen basiert.

Sie bevorzugen eine Kommunikation auf Grundlage von Informationsaustausch.

Sie mögen das Unerwartete, das Improvisierte und Ungefähre nicht.

Ihre existenzielle Frage lautet: Bin ich kompetent?

Im Distress

1°-Distress: Im Stress einer Misskommunikation werden Menschen mit Logiker‐Basis zu Perfektionisten, die sich zu sehr auf Details konzentrieren.

Beispiel: „Was ich wirklich sagen will, mit dem Kontext des Themas im Hinterkopf, ist, dass das Projekt, also unser vorliegendes Thema, von einer tief greifenden Überprüfung durchaus profitieren könnte.“

2°-Distress: Wenn sie nicht genug Anerkennung erhalten, gehen sie in die Überkontrolle, kritisieren andere für deren Inkompetenz und beschweren sich über den Mangel an Organisation und das Nichteinhalten von Terminen („+/–“-Lebensposition).

Beispiel: „Was heißt das, wir haben das Budget bereits ausgeschöpft? Wen wollen Sie hier auf den Arm nehmen? Ich muss hier alles selbst machen! Ich bin von inkompetenten, verantwortungslosen Leuten umgeben! Ab heute acht Uhr will ich die gesamte Eingangs‐ und Ausgangspost auf meinem Tisch haben und werde alles gegenzeichnen – ohne Ausnahme!“

Die unterstützende Haltung des Coachs

Gibt dem Klienten alle Informationen, die er braucht. Strukturiert und plant die Schritte, die absolviert werden müssen, um das Coachingziel zu erreichen. Bietet dem Klienten verschiedene Optionen und lässt ihn entscheiden.

Um effektiv mit einem Logiker‐Klienten zu kommunizieren:

Das Profil des Beharrers

Nicht im Stress

Sie schätzen es, sich für Aufgaben zu engagieren, hinter denen sie stehen.

Sie haben starke Überzeugungen.

Sie sind gewissenhaft (wollen das zu Ende bringen, was sie begonnen haben).

Sie nehmen Situationen durch den Filter ihrer Meinungen wahr.

Sie nach ihrer Meinung zu fragen, ist besonders wichtig, um sie zu motivieren.

Sie arbeiten effizienter, wenn sie an die getroffenen Entscheidungen glauben.

Sie brauchen einen demokratischen Führungsstil.

Sie ziehen es vor, auf der Grundlage eines Meinungsaustauschs zu kommunizieren.

Sie müssen sich respektiert fühlen.

Ihre existenzielle Frage lautet: Bin ich vertrauenswürdig?

Im Distress

Im Distress der Misskommunikation erwarten sie von anderen, perfekt zu sein und sie scheinen eher die Fehler zu sehen als das, was in Ordnung ist.

Beispiele: „Was genau meinen Sie damit?“ oder „Wie lange hat das genau gedauert?“ Während des alljährlichen Beurteilungsgesprächs mit einem Mitarbeiter, der durchweg seine Ziele erreichte, sagt der Manager: „Dieses Jahr gibt es über Sie nichts Außergewöhnliches zu sagen.“

Wenn sie nicht genügend positive Aufmerksamkeit bekommen, werden sie wahrscheinlich predigen, missionieren und versuchen, anderen ihre Überzeugungen aufzuzwingen. Vielleicht hören sie nicht zu und unterbrechen den anderen. Manchmal scheinen sie misstrauisch und denken: „Wenn die nicht für mich sind, sind sie gegen mich.“

Beispiel: „Ihr Bericht ist unverständlich. Sie scheren sich scheinbar nicht um Qualitätsstandards. Seit Sie hier involviert sind, ist alles ein wirkliches Chaos geworden! Sie tun wirklich nur das Nötigste, was man von Ihnen verlangt. Leute, die hier arbeiten, müssen schon Engagement zeigen und einen gewissen Stolz darauf, Mitglied der Organisation zu sein.“

Die unterstützende Haltung des Coaches

Der Coach hört dem Klienten zu, respektiert seinen Standpunkt und verweist auf alle positiven Aspekte, die er hört. Der Coach agiert auch als ausgeglichenes und vernünftiges Vorbild.

Um zielführend mit einem Beharrer‐Klienten zu kommunizieren:

Das Träumer-Profil

Nicht im Stress

Sie sind ruhig und dezent und zeigen wenige Reaktionen.

Sie sind kontemplativer Natur und brauchen die Stimulierung von außen, um ins Tun zu kommen.

Sie benötigen klare und ausdrückliche Anweisungen und mögen es, wenn sie Zeit zum Nachdenken haben, bevor sie etwas tun. Wenn sie dann nicht in ihrer Arbeit gestört werden, bleiben sie konzentriert und vergessen die Zeit.

Sie brauchen regelmäßig das Alleinsein, um Inspiration zu finden und ihre Batterien zu laden.

Sie haben eine ausgeprägte Vorstellungskraft, das ist der Filter, durch den sie Situationen wahrnehmen.

Während andere wirklich ranklotzen und sich einbringen, bleiben Träumer oft in Distanz, sodass sie in der Lage sind, die Besonderheiten von allem zu erkennen.

Sie sehen eine Situation in ihrer Gesamtheit.

Sie brauchen klare Richtlinien und einen direktiven Führungsstil.

Ihre existenzielle Frage lautet: Bin ich erwünscht?

Im Distress

Im Stress der Misskommunikation werden sie passiv, ziehen sich zurück und verschließen sich anderen gegenüber. Sie werden in verschiedene Projekte einbezogen, die sie nicht zu Ende führen. Wenn sie kommunizieren müssen, neigen sie dazu, ihre Sätze nicht zu Ende zu bringen.

Beispiel: „Ein Gedanke ging mir gerade durch den Kopf, dass … (Pause) Es kommt mir in den Sinn, … (Pause) Das bringt mich auf die Idee …“ (Pause).

Wenn sie nicht ausreichend Zeit für sich und ein Problem haben, zeigen sie ihren Stress, indem sie passiv abwarten. Sie scheinen nicht ansprechbar zu sein, physisch zu verschwinden und werden in Besprechungen sehr ruhig, fast „unsichtbar“. Sie entwickeln ein Gefühl des Verlorenseins: „Ich warte auf genauere Anweisungen oder mehr Befugnisse.“

Die unterstützende Haltung des Coaches