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Band 234

 

Die Himalaya-Bombe

 

Rüdiger Schäfer

 

 

 

PERRY RHODAN KG, Rastatt

 

Cover

Vorspann

1.

2.

3.

4.

5.

6.

7.

8.

9.

10.

11.

12.

13.

14.

15.

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17.

18.

19.

20.

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22.

23.

24.

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Impressum

PERRY RHODAN – die Serie

 

Gut fünfzig Jahre nachdem die Menschheit zu den Sternen aufgebrochen ist, bildet die Solare Union die Basis eines friedlich wachsenden Sternenreichs. Aber die Sicherheit der Menschen ist immer wieder in großer Gefahr. Eine unheimliche Bedrohung sucht die Galaxis heim – das Dunkelleben. Es scheint seinen Ursprung im Zentrum der Milchstraße zu haben.

In dieses Zentrum bricht Perry Rhodan mit der CREST II und seiner bewährten Mannschaft auf. Die Erkundungsmission führt in den Sagittarius-Sektor, wo man eine erste Zwischenstation erreicht: das mysteriöse Omnitische Herz.

Währenddessen wird auf der heimatlichen Erde ein uraltes Relikt entdeckt. Ausgerechnet eine Wissenschaftlerin aus Köln scheint die Person zu sein, die als Einzige die Welt retten kann. Das kann sie selbst sich kaum vorstellen. Aber sie ist nicht allein: Perry Rhodans Söhne Tom und Farouq sowie die zwei Töchter von Reginald Bull gehen ebenfalls in den gefährlichen Einsatz – gegen DIE HIMALAYA-BOMBE ...

1.

 

Die Panik brauchte nur wenige Sekunden. Kaum hatte Hannah Stein die Augen geöffnet, war die Angst da und ließ keinen Zweifel daran, dass sie gekommen war, um zu bleiben.

Es war hell. Sonnenlicht fiel durch die sanft getönte Scheibe des Schlafzimmers, und das bedeutete, dass es bereits nach sieben Uhr morgens sein musste.

Mist!, war alles, was Hannah in diesem Moment denken konnte. Mist! Mist! Mist!

Am Vorabend hatte sie die angebrochene Flasche Wein ausgetrunken. Weil sie nervös gewesen war. Und wie immer hatte der Alkohol sie schläfrig gemacht. Aber warum zum Teufel hatte der verdammte Wecker nicht geklingelt? Sie hatte dem Servo doch vor dem Zubettgehen klare Anweisungen gegeben ...

Hör auf, Fragen zu stellen, die dir nicht weiterhelfen!, rügte sie sich in Gedanken. Versuch lieber zu retten, was noch zu retten ist!

Sie schleuderte die dünne Bettdecke zur Seite und sprang aus dem Bett. Ein Blick aus dem Fenster bestätigte ihre schlimmsten Befürchtungen. Die Sonne stand einige Zentimeter rechts neben den in der Ferne deutlich erkennbaren Türmen des Doms. Der schwache Dunstschleier, der zu dieser Zeit des Jahres manchmal über Köln lag, war bereits verschwunden.

Hannah sah zum Nachttisch hinüber. Das Anzeigefeld des Servos war tot. Hatte es etwa wieder einen nächtlichen Stromausfall gegeben? Die Bezirksverwaltung hatte doch versichert, dass so etwas nicht mehr vorkommen würde.

»Wepesch!«, rief sie, während sich ihre Panik langsam in Zorn verwandelte. »Du solltest mich um sechs Uhr wecken! Was ist passiert?«

»Es tut mir leid, Hannah«, erklang eine weiche Stimme. »Aber mir liegt kein Weckauftrag vor.«

»Mist!« Diesmal sprach sie laut aus, was sie dachte. »Ich hatte dich gestern Abend ausdrücklich gebeten ...« Sie brach ab. Zum einen wusste sie aus Erfahrung, dass eine Diskussion mit der Künstlichen Intelligenz ihres Apartments sinnlos war. Zum anderen war sie sich plötzlich nicht mehr so sicher, dass sie Wepesch tatsächlich entsprechend instruiert hatte. Ein Blick zur leeren Weinflasche auf dem Glastisch des Wohnraums verstärkte ihre Zweifel.

Wütend auf die Willkür des Schicksals im Allgemeinen und die eigene Unzulänglichkeit im Besonderen, zwängte sie sich in die kleine Nasszelle und erledigte ihre Morgentoilette in neuem Rekordtempo. Lediglich fürs Schminken nahm sie sich ausgiebiger Zeit. Wenn sie zu spät kam, war das eine Sache. Falls sie allerdings auch noch aussah, als sei sie gerade erst aus dem Bett gefallen – selbst wenn das der Wahrheit entsprach –, konnte sie ihren Forschungszuschuss gleich vergessen. Sie wusste, dass die Direktoren der Hochschule – allesamt Männer in gesetztem Alter und mit nicht minder gesetztem Weltbild – sehr auf Äußerlichkeiten achteten.

Das Frühstück musste ausfallen. Sie hätte ohnehin keinen Bissen runtergebracht. Gerade als sie die Wohnung verlassen wollte, ging ein Anruf über Videokom ein. Sie warf einen flüchtigen Blick auf die Anzeige über dem Holoprojektor.

»Kennung unterdrückt. Anrufer unbekannt«, las sie.

Das war ungewöhnlich, beinahe schon beunruhigend. Kontaktanfragen ohne eindeutige Anruferkennung gab es eigentlich nicht mehr. Egal. Sie hatte ohnehin keine Zeit.

»Ignorieren!«, rief sie Wepesch zu, griff nach ihrer Jacke und huschte aus der Tür.

Hannah brauchte exakt sieben Minuten, um den Wohnturm im Stadtteil Ehrenfeld zu verlassen, über die kurze Einkaufsmeile davor zu eilen und die SkyFly Base in der Körnerstraße zu erreichen. Als sie den großen Torbogen durchschritt, der die Flugsteige von den Außenbereichen der Station trennte, vibrierte das Kommunikationsmodul ihres Multifunktionsarmbands, das sie wie immer am linken Handgelenk trug. Diesmal war ihr die Anruferin wohlbekannt.

»Hannah!«, hörte sie die schrille Stimme von Miku Torishima im Ohr, kaum dass sie die Komverbindung mit einem Krümmen des Zeigefingers bestätigt hatte. »Wo bist du? Askarov hat schon zweimal nach dir gefragt ... und beim zweiten Mal kam Rauch aus seinen Nüstern!«

»Bin unterwegs«, antwortete Hannah gepresst. »Ich hab ... verpennt. Und ja, ich weiß, wie wichtig unser Termin ist! Es tut mir leid. Was soll ich sonst sagen?«

Miku schwieg. Allerdings konnte Hannah ihr abgehacktes Keuchen hören. Immer wenn ihre japanische Forschungsassistentin sich aufregte, bekam sie Schnappatmung.

Da in diesem Moment ein kurzer Warnton die Ankunft des Skybusses ankündigte und das Prallfeld, das die Einstiegszone schützte, zweimal rot aufleuchtete, unterbrach Hannah die Komverbindung einfach, obwohl sie wusste, dass dies Miku nur noch mehr in Aufregung versetzen würde.

Warum soll ich heute Morgen die Einzige sein, der die Nerven flattern?, dachte sie – und schämte sich sofort dafür.

Ihre Assistentin war ebenso feinfühlig wie leicht aus der Fassung zu bringen; vor allem aber war sie überdurchschnittlich zuverlässig und kompetent. Ohne Mikus tatkräftige Mithilfe bei der Recherche und Reinschrift hätte Hannah ihr letztes Blogxikon niemals rechtzeitig zu dem Termin beendet, den sie mit dem Verlag vereinbart hatte. Nein, Miku hatte Besseres verdient als eine schlecht gelaunte und unsensible Chefin. Sie würde sich später bei ihr entschuldigen.

Der Skybus senkte sich aus einem leicht bewölkten Himmel auf die Landeplattform herab. Eine Handvoll Fahrgäste verließ das plump wirkende Fahrzeug über eine Rampe und verschwand auf der anderen Seite des Flugsteigs durch die gekennzeichneten Ausgänge. Dann leuchtete das Prallfeld in hellem Grün auf ... und verschwand.

Gemeinsam mit etwa einem Dutzend anderer Personen bestieg Hannah den Skybus und suchte sich einen Sitzplatz im vorderen Bereich der Passagierkabine. Schräg gegenüber fiel ihr eine Frau mit langen, weißen Haaren und fast weißer Haut auf, die sie kurz mit rötlich schimmernden Augen musterte und sich dann wieder ihrem Multifunktionsarmband zuwandte.

Eine Arkonidin, dachte Hannah. Sie wusste, dass es in Köln-Zollstock eine kleine Kolonie der Außerirdischen gab. Die Fremden aus dem fernen Kugelsternhaufen M 13 hatten die Erde im Jahr 2037 für gut sechs Monate besetzt und kurzerhand zu einem Protektorat ihres Großen Imperiums deklariert. Nach dem Ende der Besatzung waren rund zehntausend von ihnen zurückgeblieben. Die meisten lebten in Terrania, der Riesenmetropole in der Wüste Gobi, der Hauptstadt der Terranischen Union. Allerdings hatten sich einige auch in andere Städte überall auf dem Globus verteilt.

Hannah musste sich zwingen, die Unbekannte nicht anzustarren. In Terrania mit seinen 150 Millionen Einwohnern mochte eine Arkonidin ein alltäglicher Anblick sein. In einer Drei-Millionen-Stadt wie Köln war sie es nicht.

Der Skybus hob ab und schwang sich sanft in die Luft. Dabei blieben die spürbaren Erschütterungen dank modernster Leit- und Stabilisierungstechnik minimal. Hannah hatte keine Flugangst; trotzdem beschlich sie jedes Mal, wenn sie mit SkyFly unterwegs war, ein unangenehmes Gefühl, das sich rational nicht erklären ließ.

Wenn Gott gewollt hätte, dass Menschen fliegen, hätte er ihnen Flügel gegeben. Sie wusste nicht, wer das zum ersten Mal gesagt hatte, aber das Zitat fasste das Thema ziemlich gut zusammen.

Kurz überlegte sie, ob sie Miku zurückrufen und sich nach dem Stand der Dinge erkundigen sollte, ließ es dann aber sein. In zehn Minuten würde sie an der Haltestelle Albertus-Magnus-Platz sein. Von da waren es nur ein paar Hundert Meter durch den Park bis zur Kölner Hochschule für extraterrestrische Geschichte und vergleichende Kulturhistorik. So lange würde sie sich bezähmen. Ein weiteres Gespräch mit ihrer übernervösen Assistentin würde sie nur noch kribbliger machen, als sie es ohnehin schon war.

Auf ihrer rechten Seite tauchte der Dom auf – nun deutlich größer, als sie ihn von ihrem Apartment aus sehen konnte. Die im gotischen Stil gehaltene Kathedrale war weltberühmt. Es hatte 632 Jahre gedauert – von 1248 bis 1880 –, bis die gewaltige Kirche endlich fertig geworden war. Dann hatten die beim Bau verwendeten, ungewöhnlich vielen Steinsorten angefangen zu verwittern, und die Metalldübel welche die zahlreichen Türmchen und Figuren an der Fassade verankerten, waren aufgrund von Rost immer wieder ausgebrochen. Erst im Jahr 2080 hatten die Restaurierungsarbeiten abgeschlossen werden können. Ein Expertenteam der Terranischen Union hatte mit modernster Technik dafür gesorgt, dass das berühmte Gotteshaus seither zum ersten Mal nach über hundert Jahren ohne Baugerüste, Abdeckfolien und Stützgitter zu bewundern war.

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Illustration: Dirk Schulz

Hannah musste lächeln. In Köln gab es ein Sprichwort. Es lautete: »Wenn der Dom fertig ist, geht die Welt unter.« Zum Glück hatte sich das als falsch erwiesen. Der Dom war fertig – und die Welt gab es immer noch.

Unter Hannah glitzerte der Rhein in der Morgensonne. Der Skybus fädelte sich in eine der Spuren der Deutzer Sternenbrücke mit ihren schillernden Regenbogenpfeilern ein und bog dann in einer scharfen Kurve nach Westen ab. Die Glasfassaden und Bürotürme im Zentrum kippten nach hinten weg. Vor ihr lagen nun die mit Grünanlagen und kleinen Seen gesprenkelten Außenbezirke.

In der Ferne war die Senk zu erkennen, ein zweihundert Meter durchmessender Krater, den die Invasion der Sitarakh im Jahr 2051 der Stadt als schauriges Souvenir hinterlassen hatte. Dort war ein Krahl abgestürzt, eins der an Blumentöpfe erinnernden Beiboote dieser seltsamen Wesen, und hatte verheerende Schäden angerichtet. Später war der Ort als Gedenkstätte ausgebaut worden. Hannah war damals noch ein Kind gewesen. Ihre Erinnerung an diese Zeit war verschwommen.

Der Name Senk – im kölschen Dialekt das Wort für Abfallgrube – hatte sich im Volksmund schnell etabliert. Wie mit so vielen Kümmernissen des Lebens war der in diesem Teil Deutschlands verbreitete Menschenschlag auch mit den diversen Katastrophen, welche die Erde in den zurückliegenden fünfundfünfzig Jahren heimgesucht hatten, sehr pragmatisch umgegangen.

»Albertus-Magnus-Platz«, verkündete die geschlechtslose Stimme des Robotpiloten. Der Skybus verlor schnell an Höhe und landete auf einem markierten Feld inmitten einer blühenden Gartenlandschaft.

Hannah erhob sich. Sie warf der Arkonidin einen letzten Blick zu.

Draußen war es warm. Die Sonne hatte nicht lange gebraucht, um die Kühle der Nacht zu vertreiben und sich durchzusetzen. Während der vergangenen Tage hatte es der beginnende Frühling besonders gut gemeint, und in zwei Stunden würde auf dem Fakultätsgelände eine brütende Hitze herrschen.

Hannah brauchte knapp fünf Minuten, um den Haupteingang der Universität zu erreichen. Da und dort nickten ihr unterwegs einige Studierende freundlich zu. Hannahs Vorlesungen gehörten zwar nicht zum verpflichtenden Lehrplan, waren aber trotzdem stets gut besucht.

Als der Aufzug im vierten Stockwerk des Verwaltungstrakts hielt und Hannah in den weiß getäfelten Ringkorridor entließ, erwartete Miku Torishima sie bereits. Die zierliche Japanerin trug wie meist ein bunt gemustertes Kleid, weiße Rüschensöckchen und Turnschuhe. Die langen, schwarzen Haare hatte sie mit einem roten Tuch zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Sie sah aus wie eine vierzehnjährige Schülerin, obwohl sie die Dreißig schon lange überschritten hatte.

»Endlich!«, rief Miku halb vorwurfsvoll, halb erleichtert. »Alle sind schon da. Und dass Askarov tobt, muss ich dir wohl nicht sagen. Er hat in einer Viertelstunde einen Anschlusstermin ...«

Hannah seufzte. Ein Blick auf ihr Multifunktionsarmband machte ihr klar, dass sie fast dreißig Minuten zu spät war. In den Augen des als überkorrekt bekannten Institutsleiters war das eine Todsünde.

Verdammt, verdammt, verdammt!, fluchte sie stumm. So viel Charme kann ich gar nicht versprühen, um das wiedergutzumachen ...

Die Tür zum Büro des Dekans stand offen. Hannah rauschte durchs Vorzimmer und nickte Kalil flüchtig zu. Der aus dem Jemen stammende Sekretär von Abay Askarov verzog die Mundwinkel und wedelte mit der rechten Hand, als hätte er sie sich an einem falsch gepolten Kochfeld verbrannt.

Hannah Stein atmete noch einmal tief durch. Dann klopfte sie an die breite Flügeltür, die ins Allerheiligste ihres obersten Dienstherrn führte – und trat ein ...

2.

 

Vierzehn Stunden später war Hannah Stein wieder in ihrem Apartment. Wepeschs übliche Begrüßung nahm sie nur wie durch eine Wand aus Watte wahr. Das Desaster, mit dem am Morgen alles begonnen hatte, war zum Leitmotiv ihres gesamten Tages geworden.

Die Runde der Direktoren hatte Hannahs Antrag auf ein höheres Forschungsbudget abgelehnt. Die hohen Herren hatten nicht mal zehn Minuten für ihre Entscheidung gebraucht, und Askarov hatte bei der Verkündung des Beschlusses so zufrieden gelächelt, als hätte man ihn gerade zum Dekan des Jahres gewählt.

Später im Büro war Miku Torishima vor Enttäuschung in Tränen ausgebrochen und Hannah, wütend wie sie war, hatte ihre Assistentin grob angefahren und damit alles nur noch schlimmer gemacht. Es hatte fast eine Stunde und vier Gläser Kirschlikör aus Hannahs Geheimvorrat gebraucht, um die Japanerin zu beruhigen und in einen Zustand zu versetzen, in dem sie zumindest halbwegs ihrer Arbeit nachgehen konnte.

Bei der Durchsicht der elektronischen Post war Hannah auf eine Nachricht ihres Verlegers gestoßen, der sie missgestimmt darauf aufmerksam machte, dass die versprochenen neuen Kapitel ihres vor fünf Jahren veröffentlichten Buchs »Anverwandte« bereits zwei Monate überfällig waren. Der dicke Wälzer über die Vorgänger der Menschheit und deren Zeit auf der Erde und im Sonnensystem wurde in Fachkreisen auch als Liduuri-Bibel bezeichnet und galt als Standardwerk. Doch inzwischen hatte man bei der Erforschung der Vergangenheit eine ganze Reihe neuer Erkenntnisse gewonnen. Der Verlag bereitete seit Monaten die Herausgabe einer aktualisierten und erweiterten Neuauflage vor – und sie hatte diese Überarbeitung zugesichert.

Danach waren weitere Missgeschicke und Hiobsbotschaften wie ein Platzregen auf sie niedergeprasselt. Ihre Freundin Sienna vom Philologischen Institut – so ziemlich die einzige engere Bekannte, die sie unter den Lehrenden hatte – sagte die gemeinsame Verabredung zum Essen ab, in der Kantine kippte sich Hannah Orangensaft über die Hose, und bei der Nachmittagsvorlesung über die liduurische Forschung auf Tiamur war sie unkonzentriert, verhaspelte sich mehrfach und wurde von einem Zuhörer sogar auf eine falsch zitierte Textstelle ihrer eigenen Begleitunterlagen aufmerksam gemacht. Im Büro, bekam Miku Torishima daraufhin ihren zweiten Weinkrampf, sodass Hannah ihre Assistentin nach Hause schickte. Danach spielte ihr Rechner verrückt, und als sie mit der flachen Hand genervt gegen den Holoprojektor schlug, stürzte das komplette positronische System ab.

Der unbekannte Anrufer vom Morgen versuchte es zwei weitere Male, doch sie lehnte beide Kontaktversuche ab. Ebenso wie ihm erging es ihr selbst, während sie mehrfach versuchte, Askarov zu erreichen. Der Dekan, beschied man ihr nur, sei in wichtigen Besprechungen und dürfe nicht gestört werden. Schließlich bekam sie Kopfschmerzen und klebte sich trotz ihrer Abneigung gegen Medikamente aller Art ein Transdermalpflaster in den Nacken. Viel half es nicht.

Am späten Nachmittag rief zum krönenden Abschluss das Seniorenheim an, in dem ihre Mutter lebte. »Frau Stein«, teilte ihr die Heimleiterin leidenschaftslos mit, »hat wieder einmal während des Essens mit den Bestandteilen ihrer Mahlzeit um sich geworfen. Als eine unserer Pflegerinnen eingriff, wurde sie mit einem Tablett attackiert.«

Hannah seufzte und rieb sich die pochenden Schläfen. Ihre 83-jährige Mutter hatte vor ein paar Jahren die ersten Symptome einer Demenz gezeigt. Seit damals hatte sich ihr Zustand stetig verschlechtert. An guten Tagen erkannte sie ihre Tochter immerhin noch; ansonsten verliefen Hannahs Besuche meist so, dass sie redete und ihre Mutter gleichmütig dasaß und ins Leere starrte, was Hannah regelmäßig das Herz brach. Zwar gab es eine Reihe von neuen und vielversprechenden Therapien, doch Hannah war finanziell keineswegs auf Rosen gebettet – und die Kosten für eine solche Behandlung waren immens. Schon die Gebühren für die Heimunterbringung fraßen einen guten Teil ihres Einkommens auf.

»Wir mussten Ihre Mutter medikamentös ruhigstellen und im Bett fixieren«, berichtete die Heimleiterin weiter. »Es tut mir sehr leid, Hannah, aber wenn sich so etwas noch einmal wiederholt, sehe ich keine andere Möglichkeit mehr, als Ihre Mutter zu entlassen. Wir legen sehr viel Wert auf einen intakten Heimfrieden. Viele unserer Gäste sind gesundheitlich labil; sie brauchen Ruhe und das Gefühl von Sicherheit. Vorfälle wie der heutige sind da alles andere als förderlich.«

Es kostete Hannah den Rest ihrer Selbstbeherrschung, um die Frau am anderen Ende der Komverbindung nicht anzuschreien. Abgesehen davon, dass die Heimleiterin sie vom ersten Tag an ungefragt mit dem Vornamen angesprochen hatte, ging ihr deren geschraubte Ausdrucksweise furchtbar auf die Nerven. Intakter Heimfrieden! Gesundheitlich labil! Alles andere als förderlich! Man hätte meinen können, bei dem Seniorenheim handle es sich um ein Hospiz – oder gar einen Friedhof.

Stattdessen versprach Hannah, am nächsten Tag vorbeizukommen und mit ihrer Mutter zu reden – wohl wissend, dass es kaum etwas bringen würde.

Sie ließ sich auf das unförmige, aber bequeme Sofa fallen und wies Wepesch an, das Trividgerät einzuschalten. Über dem Glastisch, auf dem nach wie vor die leere Weinflasche stand, leuchtete eine Holoprojektion auf. Terra News, der Kanal, den sie als Standard eingestellt hatte, präsentierte wie immer Nachrichten. Der weltweit kostenlos empfangbare Sender der Terranischen Union strahlte seinen Dienst in Englisch aus, doch über ein – ebenfalls kostenloses – Zusatzprogramm für den Trivid-Projektorwürfel konnte man praktisch jede beliebige Sprache zuschalten. Die Übersetzung erfolgte simultan und lippensynchron.

Ein junger Mann in hellblauem Anzug berichtete über die am Vortag beendete Sitzung des Unionsrats und die dort gefassten Beschlüsse.

»Administratorin Michelsen empfing heute Morgen außerdem eine Delegation des Chinesischen Blocks«, füllte seine angenehm sonore Stimme den Raum. »Über den Inhalt der Gespräche wurde nichts bekannt. Beobachter vor Ort zeigten sich jedoch überrascht, da der Besuch aus Peking offenbar nicht geplant und das Treffen sehr kurzfristig anberaumt worden war.«

Hannah verzichtete darauf, die deutsche Tonspur zuzuschalten. Ihr Englisch war zwar nicht perfekt, aber ausreichend. Fasziniert betrachtete sie die Panoramaaufnahmen der Union Hall. Die Kamera flog in halsbrecherischer Fahrt an den bepflanzten Balkons des Regierungszentrums vorbei und stieg bis zur gewaltigen Glasfront der Sitzungshalle hinauf. Dort tagte die Vollversammlung, die aus den Botschaftern aller in der Terranischen Union vereinten Länder der Erde bestand.

Hannah hatte sich nie besonders für Politik interessiert. Und Terrania, die Weltmetropole mit ihren kilometerhohen Türmen, Hochstraßen, Schwebebrücken und futuristischen Gebäuden, war endlos weit entfernt. Als junge Frau und vor allem während ihres Studiums in Düsseldorf hatte sie den faszinierenden Lebensweg von Perry Rhodan, seiner arkonidischen Frau Thora da Zoltral, seinem besten Freund Reginald Bull und dem putzigen Mausbiber Gucky wie so viele andere gebannt verfolgt. Doch all das war ihr immer eher wie ein gut inszeniertes Märchen vorgekommen; eine weit außerhalb des menschlichen Alltags angesiedelte Utopie, die von ein paar mit überbordender Vorstellungskraft gesegneten Autoren als endlose Science-Fiction-Story mit verblüffenden Wendungen und ebenso dramatischen wie epischen Handlungsbögen erzählt wurde. Sie selbst war davon lange nicht betroffen gewesen.

Das hatte sich erst Ende des Jahres 2051 geändert, als elf Milliarden Menschen die Erde verlassen mussten, weil die modifizierte Strahlung der Sonne ihre Heimatwelt unbewohnbar zu machen drohte. Hannah war zehn Jahre alt gewesen. Vier Jahre lang hatte sie mit ihren Eltern und dem Großteil der restlichen Menschen im Tiefschlaf gelegen, wovon sie freilich nichts mitbekam. Während der schwierigen Zeit der Wiederbesiedlung war dann ihr Interesse für die noch immer in vielen Aspekten geheimnisvollen Urahnen der Menschheit erwacht. Für die Memeter, die vor mehr als 80.000 Jahren auf der Erde gelebt hatten. Und für die Liduuri, die aus ihnen hervorgegangen waren und das Solsystem vor rund 53.000 Jahren für immer verlassen hatten.

Hannah öffnete den Kühlschrank und musterte den Inhalt. Abgesehen davon, dass sie keinen Hunger hatte, war es bereits ziemlich spät. Sie war müde und niedergeschlagen, aber sie wusste auch, dass es sinnlos war, schon zu Bett zu gehen. In ihrem Zustand würde sie kein Auge zumachen. Schließlich griff sie nach einer Flasche Mineralwasser, ließ sich vor dem Trivid-Hologramm nieder und starrte geistesabwesend auf die Nachrichtenbilder.

»Maui John Ngata, der große alte Mann der Terranischen Union, traf gestern im Rahmen eines Staatsbesuchs in Tansania ein«, berichtete der Sprecher im blauen Anzug gerade. »Das ostafrikanische Land ist assoziiertes Mitglied der TU und strebt die Vollmitgliedschaft an.«

Hannah verfolgte gelangweilt, wie der rund 110 Jahre alte Politiker am Raumhafen von Dodoma aus einem Gleiter stieg und von einer Delegation bunt gekleideter Menschen begrüßt wurde. Im Hintergrund waren mehrere Hundert Schaulustige zu sehen. Sie wedelten begeistert mit kleinen Fähnchen, die abwechselnd die tansanische Nationalflagge und das Unionsbanner zeigten.

Ja, die Erde hatte sich verändert, seit Perry Rhodan im Jahr 2036 zum Mond geflogen und dort auf ein Raumschiff der Arkoniden gestoßen war. Vieles war besser und alles war anders geworden. Es gab kaum noch Menschen, die Hunger litten. Krankheiten, die fünfzig Jahre zuvor noch Millionen getötet hatten, galten als besiegt. Man hatte die ökologischen Folgen von Überbevölkerung, Globalisierung und Umweltzerstörung in den Griff bekommen. Seit drei Jahrzehnten gab es sogar eine Handvoll Kolonien in fremden Sonnensystemen. Und all das war in einem atemberaubenden Tempo geschehen.

Doch der Aufstieg der Terranischen Union zur Weltmacht hatte auch Schattenseiten. Noch immer warfen einige Kritiker und politische Allianzen – allen voran der Chinesische Block – Rhodan und seinen Mitstreitern Eigennutz, Arroganz und Arglist vor. Obwohl die Union ihre überlegenen technischen Errungenschaften nicht nur ihren Mitgliedern, sondern praktisch allen Menschen zugänglich machte, unterstellten manche den Verantwortlichen eine politische Agenda. Die Terranische Union, die TU, hieß es, strebe nichts weniger als die Weltherrschaft unter ihren Bedingungen an. Aus dieser Haltung waren Spannungen entstanden, die die Welt nach wie vor in Atem hielten.

Letztlich jedoch waren das Überlegungen, die für Menschen wie Hannah bestenfalls für eine oberflächliche Diskussion unter Kollegen taugten. Oder für ein paar akademische Erörterungen, nachdem man sich die Nachrichten angeschaut hatte. Die Regeln und Bedingungen legten andere fest – der Großteil der Erdbevölkerung lebte nur danach.

Sie wechselte per Blickschaltung den Kanal, und das Holo sprang auf Germany Today, einen rein deutschen Sender – wenngleich mit englischem Namen. Auch dort wurde über die Sitzung des Unionsrats und Ngatas Afrikareise berichtet.

Deutschland war – wie der gesamte europäische Kontinent – seit Langem Vollmitglied der Terranischen Union. Das hieß, dass die Bundesregierung die freiheitliche und demokratische Grundordnung der Terranischen Union ohne Einschränkungen anerkannte und sich verpflichtete, deren Prinzipien umzusetzen und einzuhalten. Im Gegenzug erhielt sie umfangreiche Unterstützung auf allen Gebieten sowie den Beistand der Terranischen Flotte im Verteidigungsfall.

Als einige Zeit später ihr Multifunktionsarmband vibrierte, schreckte Hannah aus leichtem Schlummer auf. Sie war tatsächlich vor dem Holo eingenickt. Das passierte ihr seit Neuestem häufiger. Nächstes Jahr wurde sie chronologisch fünfzig; an sich noch kein Grund, sich alt zu fühlen, aber hin und wieder sendete der eigene Körper Signale, die man nicht mehr einfach ignorieren konnte.

Wepesch hatte registriert, dass sie eingeschlafen war, und das Holo gedimmt. Der Ton war nur noch als leises Flüstern wahrnehmbar. Die Uhr am rechten unteren Rand der Bildprojektion zeigte 22.47 Uhr.

Wer ruft mich so spät noch an?, fragte sie sich verwundert.

Dann war sie schlagartig hellwach. Mama!, zuckte es durch ihren Kopf. Natürlich! Um diese Zeit erhielt sie keine guten Nachrichten mehr. Im Heim musste etwas passiert sein. Ihr Katastrophentag war also noch nicht zu Ende.

Als sie dann aber auf das Anzeigefeld ihres Multifunktionsarmbands sah, runzelte sie die Stirn. »Kennung unterdrückt. Anrufer unbekannt«, stand dort erneut.

Da war aber jemand hartnäckig – und geheimnisvoll.

»Stein?«, meldete sie sich. Wepesch legte die Verbindung automatisch in das Zentralholo des Wohnzimmers.

Das Trividbild verblasste, stattdessen schwebte der Oberkörper eines Manns im mittleren Alter über dem Glastisch. Seine dunklen Haare waren ungekämmt, der Bart auf Oberlippe und Kinn wirkte dagegen gepflegt. Das jungenhafte Grinsen in seinem ebenmäßigen Gesicht wurde eine Spur breiter, als er sie sah. Die Augen wiesen einen rötlichen Schimmer auf.

»Hallo, Hannah«, sagte Thomas Rhodan da Zoltral, als würden sie sich jeden Tag begegnen. »Ich hoffe, ich habe dich nicht geweckt ...«

3.

 

Er sieht noch fast genauso aus wie früher, dachte Hannah Stein, während sie sich hastig aus ihrer halb liegenden Position in die Senkrechte kämpfte. Am liebsten hätte sie Wepesch gebeten, die Kamera abzuschalten, aber dazu war es bereits zu spät. So etwas hätte nur albern gewirkt.

»Nein, nein«, behauptete sie und strich sich verlegen durch die dunkelbraunen Haare. »Ich habe bloß ... vor mich hin gedöst ...« Sie versuchte ein Lächeln und hoffte, dass es ihr halbwegs glaubhaft gelang.

Thomas Reginald Rhodan da Zoltral. Eins der bekanntesten Gesichter des ganzen Planeten. Der Sohn des berühmten Perry Rhodan höchstpersönlich. Für einen Moment war sie zu glauben bereit, dass sie träumte, wünschte es sich sogar beinahe. Doch dann stieß sie beim Aufrappeln gegen die leere Weinflasche und fegte sie vom Tisch. Das Getöse, das beim Aufprall auf den Laminatboden entstand, kam ihr lauter vor als die Domglocken an Heiligabend.

Wunderbar, dachte sie resigniert. Da hinterlasse ich ja gleich den richtigen Eindruck. Eine alternde Historikerin, die nach Genuss von zu viel Rotwein auf der Couch einschläft.

»Tut mir leid, dass ich so spät noch störe«, sagte Thomas. »Ich habe es heute schon ein paarmal versucht. Und nun habe ich den Zeitunterschied vergessen. Das passiert mir leider öfter.«

»Das ... Das ist völlig okay.« Diesmal glückte ihr das Lächeln deutlich besser. »Ich gehe normalerweise nie vor Mitternacht ins Bett. Der heutige Tag war allerdings ziemlich anstrengend. Ich habe dich einfach ... ignoriert.«

»Damit kann ich leben ... auch wenn ich so etwas nicht gewohnt bin.« Thomas grinste frech.

Hannah hatte sich inzwischen von der Überraschung erholt und wieder gefangen. Fast automatisch kehrte sie in Gedanken in den Sommer des Jahres 2064 zurück. Zu dieser Zeit hatte sie noch in Düsseldorf studiert. Als sie der junge, unverschämt gut aussehende Mann, dessen Grinsen sich auch ein Vierteljahrhundert später nicht verändert hatte, angesprochen und nach dem Weg zum Rektoratsbüro gefragt hatte, hatte ihr Herz mehrere Schläge übersprungen und sie war puterrot geworden. Sie hatte ihn nur völlig überwältigt angestarrt und kein Wort herausgebracht.