STIMMEN ZUM BUCH

„Feuer spendet Licht und Wärme. Genau wie es auch dieses Buch tun kann. Es birgt die Gefahr, Ihr Herz zu verändern. Diese Worte sind nicht nur Theorie oder schöne Ideale, sondern reichhaltige, verständliche und poetische Essenz zahlloser Begegnungen in verschiedensten Kulturen der ganzen Welt, wirklich durchlebt- und durchlittener Abenteuer. Ich möchte dieses Buch am liebsten gleich noch einmal lesen.“

Samuel Koch, Bestsellerautor und Schauspieler

 

„Es heißt: ‚Einer Idee kann man immer eine andere Idee entgegensetzen und einer Theorie eine alternative Theorie, aber was können wir einem Leben entgegensetzen?‘ Wenn man dieses Buch von Johannes Hartl über seine Reise mit Jesus liest, kann man sich dem Zeugnis, das daraus hervorleuchtet, einfach nicht entziehen. Mir zumindest ist es nicht gelungen. Dieses Buch erklärt uns besser als manche theologische Abhandlung, dass Jesus Christus lebt.“

P. Raniero Cantalamessa, OFMCap, Prediger des päpstlichen Hauses

 

„In seinem wunderbaren Buch ‚In meinem Herzen Feuer‘ offenbart Johannes Hartl ein Herz voller Liebe für Jesus. Es ließ ihn das Gebetshaus Augsburg gründen. Johannes gibt Einblicke in seine sehr persönliche Reise, Gott noch näher kennenzulernen, indem er ihn im Gebet suchte. Wir alle können von seiner Hingabe und Leidenschaft für den einen, der allein würdig ist, lernen.“

Dr. Heidi G. Baker, Mitbegründerin und Geschäftsführerin von Iris Global

 

„Johannes Hartl spricht den Teil unserer Seele an, der sich danach sehnt, das ewige Feuer kennenzulernen – und inspiriert uns dazu, uns dem Gebet leidenschaftlicher zu widmen und dadurch Gott besser zu kennen und seine Kraft stärker zu erleben. Sein Buch schenkt uns eine Vision dafür, Jesus beständiger zu begegnen und das Wunder eines Lebens zu leben, das dem Gebet gewidmet ist.“

Mike Bickle, Direktor des International House of Prayer, Kansas City

SCM | Stiftung Christliche Medien

Inhalt

PROLOG

DIE FRAGE

WAS IST GEBET?

DER BLITZ

DER BEGINN MEINER REISE INS GEBET

DER STÖRFALL

GEBET IN RAUM UND ZEIT

DER BLICK

DIE KUNST DES SEHENLERNENS

DIE AROMEN

GEBET UND GENUSS

DAS LICHTDUNKEL

GEBET IN DER SCHULE DER MYSTIKER

DAS HIER UND JETZT

GEBET ALS KONTEMPLATION

DIE EPIGNOSIS

GEBET UND OFFENBARUNG

DIE EXPLOSION

GEBET UND KRAFT

AUSBRUCH AUS DEM NORMALEN

GEBET UND DAS WAGNIS DES NEUEN

DER RUF

100 PROZENT GEBET

DIE DISSONANZ

GEBET UND DAS LEID

DIE GROSSE REISE

GEBET UND DIE EWIGKEIT

DIE UNERGRÜNDLICHE ZWIEBEL

GEBET UND DER CHARAKTER

DIE ÜBERWÄLTIGUNG

GEBET UND FASZINATION

DAS GROSSE GEHEIMNIS

GEBET FÜR DEN FRIEDEN JERUSALEMS

MIT UNFAIREN MITTELN

GEBET UND GEBETSERHÖRUNG

DER ZUSAMMENPRALL

GEBET FUR DEN DURCHBRUCH

DAS LIED IN DER NACHT

GEBET UND DER KAMPF DES LOBPREISES

DIE VERSCHWENDUNG

GEBET BEI TAG UND BEI NACHT

DIE EINE BRAUT

GEBET UND ÖKUMENE

DAS REICHE LEBEN

GEBET UND SEIN

DIE SCHÖNHEIT

GEBET ALS KUNST

DER KUSS

VERLIEBTES GEBET

DAS SPIEL

GEBET IN DER SCHULE DER KINDER

PROLOG

Überall nur Schwarz. Ruinen. Zerfetzte Mauern ragen in den Himmel. Eine zerbombte Stadt. Rauchende Trümmer, verbrannte Erde. Darüber ein schwarzer, wolkenverhangener Himmel. Schwarze Vögel kreisen. Der Geruch von Verwesung und Leichen in der Luft. Ein verzweifeltes Bild voll Hoffnungslosigkeit. Ein Bild des Todes.

Plötzlich sehe ich eine kleine Gruppe von jungen Menschen. Es sind nicht viele. Vielleicht sieben oder zwölf. Sie stehen im Kreis. Inmitten der qualmenden Trümmer, inmitten der Verwüstung. Schwach sehen sie aus und naiv. Jung, unerfahren und unbedeutend. Doch sie beginnen zu singen. Sie stehen im Schutt dieser kaputten Stadt und singen. Es ist ein leises Lied … Und zunächst scheint sich nichts zu bewegen. Doch zum Klang dieses leisen Liedes beginnt der Wind zu drehen. Ein milder Luftstrom hebt an und treibt den Leichengeruch fort. Die Geier ziehen ab und die Atmosphäre scheint sich zu ändern. Noch ist alles in Trümmern und doch ändert sich die Szene. Ganz langsam, aber stetig … Und ganz hinten, in der Ferne, reißt der Himmel auf und ein Streifen hellen, orangenen Lichts durchbricht die dunkle, bleierne Wolkendecke. Und mitten in der Nacht: ein Lied. Ein kleines, beständiges Lied, das so unbedeutend erscheint und doch alles verändert.

Feuer DIE FRAGE

WAS IST GEBET?

WORUM ES EIGENTLICH GEHT

Irgendwo in Rumänien, Oktober 2012

Felder huschen vorbei und in meinem Herzen ist Feuer.

Wälder und Dörfer huschen vorbei und ich kenne dieses Feuer schon so lange. Es scheint zu kommen und zu gehen und war doch immer da.

War das tatsächlich ein Eselskarren?

Wie soll ich mich in diesem Auto konzentrieren können?

Zurück zum Thema also. Zurück zur Frage.

Worum geht es? Es geht um das Gebet, wie immer. In überhaupt allem geht es irgendwie im Letzten um das Gebet. Um eine Frage, die mich schon so viele Jahre umtreibt. Was ist das Gebet? In Kontakt mit einem transzendenten Gott treten … Gibt es so etwas überhaupt? Wie funktioniert es? Wie kann der Mensch das? Darf er das überhaupt? Und bringt es etwas? Wo beginnt es und wohin führt es? Fragen, die mich seit meiner frühen Jugend beschäftigten und auf die ich Jahr für Jahr neue Antworten fand, tiefere Antworten. Fragen, die sich meist nicht durch Lehrsätze, sondern durch Begegnungen und Erfahrungen, nicht selten auf Reisen, auflösten.

Es geht also um das Gebet, einmal mehr.

Rumpelnd poltert der alte Wagen mit seiner schaukeligen Federung über die rumänische Landstraße. Ja, es war ein Eselskarren, helles Heu auf seiner Ladefläche. Noch ein paar Stunden und ich werde knapp 1000 Leuten genau diese Frage beantworten müssen. Das hat Cotiso eingefädelt. Er ist mit seiner kleinen Familie ein Jahr bei uns im Gebetshaus Augsburg gewesen und nun zurück, um in seinem Heimatland eine Bewegung von Gebet und Eifer für Gott loszutreten. Nun sitzt er am Steuer und fährt 120 km/h auf kurvigen Landstraßen in der transsylvanischen Einsamkeit. Noch zwei Stunden. In meiner Tasche gekritzelte Notizen. In meinem Herzen Feuer. Und viel Staunen darüber, wie es zu alldem gekommen ist.

Ich weiß schon, wie ich anfangen werde mit diesen 1000 Leuten. Ich werde eine Geschichte erzählen. Die Geschichte, die zufällig meine ist und die meiner Freunde. Und in der es doch nicht um mich geht.

Warum spreche ich überhaupt zu Menschen? Warum reise ich dafür nach Rumänien? Ich, im Niederbayern der 80er aufgewachsen. Warum rede ich über Gebet?

Wodurch befugt? Durch Geschichten. Durch Begegnungen und Erlebnisse während der ersten 34 Jahre meines Lebens. Geschichten, die allesamt um das Unglaubliche kreisen. Das Faszinierende. Schockierende. Exzentrische. Andere. Bezaubernde. Alle Kategorien Sprengende. Der existenzielle Störfall. Der Hereinbruch dessen, was mehr ist als Welt. Das Aufflackern einer Strahlung, die älter ist als das erschaffene Licht. Das große Geheimnis. Die Begegnung mit Gott. Das Gebet. Davon handelt dieses Buch.

GESCHICHTEN UND DAS LEBEN

Unser Leben webt sich durch die Geschichten, die wir erzählen. Zunächst meinen wir, es seien unsere Geschichten über unser Leben. Und dann, nach und nach und im Rückblick, erahnen wir, dass es noch eine andere Geschichte gibt. Dass nicht ich die Geschichte meines Lebens erzähle, sondern ein anderer auf diesem Instrument sein Lied spielt. Es ist seine Geschichte. Die alte, große Geschichte von seiner Liebe und seiner Treue, die sich in meinen eigenen kleinen Geschichten wie das Licht in die Spektralfarben bricht.

Die Geschichte Gottes ereignet sich. Sie ist kein Lexikon, keine wissenschaftliche Abhandlung. Sie ist Drama und Liebesgeschichte, voll der Spannungen, Entwicklungen, jähen Abbrüche und unvermuteten Wendungen. In einer solchen Geschichte offenbarte Gott sich seinem Volk. Und es sind Geschichten, in denen er heute sein Lied weitersingt. Mit all seinen Dur- und Mollakkorden, scheinbaren Dissonanzen und unerwarteten Auflösungen. Sein schönes Lied.

DAS GANZ ANDERE

Metten, Spätsommer 1988

Orangenes Licht bricht durch das Kastanienlaub und der helle Mittag atmet Siesta. Das Summen einer Hummel und zwei vorbeifahrende Autos. Zu Hause höre ich Michael Jackson und die Beatles. Und jetzt komme ich von der Schule.

„Das Mystische zeigt sich“, schreibt Ludwig Wittgenstein im vorletzten Punkt seines „Tractatus logico-philosophicus“. Es sei die Tatsache, dass die Welt ist. Das Staunen darüber, dass es etwas gibt und nicht vielmehr nichts, hat mich früh gepackt. So auch an jenem Mittag mit dem Schulranzen auf dem Rücken. Unvermutet und unvermittelt steht es groß und mächtig in meinem Herzensraum: das Staunen über das Sein.

Ein Blick auf meine Hand: Es gibt sie wirklich. Das bin tatsächlich – ich. Die zäh fließende Zeit, in der sich die Realität ereignet: Das ist tatsächlich alles wahr.

Noch immer summen die Insekten und fährt vereinzelt ein Auto vorbei. Minutenlang stehe ich da und kann es kaum fassen: Es gibt tatsächlich etwas. Wie wunderbar, wie keineswegs selbstverständlich! Das überwältigte Staunen über die Tatsache, dass ich existiere und es die Welt gibt. Niemandem verständlich, der es nicht selbst gespürt hat, doch dem, der es kennt, für immer völlige Unmöglichkeit, an das Märchen zu glauben, es gäbe nichts als das Erschaffene.

Die Welt ist mir seither nicht weniger rätselhaft geworden. Freilich habe ich sie „erforscht“. Doch was genau wissen wir mehr, seit wir den Phänomenen Namen gegeben haben? „Wissen“ wir und „kennen“ wir den Blitz und den Donner, nur weil wir ihren Zusammenhang mit elektrischer Ladung entdeckt haben? Schrecklicher Irrtum unserer Zeit: Wir verwechseln „den Namen für etwas wissen“ mit „etwas wirklich kennen“. Doch früh schon war mein Herz verwundet von dem großen Geheimnis und verdorben für die platte Diesseitigkeit.

Dem Beter wird die Welt immer tiefer und Gott immer größer.

UND AUCH: DAS GEBETSHAUS

Zisterzienserinnenabtei Oberschönenfeld, 16.9.2013

Hier sitze ich und schreibe dieses Buch. Mein Blick geht hinaus in den verregneten Morgen und auf das Rot und Gelb des kleinen Pförtnerhauses meinem Fenster gegenüber. Nie habe ich ein Kloster ohne ein gewisses Maß an ehrfürchtigem Schauer betreten. „Sie sind doch der Leiter des Gebetshauses“, lächelt mich die ältere Schwester an der Pforte an. Ja, das bin ich. Jenes Gebetshauses, in dem seit fast auf den Tag genau zwei Jahren bei Tag und bei Nacht das Gebet nicht mehr endet. Vorhin ein kurzes Gespräch mit Raphael. Er ist Musiker, junger Familienvater und Leiter unserer Nachtschicht. Durch seinen legendären Satz „0 bis 4: mein Revier“ erklärte er sich im Sommer 2011 bereit, die Stunden von Mitternacht bis 4 Uhr morgens im Gebet abzudecken, und legte dadurch den Grundstein, dass wir 24 Stunden an 365 Tagen im Jahr mit Betern füllen können.

Mich erfüllt es mit Ehrfurcht, wenn ich sehe, dass Orte des Gebets, auch des unablässigen Gebets, keineswegs neu sind. Wir stehen in einer großen, jahrhundertelangen Tradition. Und doch glaube ich, dass gerade in unserer Zeit eine neue Gebetsbewegung unter jungen Leuten entsteht. Eine Bewegung von Menschen, die sich auf ihre je eigenen Reisen machen, das Gebet zu lernen. Die ausziehen, das Beten zu lernen. Ja, ich glaube, dass viele ausziehen werden aus ihren Gewohnheiten und der Bequemlichkeit des Mainstreams, um die grundlegenden Fragen ganz neu zu stellen. Wer ist Gott? Wie kann ich ihm begegnen? Und was bewirkt das? Und ich fasse all diese Fragen in eine Frage zusammen: Was ist das Gebet?

DUFT

Ich bin davon überzeugt, dass die Rückkehr ins Gebet, die Wiederentdeckung des Gebets, das dringendste und wichtigste Anliegen der Welt im 21. Jahrhundert ist. Ich bin weiter der Meinung, dass das radikale, prophetische Zeichen nicht endenden Gebets bei Tag und bei Nacht das ist, was wir jetzt am dringendsten brauchen.

Eine solche Aussage klingt absurd, wahnsinnig angesichts des Elends dieser Welt und angesichts der zu markanten Handlungen rufenden Missstände unserer Gesellschaft.

Vielleicht ist es auch absurd und wahnsinnig. Zwar glaube ich, dass der Ruf zum 24-Stunden-Gebet biblisch begründet und kirchen- und spiritualitätsgeschichtlich gut fundiert ist. Doch im Letzten ist der treibende Motor all dessen für mich persönlich etwas ganz anderes als theologische Einsicht: Es ist meine schlichte Unfähigkeit, ein normales Leben zu führen. Oder etwas weniger kontrastreich gesprochen: Er hat mich verführt durch seine Schönheit. Und ehe ich mich versah, hatte ich einen Lebensstil gewählt, in dem es nur noch um eines ging: ihn zu erkennen und aus ihm heraus zu leben. Alles Spätere, was noch kam, und auch das, was später noch kommen wird, ist nur Entfaltung und weiterführender Kommentar zu dieser schlichten Tatsache: Schönheit traf mich und ich musste folgen. Jesus, deine Schönheit traf mich. Und seither folge ich dir.

Als Teenager liebte ich Düfte. Sammelte Duftöle, Parfums und Tees. Fertigte meine eigenen Mischungen an und konnte mich berauschen an vollkommenen Kompositionen. Doch dann traf mich ein anderer Duft. „Köstlich ist der Duft deiner Salben … Dich liebt man zu Recht“, sagt das Hohelied (1,3.4) über Jesus. Und es ist wahr. Nichts kommt einer Berührung mit Gott gleich. Seine Liebe ist besser als Wein (Hohelied 1,2), besser als alle Genüsse dieser Welt. Dem verliebten Menschen, jenem, der Jesus begegnet ist, ist diese Wahrheit kein hölzerner Glaubenssatz, sondern tausendfach bewährtes Erfahrungswissen. Jesus, dein Duft hat mich getroffen.

Und so wie er mein Inneres damals erfüllte, als ich spätabends auf rumänischen Straßen dahinrumpelte und mein Glück nicht fassen konnte, so erfüllt er mich noch heute. Ich folge deinem Duft, Jesus, hinaus in das große Abenteuer. Die abenteuerliche Reise in das geheimnisvolle Land, das man Gebet nennt. Und was nun ist Gebet? Zahllose Erlebnisse an vielen Orten auf der ganzen Welt zeichnen bis heute ein immer klareres Bild. Und von diesen Erlebnissen will ich nun erzählen.

Feuer DER BLITZ

DER BEGINN MEINER REISE INS GEBET

SIE STRAHLT

Saulkrastis, Lettland, August 2010

Sie strahlt bis über beide Ohren. In den Sand hat sie mit den Füßen „Jesus“ geschrieben. Sie ist 13 und ihr Englisch brüchig.

Nie vergesse ich diesen Ostseestrand. Es gab keine Lichter hier, das Meer grenzte an den Wald. Bei über 100 Grad saßen wir in der Sauna und die Gläser meiner Brille sprangen. Und danach rannten wir hinaus in die Nacht. Schon dort, wo noch die Bäume standen, war der Boden aus Sand. Kaltem Sand. Doch kräftiger als die Kälte traf uns die Dunkelheit. Lettische Nacht, nur wenige Sterne erhellten die Bucht. Der schwarze Wald öffnete sich zum schwarzen Strand, ging über in die schwarze See. Wir stürzten uns in die eiskalten Fluten. Der Himmel und das Meer gingen schwarz ineinander über. Surreales Gefühl, in einem eiskalten Nicht-Raum zu schwimmen, in dem oben und unten gleich sind.

Von Jesus habe ich gesprochen in den letzten Tagen. Der erste Abend war schrecklich kalt in der alten Schule in Riga. Versteinerte Gesichter. Das Misstrauen kommunistischer Jahrzehnte schien uns entgegenzuschlagen. Doch dann am zweiten Tag zögerliches Lachen bei manchen Witzen. Mitsingen bei einigen Liedern. Und schließlich, wie ich es so oft erleben durfte: Tränen. Tränen der Freude. Tränen des endlich zugelassenen Schmerzes. Lachen und Weinen zugleich. Berührungen von Gott.

Überglücklich und übermüdet sind meine Frau Jutta, unser kleiner Sohn David und ich in dem Dorf an der bewaldeten Bucht angekommen und spazieren nun an der wildromantischen See entlang. Über uns das pink-violett-gelbe Farbspektakel der zwischen Wolkentürmen untergehenden Sonne.

Und da treffen wir sie. Mit ihren dreizehnjährigen Füßen „Jesus“ in den Strand malend. Und aufgeregt grinsend, wie es nur eine Dreizehnjährige kann, erklärt sie mir in ihrem Schulenglisch, heute sei der Tag, an dem sie Jesus ihr Leben übergeben habe. Einige Jahre zuvor habe ich für unsere Jugendgruppe ein kleines Buch mit sechzig Impulsen für sechzig Tage geschrieben. Irgendwann ist es ins Lettische übersetzt worden. Und nun zeigt sie mir strahlend ihr Exemplar von „Basic“. Die Graffiti-Illustrationen daraus hat sie abgezeichnet und ist Tag für Tag den Schritt gegangen, der jeweils vorgeschlagen ist. Und heute hat sie ihr Leben Jesus übergeben. Mit 13. In Lettland. Voller Dankbarkeit, Staunen und Verwunderung denke ich an den Moment zurück, als Gott mich gerufen hat …

FRÜH GERUFEN

Gerufen hat mich Gott schon sehr früh. Nach den Sturm-und-Drang-Jahren der 68er hatten meine Eltern in einem Bibelkreis ihren Glauben wiedergefunden und prägten unseren Familienalltag mehr und mehr mit Elementen eines geistlichen Lebens. Doch das Vorbild gelebten Christseins, die normative Messlatte, verbarg sich hinter den Mauern eines großen Gebäudekomplexes in der Nachbarschaft. Es war das Christsein in der Lebensform des Benediktinerklosters Metten, in dessen Lichtschatten ich aufwachsen durfte. Freilich war dort nicht alles heiliges Gold, was im barocken Ornament glänzte. Und doch wurde mein junges Herz mit einer Ahnung für das Heilige, das Sakrale und unbedingt Transzendente imprägniert, die es wohl nie wieder verlieren wird.

Gerufen schließlich durch den explosiven Einbruch von Schönheit und Freude, für den ich später das Wort „meine Bekehrung“ fand. Es war nicht wirklich eine Bekehrung. Es war die Begegnung mit unbezwingbarer Herrlichkeit.

Ich war 14 und auf der Suche nach Spaß. In einer guten katholischen Familie aufgewachsen, Schüler an einer Klosterschule und durchaus nicht negativ eingestellt gegen Glauben und Kirche – außer vielleicht, dass alles Heilige so langweilig und alles Sündige so faszinierend war.

Irgendetwas Prägendes hat sie, die Musik, die man hört. Es waren die frühen Jahre von Nirvana, und als ich das erste Mal in die Disco ging, gab es Hits von „2 Unlimited“ und „Ace of Base“. Doch nichts sprach so sehr zu mir wie die viel ältere Musik der Beatles und von Cat Stevens. Dieser Geruch von Revolution, der Traum von einem ganz anderen Leben …

Ich war früh dran gewesen mit allem. Die Tendenz, aus dem Rahmen auszubrechen und mein eigenes Ding zu drehen, geht in meine Kindheit zurück. Heimliches Rauchen im Wald schon in der Grundschulzeit. Und dann mit 13 neue Bekanntschaften und eine neue Identität: Ich lernte Schlagzeug und nannte mich „Joey“. Anders zu sein, wurde mein neues Programm. Das begann bei der Kleidung. Zunächst war das „normale Hippiekleidung“, doch zunehmend wurden das Skurrile und Provozierende Mitte und Inhalt meines Styles: mehrere bunte Hemden übereinander, wild gemusterte Schlabberhosen, mehrfarbige Chucks, unmögliche Hüte. Mein Kumpel Stephan und ich trampten umher, übernachteten spontan, wo wir gerade waren, und tranken viel. Wir logen uns in der Kneipe älter, um an Alkohol zu kommen, und ich stieg nachts von zu Haus aus, um Party zu feiern. Mit dabei: viele Mädchen. Schon bald kamen die ersten Drogen ins Spiel. Doch das selbst angebaute Cannabis, das ich als allererstes in die Hand bekam, war von recht harmloser Wirkung. Auch andere Versuche, high zu werden, verliefen eher ineffektiv. Als später ein guter Teil meiner damaligen Clique immer tiefer in Drogen abstürzte, hatte Gott mich schon herausgezogen …

Trotz der unreifen Eskapaden dieser Phase war darin auch viel Wegweisendes. Ich hatte mich ein für alle Mal für ein „anderes“ Leben entschieden. Ich wollte revolutionär sein. Ich wollte Konventionen missachten und die Meinung der Leute nicht zu meinem Maßstab werden lassen. Die Offenheit für alles Neue (damals begann ich auch, mich für östliche Weisheiten und das Zen zu interessieren) und das wilde Ausprobieren hatten schon etwas von dem späteren Abenteuer eines radikalen Weges mit Jesus.

Gleichzeitig wuchs schon früh etwas in mir, das enttäuscht war von „dieser Welt“. Das Erwachen nach einem Abend mit Unmengen von Alkohol, all das Billige, was unseren lockeren Umgang mit den Mädchen prägte, fühlte sich zunehmend leer an. Eines meiner Lieblingslieder der Beatles, vielleicht ihr unkonventionellstes Lied überhaupt, ist das psychedelische „Tomorrow Never Knows“. „Lay down all thoughts, surrender to the void“, singt John Lennon da. The void: die Leere. Inmitten des treibenden Beats, der schwirrenden Quietschtöne wie von tausend kreischenden Vögeln und der fast rezitativen Stimme John Lennons: the void. Tatsächlich hinterließen auch die lustigsten Aktionen mit Stephan und die ausgelassenen Partys mit den Mädchen zunehmend Leere, einen schalen Nachgeschmack. Es musste mehr geben …

VON LIEBE ÜBERWÄLTIGT

Es geschieht an einem Sommerabend. Und das Äußere daran ist so schnell erzählt und so unspektakulär wie der Bericht eines Frischverliebten von seinem ersten Kuss. Na ja, ein Kuss eben. Doch für den Verliebten ist das alles.

Und mein Alles passiert an jenem Abend auf einem Kongress der Charismatischen Erneuerung. Nicht, dass ich gerne dort bin. Nicht, dass ich auf der Suche nach Gott bin. Christ, so denke ich, bin ich ja ohnehin schon. Allerdings auch ein Teenager, der macht, was er will.

Und an jenem Tag will ich nichts hören und bei nichts mitmachen. Wird gepredigt oder gesungen, spiele ich mit meinem Kumpel Franz-Josef draußen Frisbee. Oder sitze in der letzten Reihe und nehme die Rolle eines Beobachters sein. So wie an jenem Abend.

Gut sehen sie aus, besonders die Mädchen. Erstaunlich normal. Und dennoch sind sie so eigenartig. Erhobene Hände, verzückte Gesichter. „Lobpreis“ wird gesungen. Und es ist mehr aus Langeweile heraus, dass ich diesem Aufruf nach vorne folge. Wer den Heiligen Geist empfangen wolle, könne vorne für sich beten lassen. Na, bevor ich hier den ganzen Abend nur herumsitze, kann ich auch nach vorne gehen und für mich beten lassen. Warum nicht?

Was folgt, klingt für den Ungeküssten so unpoetisch wie der Satz: „Ich bekam einen Kuss.“

Was folgt, schneidet mein Leben für immer in zwei Hälften.

Was folgt, kann ich danach nie wieder bezweifeln und werde es wohl nie können.

Was folgt, ist das, wofür ich bis heute Zeuge bin: Gott küsst mich.

Unspektakulär ist es, dieses Gebet. Ein junger Mann legt seine Hand auf meine Schulter und spricht ein paar frei formulierte Sätze. Irgendwann sagt er „Amen“ und ich gehe. Ich gehe einige Schritte und irgendwie ist alles anders. Keine Vision, kein Trip, keine Ekstase. Sondern einfach die alles hinwegspülende Gewissheit: Das ist der Heilige Geist. Ein unendlich süßes Glück, in dem die kommenden Stunden versinken. Wie völlig verliebt, doch so viel ruhiger und so viel tiefer. Und die absolut zweifelsfreie Klarheit, einer Person begegnet zu sein. Einer Schönheit, die nicht von dieser Welt ist. Ich kann es nicht fassen. Franz-Josef erlebt das Gleiche. Wir liegen uns in den Armen. „Das muss der Heilige Geist sein“, stammele ich nur, überspült von der größten Liebe, die ich je gefühlt habe.

NOCH SO NEU

Diese Erfahrung mit Gott war so anders als alles „Religiöse“, das ich kannte. War so neu, dass ich es noch gar nicht in Verbindung mit von mir geforderten Reaktionen brachte. Dieses Geschenk war so frei und so unverdient. Hier war nichts von himmlischer Belohnung für frommes Benehmen oder christlichem Leistungsdenken (ich hatte ja auch nichts geleistet …). Es war so neu, so frei, so schön.

Es war so neu, dass ich nicht einmal wusste, was ich tun konnte, um diese Erfahrung zu „konservieren“. Und doch habe ich seither nur noch eine Frage: Wie kann man diesen Heiligen Geist für immer haben?

Monate vergehen.

Auf einem einsamen Hügel außerhalb von Peel starre ich auf die Möwen, in kreisendem Flug über die wilde See rund um die Isle of Man. Im Heidekraut liegend philosophieren Martin und ich über die Ewigkeit, um uns der Wind der irischen See. Wir kaufen uns „Benson & Hedges“ und trinken Cinzano auf immer öderen Partys. Der aus den Fugen geratende LSD-Trip der einen Partyfreundin, der schnelle Sex, zu dem sich andere in eine Höhle verziehen, schaffen es allesamt nicht, in mir die Erinnerung an die große Schönheit zu tilgen, die mich getroffen hat. In mir ist eine Sehnsucht zurückgeblieben, die ich nicht aus meinem Herzen löschen kann. Das Wissen, dass es da mehr gibt. Das Wissen um einen Blitz, der mich getroffen hat.

Doch es vergeht ein halbes Jahr, bis ich zufällig höre, man könne „Jesus sein Leben übergeben“. Ja, das will ich. Vielleicht ist das das Geheimnis.

Ich habe ihn nie bereut, diesen Vertrag, den ich an jenem Sonntagvormittag in meinem Zimmer in mein Tagebuch schreibe: „Ich übergebe dir mein Leben, ganz und voll. Und du gibst mir dafür deinen Heiligen Geist für immer, ganz und voll.“ Etwas dreist vielleicht, doch von Herzen.

Dieser Tag im November war es schließlich, der mein Leben am nachhaltigsten veränderte. Er war emotional weniger eindrucksvoll als die Begegnung im Mai. Doch er setzte mein Leben auf einen Kurs, der es für immer prägen sollte. Erst einige Zeit später lernte ich, dass meine Erfahrung von damals normal für viele Menschen ist: Sie haben ein Erlebnis mit Gott, doch wissen nicht, wie sie auf diesem aufbauen können. Eine bewusste Entscheidung zur Nachfolge Jesu und ein tägliches Gebetsleben, so lernte ich nach und nach, sind genau die Mittel, die das Feuer im Herzen weiter nähren. Ein Feuer, das in mir bis heute nicht erloschen ist. Und für das ich so dankbar bin. Ein Feuer, das, so klein begonnen, sogar Auswirkungen in anderen Ländern haben durfte – wie zum Beispiel in Lettland im Leben dieses blonden Mädchens. Auch sie hat ihr Leben Jesus gegeben, so viele Jahre später und an einem ganz anderen Ort.

ECKES EDELKIRSCH UND DIE HURE BABYLON

Karlstein, 29.12.93

Die Monate nach meiner Entscheidung für Jesus sind ein einziges Abenteuer. Dinge, die mich vorher nur angeödet haben, ziehen mich plötzlich in ihren Bann, während vieles andere seinen Reiz verliert. Ich beginne, die Bibel zu verschlingen und auf meiner Gitarre die ersten Lobpreislieder nachzuspielen und dann selbst welche zu schreiben. Und vor allem kann ich es nicht erwarten, meinen Freunden in der Clique von meiner neuen Erfahrung zu erzählen. Das verläuft noch ein bisschen planlos. Denn ich habe selbst noch nicht so viel verstanden. Nächtelang hocken wir auf den Zimmern des Jugendhauses zusammen und albern herum. Unvergessliche Räusche durch Eckes Edelkirsch und das coole Gefühl, jetzt grundsätzlich nur noch Lucky Strike zu kaufen (solche Dinge findet man nur mit 14 toll …). Und dabei Bad Religion und Counting Crows hören. Doch immer öfter drehen sich die Themen nun um den Glauben. Und irgendwann beginnen wir, die Bibel zu lesen. Ich schlage die Offenbarung des Johannes vor. Herr der Ringe habe ich gerade erst fertig gelesen, und das scheint mir vom Genre her am ähnlichsten. Also sitzen wir auf dem Boden, lesen über die Hure Babylon und verstehen gar nichts. Dennoch sind diese ersten Monate, in denen ich anfange, große Holzkreuze und Jesus-T-Shirts zu tragen (obgleich meine Kleidung dadurch nicht wirklich provokativer wird als zuvor), herrlich. Nach und nach darf ich miterleben, wie vier meiner besten Freunde ihr Leben Jesus übergeben. Wir gründen einen Gebetskreis und schreiben uns während des Unterrichts Dutzende von Briefchen, in denen es immer öfter nur noch um Jesus geht. Schon beginne ich zu träumen, wie es wäre, wenn der Filmsaal unserer Schule mit Jugendlichen gefüllt wäre, die Gott genauso radikal begegneten wie wir …

All das ist so neu, so frisch, so lebendig. Es hat gefühlt so wenig zu tun mit dem, was ich bislang mit dem Glauben verbunden habe. Ich brauche ein paar Jahre, um zu erahnen, welche Schätze mir schon lange vorher geschenkt worden sind …

FEUERSTELLE Feuer
 

Es besteht ein riesiger Unterschied dazwischen, mit einem Menschen bekannt oder in einen Menschen verliebt zu sein. Dem Verliebten strahlt auf einmal alles an dem Geliebten in einem besonderen Glanz. So ähnlich scheint mir der Unterschied zwischen dem Herzenszustand eines Menschen, der irgendwie an Gott glaubt, und dem eines anderen, der Jesus persönlich kennt.

Wie sieht es in Ihrem eigenen Glaubensleben aus? Ist es eher eine familiäre Tradition, so wie es das für mich war? Haben Sie schon einmal eine bewusste Entscheidung für Jesus getroffen? Oder wäre es an der Zeit, eine solche zu erneuern? Nehmen Sie sich doch jetzt einen Augenblick Zeit, legen Sie das Buch auf die Seite, und beginnen Sie, mit Gott zu sprechen. Sie können ihn bitten, dass er Ihr Herz neu berührt, dass er sich Ihnen zeigt. Sie können ihm auch bewusst Sorgen, persönliche Nöte und Wünsche übergeben. Und wenn Sie wollen, können Sie sogar solch einen kleinen Vertrag mit Gott machen, wie ich es gemacht habe. Unser Leben ruht gut in seinen Händen, probieren Sie es aus!

Feuer DER STÖRFALL

GEBET IN RAUM UND ZEIT

DOMUM TUUM, DOMINE, DECET SANCTITUDO

Kloster Metten, März 1987, 7.42 Uhr

Das Sakrale wohnt in der Nachbarschaft. Und das Numinose kann heimlich anmuten. Mein Blick gewöhnt sich nur langsam an die Dunkelheit und meine Schritte hallen wider auf den alten Marmorplatten. Erst am anderen Ende des weiten Raumes mit dem Kreuzrippengewölbe brennt ein kleines Licht. Dort, wo eine schmale Treppe durch einen engen Gang in eine andere Welt hinabführt. Ich bin früh aufgestanden, um in der Morgenmesse zu ministrieren. Ich bin eines der wenigen Kinder, in deren Erfahrungswelt es noch das Heilige gibt. Und dies nicht nur in Form farbiger Kinderbibeln oder lustiger Jesuslieder, sondern in Form eines großen, alten Gebäudekomplexes in der Nachbarschaft. Eines Komplexes, in dem es ganze Geschosse gibt, von denen keiner zu wissen scheint, was sich dort eigentlich befindet. Wo es Gänge gibt, in die kein Uneingeweihter hineindarf. Wo es Seitenaltäre mit den Knochen verstorbener Märtyrer und versteckte Hinterkammern gibt, in denen verstaubtes Mobiliar ineinander verkantet steht, aus einer Zeit, die längst vergangen ist. Wo die seltsam mahnenden Blicke von zahllosen Generationen bärtiger Gesichter auf Schwarz-Weiß-Bildern ganze Gänge lang den sie Durchschreitenden anschweigen. Kinder der entzauberten Postmoderne können alles für sie Relevante schon mit zehn im Internet gesehen haben. Doch meine frierenden Schritte tappen noch hallend durch stets viel zu große Innenräume, die genau danach riechen, wonach nur Klöster riechen: Weihrauch, Kalk, Moder und Kerzen. „Domum tuum, domine, decet sanctitudo“: Deinem Haus gebührt Heiligkeit (Psalm 93,5), steht über der Mettener Klosterkirche. Und das Katholische daran: Man muss sie auch sehen und riechen können, die Heiligkeit.

DER ZEREMONIENMEISTER

Im Kellergeschoss eine andere Welt: geschäftiges Treiben in der Großküche. Der Geruch von frischen Broten und von Kaffee. Dem Ministranten wird ein kleines Frühstück gereicht, bevor es zur Schule geht. Auch diese findet später im Klostergymnasium statt.

Einige meiner eindrücklichsten Erinnerungen stammen von meiner Zeit als Ministrant und später Zivildienstleistender des Klosters, dem mancher Einblick in das geheimnisvolle Reich des klausurierten Lebens gewährt wird – mit all seinem Wundersamen und Schrulligen.

Da gibt es noch Figuren wie Pater Notker. Eine gebeugte Gestalt mit einem Gesicht wie Miraculix. Seine Augen stechend und streng unter den buschigen Brauen, später zunehmend der Milde des Alters Raum gebend. Pater Notker ist Zeremonienmeister. Eine Funktion, derer wir in zielgruppenspezifischer Sonntagsliturgie aus der Loseblattsammlung pastoraler Ideen nicht mehr bedürfen. Eine Funktion, die auch in von Band und Powerpoint gestalteten Event-Gottesdiensten nicht mehr denkbar wäre. Und eine, die mich doch etwas Großes lehrte. Der Zeremonienmeister ist, wie der Name schon sagt, der gestalterische Leiter der liturgischen Vollzüge. Ihm obliegen Auswahl und Vorbereitung der Gewänder, Koordination der Handlungen der unterschiedlichen Rollenträger und auch die Instruktion der Ministranten. Und Letztere ist stets eifrig, bisweilen durchaus rigoros, immer jedoch von einer alles überschattenden Grundhaltung durchdrungen: dass es sich hier um etwas absolut Bedeutsames handle. So ist es entscheidend, mit welcher Haltung, mit welchem Tempo ein Ministrant schreitet. Es geht um das Schreiten, nicht um das Gehen: Denn da gibt es einen Unterschied. Es geht um die richtige Menge des Weihrauchs (richtig dampfen soll es!) und um das rechte Timing jedes Handgriffes. Und solcher gibt es verschiedene: Der Stabträger nimmt dem Abt – im rechten Moment! – den Abtstab ab (freilich nur mit Handschuhen und einem besonderen liturgischen Gewand), um ihn ihm genauso wie die Mitra – ebenfalls im rechten Moment! – mit einer Verneigung wieder zu reichen. Die Akolythen, der Buchträger, der Rauchfassträger – alle haben ihre Rolle. Und heilige Ordnung soll überall herrschen. Turnschuhe sind nicht denkbar. Denn Ehrfurcht für das Unsichtbare äußert sich in dem, was sichtbar ist. Und mit strengen Augen überwacht Pater Notker von einem kleinen Fenster aus den Altarraum, um nach dem feierlichen Hochamt zu loben und zu tadeln.

Unvergessen ist mir der Wutanfall des kleinen Mönches, der mit hochrotem Kopf auf uns Ministranten zukommt. Jeder habe eine Ohrfeige verdient. Wie man dagestanden sei. Die gefalteten Hände hätten schlaff nach unten gehangen, statt aufrecht emporzuweisen. „Man betet doch nicht zum Teufel runter, sondern zum Herrgott hinauf!“, faucht der Zeremoniar im keifenden Niederbayerisch.

Und doch ist Pater Notker alles andere als hartherzig. Es geht ihm schlicht um den Gottesdienst. Und dieser wird gepflegt. Im gregorianischen Choral: passend zum jeweiligen Fest im Kirchenjahr. Unvergesslich das dreifache „Hodie“ im Magnifikat-Antiphon der Vesper am ersten Weihnachtsfeiertag. Im Kapitelsaal liegen die Gewänder vor dem Beginn der Liturgie aus. Und jedes ziert ein kleiner Zettel, der in roten und schwarzen Schreibmaschinenbuchstaben anzeigt, für welche liturgische Rolle es bestimmt ist. Die Anweisungen während der Liturgie werden nur geflüstert. Dies freilich auf Latein. „Genoflex“ – auch zwei Jahrzehnte nach der Liturgiereform heißt es nicht prosaisch „Kniebeuge“.

Und in Pater Notker schlägt ein weiches Herz. Eines Tages bleiben wir beide nach der Sonntagsvesper im Chorgestühl zurück. Zu diesem Anlass trägt der Mönch nicht die schlichte Alltagskutte, sondern die stoffreichere schwarze Kukulle, die bei der ewigen Profess überreicht wird. Darauf angesprochen, deutet Pater Notker darauf und sagt mit einem sanften Lächeln: „Das ist mein Hochzeitsgewand.“ Aus dem Mund des alten bayerischen Benediktiners, der dunkles Bier und deftige Brotzeit schätzt, klingt dieser Satz in all seiner Zerbrechlichkeit so unverdächtig und rundum wahr.

STEINERNER STÖRFALL

Ich liebe Klöster und habe sie überall besucht. In Italien, uralt bemalte. In Frankreich, einsam versunkene. In Deutschland, nüchtern beständige. In Griechenland, nach Weihrauch und Lampenöl duftende. In Irland, halb überwucherte, und in Ägypten, wüstenherb verschlossene – die Mönchstraditionen beider Länder auf geheimnisvolle Weise seit unvordenklichen Zeiten vor der Völkerwanderung verbunden. Geheimnisvolle Orte, umschwiegene Steine …

Ich liebe Klöster und habe in ihnen stets das Gegenmodell nicht nur zu einer um sich selbst kreisenden Gesellschaft, sondern auch zu einer um sich selbst kreisenden Kirche gesehen. Ein Kloster ist der verwirrende Störfall der Zivilisation. Männer oder Frauen, die zölibatär und ohne Eigentum zusammenleben. Kein Besitz und keine Nachkommen. Deren Tag um das Gebet herum strukturiert ist. Deren Leben sich freiwillig einer gemeinschaftlichen Regel unterordnet, von der man erwarten kann, dass sie die eigene Engherzigkeit entlarvt.

Vielleicht war das eine meiner ersten prägenden Erfahrungen mit dem Gebet: dass es ein Störfall ist. Dass es „keinen Sinn“ macht. Und die normalen Gesetzmäßigkeiten auf den Kopf stellt. Ich habe diesen Störfall des Gebets nicht theoretisch erfahren, sondern in steinerner Form in der Nachbarschaft gesehen. Ein Kloster ist beständiges Gebet, das eine Lebensform und materielle Gestalt im Raum angenommen hat. Und es bezeugt das, worum es im Gebet ständig geht: dass unsere Welt sich nicht selbst gemacht hat. Dass unser Leben nicht um uns selbst kreist, sondern auf etwas hin erschaffen ist. Auf jemanden hin. Jede Stunde des Gebets gibt Zeugnis von dieser Hinterfragung unserer menschlichen Selbstsicherheiten.

WIE EUROPA MISSIONIERT WURDE

Das Kloster Metten wurde im 8. Jahrhundert gegründet. Ein dichtes Netz von Klöstern hatte damals bereits die Länder des ehemaligen römischen Reiches überzogen. Es waren die Klöster, die Europa missionierten. Diesen Gedanken werde ich nicht los. Wo es vereinzelt christliche Gemeinden zur Römerzeit gab, wo iroschottische Wandermönche das Evangelium aussäten, da waren es doch die Klöster, die über die Jahrhunderte hinweg das geistliche, kulturelle und wirtschaftliche Antlitz des christlichen Europas gestalteten.

Wir leben in einer Zeit, in der den Kirchen der Atem auszugehen scheint. Die Angebote, für die „moderne Welt“ interessant und ansprechend zu sein, schwanken zwischen Banalität und peinlicher Nachmache dessen, was die Welt ohnehin besser kann. Wo sind in dieser Zeit Menschen, die Zeugen von etwas geworden sind? Menschen, die nicht nur Ideen übernommen, sondern einen Lebensstil eingeübt haben? Deren Leben etwas von dem großen Geheimnis erzählt, dass das menschliche Leben so viel mehr ist als das Sichtbare, Beweisbare?

Und schließlich: Wo sind die Orte, an denen dies in Raum und Zeit sichtbar und erfahrbar wird? Wo sind die geistlichen Scheitelpunkte? Wo sind Orte, an denen schlichtweg Gott um seiner selbst willen gedient wird? Orte, die sich dem irdischen Gefüge von Bedürfnis und Befriedigung unserer Wünsche entziehen?

Die Suche danach, wie gemeinschaftliches geistliches Leben, das radikal für den Himmel lebt, heute aussehen und welche neuen Formen es annehmen kann, hat mich nicht losgelassen, seit meine Füße aus dem dunklen Gewölbegang durch das große Holztor in den frühmorgendlich dämmernden Klosterinnenhof schritten. Und sie beschäftigt mich heute, in dieser Woche, in der unsere junge Mitarbeiterschaft zwei Jahre unablässiges Gebet feiert und ein kleines Team nach Nordkorea entsendet, um dort im Verborgenen für einen Umsturz des Regimes zu beten. Ja, es waren die Klöster, die mich durch ihr bloßes Dasein schon die ersten Lektionen des Gebets lehrten.

FEUERSTELLE Feuer
 

Waren Sie schon einmal in einem Kloster? Wenn nicht, informieren Sie sich, ob es in Ihrer Umgebung irgendwo eines gibt, und besuchen Sie es. Am besten kommen Sie nicht nur als Tourist, sondern bleiben für ein paar Tage, zum Beispiel für eine Schweigezeit. Doch auch wenn es nur für einen Kurzbesuch reicht, versuchen Sie, am Chorgebet der Brüder oder Schwestern teilzunehmen – es ist der jahrhundertealte rote Gebetsfaden, der jeden Tag im Kloster durchzieht. Und wenn auch das nicht möglich ist, dann schauen Sie sich auf YouTube oder Video eine Reportage über ein Kloster an oder zum Beispiel den preisgekrönten Film „Die große Stille“. Die Botschaft der Klöster ist von großer Bedeutung für uns Menschen heute.

Feuer DER BLICK

DIE KUNST DES SEHENLERNENS

SEHEN LERNEN

Paris, Juni 1994

Das Café du Musée d’Orsay atmet weniger koloniale Pracht als der Salon du Thé im Hause Mariage Frères. Ich bin Tee-Liebhaber und zusammen mit meinem Vater unter anderem dazu nach Paris gepilgert, um in dieser traditionsreichsten der Teehandlungen Europas (an die 500 Sorten Schwarz- und Grüntee!) etwas vom Flair jener Epoche zu erhaschen, da holländische Segelschiffe Darjeeling und Oolong aus indischen Häfen nach La Rochelle und Hamburg brachten. Doch heute trinken wir Tee in jenem zum Museum umgebauten Jahrhundertwende-Bahnhof aus Stahl und Glas. Halbe Wände füllende Seerosen. Punkte aus breiiger Ölfarbe, die sich im Auge des Betrachters zu einer rauschenden Ballszene verbinden. Ich bin 15 und bezaubert von den hypnotischen Farbspielen der Impressionisten. Bezaubert von jener fremden Größe, der ich in all den Museen begegne. Dieser rätselhaften Größe, die man Kunst nennt.

Sie jedenfalls verfolgt mich durch Paris. Aus einer kleinen Kirche im Quartier Latin klingt sie mir als fremder, dissonanter Klang eines postmodern klingenden Jazz-Streichensembles entgegen. Am Seine-Ufer und auf dem Montmartre wird sie auf Boden und Staffeleien gemalt, in der Sainte-Chapelle in farbigem Glas durchsichtig und bei Mariage Frères als „L’art française du thé“ (so steht es wirklich an der Wand!) in hundert Sorten und sorgsam gewählten Handbewegungen zelebriert.

Und als mich später ein alter Künstler in liebevollem Einzelunterricht Woche für Woche Wahrnehmen, Sehen, Strukturieren und Gestalten mit Papier und Pinsel lehrt, ist es wie die Einweihung in einen heiligen Kult. Einen Kult, dem ich mich nicht mehr entziehen kann. Stundenlang spaziere ich durch die Natur und studiere die Farben und Formen der Blätter. Investiere mein Taschengeld in Gouache, Pinsel und Aquarellfarben. Im Halbschlaf träume ich von Bildern, die ich malen kann. Die ich malen muss. Doch davon in einem späteren Kapitel mehr …

SACK, HOLZ, DRAHT UND FARBE

so etwas