Ostpreußen ade

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Inhaltsverzeichnis

Fußnoten

  1. Gutstagelöhner

  2. Bund Deutscher Mädel, der Zusammenschluss der vierzehn- bis achtzehnjährigen Mädchen in der Hitlerjugend

  3. Stammbuch beziehungsweise Zuchtregister

Bei strahlender Sonne mit dem Wagen von Poznań (Posen) kommend, beginnt die Unruhe schon weit vor der Überquerung der Weichsel (Wisła), dort, wo das noch gut 200 Kilometer entfernte Olsztyn (Allenstein) zum ersten Mal ausgeschildert ist. Den breiten Strom, grün gesäumt, gewaltig, sehe ich von der großen Brücke in Toruń (Thorn) nur wie durch einen Filter. Ebenso dann, hinter der Stadt auf dem Wege nach Norden, immer nach Norden, die Eichen beiderseits der Straße, mächtige Stämme mit filigranem Junggrün; die prärieweiten Rapsfelder, eine Orgie in Gelb vor unendlichen Waldhorizonten; die blumenbetupften Wiesen; die Schulkinder in den Ortschaften, lärmend, bunt gekleidet. Das alles gleitet an mir vorbei wie in einem Stummfilm, beherrscht von der einen Frage: Wann kommt die Grenze, die alte Grenze, wann der Augenblick, in dem ich sie überschreite? Ist sie doch nicht mehr markiert im Polen von heute, und das schon ein Menschenalter lang, trennt sie doch nicht mehr zwei Staaten wie einst, sondern sieht sich aufgehoben durch die Geografie von Woiwodschaften mit ganz anderen Verwaltungsbezirken als den einstigen deutschen Kreisen.

Aber dort, wo diese Grenze einmal verlief, südlich von Lipnica, dem früheren Leip, und dann auf der Straße nach Ostróda, dem

Benommenheit deshalb auf der langen Strecke zur Unterkunft in Mrągowo (Sensburg), als hätte es mir die Sprache verschlagen. Das ermländische Olsztyn, die Stadt wird auf der Durchfahrt seltsam schemenhaft erlebt, Schloss und Rathaus als Konturen, als Licht- und Schattenfassaden, nur flüchtig besehen, um rasch hinauszukommen in die Landschaft.

Hinter Barczewo (Wartenburg) dann, mit einem Gefühl zwischen Traum und Wirklichkeit, klettere ich aus meinem Ford-Veteran und trete zum ersten Mal an das Ufer eines masurischen Sees. Ein großes blaues Auge unter einem warmen, wolkenbetupften Nachmittagshimmel; ein hölzerner Steg ins Wasser hinein, vorn überdacht; Schilf zur Rechten und zur Linken; noch ufernah ein Schwan, der in seinem Gefieder wühlt, eine Bewegung, die elegante Wellenkreise wirft. Ich rühre mich nicht vom Fleck. Warum? Was ist neu, was ist anders daran, welches unbekannte Element dazugekommen?

Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass ich tausend Seen erblickt habe in den klassischen Ländern der Seen, in Kanada, in Schweden, in Finnland. Aber keiner von ihnen, nicht einer, war so wie dieser – der Jezioro Dąbrąg (Debrongsee), für den ich auch auf alten deutschen Karten keinen Namen finde, nur den Ort Debrong (Dąbrąg) ganz in der Nähe.

Ich stehe hier am Ufer und gebe mir keine Mühe, meine Bewegung zu verbergen. Der strenge Sarkasmus gegenüber der eigenen Person, die bewährte Selbstironie, die eingefleischte Abneigung gegen jede Form von Sentimentalität, sie sehen sich weit abgeschlagen, alle drei irgendwo untergegangen in der glitzernden Fläche bis zur anderen Seeseite – ich bin da.

Ich bin da, wohin ich schon als Knabe wollte, aber siebzig

*

Am Anfang war ein Foto gewesen.

Schwarz-weiß war es und über eine Doppelseite gebreitet, fast in der Mitte jenes dickleibigen Buches, das von so herrlichen Unergründlichkeiten wie Paläontologie, Astronomie, Geologie, Archäologie und Geschichte kündete und das in meinem Leben schon eine Rolle gespielt hatte, lange bevor ich auch nur ein Wort buchstabieren konnte. Dafür aber war dieser Quell unstillbarer kindlicher Neugierde reich bebildert, Magnet eines Forschungsdranges, der sich nach meiner Alphabetisierung noch vertiefte, zumal eine gefällige Ausdrucksweise das Wissenschaftliche verständlich machte. Nicht, dass es in diesem Wälzer mit dem widerstandsfähigsten Einband, den ich je an einem Buch entdeckt habe, keine anderen eindrucksvollen Fotos gegeben hätte, einige davon sogar schon koloriert. Da war, zum Beispiel, die unendliche Hoheit des besiegten Inderfürsten Porus vor dem Thron eines ebenso blauäugigen wie unbesiegbaren Alexanders des Großen; war das Universum tropischen Regenwaldes, Millionen kugelige Baumwipfel, aufgenommen aus einem Flugzeug über Amazonien; waren Lokomotiven und ihre maschinelle Urkraft, glühende Triebköpfe endloser Wagenschlangen bis hinauf zum Mond. Und da waren schließlich, auch farbig, lauter exotische Früchte, mundwässernd aufgeschnitten und wunderbar zerlegt in ihre einzelnen Strukturen, so echt, so nah, als müsste jeden Moment der Saft aufs Papier tropfen – Wunder über Wunder.

Aber keine der Hunderte und Aberhunderte von Abbildungen reichte heran an diese eine – an jenes großformatige Foto ostpreußischer Landschaft: Seen und Wälder, leicht verschleiert und dennoch von magischer Gestochenheit, in unverwechselbarer Anordnung der Natur, Bäume, Wasser, Gräser, zwar für

Der Zauber wich selbst dann nicht, als ich über Jahrzehnte hin durch meine Fernseharbeit die überwältigenden Landschaften fremder Kontinente entdeckte, ihre überlegenen Gebirge und großartigen Wüsten, die üppige Vegetation des Äquatorgürtels, die Mirakel der Wildreservate, die großen Ströme und die kontinentalen Ebenen, die sie durchfließen – der Zauber blieb: Ostpreußen!

Der kindlich-tiefen gesellten sich später neue Dimensionen hinzu, Erweiterungen des Blickfeldes, Politisches, angestoßen durch Mächte unseres Jahrhunderts, die sich, wie mir bald schien, in einem immer unruhiger werdenden Deutschland und Europa dramatisch versammelten und schließlich mit der Gewalt eines historischen Erdbebens explodierten. Ich sah Hitler in Ostpreußen, das Fahnenmeer der Hakenkreuze, die hingerissenen Mienen der jubelnden Massen. Das geschah zwar nicht nur dort, gewiss, sondern bald auch überall im Land. Aber gerade da tat sie mir weher, die Zustimmung zu meinen Bedrohern, war sie nicht in Übereinstimmung zu bringen mit der Urzündung durch das geliebte Bild, das, immer schwerer durch die Wirklichkeit angegriffen, dennoch unantastbar weiterlebte. Nur wuchs etwa ab der zweiten Hälfte der Dreißigerjahre in mir die Überzeugung, dass sich der Nationalsozialismus in Ostpreußen tiefer eingewurzelt hatte als anderswo, ein Impuls, der hartnäckig fortlebte.

Es war die Geschichte unseres Jahrhunderts selbst, die mein Interesse an Ostpreußen wachhielt, trotz der immer weniger messbaren Distanz zwischen der kindlichen Imagination von einst und dem Einbruch einer Realität, in deren Strudel ich gerissen wurde. Da waren: die kriegerische Aggression Deutschlands mit bis dahin unbekannten Folgen für die Bevölkerung der eroberten Gebiete, und für mein eigenes Leben; die Wende des

Kurz, seit dem verwunschenen Foto von damals hatte es keine Etappe meiner Biografie gegeben, in der das Interesse an Ostpreußen nicht wieder und wieder angefacht worden wäre, erlebte ich keinen Stillstand der zwiespältigen Gefühle eines Erwachsenen vor dem Hintergrund einer kindlichen Liebe und Faszination, die sich nicht besiegen lassen wollten.

*

Und natürlich war da Siegfried Lenz’ klingendes »So zärtlich war Suleyken«, 1955, vier Jahre, bevor unsere Freundschaft begann. Die Sprachkraft des Lokalkolorits hatte es mir sogleich angetan: »Dreibastigkeiten«, »jachrig«, »ihr Lachudders« – herrlich das in seiner knorrigen Gewachsenheit, so empfand ich, der mit Hamburger Platt aufgewachsen war. Ein anderer, ganz starker Gedanke bei der Lenzschen Lektüre war der, dass sich in diesen kauzigen Erzählungen sehr undeutsche Typen tummeln, verschroben und vermischt mit anderen Mentalitäten, Angehörige nicht einer Nation, sondern das Völkergebräu einer verwunschenen Ecke Europas, angesiedelt im südöstlichen Ostpreußen, in

Und erzählt wird das in einem höchst gelungenen »altmodischen« Stil, der exakt passt zu diesen Leuten, die lachlustig sind, festfreudig, historisch identifizierbar als Zeitgenossen nach 1918, aber noch vor 1933, und – weitgehend unpolitisch. Überhaupt erscheint in »So zärtlich war Suleyken« Politik nur ganz am Rande, nebenbei, aber wenn doch, dann millimetergenau treffend. So der Schneider Edmund Vortz, der in verbohrter Trockenheit hinwirft: Hindenburg sei »in seinen Augen nicht gebildeter als ein Suleyker Huhn«.

Damals, Mitte der Fünfzigerjahre, empfand ich die ausgesparte Politik als Defizit, fragte ich, nachdem ich das Bändchen wieder und wieder durchgelesen hatte: Wo waren die Konfrontationen und Kompressionen der Zwischenkriegszeit, die bald blutig aufeinanderstoßen würden? Wo eine Andeutung, dass Hitler schon demnächst gerade hier, im südlichen Ostpreußen, seine größten Wahlerfolge erzielen würde?

Dann, viel später, »Levins Mühle« von Johannes Bobrowski, dem viel zu früh Verstorbenen.

Das spielt zwar im Deutschen Kaiserreich von 1871 und mit der Erwähnung des nördlichen Bogens der Drewenz und Strasburgs eher diesseits als jenseits der Grenze Ostpreußens (wenngleich in unmittelbarer und vertrauter Verwandtschaft). Aber bei Bobrowski kommt ein dunkler Tenor hoch, wird ein Grollen hörbar, individualisiert sie sich, die unheimliche Seite der neuen Großmacht Deutschland, wird sie zu Fleisch und Blut einer von Europas Nationalismen bereits unverkennbar schwer versehrten Grenzbevölkerung.

Hintergründig hier jede Figur, ob nun Willuhn, Habedank oder Glinski. Sie alle müssen sich mühsam zügeln, dem anderen nicht anzutun, was man ihm antun möchte und wovor sich jeder fürchtet, dass es ihm selbst angetan werden könnte. Der

Wohl kommt gelegentlich Grundgütiges durch, aber eben nur gelegentlich, wie etwas Vergessenes, das sich mühsam ins Bewusstsein hinaufarbeiten muss – von Dauer jedenfalls sind solche Eigenschaften nicht. Ganz im Gegensatz zu der glaubhaften Abgründigkeit jener Akteure, die dem Levin an die Mühle, also an seine Habe, an seine Haut, seine Existenz gehen wollen, und einige auch an mehr. Hat doch der Jude, der unverschämte, statt »mit seinen sieben Koddern nach Russland abzuhauen«, den Johann in Briesen angezeigt – wegen Beschädigung mosaischen Eigentums. Deshalb: »Jetzt müssen die Deutschen zusammenhalten!«

Das gibt sich auch bei Bobrowski in dieser nordöstlichsten Ecke des damaligen Reiches nicht etwa reinrassig, definiert sich demografisch auch bei ihm keineswegs genau. Und dennoch sind die Kastenzeichen schon klar erkennbar, reckt sich dominant Deutsches auf, wird bereits der gelbe Stern entworfen, wie auch jenes »P«, das nur einen Lidschlag der Geschichte später Millionen zwangsverschleppten »Polacken« ans Revers geheftet werden sollte.

Noch mausert es sich, tastet erst, hält sich bedeckt, artikuliert sich latent in Nebensätzen, wie bei Pfarrer Glinski, der das Programm so umschreibt: »In unserm Abwehrkampf gegen die polnische Überfremdung, in unserer Position als Eckpfeiler unseres stolzen Reiches, ich will mal sagen: Die Gesetze reichen hier einfach nicht aus.«

Unbesorgt: Noch nicht! – aber die Zukunft bellt sich bereits ein.

Im Mikrokosmos von »Levins Mühle« schält sich kälteklirrend und regional jener deutsche Sonderweg heraus, der dann so überregional wie geschichtsbestimmend werden sollte – mit Folgen, von denen sich kein Teil Deutschlands schwerer getroffen sehen wird als Ostpreußen.

Nach der Lektüre beider Bücher war ich vollends ratlos: Dem einen, Lenz, fehlte der boshafte Biss, dem anderen, Bobrowski, jede Spur von Zärtlichkeit. Von diesem inneren Gegensatz zwischen den beiden Werken war mein Ostpreußenbild lange irritiert worden. Es dauerte eine ganze Weile, bis ich erkannte, dass sich hier zwei Gesichter ein und derselben Erscheinung präsentierten, die Seiten einer Medaille, der Januskopf zusammengehöriger Gegensätze.

Ihre Aufspaltung war die Ursache meiner Verwirrung. Der für mich dann beides zusammenführte, war Siegfried Lenz – in jenem Buchdenkmal, das er den Masuren, Menschen und Landschaft, gesetzt hat: mit einem der gigantischsten Monologe in der Geschichte der deutschen Literatur, dem unstoppbaren Quartalsredefluss des Teppichwirkers Zygmunt Rogalla, der, aus guten Gründen, angezündet hatte, was ihm zum Liebsten seines Lebens geworden war – sein Heimatmuseum.

Wie das in Tausenden von Einzelbildern zerlegt, aufgefächert und wieder vereint wird, sich eingefügt findet in die großen und die kleinen Zusammenhänge der masurischen und der Weltgeschichte, das offenbart, neben einem phänomenalen Gedächtnis und einer Fabulierkunst sondergleichen, vor allem die unzerreißbare Nabelschnur des seit 1945 in Hamburg lebenden Erzählers zu seiner ostpreußischen Herkunft.

Ich weiß nicht, wie oft ich nach der Lektüre von

Nun ist es eingestanden.

Ich will nicht prahlen mit der Masse der Bücher, der Aufsätze, Essays, Reportagen in Funk und Fernsehen, die alle von Ostpreußen handelten und die ich über ein halbes Jahrhundert hin gelesen oder betrachtet habe. Es waren viele.

Aber – ich wollte es selbst wissen.

*

Ja, ich wollte es selbst wissen!

Es war wie ein Phantom, das man vor sich herschiebt und auf das die Schar derer, die davon eine Ahnung hatten, liebe Freunde darunter, im Lauf der Zeit immer nachsichtiger, immer gönnerhafter reagierten: »Ach so – das meinst du … Ostpreußen.«

Und so ging es mir damit wie mit meiner Hamburger Familien- und Verfolgtensaga »Die Bertinis«, an der ich vierzig Jahre arbeitete, von 1942, dem Jahr ihrer Idee, bis 1982, dem Jahr ihres Erscheinens. Niemand glaubte mehr daran, dass das über ein ganzes Leben hin mitgeschleppte Projekt dann auch verwirklicht, der Plan tatsächlich in die Tat umgesetzt werden würde. Bis auf den Autor – der wusste es.

Wusste auch, dass sein Ostpreußenbuch geschrieben werden würde – wenn nicht jetzt, dann später; wenn nicht in diesem Jahr, dann im nächsten, und wenn nicht in der laufenden Dekade – sie wäre ja nicht die letzte.

Es gab manche stichhaltigen Gründe, die Begegnung so dauerhaft aufzuschieben, und viele Vorwände dafür – wie vor einem

Als ich dann endlich loszog, da nicht, um nach der Rückkehr ganz Neues zu verkünden, nicht, um den besserwisserischen Entdecker zu spielen. Was ich wollte, war, mir die frühe Sehnsucht zu erfüllen, die nie verblasst ist; war, die selbst gestellte Aufgabe auch durchzuführen; war, zu sehen, zu riechen und zu berühren, was seit dem Anblick jenes doppelseitigen Abbildes, seit meiner Kindheit in mir geleuchtet hatte – nun mit all den dramatischen Veränderungen aus Vergangenheit und Gegenwart.

In diesem Buch wird nicht vom »ehemaligen Ostpreußen«, sondern durchgehend von »Ostpreußen« die Rede sein, obwohl der Begriff heute weder in der polnischen Staatswirklichkeit noch im Bewusstsein der dortigen Bevölkerung existiert, ausgenommen die winzige Zahl der deutschstämmigen Minderheit (und ausgenommen natürlich auch die Millionen heute noch lebender einstiger Ostpreußen, die es kannten, ehe sie es verloren). Aber selbstverständlich fehlt das Adjektiv »ehemalig« nicht aus revisionistischem Grund – dass es ausgespart wird, ist vielmehr ein Ausdruck meiner Trauer und meines Zorns. Der Trauer über einen unwiederbringlichen Verlust und des Zorns gegen alle, die die Wurzel für ihn gesetzt haben: Hitler und seine Anhänger. Sie, ihre Politik, ihr Krieg und ihre Verbrechen sind primär verantwortlich für den Verlust der Gebiete jenseits der Oder-Neiße-Linie, also auch Ostpreußens. Sie schufen die Voraussetzungen für die Entscheidungen ihrer historischen Überwinder in Jalta und Potsdam, wie richtig oder falsch deren Entschlüsse auch immer gewesen sein mögen. Waren Trauer und Zorn aber schon lange vor meinen Reisen nach Ostpreußen in mir, so gesellte sich ihnen auf den 12000 Kilometern, die ich während eineinhalb Jahren kreuz und quer durch den polnischen und den russischen Teil Ostpreußens zurücklegte, noch

Sie liegt wie ein ungeheurer Mantel über allem, was mit Ostpreußen zu tun hat, diese Melancholie – über Menschen, Landschaften und Geschichte; über dem, was war, und dem, was ist; über Städten wie über Weihern. Sie hat fast alle Gespräche durchzogen, die ich geführt habe, und die eigenen Gedanken mehr und mehr durchtränkt. Sie war allgegenwärtig bei der Arbeit an diesem Buch.

Nicht, dass Begegnungen mit Kraft und Hoffnung gefehlt hätten; nicht, dass kein Lachen, keine Freude, keine Zuversicht zu spüren gewesen wären – wie denn? Natürlich ist all das da, wie überall, wo Menschen sind, und alltäglich. Aber mir schien das Licht verdunkelt und die Anstrengungen zu ihm hin mühsamer als irgendwo sonst.

Ich habe überall, wo ich war und von wo ich berichtete, versucht, ehrlich zu sein. Aber nirgends war der Zwang dazu so stark wie hier. Deshalb lautet der Titel auch nicht »Ostpreußen ade?«. Das Buch gibt die Antwort, warum das Fragezeichen fehlt.

*

Es hätte nicht geschrieben werden können ohne die Zusammenarbeit mit Barbara Barlog aus Poznań (Posen). Über mehr als achtzehn Monate, auf vier großen Reisen, ungeachtet erheblicher Strapazen und während aller vier Jahreszeiten, hat die polnische Germanistin gedolmetscht, organisiert, Verbindungen geknüpft, hat sie mitgedacht und mitgehandelt. Ohne ihren Beistand wären die Vorarbeiten für das Buch nicht möglich gewesen.

Deshalb an dieser Stelle auch meinen öffentlichen Dank an Barbara Barlog, die »Koautorin«.

Erste Begegnung.

Sie steht da, etwa auf der Mitte des ziemlich steilen Abhangs, der auf einer langen Treppe vom Hotel »Mrongovia« zum Ufer des Sees hinunterführt, an dessen Südzipfel Mrągowo liegt. Sieglinde H. steht da und bietet Stickereien feil, Bernsteinketten, die »Puppe in der Puppe«, kunstvoll aus Stroh geflochtene Kästchen, billige Broschen, Muscheln – eine Art Bauchladenangebot, das rasch ein- und ausgepackt werden kann. Eine große Tasche, mehr ist dazu nicht nötig. So steht sie hier, stundenlang, oft von morgens bis abends, in der Hoffnung, dass die Touristen aus dem Hotel zum See hinabsteigen und ihr etwas abkaufen.

Der Anblick von Sieglinde H. berührt mich. Sie ist gedrungen, eine bäuerliche Erscheinung mit einem breiten, pausbäckigen, grundgutmütigen Gesicht, und sie ist die erste Beziehung, die ich hier zu einem deutschstämmigen Menschen knüpfe. Ihre Muttersprache klingt schwerfällig, hat einen harten Akzent, entspricht aber nicht dem Dialekt, den ich als typisch ostpreußischen im Ohr habe.

Sieglinde H. ist freundlich, aber ihr Vertrauen nicht leicht zu erringen. Schließlich ist sie bereit, über ihr Leben zu sprechen, weigert sich jedoch, das an ihrem Arbeitsplatz zu tun. Auf den Vorschlag, ins Hotel zu kommen, sagt sie: Danach sei sie »nicht angezogen«. Als Sieglinde H. dann doch kommt, ist ein Unterschied in ihrer schweren Kleidung nicht auszumachen. Erst als sie den Mantel auszieht, wird eine Wolljacke sichtbar, mit weißen und organgefarbenen Streifen kreuz und quer grell durchzogen, aber nagelneu.

Langsam, karg, ungeschult, wie in weiter Distanz zum eigenen Schicksal, entblättert sich nach und nach ihr Lebenslauf.

Sieglinde H. wurde 1938 geboren als Kind deutscher Eltern. Der

Es hört sich an, als wäre es gerade geschehen.

Die Vertreibung der Deutschen bis 1949, die verschiedenen Schübe, die trügerischen Hoffnungen auf Erleichterung, als Władysław Gomułka 1956 Chef der polnischen Kommunisten wurde – all das ging an Sieglinde H. vorbei. Anfangs wollte sie mit der Mutter noch nach Deutschland, aber ohne Nachdruck, wie sie sagt. Sie seien auch nie dort gewesen. Bis zu ihrem siebten Lebensjahr konnte sie nur deutsch, dann musste sie polnisch lernen – die Sprache, die nun überall gesprochen wurde. »Aber ich habe deutsche Märchenbücher gelesen. Ich kann auch Deutsch schreiben. Und mit der Mutter habe ich immer Deutsch gesprochen, bis zu ihrem Tod.« Sie stockt, zählt nach, sagt dann: »Das war 1975. Seither bin ich allein. Ich habe nie geheiratet.«

Sieglinde H. hat in einem Krankenhaus gearbeitet, siebzehn Jahre lang, war Briefträgerin gewesen und danach in einem Kinderheim beschäftigt. »Aber einen Beruf, einen richtigen Beruf, habe ich nie erlernt.« Mit dreißig ging sie in die Abendschule, es hat ihr nicht geholfen. »Ich habe nie genug verdient, um mir auch nur vernünftige Kleidung zu kaufen.«

Sie sitzt da in ihrer schrecklich karierten Wolljacke, auch auf dem Stuhl noch von mächtiger Statur, rotbäckig und sehr präsent in dem sterilen Hotelzimmer. Dann und wann huscht ein Anflug von Lächeln über das breite Gesicht, als wollte sie sich entschuldigen, keine besseren Nachrichten mitteilen zu können.

Früher, sagt sie, hätten die Leute sich mehr geholfen, seien mehr füreinander da gewesen.

»Früher?«

»Ja, als die Deutschen noch hier waren.« Das sei nun nicht mehr so. Dann, zögernd: »Aber vielleicht sind die Menschen ja überhaupt schlechter geworden auf der Welt.«

Auf die Frage nach ihrer Identität antwortet sie, vorsichtig: Nein, als Polin fühle sie sich nicht, aber ebenso wenig sei sie noch eine »eindeutige Deutsche«. Dann, spontan: »Ich möchte, dass es so wird wie in meiner Kindheit. Aber so wird es nicht wieder. Wenn meine Generation ausstirbt, ist das Deutsche sowieso weg – dann ist schon keine Spur mehr da.«

Es klingt wie eine Bilanz, aber ohne Feindschaft ihrer Umgebung gegenüber. Und gleich danach, von sich aus, nicht ausgelöst durch eine Frage, sagt Sieglinde H.: »Es war ein mühseliges, schweres Leben.«

»Aber das Lächeln haben Sie nicht verlernt.«

Erstaunen. »Ja? Es kommt mir trotzdem traurig vor, mein Leben, wenn ich so zurückdenke, sehr traurig.«

Ich sah sie dann noch oft, vom Ufer oder von oben her, am Abhang zwischen dem Hotel und dem Jezioro Czos (Schoßsee), ihre dürftigen Waren ausgebreitet und geduldig, unverdrossen auf Käufer wartend – Geschichte eines ungelebten Lebens.

Aber hier, zu Beginn meines Aufenthalts auf ostpreußischem Boden, hatte ich keine Vorstellung davon, wie viel typischen

Nein, diese Herren sind mir nicht sympathisch

Das gewaltige Bauwerk ist schon von Weitem zu sehen – dräuende Türme, Wehrmauern, rote Dächer groß wie Fußballplätze über einem Riesenberg von Backsteinen. Näher wird der Blick möglich in einst wassergefüllte Tiefen, Schluchten, Abgründe von Gräben, und dann über die Holzbrücke und unter dem Fallgitter mit den eisernen Gegengewichten hindurch in die einstige Feste des Deutschen Ritter-Ordens – die Marienburg, heute Malbork!

Eine Museumsreise soll das nicht werden – ich will zu den Urgesteinen, den sichtbaren Zeugnissen der ebenso höllisch heißen wie tief verfrosteten Geschichte Ostpreußens.

Im Innenhof des Mittelschlosses dann, rechts, die Fassade des Hochmeisterpalastes und des Großen Remters, vor mir das Hochschloss mit dem Kapitelsaal und der Marienkirche – geronnener Herrscherwille. Das schießt hier steil aufwärts, mauergeschützt, mit Rundtürmen und Spitzdächern, Erkern und Säulen, dass es einem die Sprache verschlagen will. Und da sind sie auch schon, martialische Gestalten, bronzepoliert, nicht nur Deutsche Ordensritter schlechthin, sondern die berühmtesten Hochmeister des Ordens: Hermann von Salza, Friedrich von Feuchtwangen, Winrich von Kniprode und Markgraf Albrecht von Brandenburg-Ansbach. Bis vor Kurzem noch hatten sie vernachlässigt in einer Hofnische gestanden, wie bestellt und nicht abgeholt. Aber nun sind sie eindrucksvoll postiert im Herzen ihrer Hauptfeste und in großer Nähe zu Haufen von steinernen Kugeln, bei deren Anblick man sich fragt, wie diese

Deshalb wohl kam Hermann von Salza 1226 nur zu gern dem Ersuchen des polnischen Herzogs Konrad I. von Masowien nach, ihm gegen die »heidnischen Prußen« zu Hilfe zu eilen. Der Preis: die Herrschaft des Ordens über das Culmer Land.

Beschweren konnte sich der Fürst wahrlich nicht – die Deutschen kamen ihrem Auftrag der Unterwerfung und Christianisierung so gründlich nach, dass nur wenige Prußen übrig blieben.

Mir wird übrigens immer ganz schlecht, wenn ich in diesem Zusammenhang von den »heidnischen Prußen« lese – als wären für sie die geharnischten Christen keine Heiden gewesen!

Aber nun war es vorbei mit dem prußischen Göttertriumvirat Perkunos, Potrimpos und Pikollos, mit dem Baumgott Puschkaytos und mit Pergubrios, der das Laub und das Gras wachsen ließ. Auch die Kornmutter Babainsa wurde vom Kreuz gleich mit erschlagen, ebenso wie Topich, der Wassergeist, den die Prußen sich vorstellten als ein kleines Männchen mit rotem Anzug, ewig nassem Haar und immer bereit, sein nächstes Opfer erbarmungslos in einem seiner tausend Seen zu ertränken.

Genauso außer Kraft gesetzt vom Schwert der Deutschritter waren die siebzehn Gebote des Kriwaitos, obwohl sie doch in manchem stark an die zehn des Alten Testaments erinnerten. Zum Beispiel, dass das Weib dem Manne untertan und Ehebruch natürlich nur der Frau zur Last zu legen sei. Was allerdings ganz in diesen Geboten fehlte, war die Nächstenliebe. Aber das

Trotz gemeinsamem Glauben kam es dann zwischen Herzog Konrad und den Deutschrittern zu schwerem Zwist – wollten die Sieger doch nach getaner Arbeit nicht mehr bloß seine Lehensleute, sondern autonome Herren sein. Spätestens bei dieser Eröffnung dürfte dem Herzog aufgegangen sein, welch eiserne Laus sich da mit seiner Hilfe im polnischen Pelz festgebissen hatte.

Dazu noch hatte sich das Zentrum des Ordens innerhalb von vierzig Jahren in bedrohliche Nähe verlagert. Als Montfort, die letzte Christenfeste im Orient, 1271 endlich gefallen war, quartierten sich die Deutschritter erst nach Venedig um und 1309 von dort dann, berstend vor Reichtum und Energie, auf die Marienburg.

Deutsche Lexika, Schul- und Historienbücher pflegen an dieser Stelle rege Kultivierung und Besiedlung des Ordenslandes zu vermerken; löbliche Zivilisierung und Missionierung der Einheimischen oder, genauer, ihrer Reste; einen blühenden Aufschwung der Wirtschaft, der unter dem Hochmeister Winrich von Kniprode in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts dann unzweifelhaft einen Höhepunkt erreichte. Aber die Geschichte der Deutschritter und den Schwerpunkt ihres Wirkens vor allem aus diesem Blickwinkel zu beurteilen (wie es die Vertriebenenpresse seit eh und je kategorisch tut), bestätigt nur wieder jene selektive Wahrnehmungsfähigkeit, die in der Sackgasse deutschtümelnder Apologetik steckenbleibt.

Was sich da am nordöstlichen Rand des Heiligen Römischen Reiches (und bald schon weit über dessen Grenzen hinaus im Baltischen) eingekrallt hatte, das war die effizienteste,

Nein, diese Herren sind mir nicht sympathisch!

Das ist ein Satz, der sich mir nicht nur spontan während dieses ersten Besuches der Marienburg formte, sondern der auch bei allen folgenden Aufenthalten wiederkehrte – noch jedes Mal graute mir vor den Hochmeistern.

Was nicht das Mindeste ändert an der Faszination, die ihre Hinterlassenschaft auf mich ausübt, die Großartigkeit der Architektur und ihre erhabene Wucht – die Schlosskirche und die Vorburg; der mächtige Graben zwischen dem Hoch- und dem Mittelschloss; das Brückentor mit seinen spitzen, an Lübecks Holstentor erinnernden Bedachungen; der schlanke Finger des Buttermilchturmes; der Dansker, sozusagen die Sanitäranlage des Komplexes, über dem Fluss.

Aber mehr noch werde ich berührt, wenn der Alltag, wenn Arbeit, wenn Stätten des Gesindes sichtbar werden. Da ist der

*

Sein Denkmal befindet sich südlich von Olsztynek (Hohenstein), seitab der Straße nach Warschau, vorbei an Seen, durch Felder, Wälder und jene unbeschreiblichen Baum- und Blätterkorridore, die den Ruhm des Landes ausmachen und von denen noch zu singen und zu sagen sein wird – den herrlichen Alleen!

Die Gedenkstätte Grunwald ist schon kilometerweit vorher auszumachen, markiert durch eine Stele, eine Riesennadel, die sich scharf gegen den hellen Himmel abhebt und vom Eingang her, jetzt im Frühling eskortiert von wahren

Kehrt man sich von den Relikten des polnischen Stalinismus, der nadeligen Stele und den Hammernasen ein wenig ab, so fällt der Blick tröstlicherweise auf zwei flatternde polnische Wappen, deren eines nun wieder die Krone zeigt, Symptom der großen Wende von 1989. Auch hebt sich der Makel der Künstlichkeit sofort auf, gewinnt die Geschichte an Echtheit, wenn einem erklärt wird, was die Anhäufung unzähliger Steine rechts vor dem neuen Monument einmal gewesen war, nämlich Blöcke jenes Denkmals zur Erinnerung an das Jahr 1410, das während der deutschen Besetzung Polens zerstört worden ist.

Schließlich ein amphitheaterhaftes Halbrund mit der Darstellung der feindlichen Lager am Vorabend der großen Schlacht zwischen Polen, Litauern, Russen, Tataren auf der einen Seite und den Deutschrittern mit ihren großräderigen Planwagen auf der anderen. Auch hier Schulkinder, raufend, laufend, sehr miteinander beschäftigt und einfach zu jung, um wirklich beeindruckt zu sein. Ganz anders dagegen der gute Geist bei der Vorarbeit für dieses Buch und die überaus empfindsame polnische Patriotin – Barbara Barlog: Auch stalinistischer Kitsch, vermerkt sie, könne die Bedeutung des 15. Juli 1410 nicht verfälschen. Wohl wahr.

1457, nach einem dreizehnjährigen Krieg, zog König Kasimir IV. in die Marienburg ein. An die 300 Jahre wird sie die Residenz polnischer Könige sein, während sich der Orden nur dadurch retten kann, dass er sich 1525 in ein weltliches Herzogtum verwandelt und sich polnischer Oberhoheit unterstellt.

Aber die Burg bleibt Tummelplatz der großen europäischen Tragödie am Eingang in die mörderische Moderne, sie wird belagert, berannt und verbrannt durch Schweden, Kaiserliche, Sachsen und Franzosen. Schon bei der ersten Teilung Polens, 1772, fällt sie an Preußen, bleibt dort auch über die zweite, 1793, und dritte, 1795, und sieht sich erst eineinhalb Jahrhunderte später im Ergebnis des Zweiten Weltkriegs Polen zugeschlagen.

Zuvor, an seinem Ende, von Januar bis März 1945, war fast zwei Monate um die Marienburg gekämpft worden – mit den schwersten Zerstörungen im Lauf ihrer langen und wechselvollen Geschichte. Fotos von damals lassen eine Trümmerlandschaft erkennen, in der kein Stein auf dem anderen geblieben zu sein schien, ein geborstenes Tohuwabohu, dessen einzelne Bauelemente, so schien es, nie wieder zusammengefügt werden könnten, eine Mondlandschaft der Verwüstung. Als wäre es damit noch nicht genug gewesen, zerstörte ein Brand in der Nacht vom 7. auf den 8. September 1959 die Dächer auf dem Nord- und Westflügel des Mittelschlosses. Aber davon ist längst nichts mehr zu sehen. Überhaupt, wer den heutigen Zustand mit den alten Fotos vergleicht, kommt aus der staunenden Bewunderung für die Arbeit der polnischen Restaurateure nicht heraus.

Und so stehe ich denn am Abend dieses Tages am anderen Ufer der Nogat, die wie von Zauberhand geglättet daliegt, gegenüber der Burgkomplex in seiner ganzen Wuchtigkeit, die Mauern sanft gerötet und die Silhouette des Hochschlosses gegen die

Denn ausgestanden, wirklich ausgestanden, ist die alte Konfrontation immer noch nicht.