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Vollständige E-Book-Ausgabe der im Berlin Verlag erschienenen Buchausgabe

1. Auflage 2013

ISBN 978-3-8270-7637-3

© Berlin Verlag in der Piper Verlag GmbH, München 2013

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: ZERO Werbeagentur, München

unter Verwendung eines Bildes von © Fine Pic®, München

Datenkonvertierung: Greiner & Reichel, Köln

Inhalt

Vorbemerkung

Aufschwung West: Knut und das Riesenrad

Bürgermeister Böß: Der Mantel des Schweigens

Erster Mai: Die Nacht, in der Bolle brannte

Garski-Affäre: Wie 100 Millionen in der Wüste versickerten

Hauptbahnhof: Ein Drama in drei Gerichtsakten

Hochhäuser: Mikado am Alex

I Can’t Get No Satisfaction: Die Waldbühne wird zerlegt

Kanzler-U-Bahn: Das Ende ist nahe

Klante: Eine Stadt setzt aufs falsche Pferd

M-Bahn: Technologischer Durchbruch?

Olympia 2000: Wie Berlin die Spiele verspielte

Otto der Große: Die Gangsterballade von der Spree

Plänterwald: Wo die Geister jammern

Rixdorf: Ein X für ein U

S-Bahn: Entgleist auf dem Sparkurs

Schlossplatz: Paläste fürs Volk

Schwerbelastungskörper: Die Last der Geschichte

Steglitzer Kreisel: Die Schöne und der Klotz

Tasmania 1900: Im Zeichen des Beutelteufels

Tempodrom: Viel Zirkus um ein Zelt

Wowereits Flughafen: Eine Erlebnisreise

Zum Weiterlesen

Tomerius_AchDuDickesB.tif

Vorbemerkung

Als die Berliner einst eine Weltausstellung ausrichten wollten, so wie Paris und London in jenen Jahren, scheiterte das Vorhaben vorerst am Kaiser. Zu teuer sei das und Berlin zu wenig Weltstadt: »Ausstellung is nich, wie die Herren Berliner sagen würden«, schrieb Wilhelm II. daher 1892 an seinen Reichskanzler und wähnte die Angelegenheit, die mehrere Jahrzehnte lang debattiert worden war, vom Tisch. Doch der Berliner Größenwahn bricht sich immer wieder Bahn.

Vier Jahre später wurde in Berlin wie zuletzt 1879 eine lokale Gewerbeschau eröffnet, diese einfach zur Weltausstellung erklärt und entsprechend aufgemotzt. Ägyptische Pharaonen liefen im Schatten einer fast vierzig Meter hohen Pyramide durch ein kopiertes Kairo, venezianische Gondolieri stakten über einen eigens angelegten See, und vierhundert aus den afrikanischen Kolonien eingeflogene Eingeborene mussten im Dickicht des Treptower Parks widerwillig die Wilden geben – barfuß, in Baströckchen und begafft wie Zootiere.

Für die Pavillons der rund 3800 Aussteller gab es vor den Toren der Stadt genügend Platz – das Gelände war größer als jenes der Pariser Weltausstellung von 1889. In Treptow präsentierte etwa ein Wilhelm Conrad Röntgen erstmals die Anwendung seiner X-Strahlen, die Archenhold-Sternwarte hatte das bis heute längste Linsenfernrohr der Welt aufgebaut (Brennweite 21 Meter) und AEG brachte tausende Glühlampen zum Leuchten. »Die Ausstellung lockt (...) mit Zaubergewalt«, schrieb der Theaterkritiker Alfred Kerr über das gigantische Spektakel.

Allerdings lockte sie nicht so viele Besucher, dass sie sich gerechnet hätte, was auch daran lag, dass es an 120 von 165 Ausstellungstagen leider regnete. Zudem nahm die Welt von dem Berliner Großereignis kaum Notiz. So etwas wie die »Sonderausstellung Kairo« hatte man schon zuvor in Paris gesehen, selbst die Replik einer mittelalterlichen Stadt, in diesem Fall von Alt-Berlin, war keine Neuigkeit. Und es blieb noch nicht mal ein Souvenir im Stadtbild. Alle Gebäude, so war es vereinbart, mussten wieder abgerissen und der See zugeschüttet werden. (An der Stelle des ehemaligen Hauptrestaurants steht heute das sowjetische Ehrenmal.) Nur die Sternwarte ließ man stehen – das Fernrohr war zu groß für den Transport –, und diese sorgte gleich für die passende Symbolik: Mit ihrer Ausstellung hatten die Berliner nach den Sternen gegriffen und dann doch nur in die Röhre geguckt.

Am Ende war die »Verhinderte Weltausstellung« von 1896 eine fröhliche Pleite, ein erfolgreiches Scheitern, ein teurer Spaß. Und sie war zugleich, so sehen es die Historiker heute, der Beginn des Aufstiegs Berlins zur Weltstadt. Gut hundert Jahre später sind einige Pleiten dazugekommen, doch sonst hat sich wenig geändert: Immer noch stampft man ominöse Projekte aus dem märkischen Sand, baut oft größer als notwendig, ist nicht selten eine Portion Pech dabei, spielt das Wetter übel mit oder formiert sich anderweitig Widerstand. Und immer wieder wünschen sich die Berliner so manches, was Pariser, Londoner oder New Yorker schon längst haben. Doch vieles »is nich«, wie schon der Kaiser mahnte. Großflughafen is nich. Olympia is nich. Riesenrad is nich. Und eine gut funktionierende S-Bahn is auch oft nich.

Pleiten, Blasen und Blamagen gehören zum Wesen Berlins. Aber anstatt mit den permanenten Pannen umzugehen wie mit anderen kulturellen Errungenschaften auch, denen man Museen baut oder Denkmäler errichtet, lässt man sie – wie die Bauten der Gewerbeausstellung von 1896 – schnellstens verschwinden und wartet, bis Gras über die Sache gewachsen ist. Nur was so groß ist, dass es sich schwer verdrängen lässt, bleibt als Mahnmal im Raum – etwa die Ruine des Großflughafens, an dessen Desaster sich inzwischen fast jeder abgearbeitet hat. Lästern über die Hauptstadt und die angeblich unfähigen Hauptstädter ist ja wieder in Mode.

Dieses Buch versammelt einige der schönsten Pleitengeschichten Berlins – bekannte und weniger bekannte, aktuelle und fast vergessene – und begegnet ihnen mit Verständnis statt mit Häme. Denn es zeigt sich nicht selten auch die Schönheit im Scheitern, der Glanz im Debakel, der Witz im Wahnsinn. Und wie immer, wenn etwas schiefläuft, kann man daraus eine Menge lernen. In diesem Fall über Berlin und seine Bewohner, die es auf sympathische Weise immer wieder schaffen, auf die Beine zu kommen. Und dabei erstaunliche Geschichten schreiben.

Tomerius_AchDuDickesB.tif

Aufschwung West

Knut und das Riesenrad

Der Himmel über Berlin tat alles dafür, dass niemand ihm zu nahe kommen wollte. Kühl und bedeckt gab er sich, schauerte und schüttete und verbreitete eine ziemlich miese Stimmung. Der Regierende Bürgermeister ließ sich davon nicht beirren. Wie immer, wenn es aufwärtsging in Berlin, war Klaus Wowereit bester Laune.

Und aufwärts ging es, diesmal sogar messbar. 185 Meter hoch sollte das Riesenrad werden, für dessen ersten Spatenstich man sich an jenem regnerischen 3. Dezember 2007 an dessen künftigem Standort einfand. Als »neues Wahrzeichen« beschwor Wowereit im Baustellenzelt das gigantische Fahrgeschäft, »denn es wird als zweithöchstes Gebäude nach dem Fernsehturm von keinem Punkt der Stadt aus zu übersehen sein«. Auch das Ausland würde es nicht ignorieren können, wäre es doch sogar das höchste Riesenrad in ganz Europa.

Das stand vorerst aber noch in London. 135 Meter misst das London Eye, es hat 32 Gondeln für je 25 Passagiere und bewegt sich mit 16 Metern pro Minute viermal so schnell wie ein Faultier im Baum. In dreißig bis vierzig Minuten fährt man einmal rundum und kann bei guter Sicht 40 Kilometer weit bis zum Windsor Castle blicken. Seit seiner Eröffnung im März 2000 hat das Riesenrad nicht nur die Silhouette der Stadt um eine hübsche Rundung bereichert, sondern London um eine Attraktion: Weit über drei Millionen Leute fahren pro Jahr mit dem London Eye, so viele Besucher zählt noch nicht mal das Taj Mahal.

Als im Jahr 2003 ein paar Investoren anboten, auch in Berlin ein solches Rad zu bauen, musste man nicht lange überlegen. Die Silhouette war gewiss ausbaufähig, das Symbol stimmig: Zusammen mit dem Fernsehturm, einer Art Diskokugel am Dönerspieß, würde das Riesenrad klare Zeichen setzen in einer Stadt, die nun mal kein Big Business hat, das die Skyline mit Wolkenkratzern bestückt. Aber dafür einen Bürgermeister, der sich gern vergnügt.

Außerdem bot das Rad eine gute Gelegenheit, gegenüber London – mit seinen fast acht Millionen Einwohnern im Gegensatz zu Berlin wahrlich eine Weltstadt – endlich mal Größe zu zeigen. Dass das Megarad von der Spree höher werden würde als sein Konkurrent an der Themse, verstand sich von selbst: Um gleich fünfzig Meter sollte es das London Eye überragen. Es waren 36 Kapseln für je 40 Personen geplant, und für eine Runde bräuchten sie höchstens eine halbe Stunde.

Offen blieb die Standortfrage. Eine Fläche neben dem Technikmuseum am Tempelhofer Ufer unweit des Potsdamer Platzes wurde ausgewählt. Plötzlich tauchte ein Mäzen aus England auf und wollte dem Museum einen Anbau spendieren – allerdings nur unter der Bedingung, dass dieser nicht unter das Rad käme. Der Investor ging vor: Die Stadt erwarb das Grundstück, damit der Brite es bebauen konnte, und versprach zudem, dass ihm kein Riesenrad in die Quere käme. Leider hat man danach vom Mäzen nichts mehr gehört.

Dafür vom Riesenrad. Ein Jahr später hatte die Great Berlin Wheel GmbH für 25 Millionen Euro ein Grundstück am Zoologischen Garten erworben. Von der Hälfte der Kaufsumme sollte der Tierpark einen neuen Wirtschaftshof erhalten, denn der alte stand dem Rad im Weg und musste weichen. Ärger mit dem Nachbarn hatte man hier nicht, bekam Zoodirektor Bernhard Blaszkiewitz doch zum neuen Gebäude auch gleich eine Riesenattraktion vor die Tür, die zusätzliche Besucher anlocken würde. Auch die Stadtplaner waren glücklich mit der Wahl des Standorts – das Riesenrad versprach eine Art Aufschwung West.

Die Gegend am Kurfürstendamm hatte ihre glänzenden Zeiten nämlich schon lange hinter sich. In den Zwanzigern kamen sie noch alle her, damals warf man sich in Schale für einen Bummel an den Schaufenstern vorbei, sah man Literaten und Leute vom Film im Romanischen Café an der Gedächtniskirche sitzen. Später fanden die Bewohner der ummauerten Halbstadt hier zwischen Ku’damm, Zoo und KaDeWe ihre Mitte. Unter dem rotierenden Mercedes-Stern auf dem Europacenter pulsierte das Leben, reihten sich Boutiquen an der Haupt- und Bordelle in den Nebenstraßen aneinander, strahlten die Geschmeide der Damen mit den Goldkettchen der Zuhälter um die Wette. Zuletzt hatte der Ku’damm wohl im Herbst 1989 für Glanz gesorgt, nämlich in den Augen derer, die nach dem Mauerfall aus dem Osten nur zum Gucken rüberkamen und zwischen KaDeWe und Beate Uhse den goldenen Westen suchten.

Doch im wiedervereinten Berlin lag die Mitte im Osten. Die City West, nun der »alte Westen« genannt, rutschte an den Rand und damit in eine Identitätskrise, in die sonst eher Diven geraten, die plötzlich feststellen, dass man sie nicht mehr begehrt. Jahrelang blieb eine Baugrube am Bahnhof Zoo sichtbar – wie eine Zahnlücke, für die sich kein Implantat mehr lohnt, weil der Patient ohnehin bald ins Gras beißt. Von der Gedächtniskirche, seit dem Krieg sowieso kaputt, bröckelten nun sogar die restlichen Trümmer ab. Als das neue Verkehrskonzept den einst legendären Bahnhof Zoo dann auch noch zum Regionalbahnhof degradierte, fühlte sich die City West vollends abgehängt vom Rest der Welt. Das Riesenrad indes gab Hoffnung. Wenn der neue Touristenmagnet wie geplant 2009 fertig wäre, so stellte ein Gutachten fest, würde er fünfhunderttausend Besucher zusätzlich pro Jahr in den Westen locken.

Doch bereits 2007 sollten Millionen Menschen Richtung Zoo strömen: nicht eines riesigen Rades, sondern eines kleinen Bären wegen. Als Knut am 5. Dezember 2006 das Licht der Welt erblickte, ahnte niemand, was für Superlative in ihm schlummerten. Man konnte noch nicht mal ahnen, dass es tatsächlich ein Eisbär würde, so nackt und winzig, wie er war. Rein körperlich verhielt er sich zu einem ausgewachsenen Exemplar (in Gramm) wie halb Berlin zu ganz Deutschland (in Quadratkilometern). Unklar war auch, ob er und sein Zwilling überhaupt überleben würden, nachdem die Mutter sie verstoßen hatte. Knuts Bruder schaffte es leider nicht, Knut schon. In einem Brutkasten für Papageien wurde der Bär in den ersten Wochen bei molligen 36 Grad gewärmt und mit Milch aus der Pipette gepäppelt.

Danach sorgte Ziehvater Thomas Dörflein für die nötige Nestwärme. Der Pfleger mit dem Pferdeschwanz und dem Ring im Ohr stellte sein Feldbett neben Knuts Kiste auf, reichte dem Bären das Fläschchen und spielte ihm manchmal sogar einen Elvis-Song auf der Gitarre vor. Dörflein gab dem Eisbären auch seinen Namen. Knut, weil das kurz war und nordisch. Und binnen weniger Wochen entwickelte sich Knut zu einem Wonneproppen in Wollweiß, zum niedlichsten Eisbären der Welt, einem Medienstar, Fotomodell, Klimabotschafter – und Berlin entdeckte den Bären in sich.

Es war die ungewöhnlichste Karriere, die je ein Eisbär hingelegt hat: Kaum gelangten die ersten Bilder von Knut in die Öffentlichkeit, war diese aus dem Häuschen. Jedes neue Foto des kleinen Bären landete auf den Titelblättern der Zeitungen, die Realitysoap aus der Babybärenkrippe war ein Quotenhit, und aus der ganzen Welt reisten Kamerateams an, um Knut und Dörflein zu filmen. Frank Zander sang »Hier kommt Knut«, Tom Kummer führte ein langes Interview mit ihm, Umweltminister Sigmar Gabriel adoptierte den Bären und Starfotografin Annie Leibovitz flog eigens aus Amerika ein und lichtete Knut ab – für das Cover des Promimagazins »Vanity Fair«. Spätestens als Berlinale-Chef Dieter Kosslick auf dem Potsdamer Platz mehrfach »Welcome Knut« sprühen ließ, gab es keinen Zweifel mehr: Berlin hatte nach Marlene Dietrich und Hildegard Knef endlich wieder einen waschechten Weltstar.

Zu seinem ersten öffentlichen Auftritt am 23. März 2007 strömten 500 Journalisten aus aller Welt in den Zoo. Gleich drei Fernsehsender berichteten live. Danach wurde sein Gehege zu einer Art Pilgerstätte für eine neue Religionsgemeinschaft, die Knutianer. Sie hatten ihre Kinder und ihre Kameras dabei, und – als Knut nicht mehr an der Flasche hing – auch Croissants für den Bären. An den Kassen summierten sich die Mehreinnahmen bald auf Millionen. In nur wenigen Monaten hatte Eisbär Knut mehr Leute in den Westen Berlins gelockt, als man für das Riesenrad je zu träumen wagte.

Das drehte sich derweil vorerst auch nur als Modell auf der Expo Real in München. Im Oktober 2007 konnte man hier sehen, wie die Idee konkrete Formen annahm. Als »Abflughalle« hatte der Architekt Ingo Pott ein dreigeschossiges Gebäude in Wellenform entworfen, das außen zum Teil begrünt werden sollte und innen Platz bot für Cafés, Ticketschalter und Geschäfte. Wie eine gewachsene Hügellandschaft sollte es sich aus dem Stadtraum erheben und die Unnatürlichkeit, mit der sich das gigantische Stahlskelett daraus emporschwang, optisch abfedern.

Doch an seinem zukünftigen Standort tat sich derweil nichts. Bereits im Mai 2007 hatten die Investoren eingeräumt, dass alles länger dauern würde. Erst im Herbst sollten sie die Baugenehmigung bekommen. Dann erfolgte auch endlich der erste Spatenstich, bei dem Wowereit & Co. bekanntlich im Regen standen. Der Akt war zwar nur symbolisch, und gebaut wurde danach so wenig wie vorher – doch er setzte ein Zeichen in einer Zeit, da der Zoo nach der ersten Knut-Euphorie plötzlich ein gewichtiges Problem bekam.

Der Tierpark Neumünster erhob nämlich Anspruch auf Knut, war er doch der Sohn von Lars, dem von dort zur Begattung ausgeliehenen Eisbären. Laut Vertrag gehörte das erste überlebende Neugeborene dem Tierpark in Schleswig-Holstein, wie übrigens auch jedes dritte, fünfte, siebte und neunte, kurz: jeder ungerade Eisbär. Die Norddeutschen wollten aber gar nicht Knut, für den hatten sie noch nicht mal Platz, sie wollten Knete. Ein Teil der Mehreinnahmen, für die der Bär gesorgt hatte, stünde ihnen zu, meinten die Neumünsteraner. Zoodirektor Bernhard Blaszkiewitz sah das anders: »Die bekommen ein paar Pinguine, und dann ist die Sache in Ordnung.«

Damit hatte sich Blaszkiewitz zwar keine Freunde gemacht, aber das war ohnehin noch nie seine Stärke. In Berlin genoss der Zoodirektor etwa den Sympathiewert eines Truthahngeiers. Immer wieder sorgte er für Schlagzeilen. Entweder, weil er Mitarbeiter zusammenbrüllte, kleinen Katzen das Genick brach – auf »artgerechte Weise«, wie er fand –, oder gar Tiger an chinesische Potenzmittelhersteller verkauft haben soll. Dass der Mann kein Herz haben konnte, war den Berlinern spätestens dann klar, als ihn die geballte Niedlichkeit von Knut – die Kulleraugen, das Kuschelfell, die knuddelige Art – einfach kaltließ. Knut sei nur eins von 140.000 Tieren für ihn, stellte er klar, und nichts Besonderes.

Der Story von Knut tat er dennoch gut. Denn der grobschlächtige Zoodirektor hatte ihr gerade noch gefehlt, um filmreif zu werden, für Disney etwa oder für Regina Ziegler: Blaszkiewitz war der Bösewicht. Dörflein der Gute. Und Knut – eben Knut. Nur das Happy End wollte sich nicht einstellen.

Im September 2008 starb der 44-jährige Thomas Dörflein überraschend an einem Herzinfarkt, und ganz Berlin trauerte mit seiner Familie, vor allem aber mit Knut. Zwar waren der Pfleger und sein Ziehsohn schon im Juli 2007 voneinander getrennt worden, weil Knut damals bereits 50 Kilo auf die Waage brachte. Eine zärtliche Rangelei unter Freunden konnte da schnell zu einer lebensgefährlichen Angelegenheit werden. Doch Dörflein besuchte Knut regelmäßig. Noch am Samstag vor seinem Tod war er bei ihm. Wie immer streckte er seine Hand durch das Gitter und wie immer leckte Knut sie zärtlich ab. Doch jetzt würde Dörflein nicht mehr kommen und der Bär war ganz allein auf der Welt. Da halfen auch die vielen Fans nichts, die sich täglich vor seinem Gehege trafen, nahm Knut, kurzsichtig wie alle Eisbären, diese doch nur als große Duftwolke wahr, aus der es ab und an Croissants regnete – in diesen schweren Tagen natürlich noch viel mehr als sonst.

»Mit Dörflein haben die Berliner einen Sympathieträger verloren«, sagte Klaus Wowereit. Doch der Tierpfleger war mehr als das: Er war die fleischgewordene Liebe zwischen Mensch und Tier. Er war ein Vorbild für eine ganze Generation verunsicherter Männer, denen er bewies, wie man männlich und zärtlich zugleich sein konnte und dabei sogar noch cool rüberkam – und das pünktlich zur Einführung des Elterngeldes, das ab 2007 die Väter stärker als bisher in die Kindererziehung einband. Dörflein war zudem Träger des Landesverdienstordens, der einzigen Auszeichnung, die der bescheidene Tierpfleger je angenommen hat. Als nach seinem Tod einige von Dörfleins Habseligkeiten im Internet versteigert wurden, ging sein Schlafsack, in dem er neben Knut nächtigte, für stolze 1431 Euro weg, sein Elvis-Buch brachte 221 Euro.

In diesen traurigen Tagen interessierte sich kaum noch jemand für das Riesenrad. So ging es fast ein bisschen unter, als die Investoren des Projekts im Oktober verkündeten, dass sie das Rad aufgrund der weltweit explodierten Stahlpreise zehn Meter niedriger bauen würden als geplant: statt 185 also nur 175 Meter, womit es aber immer noch die Londoner Version überragte. Ferner habe man auf der ganzen Welt niemanden gefunden, der die Pott’sche Abflughalle maschinell zu fertigen in der Lage sei, weshalb diese nur in Handarbeit und für die doppelten Kosten hergestellt werden könne. Die daraufhin neu entworfene Halle, ein asymmetrisches Fünfeck mit drei Etagen, war zwar maschinell machbar, erforderte allerdings eine neue Baugenehmigung. Damit war klar, dass sich das Projekt erneut verzögern würde: Auf die alte Genehmigung hatte man schließlich auch lange warten müssen.

Doch an Zeit sollte es bald nicht mangeln: Als der alte Wirtschaftshof endlich abgerissen werden konnte, weil der neue fertig war, fand man nämlich nicht nur Asbest in alten Rohren, sondern auch Granaten und Brandbomben in der Erde. Das hieß Gutachten erstellen, Arbeiten ausschreiben, abwarten. An dem Eröffnungstermin hielten die Investoren dennoch eisern fest: Im Jahr 2010, so hieß es bei der Great Berlin Wheel GmbH, würde sich auf dem Areal am Zoo das Rad drehen.

2009 war hier aber weder die Abflughalle noch das Riesenrad gewachsen, dafür ein paar Meter weiter Knut. Der kleine Knuddelbär hatte sich über die Jahre in ein wahres Raubtier verwandelt. Das Kindchenschema hatte sich zur groben Eisbärschnauze verzogen. Das Fell war nicht mehr strahlend weiß, sondern oft so dunkel vom Dreck, dass sogar die »Süddeutsche Zeitung« irritiert fragte, ob es sich bei Knuts Vater nicht doch um einen Braunbären gehandelt haben könnte. Seine Unschuld hatte Knut in den Augen seiner Anhänger spätestens in dem Moment verloren, als diese fassungslos beobachten mussten, wie sich der Bär die zehn Karpfen, die man in seinem Teich als tierische Putzkolonne ausgesetzt hatte, genüsslich in den Rachen schob.

Es kamen immer weniger Menschen zu Knut in den Zoo. Ein paar Tierschützer waren darunter und betrachteten den Bären mit wachsender Sorge. Einer von ihnen diagnostizierte aus der Ferne gar eine »erhebliche Störung«. Knut bewege sich stereotyp, strecke etwa 200 Mal am Tag die Zunge raus und winke ständig. Langsam wurde es wirklich Zeit für das Riesenrad.

Im Frühjahr 2010, als sich das Rad eigentlich längst drehen sollte, hofften die Investoren, endlich mit dem Bau beginnen zu können. Allerdings gab es noch ein kleines Problem: Es fehlte das Geld. Das Projekt sollte mit Krediten aus dem 2006 aufgelegten Fonds Global View finanziert werden. Doch ohne Baugenehmigung, so erklärte die Great Berlin Wheel GmbH, hatten sich kaum Kreditgeber gefunden.

In Berlin blieb man zunächst gelassen. Kommt Zeit, kommt Rad. Und kommt es nicht, dann hätte Berlin zumindest keinen großen Schaden davon. Immerhin war das Grundstück bezahlt und von der Hälfte der Kaufsumme hatte der Zoo bereits einen nagelneuen Wirtschaftshof bekommen. Den konnte ihm niemand mehr wegnehmen. Genauso wenig wie Knut übrigens, den die Berliner inzwischen in Neumünster bezahlt hatten – nicht mit »ein paar Pinguinen«, wie der Zoodirektor vorgeschlagen hatte, sondern mit 430.000 Euro, was ebenfalls zu verschmerzen war, soll Knut doch allein in seinem ersten Lebensjahr ein Plus von fünf Millionen eingespielt haben.

Auch in Sachen Riesenrad hatte die Stadt zunächst tatsächlich nicht zu leiden. Dafür andere. Mehrere tausend Anleger hatten gut 200 Millionen Euro in den Fonds Global View eingezahlt, der neben dem Rad in Berlin auch eines in Peking und ein weiteres in Orlando plante und den die Stiftung Warentest bereits 2007 als »riskant« eingestuft hatte. Im Februar 2010 erfuhren die Anleger, dass das Rad in China, das eigentlich 2008 eröffnet werden sollte, mitten im Insolvenzverfahren steckte. Immerhin hatte man dort schon das Fundament geschaffen. In Orlando stand hingegen so wenig wie in Berlin.

Für die Kleinanleger war es ein Desaster: Zwei Drittel gaben sich mit Abfindungen in Höhe von 60 Prozent ihrer Einlage zufrieden, die anderen klagten gegen die Banken, die ihnen den Fonds aufgeschwatzt hatten. 2010 ermittelte die Staatsanwaltschaft bereits gegen drei Manager wegen Untreue. Der Investor des Berliner Riesenrads schien davon jedoch nicht sehr beeindruckt, er gab das Projekt noch lange nicht auf. 70 Millionen Euro fehlten ihm noch, dann könnte er bauen, ließ er verlauten. 120 Millionen sollte das Rad insgesamt kosten.

In der Zwischenzeit hatte Zoodirektor Blaszkiewitz am eigenen Leibe erfahren müssen, dass man den wilden Tieren nicht allzu viel freie Hand lassen durfte: Der Affe Pedro hatte ihm in Anwesenheit eines befreundeten katholischen Pfarrers einen Finger abgebissen. Dann suchte Blaszkiewitz nach einer sinnvollen Aufgabe für das Raubtier namens Knut. Im September 2010 hatte er eine gefunden: Der Bär sollte zum Zuchtbullen werden, verkündete er, und sperrte Knut zu den drei Eisbärdamen Nancy, Katjuscha und Tosca. Diese fanden den nur 270 Kilogramm leichten Ex-Star, für einen Eisbären ein Fliegengewicht, jedoch alles andere als sexy, am wenigsten wohl Tosca, Knuts eigene Mutter. Kaum war Knut in seinem neuen Harem angekommen, jagten ihn die Weiber durchs Gehege, wobei dieser unglücklich in den Wassergraben stürzte.

Wer nicht zufällig vor Ort war, wurde durch die Boulevardblätter über den Vorfall unterrichtet. »Knut unter der Knute«, schrieb etwa die »Berliner Morgenpost« und erhielt danach zahlreiche Leserbriefe entrüsteter Knutfans. Knut müsse weg von den Weibern, so der einhellige Tenor, und sollte eine junge Bärin bekommen, die zu ihm passt. Eine wie Gianna, die Eisbärendame, die im September 2009 bei Knut eingezogen war. Die Müncherin hatte dem Berliner Bären zwar als Erstes eine Ohrfeige verpasst und fraß ihm ständig das Futter weg, ansonsten verstanden sich die beiden aber prächtig. Leider musste Giana wieder zurück: Im Sommer 2010 war ihr Gehege saniert – und Knut wieder allein.

Im Oktober 2010 beschwichtigte Heiner Klös, Bären-Kurator im Zoo, die aufgebrachten Knutianer: »Wir suchen jetzt weltweit nach einer passenden Bärin für ihn. Wichtig ist vor allem, dass es vom Alter her stimmt.« Doch die Monate gingen ins Land, ohne dass Knut eine neue Partnerin vorgestellt wurde. Alle Hoffnungen auf ein Liebesglück starben am 6. März 2011, als Blaszkiewitz öffentlich klarstellte: »Es wird keine neue Frau für Knut geben, er fühlt sich mit seinen drei Damen sehr wohl.«

So wohl fühlte sich der Bär, dass man ihm täglich eine Auszeit gönnen musste. Genau die genoss er auch an jenem 19. März 2011, als sich wie jeden Tag ein paar hundert Fans vor seinem Gehege versammelt hatten. Sie sahen einen Knut, der erst friedlich in der Frühlingssonne döste, sich dann irgendwann erhob und anfing, sich im Kreis zu drehen. Immer und immer wieder. Das sah anfangs recht lustig aus – als wollte der Bär tanzen. Das Publikum lachte, machte Bilder, drehte Filmchen. Ein paar Minuten ging das so, dann zuckte Knut, verlor das Gleichgewicht und plumpste rückwärts ins Becken. Dort schlug er erst hilflos mit den Tatzen, dann trieb er kopfunter im Wasser. Nichts bewegte sich mehr, nur Luftblasen stiegen auf und platzten pietätlos an der Oberfläche. Langsam wurde den Leuten klar, was sie da eben wirklich gesehen hatten: Es war der Todestanz des Eisbären, es war – der sterbende Knut. Kinder schrien, Erwachsene weinten, eine ältere Dame fiel in Ohnmacht.

Danach war nichts mehr wie zuvor. Sogar seriöse Medien spekulierten: War es der Stress? War es die Einsamkeit? War es gar Selbstmord? Es war ein Hirnschaden, ergab die Obduktion, verursacht durch eine Virusinfektion. »Du wirst uns fehlen, Knut« oder »Wir haben Dich sooo geliebt« stand auf den Schildern, die Knutfans vor dem Zoo in die Luft hielten. Als der Eisbär ausgestopft werden sollte, stellten sich noch ein paar Dutzend Demonstranten dazu und ließen fünfzig weiße Luftballons aufsteigen: »Das hat Knut nicht verdient«, wurde skandiert. Es kursierte der Vorschlag, das Herz des Bären auf einer Eisscholle in der Arktis beizusetzen. Der amerikanische Genforscher Mark Westhusin, der schon einen Hirsch sowie eine Katze – »Copy Cat« – erfolgreich geklont hatte, bot sich sogar an, den berühmten Eisbären zu duplizieren, einen »Copy Knut« quasi. Allerdings gab der Wissenschaftler zu bedenken, dass solch ein Vorhaben Millionen kosten und viel Zeit in Anspruch nehmen würde – und dass es am Ende funktionierte, war längst nicht garantiert.

Von der Kopie des Londoner Riesenrads war nach acht Jahren auch noch nichts zu sehen und alles deutete darauf hin, dass dies so blieb. Im Senat reagierte man auf Anfragen seitens der Presse in diesen Tagen sehr zurückhaltend. Die Stadt habe das Projekt nur angeschoben, für alles Weitere seien die Investoren zuständig. Aber die taten immer noch nichts.

Im Sommer 2012 – Knuts Fell und Skelett lagerten da schon längst in einer Kühlbox des Naturkundemuseums – wurde auch der Traum vom großen Rad offiziell begraben. Die Trauer jedoch hielt sich in Grenzen. Traurig waren vor allem ein paar Leute an der Technischen Universität. Die hätten das Grundstück nun nämlich gern genutzt, um ihren Campus zu erweitern. Doch dann stellte sich heraus, dass der Vertrag, den das Land mit den Investoren geschlossen hatte, nicht ganz so günstig war, wie anfangs behauptet. Man könnte das Grundstück zwar zurückkaufen und der TU überlassen, aber laut Baurecht durfte darauf nur ein Riesenrad entstehen. Ein Riesenrad brauchte die Uni leider nicht.

Auch der Berliner Westen kam am Ende ohne Riesenrad aus. Der Aufschwung war auch so gekommen. Das Areal am Zoo hatte sich in den letzten Jahren in eine Baustelle verwandelt, wie man sie zuletzt nur aus dem Osten gewohnt war. Überall wurde abgerissen und aufgebaut. Sogar die Gedächtniskirche bekam ein Gerüst und soll mittels Spenden saniert werden. Auf dem ehemaligen Grundstück von Teppich Kibek, dort, wo über mehr als ein Jahrzehnt die Baulücke klaffte, wuchs das »Zoofenster«, ein Hochhaus mit einer spektakulären Glasfront und insgesamt 32 Etagen. Die meisten davon sollten vom Waldorf Astoria belegt werden, einem Ableger der New Yorker Nobelhotels. Der Eröffnungstermin musste zwar mehrmals verschoben werden – es gab Probleme mit dem Brandschutz –, doch im Januar 2013 wurde das Haus feierlich eingeweiht und Berlin rückte mit dem neuen Luxushotel seinem Weltstadtanspruch wieder einen kleinen Schritt näher.

Auch der Zoo erhielt Zuwachs. Vor dem Gehege von Knut steht nun ein Denkmal. »Knut der Träumer« heißt die Skulptur, sie zeigt den Bären im Alter von vier Monaten, wie er auf einem Stein ruht. Das Monument ist erstaunlich klein. Ziemlich klein für Berlin, wo man es gern etwas größer mag. Und viel zu klein für Knut, der doch immer mehr war als nur ein Zootier: Der Bär, er war Berlin.

Vieles, was die Stadt an der Spree in den letzten Jahrzehnten erlebte, hat Knut in seinen vier Lebensjahren im Zeitraffer durchgemacht: Er wurde geliebt und gefürchtet, ins Herz geschlossen und an den Rand gedrängt. Er wurde für verrückt erklärt und politisch instrumentalisiert. Er war dem Tod nah gewesen und auf fremde Hilfe angewiesen. Er musste Trennungen erleiden und so manche Diät. Er wurde mit Symbolen beladen, als Projektionsfläche genutzt, musste herhalten für Sehnsüchte und Träume und die Vision von einer besseren Welt. Und war Knut nicht auch ein bisschen wie die Berliner selbst? Großschnäuzig, tapsig, liebenswert.

Doch Knut ist nicht mehr da, und die Croissants, die jemand unter das Denkmal gelegt hat, werden von Spatzen stibitzt. »Wo ist Knut jetzt?«, fragt ein Kind und streichelt den bronzenen Eisbären. »Im Himmel«, antwortet seine Mutter. Es ist ein schöner Tag, nur ein paar Wolken schieben sich an der Sonne vorbei. Große, bauschige weiße Wolken sind es. »Da!«, sagt der Junge und streckt seinen Arm so schnell in die Luft, als wollte er eine der Wolken kurzerhand aufspießen. Und diese eine, auf die er zeigt, sieht tatsächlich aus wie Knut.