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Willst du geliebt werden, liebe!
Seneca

 

DIE FRAU, DIE ICH BIN

 

EINLEITUNG

Wenn ich als Kind für Prüfungen gelernt habe, tat ich immer so, als würde ich andere Schüler unterrichten, die nur in meiner Vorstellung existierten. Das war meine Lernmethode.

Leben ist Lernen, und während ich auf den Erfahrungsschatz zurückblicke, den ich mir nach und nach erworben habe, will ich gern einige der Lektionen weitergeben, die ich dabei gelernt habe.

Leben heißt auch älter werden. Das Gute am Älterwerden ist, dass man eine Vergangenheit, eine Geschichte hat. Wenn man seine Vergangenheit schätzt und zu ihr steht, weiß man, dass man in vollen Zügen gelebt und aus seinem Leben gelernt hat.

Diese Lektionen haben es mir ermöglicht, die Frau zu sein, die ich bin.

Als Mädchen wusste ich nicht, was ich später einmal machen wollte. Aber ich wusste, was für eine Frau ich sein wollte – eigenständig, unabhängig und frei. Und diese Freiheit ließ sich nur erlangen, wenn ich die volle Verantwortung für mich und mein Handeln übernahm, die Wahrheit nicht beschönigte und selbst meine beste Freundin wurde.

Es läuft nicht immer alles glatt im Leben. Die Gegebenheiten verändern sich, Menschen kommen und gehen. Hindernisse tauchen auf und stellen sich einem in den Weg. Aber eines weiß man sicher, man hat immer sich selbst.

Ich habe dieses Buch in Kapitel darüber gegliedert, was mich am meisten inspiriert hat und mir bis heute Kraft gibt: Familie, Liebe, Schönheit und das Modebusiness. Doch einen Menschen muss ich besonders herausstellen – denn dafür, wie ich mein Leben gestaltet habe und was mich zu der Frau gemacht hat, die ich sein wollte, war niemand wichtiger als … meine Mutter. Mit ihr beginnt diese Biografie.

1

FAMILIE

Auf dem Bücherregal in meinem New Yorker Schlafzimmer steht ein großer Bilderrahmen. In ihm steckt eine Seite, die aus einer deutschen Zeitschrift von 1952 herausgerissen wurde. Sie zeigt eine elegante Frau mit ihrer kleinen Tochter auf dem Basler Bahnhof, wo beide auf den Arlberg-Orient-Express warten. Das Mädchen kuschelt sich in den weiten Mantel der Mutter und verzehrt eine Brioche.

So wurde ich im zarten Alter von fünf Jahren zum ersten Mal in einer Zeitschrift abgebildet. Es ist ein reizendes Bild. Juliette, die ältere Schwester meiner Mutter, schenkte es mir zu meiner ersten Hochzeit, aber erst kürzlich wurde ich mir seiner wahren Bedeutung bewusst.

Oberflächlich betrachtet ist es das Foto einer auffallend modebewussten, offensichtlich wohlhabenden Frau, die mit ihrem kleinen lockenköpfigen Mädchen unterwegs in den Skiurlaub ist. Die Frau blickt nicht direkt in die Kamera, aber man erkennt den Hauch eines Lächelns auf ihrem Gesicht, als wüsste sie, dass sie fotografiert wird. Eine elegante Erscheinung. Nichts deutet darauf hin, dass sie nur wenige Jahre zuvor auf einem anderen deutschsprachigen Bahnhof gestanden hatte: bei ihrer Rückkehr aus einem Konzentrationslager der Nazis, in dem sie dreizehn Monate verbringen musste – ein Bündel aus Haut und Knochen, vor Hunger und Erschöpfung dem Tod nahe.

Was fühlte sie, als der Fotograf sie nach ihrem Namen fragte, der zusammen mit dem Bild veröffentlicht werden sollte? Stolz, denke ich. Stolz darauf, dass sie ihm mit ihrem Stil und ihrer Eleganz aufgefallen war. Nur sieben Jahre waren seitdem vergangen. Sie war keine Nummer mehr. Sie hatte einen Namen, warme, schöne, saubere Kleidung und darüber hinaus – und das zählte mehr als alles andere – eine Tochter, ein gesundes, kleines Mädchen. »Gott hat mir das Leben gerettet, damit ich dieses Geschenk an dich weitergeben konnte«, schrieb sie mir jedes Jahr zu meinem Geburtstag an Silvester. »In dem Moment, als du geboren wurdest, gabst du mir mein Leben zurück. Du bist meine Fackel, meine Freiheitsflagge.«

Jedes Mal, wenn ich in der Öffentlichkeit über meine Mutter spreche, versagt meine Stimme. Und bei jeder Rede, die ich halte, bin ich mir bewusst, dass ich dazu nicht in der Lage wäre, wenn Lily Nahmias mich nicht geboren hätte. Manchmal fühlt es sich merkwürdig an, dass ich immer wieder auf ihre Geschichte zu sprechen komme, aber irgendetwas zwingt mich dazu. Sie ist der Schlüssel dafür, was für ein Kind ich war und wie ich zu der Frau wurde, die ich bin.

»Ich möchte Ihnen die Geschichte einer jungen Frau erzählen, die mit zweiundzwanzig Jahren fünfundfünfzig Pfund wog, kaum mehr als das Gewicht ihrer Knochen«, sagte ich in einem Harvard-Seminar zum Thema »Gesundheit junger Mädchen«. »Sie wog nur fünfundfünfzig Pfund, weil sie dreizehn Monate in den Konzentrationslagern Auschwitz und Ravensbrück verbracht hatte. Es grenzt an ein wahres Wunder, dass diese junge Frau nicht starb, obwohl sie dem Tod sehr nahe war. Als sie befreit wurde und zu ihrer Familie nach Belgien zurückkehrte, fütterte ihre Mutter sie wie ein Vögelchen: Alle fünfzehn Minuten bekam sie einen ganz kleinen Happen zu essen und dann noch einen, wodurch sie sich wie ein Ballon fühlte, der langsam und allmählich aufgeblasen wurde. Nach ein paar Monaten hatte sie fast ihr ursprüngliches Gewicht wieder erreicht.«

Immer wenn ich bei der Geschichte meiner Mutter an diesem Punkt angelangt bin, geht ein Raunen durchs Publikum, vielleicht weil es so schockierend und unerwartet ist oder weil für die jungen Zuhörer, die nur eine vage Vorstellung von Auschwitz haben, durch mich ein Stück Geschichte lebendig wird. Es ist wohl schwer vorstellbar, dass dieses kerngesunde weibliche Energiebündel, das da zu ihnen spricht, eine Mutter hatte, die einst nur fünfundfünfzig Pfund wog. Was auch immer der Grund ist, ich möchte und muss meine Mutter, ihren Mut und ihre Kraft ehren. Denn dies hat mich zu der Frau gemacht, die ich sein wollte.

»Gott hat mir das Leben gerettet, damit ich dieses Geschenk an dich weitergeben konnte.« Ihre Worte hallen jeden Tag in mir nach. Ich empfinde es als meine Pflicht, all das Leid, das sie erdulden musste, wettzumachen, stets die Freiheit in Ehren zu halten und das Leben voll auszukosten. Meine Geburt war ihr Triumph. Sie hätte nicht überleben sollen, und ich hätte nicht geboren werden sollen. Wir haben sie Lügen gestraft. Am Tag meiner Geburt wurden wir beide zu Siegerinnen.

Ich gebe an dieser Stelle ein paar der Lektionen wieder, die meine Mutter mir eingetrichtert hat und die mir gute Dienste erwiesen haben. »Angst kommt nicht in Frage.« – »Verweile nicht bei der düsteren Seite der Dinge, sondern betrachte das Schöne an ihnen und baue darauf auf.« – »Wenn sich eine Tür schließt, schau, welche andere du stattdessen öffnen kannst.« – »Gib niemals jemand anderem die Schuld für das, was dir widerfahren ist, egal wie schlimm es auch sein mag. Vertrau auf dich, denn du allein bist für dein Leben verantwortlich.« Sie lebte nach diesen Grundsätzen. Trotz allem, was sie durchgemacht hatte, wollte sie niemals als Opfer angesehen werden.

Früher habe ich so gut wie nie über meine Mutter gesprochen. Ich hielt sie für selbstverständlich, wie alle Kinder das tun. Erst als sie 2000 starb, erkannte ich überhaupt, welch unglaublich großen Einfluss sie auf mich hatte und wie viel ich ihr verdanke. Wie jedes Kind hatte ich ihr keine übertrieben große Aufmerksamkeit geschenkt. »Ja, ja, das hast du mir schon gesagt«, unterbrach ich sie oder überhörte ihre Worte. Oder ich regte mich über die ungebetenen Ratschläge auf, die sie meinen Freundinnen ständig gab. Sie ärgerten mich. Jetzt allerdings finde ich, dass ich inzwischen selbst die nötige Erfahrung und Altersweisheit besitze, um anderen ungefragt Ratschläge zu erteilen, und nutze jede Gelegenheit, um die Grundsätze, die meine Mutter mich gelehrt hat, an meine Kinder, Enkel und an jeden, mit dem ich spreche, weiterzugeben. Jetzt bin ich so, wie sie einst war.

Als kleines Mädchen lebte ich in Brüssel. Damals wusste ich nicht, warum meine Mutter auf dem linken Arm zwei in blauer Farbe eintätowierte Zahlen hatte. Ich dachte, sie seien eine Art Schmuck, und hätte gerne selbst so etwas gehabt, damit meine Arme nicht so kahl aussahen. Ich verstand auch nicht, warum die Haushälterin mir oft sagte, ich solle sie nicht stören, wenn sie sich in ihr Schlafzimmer zurückzog. Aber instinktiv wusste ich, dass meine Mutter ihre Ruhe brauchte, und so ging ich auf Zehenspitzen durchs Haus, um sie ja nicht zu stören.

Manchmal aber ignorierte ich die Anweisungen der Haushälterin, sammelte meine geliebten kleinen Bilderbücher ein und schlich mich in den abgedunkelten Raum. Ich hoffte, sie würde lächeln und mir aus ihnen vorlesen. Meistens tat sie es. Sie liebte Bücher und brachte auch mir bei, sie zu schätzen. Und sie las mir meine kleinen Bilderbücher so oft vor, dass ich sie schließlich auswendig kannte. Es machte mir großen Spaß, so zu tun, als könne ich schon lesen und mich damit zu brüsten, während ich gewissenhaft darauf achtete, an der richtigen Stelle umzublättern.

Meine Mutter war sehr streng. Ich zweifelte nie daran, dass sie mich liebte, aber wenn ich etwas sagte, das nicht ihre Zustimmung fand oder nicht ihren Erwartungen entsprach, sah sie mich finster an oder kniff mich. Ich musste mich dann, mit dem Gesicht zur Wand, in die Ecke stellen. Manchmal ging ich von allein in die Ecke, weil ich wusste, dass ich etwas Unrechtes getan hatte. Sie war viel mit mir zusammen, manchmal spielten wir auch, aber meistens brachte sie mir irgendetwas bei. Sie las mir Märchen vor und zog mich auf, wenn ich mich dabei ängstigte. Ich erinnere mich, dass sie sich einmal einen Spaß daraus machte, mir zu erzählen, ich sei als Kind ausgesetzt worden, und sie habe mich im Müll gefunden. Ich fing bitterlich zu weinen an und konnte mich gar nicht mehr beruhigen, bis sie mich in die Arme schloss und tröstete. Ich sollte stark und furchtlos sein.

Sie war sehr fordernd. Noch bevor ich lesen konnte, hielt sie mich dazu an, die Fabeln von La Fontaine aus dem siebzehnten Jahrhundert auswendig zu lernen und aufzusagen. Sobald ich alt genug war, um zu schreiben, bestand sie darauf, dass ich Geschichten und Briefe schrieb, die orthografisch und grammatikalisch korrekt waren. Ich erinnere mich, wie stolz ich war, wenn sie mich dafür lobte.

Um mir jede Form von Schüchternheit auszutreiben, musste ich von Kindesbeinen an bei jeder Familienfeier eine Rede halten. So brachte sie mir bei, mich bei jeder Rede, egal vor welchem Publikum, wohl zu fühlen. Wie viele Kinder hatte auch ich Angst vor der Dunkelheit, aber anders als die meisten Mütter sperrte sie mich in eine dunkle Abstellkammer und wartete vor der Tür, damit ich von allein lernte, dass es nichts gab, wovor ich mich fürchten musste. Das war nur eine der vielen Gelegenheiten, bei denen sie zu sagen pflegte: »Angst kommt nicht in Frage.«

Meine Mutter hielt nichts davon, Kinder zu sehr zu verhätscheln oder überzubehüten. Sie wollte mich zu einem unabhängigen Menschen erziehen, der selbst die Verantwortung für sich übernahm. Meine frühesten Erinnerungen sind die an gemeinsame Reisen mit meinen Eltern, bei denen ich allein im Hotelzimmer zurückblieb, während sie zum Essen gingen. Ich fand das weder schlimm noch fühlte ich mich verlassen. Im Gegenteil, ich war stolz darauf, dass sie mir zutrauten, allein zu bleiben. Gern spielte ich dann für mich allein und fühlte mich dabei sehr erwachsen. Bis zum heutigen Tag empfinde ich das gleiche Gefühl von Freiheit, wenn ich allein in einem Hotel einchecke.

Erlaubten meine Eltern mir, sie ins Restaurant zu begleiten, dann ermunterte mich meine Mutter des Öfteren, vom Tisch aufzustehen und mich im Raum umzusehen, ja manchmal sogar nach draußen zu gehen und ihr nachher zu berichten, was ich alles gesehen und wen ich getroffen hatte. Das weckte die Neugier in mir – auf andere Menschen, darauf, sie zu beobachten oder mich mit Leuten anzufreunden, die ich nicht kannte. Als ich neun Jahre alt war, setzte sie mich allein in den Zug von Brüssel nach Paris, wo ihre Schwester, meine Lieblingstante Mathilde, lebte. Ich war sehr stolz darauf, für mich selbst verantwortlich zu sein. Ganz tief in meinem Innern war ich vielleicht auch ein wenig nervös, aber das hätte ich nie im Leben zugegeben, und so bezwang ich meine Angst.

Noch immer reise ich gern allein, und manchmal ist mir das sogar lieber. Selbst bei Geschäftsreisen bin ich nicht gern von einem Tross umgeben, denn das schränkt meine Freiheit ein und verringert den Spaß an Unvorhersehbarem. Ich liebe das Abenteuer, dieses Gefühl von Aufregung und tiefer Befriedigung, das ich als kleines Mädchen empfunden habe. Allein unterwegs zu sein – auf einem Flughafen, mit meiner Tasche, meinem Reisepass, meinen Kreditkarten, meinem Handy und einer Kamera –, gibt mir das Gefühl von Freiheit und macht mich glücklich. Ich werde meiner Mutter stets dankbar sein, dass sie mich immer dazu ermutigt hat, einfach »loszuziehen«.

Unabhängigkeit. Freiheit. Selbstvertrauen. Das waren die Werte, die sie mir einschärfte, und sie tat es mit einer solchen Selbstverständlichkeit, dass ich sie nie hinterfragte oder mich dagegen auflehnte. Es gab keinen anderen Weg, außer für mich selbst die Verantwortung zu übernehmen. Sosehr ich sie liebte und respektierte, ich hatte gewiss auch etwas Angst vor ihr und wollte sie keinesfalls verärgern. Heute verstehe ich, dass sie all ihre früheren Niederlagen und unglücklichen Erlebnisse zu einem Paket aus Kraft und Zuversicht gebündelt hatte. Das war ihr Geschenk an mich. Gelegentlich fühlte es sich wie eine schwere Bürde an, aber ich hinterfragte es nie, auch wenn ich mir gelegentlich wünschte, einer anderen Familie anzugehören.

Als ich sechs war, ließ meine Mutter glücklicherweise ein bisschen von mir ab und konzentrierte sich auf meinen gerade geborenen kleinen Bruder Philippe, den ich vergötterte. Obwohl ich nie mit Puppen gespielt hatte, entwickelte ich zu meiner eigenen Überraschung plötzlich mütterliche Gefühle. Und daran hat sich bis zum heutigen Tag nichts geändert, ich behandle ihn immer noch, als wäre er mein Erstgeborener. Ich, die ältere Schwester, spielte mit ihm und manchmal quälte ich ihn auch ein wenig. Aber wie meine Mutter es bei mir gemacht hatte, brachte auch ich ihm alles bei, was ich wusste, und war sehr fürsorglich. Wenn wir Doktor spielten, forderte ich ihn auf, in ein Fläschchen zu urinieren, nur um ihn dann auszulachen, weil er es tatsächlich tat. Wir spielten auch gerne Reisebüro mit den Flugplänen meiner Eltern und buchten und planten Fantasiereisen rund um die ganze Welt.

Philippe sagt, er habe erst so richtig begriffen, wie sehr ich ihn liebte, als ich ihm während seines Internataufenthalts in England sämtliche Liedtexte einer Beatles-Platte aufschrieb und schickte. Damals gab es noch keine Computer, kein Internet, keine iTunes, nur eine völlig in ihren Bruder vernarrte Schwester mit Stift und Papier, die sich die Songs wieder und wieder anhörte und sie wortgetreu niederschrieb. Wir stehen uns immer noch sehr nahe, und er ist und bleibt mein kleiner Bruder, den ich immer zu beeindrucken und zu necken versuche. Inzwischen ist Philippe ein erfolgreicher Geschäftsmann in Brüssel und hat zwei bezaubernde Töchter, Sarah und Kelly. Seine Frau Greta hat die belgische Niederlassung meiner Kette, DVF Belgium, aufgebaut und leitet sie. Philippe und ich telefonieren jedes Wochenende miteinander, und wann immer ich meine Eltern vermisse, rufe ich ihn an.

Ich glaube nicht, dass meine Mutter auch nur halb so streng zu ihm war, wie sie es mir gegenüber gewesen ist. Schließlich war er der Sohn, und den Jungen in unserer Familie gegenüber sind wir viel nachgiebiger und weniger fordernd. Doch zu mir hatte sie die engere Beziehung, ich war ihre Tochter, die um jeden Preis überleben musste, ganz gleich was das Leben bereithielt. Als ich älter wurde, verstand ich diesen Wunsch. Unabhängigkeit und Freiheit waren für sie das Wichtigste, weil sie beides verloren hatte. Und Selbstvertrauen hatte sie am Leben gehalten.

Im Jahr 1944 war meine Mutter zwanzig Jahre alt und bereits mit meinem Vater verlobt, als die Nazis sie am 17. Mai verhafteten, weil sie in der belgischen Résistance arbeitete. Sie lebte in einem »sicheren Haus« und hatte die Aufgabe, als Fahrradkurier in Brüssel Dokumente und gefälschte Papiere zu überbringen. Sofort nach ihrer Festnahme wurde sie auf einen überfüllten Laster verfrachtet, der sie und viele andere mutmaßliche Saboteure in ein Gefängnis nach Mechelen in Flandern brachte, eine rund fünfundzwanzig Kilometer von Brüssel entfernte Stadt. Um der Folter zu entgehen, bei der sie möglicherweise Informationen über andere Mitglieder der Widerstandsbewegung preisgegeben hätte, behauptete sie, sie wisse rein gar nichts und habe sich lediglich wegen ihrer jüdischen Herkunft in einem sicheren Haus versteckt gehalten. Die Frau, die sie verhörte, riet ihr, nicht zu sagen, dass sie Jüdin sei. Doch sie ignorierte diesen Rat und wurde mit dem Transport XXV deportiert, der Mechelen am 19. Mai 1944 verließ. In Auschwitz erhielt sie die Häftlingsnummer 51 99.

Meine Mutter erzählte mir oft, sie habe eine Nachricht auf ein Stück Papier gekritzelt und sie aus dem Lkw auf die Straße geworfen. Sie hoffte, irgendjemand würde den Zettel finden und ihren Eltern bringen. Erst nach ihrem Tod fand ich heraus, dass sie die Botschaft tatsächlich erhalten hatten. Ich hatte das Haus, das meine Mutter auf der Bahamas-Insel Harbour Island besaß, meinem ältesten Cousin Salvator zur Verfügung gestellt. Er hinterließ mir einen dicken Umschlag voller Familienfotos, zwischen denen ein verschlossenes Kuvert mit der Aufschrift »Lily, 1944« steckte. Darin befand sich ein Fetzen Papier, auf dem in verblasster Schrift etwas geschrieben stand. Ich starrte so lange darauf, bis ich es endlich zu entziffern vermochte:

Liebe Mama, lieber Papa,

ich schreibe Euch, um Euch zu sagen, dass Eure kleine Lily die Stadt verlässt. Wohin, weiß sie nicht, aber Gott ist überall, nicht wahr? Also wird sie niemals allein oder unglücklich sein.

Ihr müsst jetzt beide sehr stark sein, und vergesst ja nicht, gut auf Euch achtzugeben, damit Ihr bei meiner Hochzeit bei bester Gesundheit seid. Ich rechne mehr denn je mit einer wunderschönen Feier.

Ich möchte, dass Ihr wisst, dass ich mit einem Lächeln auf den Lippen gehe, versprochen. Ich liebe Euch wirklich sehr und werde Euch schon bald mit Küssen überschütten.

Euer kleines Mädchen

Lily

Mir stockte der Atem. Hielt ich tatsächlich die Nachricht in der Hand, von der mir meine Mutter stets erzählt hatte, dass sie sie auf dem Laster mit einem abgebrannten Streichholz geschrieben hatte? Auf der Rückseite des Zettels bat sie den Finder, die Nachricht doch bitte an die Adresse ihrer Eltern weiterzuleiten. Jemand hatte den Zettel gefunden und tatsächlich ihren Eltern überbracht, und meine Tante Juliette, Salvators Mutter, hatte ihn all die Jahre in einem verschlossenen Briefumschlag aufbewahrt!

Ich stand unter Schock, denn ich hatte die Geschichte von dieser Nachricht nie so recht geglaubt. All die Schilderungen von ihrer Verhaftung und ihrer Deportation waren mir unwirklich erschienen, hatten auf mich eher wie das Drehbuch für einen Film gewirkt, und nun stellten sie sich als komplett wahr heraus. Sie hatte mir immer erzählt, sie hätte sich mehr Sorgen um ihre Eltern gemacht als um sich selbst. Und jetzt hielt ich den Beweis dafür in meinen zitternden Händen.

Wie betäubt ging ich aus dem Haus und über den Strand ins klare blaue Wasser. »Das erklärt, wer ich bin«, sagte ich laut zu mir selbst. »Ich bin die Tochter einer Frau, die mit einem Lächeln auf den Lippen ins Konzentrationslager fuhr.«

All die Sprüche, die sie mir als Kind eingetrichtert hatte und die mich manchmal genervt hatten, erschienen auf einmal in einem ganz neuen Licht. Einer ihrer Leitsätze lautete: »Man weiß nie genau, was gut für einen ist. Manchmal kann nämlich das Schrecklichste, das einem widerfährt, in der Tat das Beste für einen sein.« Als Beleg dafür erzählte sie häufig die Geschichte ihrer unmenschlichen Fahrt nach Auschwitz und der Ankunft dort.

Kein Essen. Kein Wasser. Keine Frischluft. Keine Toilette. Drei Tage eingepfercht in einen Viehwaggon. Eine Frau um die vierzig, die ein wenig Deutsch sprach, tröstete meine Mutter und gab ihr ein Gefühl von Sicherheit. Meine Mutter achtete darauf, stets an ihrer Seite zu bleiben, vor allem als sie in Auschwitz ankamen und an der Rampe abgeladen wurden. Frauen mit Kindern wurden unverzüglich vom Rest der Gruppe getrennt und zu einigen langgestreckten, niedrigen Gebäuden geschickt, während die anderen sich in einer Reihe aufstellen mussten. Ein Soldat teilte die Häftlinge in zwei Gruppen ein. Das Geschehen wurde von einem Mann im weißen Arztkittel beobachtet, der oben auf der Rampe stand.

Als sie an die Reihe kamen, wurde die ältere Frau zu der Gruppe dirigiert, die sich auf der linken Seite gebildet hatte, und meine Mutter folgte ihr rasch. Der Soldat hielt sie nicht auf, aber der Mann im weißen Kittel, der bis jetzt nicht eingegriffen hatte, tat es. Von der Rampe aus kam er zielstrebig auf meine Mutter zu, zerrte sie von ihrer mütterlichen Freundin weg und stieß sie in die Gruppe auf der rechten Seite. Meine Mutter erzählte immer, dass sie noch nie solch blanken Hass empfunden hatte wie auf diesen Mann.

Wie sie später erfuhr, war dieser Mann Dr. Josef Mengele, der berüchtigte Todesengel, der unzählige Häftlinge bei seinen medizinischen Experimenten getötet oder verstümmelt hat, vor allem Kinder und Zwillinge. Warum ließ er ausgerechnet sie entkommen? Erinnerte sie ihn vielleicht an jemanden, den er mochte? Wie teuflisch seine Intentionen auch gewesen sein mochten, er rettete ihr damit das Leben. Die Gruppe mit der älteren Frau wurde direkt in die Gaskammer geschickt. Die Gruppe, in die er meine Mutter stieß, nicht.

Ich erzähle diese Geschichte immer, wenn ich jemanden trösten will, genauso wie meine Mutter es bei mir gemacht hat: Du weißt nie, ob sich das, was du für das Schlimmste hältst, letztlich nicht als das Beste herausstellt.

Nach diesem Erlebnis war sie fest entschlossen zu überleben, ganz gleich welches Grauen sie erwartete. Sogar wenn der unverkennbare Geruch aus den Schloten des Krematoriums über dem Lager schier unerträglich wurde und die anderen Häftlinge meinten: »Wir werden alle sterben«, erklärte meine Mutter: »Nein, das werden wir nicht. Wir werden leben.« Angst kam nicht in Frage.

Fast eine Million Juden wurden in Auschwitz umgebracht, viele in der Gaskammer ermordet. Andere wurden hingerichtet oder durch Dr. Mengeles Experimente getötet, oder sie starben durch die Zwangsarbeit vor Hunger und Erschöpfung. Meine Mutter hatte Glück, wenn man in solch unvorstellbar grausamer Umgebung überhaupt von Glück sprechen kann. Sie wurde für die Zwölf-Stunden-Nachtschicht in der nahen Waffenfabrik eingeteilt und musste Munition herstellen. Solange sie arbeiten konnte, war sie von Nutzen und wurde am Leben erhalten. Sie war klein, nicht viel größer als ein Meter fünfzig, und von Natur aus schlank. Da sie nie besonders viel gegessen hatte, eher wie ein Spatz, konnte sie mit den winzigen Rationen an Brot und wässriger Suppe auskommen, die sie und die anderen Gefangenen erhielten, wenn auch nur gerade eben. Andere, die mehr wogen und auf einmal fast überhaupt nichts mehr zu essen bekamen, gehörten zu den Ersten, die verhungerten.

Wann immer ich zu faul bin, eine lästige Routinearbeit zu erledigen, oder zögere hinauszugehen, weil es draußen kalt ist, oder jammere, weil ich anstehen muss, denke ich an meine Mutter. Ich stelle mir vor, wie sie mit sechzigtausend anderen im Winter 1945 aus Auschwitz evakuiert wurde, nur neun Tage bevor die Rote Armee das Lager erreichte. Die SS hatte überstürzt Tausende der Insassen exekutiert und trieb die anderen über fünfzig Kilometer durch den Schnee zu einem Zugdepot, wo sie in Güterwagons gepfercht und nach Ravensbrück geschickt wurden. Von dort aus mussten sie wieder zu Fuß zu ihren neuen Lagern aufbrechen. Im Fall meiner Mutter war es das KZ Neustadt-Glewe in Mecklenburg. Rund fünfzehntausend Häftlinge kamen bei diesem Todesmarsch ums Leben: Viele starben an Unterkühlung, Krankheit, Auszehrung, andere wurden von den SS-Schergen erschossen, weil sie gestürzt oder hinter den anderen zurückgeblieben waren.

Man kann es wirklich nur als ein Wunder bezeichnen, dass meine zarte Mutter all dies lebend überstand. Von den 25.631 deportierten belgischen Juden überlebten 1244, und sie war eine davon. Mit ihrem eisernen Überlebenswillen trotzte sie dem Grauen, das ihr widerfuhr: eine Ansage an die Zukunft. Als das KZ Neustadt-Glewe ein paar Monate später von den Russen befreit wurde, denen kurz danach die Amerikaner folgten, wog meine Mutter kaum mehr als ihre Knochen.

Sie wurde in das Krankenhaus eines amerikanischen Stützpunkts eingewiesen, wo man wenig Hoffnung hatte, dass sie überleben würde. Entgegen allen Erwartungen kam sie durch. Als ihr Zustand stabil genug war, um nach Hause zurückzukehren, musste sie ein Formular ausfüllen, wie alle Überlebenden, die zurück in ihre Heimat fuhren. Ich habe dieses Formular gefunden. Darauf stehen ihr Name, ihr Geburtsdatum und die Frage, »in welchem Zustand« sie sich nach ihrer dreizehnmonatigen Lagerhaft befände. In ihrer fein säuberlichen Handschrift lautete ihre erstaunliche Antwort: »en très bonne santé« (»bei bester Gesundheit«).

Mein Vater Leon Halfin war ganz anders als meine Mutter. Wo sie streng und distanziert war, war er entspannt und zärtlich. In seinen Augen konnte ich nichts falsch machen, und er liebte mich bedingungslos. Als Kind mochte ich ihn viel mehr als meine fordernde Mutter, obwohl ich sie vielleicht etwas mehr respektierte. Wenn ich mitten in der Nacht auf die Toilette musste, rief ich nach meinem Vater, was ihn zum Lachen brachte. »Warum rufst du nach mir und nicht nach deiner Mutter?«, wollte er wissen. Und ich antwortete: »Weil ich sie nicht stören will.«

Mein Vater schimpfte nie mit mir. Er vergötterte mich, und ich vergötterte ihn. Für mich gab es nichts Schöneres, als auf seinem Schoß zu sitzen, sein Gesicht mit Küsschen zu bedecken und seinen Tee mit Zitrone auszutrinken, den er nach dem Mittagessen nahm. Für meinen Vater war ich das hübscheste kleine Ding auf der Welt, sodass ich mir seiner Liebe und Zuneigung absolut sicher war.

Mein Vater und ich sahen einander sehr ähnlich, und wir waren von der gleichen rastlosen Energie getrieben. Er liebte amerikanische Autos, und als ich neun oder zehn Jahre alt war, nahm er mich hin und wieder zu einer Spritztour in seinem wunderschönen zweifarbigen Chevrolet Impala Cabriolet mit. Dieses himmel- und marineblaue Modell war in den späten Fünfzigern äußerst begehrt. Zu jener Zeit waren Sicherheitsgurte noch nicht üblich, und so kniete ich neben ihm auf dem Beifahrersitz, weil ich glaubte, die Leute würden mich dann für eine Erwachsene halten. Ich wollte immer, immer älter sein, als ich war, nie das kleine Mädchen, sondern eine Frau, eine kultivierte Frau, eine elegante Frau. Ich wollte jemand Wichtiges sein.

Unwissentlich befeuerte mein Vater diesen Wunsch. Wenn er an mein Bett kam, um mir gute Nacht zu wünschen und mich zu küssen, war er zuvor oft von meiner Mutter um Vorsicht gebeten worden. »Gib acht, dass du ihre Gefühle nicht zu sehr aufwühlst«, pflegte sie zu sagen. Mein Vater hielt ihre Warnung für Unsinn. Wie konnte er, ein Mann, die Gefühle eines kleinen Mädchens durcheinanderbringen? Rückblickend muss ich jedoch sagen, dass er genau das tat, auch wenn er selbst es für eine alberne Vorstellung hielt. Mein Vater brachte mich dazu, mich als Frau zu fühlen, sodass die Ermahnung meiner Mutter eigentlich sehr klug gewesen war.

Diese Gefühle waren nicht sexueller Natur. Es war mir einfach nur bewusst, dass er ein Mann war und ich meine Beziehung zu ihm von daher anders empfand als die zu einer Frau. Wie glücklich kann ich mich schätzen, dass der erste Mann in meinem Leben mich einfach völlig unkritisch liebte, vorbehaltlos und ohne mich irgendwie zu bewerten. Ich musste für diese Liebe nichts tun, ich musste ihm nicht gefallen. Für seine Zuneigung war keinerlei Anstrengung erforderlich. Das hatte großen Einfluss auf mein Leben, denn obwohl ich es damals nicht wusste, ist mir heute klar, dass es meine Beziehungen zu Männern sehr viel einfacher gemacht hat. Was ich meinem Vater verdanke und wofür ich ihm immer dankbar sein werde, ist, dass ich mich in der Gesellschaft von Männern immer wohl gefühlt habe. Er hat mir das nötige Selbstvertrauen gegeben.

Diese erste Liebe und Zuneigung prägt bis heute meine Erwartungshaltung, wie Männer für mich empfinden. Ich halte ihre Zuneigung schlicht für selbstverständlich – weder erwarte ich sie, noch buhle ich um sie. Das größte Geschenk, das mir mein Vater gemacht hat, ist, dass ich mich nie nach Liebe verzehrte. Ich hatte von ihm so viel davon bekommen, dass ich eigentlich keine mehr brauchte. Ja, manchmal war es mir sogar zu viel, weil mir die Zurschaustellung seiner Zuneigung in Gegenwart anderer peinlich war.

Mein Vater war ein erfolgreicher Geschäftsmann, der für General Electric Elektronenröhren und Halbleiter vertrieb. Die Geschäfte liefen gut, sodass wir ein sehr angenehmes Leben führten.

Meine Eltern waren ein eindrucksvolles Paar. Mit seinen hohen Wangenknochen und dem verschmitzten Lächeln im Gesicht sah mein Vater sehr gut aus. Meine Mutter war eine elegante Erscheinung und hatte wunderschöne Beine. Zudem kleidete sie sich außergewöhnlich gut und wirkte sehr verführerisch. Zu Hause hatte eindeutig sie das Sagen. Sie war der kluge Kopf der Familie. Sosehr ich meinen Vater auch vergötterte, wenn ich einen Ratschlag brauchte, ging ich zu meiner Mutter.

Sie war keine Hausfrau im herkömmlichen Sinn, nur sonntags, wenn unsere Haushälterin frei hatte, sah ich sie ab und zu in der Küche stehen. Sie konnte ein köstliches Brathähnchen mit knusprigen Kartoffeln zubereiten, und mein Vater kaufte Kuchen zum Nachtisch. Mein liebster petit gâteau war ein Merveilleux, ein Gebäck aus Baiser, Schokolade und geschlagener Sahne. Immerhin lebten wir in Belgien, dem Land, das berühmt ist für seine Schokolade und Pralinen. Hauptsächlich jedoch bestand die Hausarbeit meiner Mutter darin, Anweisungen zu erteilen, das allerdings konnte sie wirklich gut. Unsere Wohnung war sehr schön mit Antiquitäten eingerichtet, die sie sammelte. Ich erinnere mich noch gut daran, wie sie nach einem Empire-Kronleuchter fahndete, den sie sich sehnlichst wünschte und schließlich fand. Nun ziert er mein Geschäft in Mayfair, London.

Nach dem Tod meiner Mutter, mein Vater war bereits sechs Jahre zuvor gestorben, habe ich mich auf die Suche nach den Wurzeln meiner Eltern gemacht. Ich wollte herausfinden, wie sie zu den Menschen wurden, die sie waren, und warum ich so bin, wie ich bin. Meine Nachforschungen führten mich nach Südosteuropa, genauer gesagt in die moldawische Hauptstadt Chișinău, einst unter dem Namen Kischinjow Verwaltungssitz des Gouvernements Bessarabien im Russischen Reich, wo mein Vater 1912 geboren wurde, und ins griechische Thessaloniki, wo meine Mutter 1922 das Licht der Welt erblickte.

Die Familien meiner beiden Eltern waren im Textilgeschäft tätig. Dem Vater meines Vaters, einem wohlhabenden russischen Kaufmann, gehörten einige Textilgeschäfte in Kischinjow. Zu seinen Vorfahren zählten auch etliche Intellektuelle und Künstler – darunter Lewis Milestone, der bei dem mit zwei Oscars prämierten Film Im Westen nichts Neues Regie führte. Der Vater meiner Mutter, Moshe Nahmias, ein sephardischer Jude, zog mit seiner Familie von Thessaloniki nach Brüssel, als meine Mutter sieben Jahre alt war. Dort leitete er das große Kaufhaus La Maison Dorée, das seinem Schwager Simon Haim gehörte. Meine Großtante Line, die Schwester meiner Großmutter mütterlicherseits, war mit dem wohlhabenden Simon Haim verheiratet und hatte ihre Schwester gedrängt, mit der ganzen Familie zu ihr nach Brüssel zu kommen. Obwohl ich das bis dahin nie so gesehen hatte, bin ich also sowohl in Sachen Mode als auch in puncto Einzelhandel von beiden Familien her erblich vorbelastet.

In der Kindheit meiner Mutter habe ich keinerlei Erklärung für ihren unvorstellbaren Überlebenswillen gefunden, der ihr später half, die Zeit in den Konzentrationslagern der Nazis zu überleben. Soweit ich weiß, hatte sie eine unbeschwerte Jugend in Brüssel, ja, sie war als jüngstes der drei Mädchen sogar ziemlich verzogen worden. Die einzige größere Herausforderung, der sie und ihre beiden älteren Schwestern sich nach ihrer Zeit auf einer italienischen Schule in Griechenland stellen mussten, bestand darin, fließend Französisch zu sprechen. Meine Großeltern mütterlicherseits, die als sephardische Juden zu Hause Ladino sprachen, änderten bei ihrer Einreise nach Belgien einfach die Geburtsdaten der Mädchen und machten sie zwei Jahre jünger, damit sie mehr Zeit hatten, Französisch zu lernen, und dadurch in der Schule besser mitkamen. Meine Mutter besuchte das Lycée Dachsbeck, dieselbe Schule, auf die auch ich Jahre später gehen sollte. Und wir hatten sogar dieselben Erzieherinnen im Kindergarten und dieselbe Schuldirektorin, Mademoiselle Gilette. Vor kurzem erst habe ich erfahren, dass Mademoiselle Gilette die Rassengesetze der Nazis während der Besatzung ignorierte und meiner Mutter gestattete, ihr Baccalauréat zu machen. Wahrscheinlich wählte sie deswegen mich aus, die Kerzen auf dem Geburtstagskuchen zum fünfundsiebzigjährigen Schuljubiläum 1952 auszublasen. Ich war die Tochter eine Schülerin, die das Konzentrationslager überlebt hatte.

Mein Vater kam zwei Jahre später als die Familie meiner Mutter nach Brüssel. Im Jahr 1929 war er siebzehn und wollte eigentlich in die Fußstapfen seines Bruders treten und Textilingenieur werden. Doch da ging das Geschäft meines Großvaters in Kischinjow bankrott (was ihn buchstäblich ins Grab brachte), sodass meine Großmutter meinem späteren Vater kein Geld mehr schicken konnte. Er brach sein Studium ab (wobei ich gar nicht sicher weiß, ob er offiziell an einer Hochschule in Belgien eingeschrieben war) und begann zu arbeiten; er nahm jeden Job an, den er kriegen konnte. Er hatte nicht vor, nach Hause zurückzukehren, und genoss seine Freiheit als junger, gut aussehender Mann, auch wenn später sein Leben als Flüchtling nicht immer einfach war.

Es war der Krieg, der meine Eltern zusammenbrachte. Als im Jahr 1940 die deutsche Wehrmacht in Belgien einmarschierte, flohen viele in Richtung Süden – ein Massenaufbruch, der später in Anlehnung an die Bibel »L’Exode« genannt werden sollte. Tausende von Autos verstopften die Straßen, als die Menschen vor der Besatzung die Flucht ergriffen. Mein Vater und sein bester Freund Fima fuhren nach Südfrankreich und quartierten sich vorübergehend in einem kleinen Hotel in Toulouse ein. Sie waren jung und sahen sehr gut aus, und obwohl Krieg herrschte und die Lage ernst war, lachten sie viel und ließen unterwegs kein erotisches Abenteuer aus. Meine Mutter traf mit ihrer Tante Line und ihrem Onkel Simon ebenfalls in Toulouse ein. Allerdings ließen sie sich in einem Cadillac von einem Fahrer kutschieren.

Fima hatte Geld, mein Vater keins. Da er es hasste, von seinem Freund abhängig zu sein, fuhr er jeden Morgen mit dem Fahrrad los, um einen der Jobs zu ergattern, die ausgehängt worden waren. Aber immer wenn er vor Ort ankam, war die Arbeit schon vergeben. »Versuch’s doch mal am Bahnhof«, riet ihm ein sympathischer Beinahe-Arbeitgeber. Dort traf er Jean, mit dem eine Kette von Ereignissen einsetzte, die meinen Vater und meine Mutter zusammenbringen sollten.

»Ich kenne jemanden, der zurück nach Belgien muss und eine sehr große Menge Dollar verkaufen möchte, weil man nach Belgien kein ausländisches Geld mehr einführen darf«, erzählte ihm Jean. »Weißt du irgendjemanden, der Dollar kaufen will? Er hat vierunddreißig französische Francs pro Dollar bezahlt und ist bereit, für dreiunddreißig zu verkaufen.« Da mein Vater gewiss niemanden kannte, der Dollar kaufen wollte, hörte er nur mit halbem Ohr zu. Ein paar Tage später traf er, rein zufällig, einen anderen Mann namens Maurice. Der wiederum hatte einen Freund, der unbedingt Dollar kaufen wollte und bereit war, pro Dollar sechsundsiebzig Francs zu bezahlen.

Mein Vater glaubte nicht richtig gehört zu haben. Hatte er das richtig verstanden? Jean hatte einen Verkäufer für dreiunddreißig und Maurice einen Käufer für sechsundsiebzig Francs. Mit dieser Differenz ließ sich ordentlich Gewinn machen! Das Problem war nur, dass mein Vater nicht die geringste Ahnung hatte, wo er Jean finden konnte. Weder wusste er seinen Nachnamen noch seine Adresse. Also fuhr er auf der Suche nach ihm drei Tage und drei Nächte kreuz und quer mit seinem Fahrrad durch Toulouse. Am vierten Tag ging mein Vater ins Kino. Nach der Vorstellung bemerkte er, dass er seine Zeitung hatte liegen lassen, er ging wieder hinein – wobei ihm Jean direkt in die Arme lief!

Es dauerte Tage, bis das komplizierte Geschäft auf den Weg gebracht und schließlich über die Bühne gegangen war. Denn die Summe, um die es ging, war gewaltig, sodass mein Vater zunächst einmal seine Zuverlässigkeit als Kurier unter Beweis stellen musste. Also lieh er sich Geld von seinem Freund Fima, um eine kleine Test-Transaktion vorzunehmen und so seine Vertrauenswürdigkeit zu beweisen. Nach ein paar Tagen wurde dann der Tausch vollzogen. Über Nacht war mein Vater von einem Habenichts zu einem wohlhabenden jungen Mann geworden. Laut seinen Tagebuchaufzeichnungen hatte er sich bei der Übergabe wegen seines schäbigen Anzugs derart geschämt, dass er sich am Tag danach sofort drei neue Anzüge, sechs Hemden und zwei Paar Schuhe leistete. Doch seine Glückssträhne war noch nicht zu Ende. Denn wie der Zufall so spielte, war Simon, der die Dollar hatte haben wollen, der Onkel meiner Mutter. Und so lernten sich meine Eltern kennen.

Es war keine Liebe auf den ersten Blick. Denn Leon Halfin, neunundzwanzig und damit zehn Jahre älter als meine Mutter, war sehr daran interessiert, seinem Ruf als Frauenheld gerecht zu werden. Lily hingegen war ein jüdisches Mädchen, und eins wusste er genau: Mit jüdischen Mädchen vergnügt man sich nicht, die heiratet man.

Aus Belgien kamen beruhigende Neuigkeiten: Unter deutscher Besatzung zu leben sei nicht so schlimm wie befürchtet. Also kehrten sowohl meine Mutter als auch mein Vater unabhängig voneinander im Oktober 1941 nach Brüssel zurück. Da meine Mutter aufgrund der Rassengesetze nicht studieren durfte, beschloss sie, die Modeschule zu besuchen, das Hutmacherhandwerk zu erlernen und Modistin zu werden. Mein Vater, der nun jede Menge Geld besaß, ging nicht zu der Elektrofirma Tungsram zurück, sondern machte sich als Geschäftsmann in der Elektronikbranche in Brüssel selbständig. Gelegentlich sahen sich meine Eltern bei Treffen mit älteren Verwandten und Freunden der Familie, doch mein Vater behandelte meine Mutter wie ein kleines Mädchen, er neckte sie und kniff sie in die Wangen. Obwohl sie beide einander offensichtlich gern hatten, kamen sie sich nicht näher. Leon wusste nicht, dass meine Mutter heimlich in ihn verliebt war.

Erst im Sommer 1942, als die SS begann, die Juden in Belgien zu verfolgen und zu deportieren, wurde die Lage ernst. Lucie, eine gute Freundin meines Vaters und Exkollegin bei Tungsram, riet ihm, das Land zu verlassen und in die Schweiz zu fliehen. Er besorgte sich im belgischen Untergrund falsche Papiere und nahm für seine geplante Flucht den typisch belgischen Namen Leon Desmedt an. Und er ging nicht allein. Lucie organisierte, dass ihn der neunzehnjährige Christ Gaston Buyne durch Frankreich bis an die Schweizer Grenze begleitete. Überraschenderweise gesellte sich noch eine dritte Person dazu, und zwar ein neunzehnjähriges Mädchen namens Renée, das mein Vater gerade erst kennengelernt hatte. Sie war eine belgische Katholikin, die sich in meinen Vater verliebt hatte und mit ihm von zu Hause durchbrennen wollte. Ihre Mutter war vor kurzem gestorben, und sie mochte die Frau nicht, mit der ihr Vater nun zusammen war. So kam das ungleiche Trio zustande, das am 6. August 1942 aufbrach.

Mit dem Zug gelangten sie nach Nancy, um von dort mit einem anderen Zug nach Belfort weiterzufahren, was sehr gefährlich war. Gaston, der mit echten Papieren unterwegs war, hatte eine Menge von Leons Geld bei sich – Banknoten in den Schulterpolstern, Goldmünzen in seinen Schuhen und Socken, und noch mehr Schweizer Franken in seinem Kulturbeutel. Weil Gaston jüdisch aussah, sehr viel mehr als mein Vater, war er die perfekte Tarnung. Es gab unzählige Kontrollpunkte, an denen die SS willkürliche Stichproben durchführte und den männlichen Passagieren befahl, die Hosen herunterzulassen, um zu sehen, ob sie beschnitten waren. Gaston musste sich dieser Prozedur unterziehen. »Entschuldigen Sie vielmals«, bedauerte daraufhin der SS-Mann und ließ meinen Vater in Ruhe, der direkt neben ihm saß.

Nachts trafen sie in Nancy ein und suchten sich ein Hotel. Der Zug nach Belfort fuhr am nächsten Morgen um 5:15 Uhr. Auf dieser Strecke hatte sie eine weitere Begegnung mit einem jungen SS-Soldaten, der aber sowohl von Gaston wie von Leon verlangte, die Hosen herunterzulassen. Doch Renée rettete die Lage, indem sie den jungen Soldaten verführerisch anlächelte, bis er schließlich zu anderen Passagieren weiterging.

In Belfort wurde es noch gefährlicher. Zahlreiche Juden stiegen im gleichen Hotel ab, doch die gefälschten Papiere retteten meinen Vater. In dieser Nacht führte die SS im Hotel eine Razzia durch und verhaftete alle Juden – bis auf Leon Desmedt. (Im Tagebuch meines Vaters heißt es, dass er in jener Nacht zweimal mit Renée schlief.) Später erfuhren sie, dass alle in der Nacht Verhafteten umgebracht worden waren.

Die Wege des Trios trennten sich am nächsten Morgen, als sie in die Nähe der Schweizer Grenze kamen. Leon und Renée nahmen den Bus ins französische Hérimoncourt, wo er einen ortskundigen Führer anheuerte, der sie über die Wiesen und Berge in die sechs Kilometer entfernte Schweiz bringen sollte. Diese letzte Etappe der Flucht kostete fünfzehnhundert französische Francs – ohne Erfolgsgarantie. Noch ein paar weitere Flüchtlinge gesellten sich um fünf Uhr morgens dazu, unter ihnen eine Frau mit einem Säugling. Sie gab dem Kind eine Schlaftablette, damit es nicht weinte. So machten sie sich zu Fuß auf den Weg über die Alpen zur Grenze. »Lauft, lauft, lauft in diese Richtung«, wies ihnen ihr Führer den Weg und überließ sie ihrem Schicksal. Mein Vater erzählte mir, dass die Kühe mit ihren lauten Glocken für ihr Schicksal entscheidend wurden: Leon und Renée folgten ihrem Klang und erreichten am 8. August 1942 das Schweizer Grenzdorf Damvant.

»Warum haben Sie so viel Geld dabei?«, wollten die Schweizer Grenzbeamten von meinem Vater wissen. Leon erzählte ihnen, dass er ein Industrieller aus Belgien sei, doch die Polizei nahm ihm diese Geschichte nicht ab. »Sie haben gefälschte Papiere bei sich«, sagten sie und beschlagnahmten sein Geld. Aber sie erlaubten ihm die Einreise in die Schweiz. »Sie erhalten es bei Ihrer Ausreise zurück«, erklärten sie.

Mein Vater hatte unglaubliches Glück. Obwohl er unter Aufsicht der Schweizer Behörden stand, nicht frei reisen durfte und sein Geld nur mit großem, langwierigem bürokratischem Aufwand zurückerhielt, verbrachte er dort ein paar sehr schöne Jahre. Kurz nach ihrer Ankunft in der Schweiz verließ ihn Renée und brannte mit einem Polizisten durch. Er fing an, Lily zu vermissen, das lebhafte »kleine« Mädchen, das in Belgien geblieben war.

Inzwischen war die Situation im besetzten Brüssel richtig ernst geworden, und er machte sich große Sorgen um sie. Lily und ihre Eltern hatten ihre Wohnung verlassen und voneinander getrennt unterkommen müssen. Lily verbarg sich in einem Haus der belgischen Widerstandsbewegung, für die sie arbeitete. Meine Tante Juliette gab ihren Sohn, meinen Cousin Salvator, in die Obhut seiner christlichen belgischen Kinderfrau.

Neugierig ging Lily eines Tages zur Wohnung der Familie und entdeckte, dass die SS all ihr Hab und Gut geraubt hatte. Und sie entdeckte noch etwas, das ihr Leben verändern sollte. Im Postkasten fand sie zu ihrer Überraschung einen Brief aus der Schweiz, von Leon, dem Mann, den sie in Toulouse kennengelernt und niemals vergessen hatte. Nachdem sie seine Zeilen wieder und wieder gelesen hatte, antwortete sie ihm. Von da an schrieben sie sich täglich in verschlüsselter Form, denn alle Briefe mussten die Zensur passieren, wie man am breiten blauen Streifen erkennen konnte. Diese Briefe, die mit der Zeit immer vertraulicher und leidenschaftlicher wurden, befinden sich glücklicherweise in meinem Besitz. Meine Eltern schrieben über ihre Liebe und malten sich ihr Wiedersehen nach dem Krieg aus. Dann wollten sie heiraten, sich zusammen ein Leben aufbauen, eine Familie gründen und für immer glücklich sein. Es ging immer um Hoffnung und Liebe.

Doch mit einem Mal kamen keine Briefe von Lily mehr. (Zu diesem Zeitpunkt, erzählte mein Vater, sei der Spiegel in seinem Schlafzimmer, auf dem ein Foto meiner Mutter klebte, heruntergefallen und zerbrochen.)

Er schrieb ihr wieder und wieder und flehte vergebens um Antwort. Am 15. Juli, zwei Monate nach der Verhaftung meiner Mutter, erhielt er einen verschlüsselten Brief von Juliette, der älteren Schwester meiner Mutter.

»Lieber Leon«, lautete ihre Nachricht, »ich habe sehr schlechte Neuigkeiten. Lily ist ins Krankenhaus eingewiesen worden.«

Als meine Mutter im Juni 1945 aus Deutschland zurückkehrte, war mein Vater noch in der Schweiz. Bis er vier Monate später nach Brüssel zurückkam, hatte sie beinahe wieder ihr ursprüngliches Gewicht erreicht. Doch sie war nicht mehr dasselbe naive, schelmische, lebenslustige und leidenschaftliche Mädchen, mit dem er Briefe gewechselt hatte und das er heiraten wollte. Dieses Mädchen gab es nicht mehr. Die »neue« junge Frau hatte Entsetzliches durchgemacht, und ihre Verletzungen sollten nie ganz heilen.

In seinem Tagebuch schreibt mein Vater sehr ehrlich über ihr Wiedersehen. Er gibt zu, dass er das Mädchen, von dem er seit über zwei Jahren getrennt gewesen war, kaum wiedererkannte. Sie war anders, eine Fremde für ihn geworden. Lily spürte seine Beklommenheit und erklärte ihm, er sei nicht verpflichtet, sie zu heiraten. Doch er versicherte ihr, dass er sie noch immer liebe, und verbarg seine Zweifel. Die Hochzeit fand am 29. November 1945 statt.

Der Arzt warnte die beiden: »Sie müssen unter allen Umständen ein paar Jahre warten, bis Lily ein Baby bekommt. Sie ist nicht kräftig genug, um eine Geburt durchzustehen, und das Baby könnte gesundheitlich geschädigt sein.« Sechs Monate später war sie versehentlich mit mir schwanger. Die Warnung des Arztes im Ohr, machten sich meine Mutter und mein Vater Sorgen. Und sie dachten, mit langen Motorradfahrten über holpriges Kopfsteinpflaster würden sie die Schwangerschaft vielleicht beenden können. Doch ohne Erfolg. Schließlich brachte mein Vater eines Vormittags ein paar Tabletten mit nach Hause, um eine Fehlgeburt einzuleiten, aber meine Mutter warf sie aus dem Fenster.

Gesund und kräftig kam ich am 31. 12. 1946, also an Silvester, in Brüssel zur Welt. Ein Wunder. Da meine Mutter einen hohen Preis für dieses Wunder bezahlt hatte, wagte ich es nie, sie mit Fragen zu behelligen, mich zu beklagen oder ihr das Leben schwer zu machen – ich fand, ich hätte kein Recht dazu. Ich war stets ein sehr, sehr braves kleines, schon großes Mädchen und dachte immer, es sei meine Aufgabe, sie zu beschützen. In seinen Tagebüchern räumt mein Vater ein, zunächst enttäuscht gewesen zu sein, dass ich kein Junge war. Doch nach ein paar Tagen hatte er mich voll und ganz akzeptiert und sich erneut in meine Mutter verliebt.