cover.jpg

img1.jpg

 

2

 

20 Millionen Jahre

 

Kurzgeschichten von Michelle Stern, Uwe Anton, Hubert Haensel,

Marc A. Herren und Michael Marcus Thurner.

 

 

 

Pabel-Moewig Verlag KG, Rastatt

Vorwort

 

Mit PERRY RHODAN Band 2800, »Zeitriss« von Michelle Stern, begann ein neuer Handlungsabschnitt der größten Science-Fiction-Serie der Welt. An Bord zweier besonderer Schiffe, die auf ungewöhnliche Art miteinander verbunden sind, starten Perry Rhodan und der Arkonide Atlan eine Mission, die sie in unbekannte Gefilde des Universums führen soll: in die geheimnisvollen Jenzeitigen Lande.

Der Aufbruch gelingt.

Aber nicht so, wie es sich die beiden Freunde gedacht haben. Alles nimmt einen anderen Verlauf, und der Leser wirft in den ersten Romanen des neuen Handlungsabschnitts einen besonderen Blick auf die heimatliche Milchstraße.

All das konnten die Leser im PERRY RHODAN-Kompakt 6 miterleben – und das auf einmalige Weise ergänzt. Nicht nur die ursprünglichen Romane mit den Bandnummern 2800 bis 2805 waren in diesem umfangreichen E-Book enthalten, sondern jeder der fünf beteiligten Autoren hatte eine exklusive Kurzgeschichte beigesteuert. Diese erweiterten das Geschehen der jeweiligen Romane, ermöglichten neue Blickwinkel und brachten unbekannte Details ans Licht.

Wie schon beim ersten PERRY RHODAN-Kompakt zu den Bänden 2700 bis 2703 eröffnete sich so ein erweiterter Blick, eine Art Director‘s Cut. Und weil viele Leser danach fragten, präsentiert dieses E-Book nun – als zweite Ausgabe von PERRY RHODAN-Storys – die fünf exklusiven Kurzgeschichten.

Erfahren Sie, was mit Atlan genau geschah (in der Story von Michelle Stern) ... was der Kommandant der RAS TSCHUBAI lernen muss und wieso es ein Grab in Ogygia gibt (Uwe Anton) ... welchem Schiff Perry Rhodan auf seiner Reise nebenbei begegnet und welches Schicksal dahintersteckt (Hubert Haensel)! Tauchen Sie tiefer ein in den Charakter der einmaligen Posmi Aurelia (Marc A. Herren), und seien Sie willkommen als Zaungast auf Kerout, ehe die Geschehnisse ihren Lauf nehmen (Michael Marcus Thurner).

Sie werden erstaunt sein, was in den Romanen alles nicht erzählt worden ist. Ich zumindest war es, und das, obwohl ich die Geschichte gemeinsam mit meinem Exposékollegen Wim Vandemaan selbst entwickelt habe. Aber die Nebengeschichten, die manchmal das eigentliche Salz in der Suppe sind, sprießen oft ganz von allein, wenn phantasievolle Autoren am Werk sind.

 

Christian Montillon

PERRY RHODAN-Team

Der Verräter

von Michelle Stern

 

»Er war ein Großer gewesen. Sein Sturz war tief. Werde ich fallen, wie er?«

Atlan, Gedanken über Richter Chuv

 

Ich flog in die Synchronie ein. Das Schiff und ich verschmolzen, ohne dass ich vermocht hätte zu sagen, wie genau es geschah. Die ATLANC tauchte in den energetischen Ring von blassblauer Farbe, der behäbig rotierte. Hinter ihm, dort, wo zuvor schwarzes All gewesen war, wartete ein noch intensiveres Wabern, kraftvoll und pulsierend wie ein lebendiger Saphir.

Die Zentrale um mich verschwand, wurde buchstäblich weggebrannt von dem, was vor mir lag und was nur ich sehen konnte.

Perry, Gucky und alle Gefährten – sie lösten sich auf, wurden eins mit der immer heller werdenden Kommandosphäre, gleich brennenden Kerzendochten, deren Flammen sich in diffusem Weiß auflösten.

Ich starrte ins Licht.

Mein erster Reflex war, die Augen zu schließen, doch das durfte ich nicht. Ich war der Pilot. Atlan da Gonozal, ehemaliger Kristallprinz und arkonidischer Imperator, Freund der Menschheit und der Einzige, der in der Lage war, die ATLANC in die Jenzeitigen Lande zu steuern.

Vor mir explodierte die Welt in Helligkeit. Es gab keine Strukturen, keinen Punkt, der dem Blick Halt bieten könnte. Bloß ein ewiges Gleißen und Strahlen, als hätte ich mich in die Korona einer Sonne verirrt. Silberne Funken stieben über mein Gesicht. Wogen hoben und senkten sich, drohten, meinen Verstand zu verschlingen.

Gholdorodyn hat es dir gesagt, erinnerte mich der Extrasinn. Sieh zu, dass die Blitze deinen Geist nicht für immer erleuchten.

Ich war zu überwältigt, um zu antworten. Das lag nicht allein am Licht. Aus der Synchronie kam mir etwas entgegen, das meinen Geist umschmeichelte. Es fühlte sich trügerisch an, wie die Hand einer Mörderin, die mein Gesicht liebkoste.

Dieses Phänomen – die Synchronie ... ich kannte es nicht, hatte keine Ahnung, worauf ich mich einließ. Doch ich war Atlan da Gonozal, der einzige Arkonide, der je hinter den Materiequellen gewesen war. Wer, wenn nicht ich, konnte sich diesem Neuen besser stellen?

»Atlan?«, fragte jemand.

Widerwillig kämpfte ich mich in die Realität der Zentrale zurück. Ich wollte antworten, doch meine Gesichtsmuskeln waren taub, die Zunge schwer. Ein metallischer Geschmack füllte meinen Mund.

»Atlan, ist alles in Ordnung?«

Das war Perrys Stimme. Der Terraner klang besorgt.

»So viel ... Licht«, flüsterte ich mühsam, gefangen in blaugoldenen Kaskaden, die nur für mich einen Reigen tanzten. Sirrendes Weiß und Silber schwangen wie Töne. Mir war, als hörte ich ihre Melodie.

Narr!, schimpfte der Extrasinn. Deine Wahrnehmung trügt dich. Was du in diesem Augenblick zu erkennen meinst, ist im nächsten vergangen. Du kannst die Synchronie nicht mit deinen Sinnen erfassen.

Perry legte eine Hand auf meine Schulter. »Kommst du zurecht?«

Ich blinzelte, versuchte, ihn und die anderen auszumachen. »Ich kann die ATLANC steuern.«

»Wie?«

»Dafür finde ich keine Worte. Noch nicht. Aber ich weiß, was ich tun muss. Sorg dafür, dass mich niemand stört. Ich weiß nicht, wie lange der Durchflug dauern wird ... und ob es überhaupt ein lange gibt. Ich brauche Ruhe. Es reicht, wenn einer oder zwei bei mir sind.«

Ich glaubte, dass Perry nickte. Er war ein Schemen neben anderen.

Ein Satz sprang in mein Bewusstsein, als hätte der Extrasinn ihn mir zugerufen: Die Sonne scheint, es ist dunkel.

Ich fühlte Trauer, fremd und schwer wie eine Bleiplatte.

Was war das?

Der Extrasinn zögerte. Etwas aus der ATLANC. Eine Art Erinnerung. Du solltest versuchen, mehr über das ANC zu erfahren.

Das ANC. Der Teil des Schiffs, der zuvor mit Richter Chuv verbunden gewesen war und sich nun bei mir Halt gesucht hatte. Er schien mehr als eine künstliche Intelligenz zu sein.

Später. Zuerst bringe ich uns Richtung Jenzeitige Lande.

Ich spürte, dass die Aufgabe meine ganze Kraft forderte. Wenn ich unachtsam war, würde sie mich auslaugen wie meine Hilfe für ES auf Wanderer.

Mit einem Schaudern dachte ich daran, wie ich unzählige Bestandteile von ES geheilt hatte, indem ich von ES übermittelte Bewusstseinsinhalte dank meines fotografischen Gedächtnisses auf sie übertragen hatte.

Ich konzentrierte mich ganz auf die Herausforderung, richtete das Schiff aus.

Erst als eine Hand über meinen Unterarm strich, kehrte ich mit meiner Aufmerksamkeit in die Kommandosphäre der ATLANC zurück. Mir war, als wäre ich lange Zeit fortgewesen. Der Stuhl, auf dem ich saß, kam mir fremd vor. Neben ihm ragte eine zweite Sitzfläche in die Hohlkugel der Sphäre. Darauf saß jemand. Nach all der Helligkeit wirkte seine schwarze Haut wie ein Loch in der Wahrnehmung.

»Wer ...«

»Ich bin es«, sagte eine vergnügte Stimme. »Und Gucky ist auch da, weiter unten in der Kugel. Brauchst du Unterstützung?«

»Pey-Ceyan«, fiel es mir wieder ein. Das war die Larin, die ihrem Volk als Lebenslichte diente. Ich hatte ihre psychologischen Fähigkeiten bereits kennen und schätzen gelernt. Von den Laren um Avestry-Pasik an Bord war sie die Einzige, der ich halbwegs vertraute. »Wie lang war ich weg?«

»Keine ganze Stunde. Aber du hast sehr steif dagesessen, wie versteinert. Gucky und Perry haben sich Sorgen gemacht.«

»Es geht mir gut.«

Die Larin hob einen winzigen Gegenstand in ihrer Hand hoch. Sie beugte sich vor und drückte ihn an meine Stuhllehne, wo er haften blieb. Er mutete wie eine Münze aus unbekanntem Metall an. Die Oberfläche war rau, durchzogen von glatten Bahnen, die wie silberne Rinnsale glänzten.

»Was ist das?«, fragte ich.

Sie verzog die gelben Lippen zu einem Lächeln. »Ein Glücksbringer. In Larhatoon nennen wir ihn Daimaan. Er schenkt Stärke und Kraft.«

»Die kann ich brauchen.«

»Dachte ich mir. Kann ich sonst etwas für dich tun?«

»Nein. Außer du hättest einen Kelch guten Rotwein.«

»Gucky bringt dir Wasser. Ich muss los.« Sie rieb sich über die Bauchdecke, unter der gleich zwei Mägen lagen. »Zeit, endlich eine Mahlzeit zu nehmen. Hoffentlich werde ich fündig. Bisher kommen wir nicht an die Lebensmittel heran. Diese Hilfe wäre einer Lebenslichten würdig.«

»Viel Glück.« Ich versank wieder in der anderen Welt. Am Rand nahm ich wahr, dass Gucky mir eine Art Feldflasche gab, aus der ich Wasser in großen Schlucken trank.

»Hast du eine Ahnung, wie weit es noch ist?«, fragte der Mausbiber.

»Willst du quengeln?«

»Würde mir nie einfallen.«

»Ich weiß es nicht. Die Synchronie ist ... es ist schwierig ...«

»Jetzt las dir nicht jede Silbe aus den arkonidischen Nasenlöchern ziehen.«

Funken regneten über mein Gesichtsfeld. Da war Licht, das Gucky verborgen blieb. Die Schleier aus Weiß und Blau fesselten meine Aufmerksamkeit. Als ich mich endlich davon löste, war Gucky verschwunden.

Ein Blitz fuhr über meine Netzhäute. Ich hob den Kopf, suchte nach der Quelle. Irgendwo musste dieses grelle Licht doch ...

Meine Gedanken trübten sich wie klares Wasser, in das jemand Tinte goss.

Pass auf!, rief der Extrasinn. Etwas geschieht! Das ist ein Angriff auf dich!

Unendlich langsam schaute ich mich um, entdeckte Pey-Ceyans Glücksbringer. Winzige Impulse kamen von den silbernen Rinnen, zielten in mein Gesicht.

»Mach das ab!«, rief der Extrasinn. »Du ...« Seine Worte wurden leiser, die innere Stimme verklang.

Ich streckte die Finger aus, wollte den Glücksbringer abreißen. Pey-Ceyan hatte mich betrogen. Meine Verwirrung kam nicht aus der Synchronie, sondern von diesem winzigen Kleinod, das mir Verderben brachte.

Plötzlich meinte ich, vor einer tickenden Bombe zu sitzen. Oder hatte sie schon gezündet?

Ich wartete auf die Bestätigung meines Extrasinns oder seinen Spott über den von Furcht geprägten Gedanken, doch beides blieb aus.

Wo bist du?, rief ich in Gedanken.

Mein Extrasinn schwieg.

Der Zellaktivator in meiner Schulter pulsierte. Er versuchte mir zu helfen – und fand keinen Ansatzpunkt.

Wie ein Spieler auf der Ersatzbank schaute ich zu, während mein Körper Dinge tat, die ich ihm nicht befohlen hatte. Auch einen Teil meines Denkens hatte mir jemand mit unsichtbaren Fingern entrissen.

»ANC?«, fragte ich laut

Stille.

Ein Glänzen lenkte mich ab. Pey-Ceyans Anhänger leuchtete, als hätte ihn der Strahl eines Scheinwerfers getroffen.

Lichtimpulse.

Chuv.

Das Virus, mit dem wir den Richter beeinflusst hatten.

Meine Gedanken jagten. Einer kam zum anderen. Die Schlussfolgerungen entsetzten mich.

Es war eine Falle! Die Laren wollten mich beeinflussen, wie wir Chuv überwältigt hatten, sie ...

Der Satz endete in seiner Mitte, fand kein Ende. Ich bemühte mich verzweifelt, weiterzugehen, der Logik zu folgen. Doch in mir gähnte ein Abgrund.

Stattdessen stieg ein Bild in mir auf, gleich einer Erinnerung, das mehr und mehr zur Gegenwart wurde und an Substanz gewann.

Vor mir stand Pey-Ceyan. Ihr Gesicht hatte den fürsorglichen Ausdruck, den ich so gut kannte. Sie roch scharf, nach Knoblauch. Der Geruch war mir unangenehm.

Zu meiner Überraschung trug sie ein arkonidisches Prunkkleid aus roten Stoffen.

Ich bewegte langsam den Kopf, erfasste die winzige aber protzig gestaltete Zentrale, die ganz aus Adamant zu bestehen schien. »Wo sind wir?«

»Auf deiner Jacht. Du hast mich eingeladen, schon vergessen?«

»Ich vergesse nie etwas.«

»So stolz?« Pey-Ceyan trat näher, legte die Finger sacht unter mein Kinn. »Ich dachte, du wärst anders als deine Artgenossen.«

»Das bin ich. Ebenso wie ich ein typischer Arkonide bin. Weißt man denn in Larhatoon nicht, dass von allem, was gesagt werden kann, auch das Gegenteil wahr ist?«

Sie lachte. »Flieg mich, mein Admiral. Sei mein Has'athor und bring mich an mein Ziel. Alles andere ist unwichtig.«

Ich spürte, dass ich es nicht durfte. Ein Teil von mir begriff, dass ich eine Halluzination hatte. Dass sich der eigene Extrasinn gegen mich verschworen hatte, um die Gestalt Pey-Ceyans anzunehmen und mich im Auftrag einer fremden Macht zu manipulieren.

»Nein. Wenn du an ein neues Ziel willst, musst du es ohne mich erreichen.«

»Du bist der Pilot. Flieg deine Jacht. Sie hat einen schönen Namen, weißt du das?«

»Sie heißt VERRÄTER.«

»Wundervoll, oder?«

Ich griff nach der Waffe an meiner Hüfte, zog sie und wollte sie vor Pey-Ceyans Gesicht heben. Meine Hände zitterten. Ich kam auf die Höhe meines Unterbauchs, dort verharrte ich angestrengt. Meine Muskeln streikten.

Pey-Ceyan zog eine Augenbraue in die Höhe. »Warum so kämpferisch? Nimm dir ein Beispiel an Richter Chuv. Der Atope hat es gelassen hingenommen.«

»Du lügst. Chuv kämpfte bis zum Tod. Ich spüre ihn in der Erinnerung des Schiffs.«

»Chuv geht es gut. Vertrau mir.«

Ich hob den Strahler ein weiteres Stück. Schmerz pulsierte in meinen Händen und Unterarmen. Die Finger verkrampften, meine Nägel traten weiß hervor.

Pey-Ceyan kam näher, schob die Waffe zur Seite und küsste mich. Dennoch hielt ich den Strahler fest. Ich musste sie erschießen. Sie war meine Feindin.

Ihre Lippen lösten sich von meinen. »Du bist hartnäckig, weißt du das?«

»Und du bist ein Virus.«

»Mag sein. Bald schon, wirst du das hier vergessen haben. Mein Fieber wird die Erinnerung wegbrennen. Warum quälst du dich? Lass mich arbeiten. Deinen Körper nach meinem Willen formen. Tu, was du tun musst. Pilotiere das Schiff. Ich gebe dir das Ziel vor und die Zeit. Den Kurs findest du von allein.«

Ich wollte sie erschießen. Weshalb reden? Doch meine Hand gehorchte mir nicht mehr. Mattigkeit kam über mich. Der kristalline Innenraum der Jacht erschien mir wie ein Gefängnis, aus dem ich nie wieder herauskommen würde.