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ISBN 978-3-8270-7848-3
März 2016
Deutschsprachige Ausgabe:
© 2016 Berlin Verlag in der Piper Verlag GmbH, München/Berlin
Covergestaltung: ZERO Werbeagentur, München
Covermotiv: © Finepic, München
Datenkonvertierung: psb, Berlin

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Die so angenehm bewohnbare Bundesrepublik, breit aufgestellt am Alpenrand, satt und zufrieden in einem sanften Bogen nach Westen schwingend, im Norden verschlankt und etwas lustlos in Nord- und Ostsee ausfransend. Links davon, darunter und darüber bei den Deutschen beliebte Urlaubsländer und rechts davon: drüben. Die Zone. Und inmitten dieser nach Osten offenen, unbeschriebenen grauen und beängstigend großen Fläche ein Fleck, klein, überflüssig und unwichtig wie ein Fliegenschiss: Westberlin. Das sah man auf der Karte hinter den Tagesschau-Sprechern. Ein Bild, das sich als Zustand über Jahrzehnte in westdeutsche Gehirne gebrannt hatte.

Dann im November ’89 Historisches, darüber war die Welt sich einig, und besonders in Berlin war man stolz, denn endlich war man wieder da, wo man sich immer gesehen hatte: mittendrin.

Karten und Atlanten wurden korrigiert und etwas widerstrebend auch die dazugehörigen und lieb gewonnenen Weltbilder, getragen von einer ungewohnten Euphorie des Aufbruchs und der Aussicht auf die Möglichkeit der anderen Seite. Viel wurde versprochen. Nichts blieb unberührt und niemand verschont.

KUMPELNEST 2000 – ABENDVERANSTALTUNG

»Das größte Problem im Osten ist Ersatzteilknappheit. Weiß ich aus erster Hand. Schon mit meinem alten Herrn beim Sozialistenkongress in Moskau war das so. In den Siebzigern. Überall diese Pappkisten, dazwischen die Wolgas und Moskwitschs der Bonzen. Aber …«, Spax machte eine kurze Atempause, »keine Antennen! Rücklichter ohne Gläser, Lampen sowieso nicht, keine Wischerblätter, nicht mal Tankdeckel. Und hier kommen wir ins Spiel.«

Sebastian Spaczkowski, von allen nur Spax genannt, war Weddinger, Afrikanisches Viertel, und bekannt für groß angelegte Ideen, die in der Regel im direkten Kontakt mit der Außenwelt schnell abbremsten und sich im Alltag verloren. Tom nahm die Sache daher nicht ganz ernst.

»Du willst nach Moskau?«

»Genau.«

»Mit dem Auto?«

»Yup.«

»Du spinnst doch.«

Tom bestellte erst mal ein weiteres Bier. Nia, die gehörlose Schönheit hinter der Bar, registrierte sein Handzeichen sofort und stellte ihm eine Flasche hin. Sie lächelte ihn an. Er nahm die Flasche, überrascht von dieser raren Aufmerksamkeit.

»Außerdem hast du keinen Wagen und ich auch nicht.«

Spax’ Zukunftspläne hatten immer mindestens einen Haken. Für Tom war das Thema erledigt. Er wandte sich zur Tanzfläche.

Im Kumpelnest war es auf eine schöne Art ruhiger als in anderen Kneipen, obwohl die Musik, This flight tonight, in diesem Moment sehr laut aus den Boxen kam. Vor allem die Bässe waren voll aufgedreht. So konnte man die Musik besser spüren. Die Bar wurde von Gehörlosen betrieben, und da viele Gäste ebenfalls gehörlos waren, fehlte der sonst oft penetrante Pegel des Geredes. Blicken und Gesten, Beobachten und Augenkontakt kam hier naturgemäß eine andere Bedeutung zu. Nias Aufmerksamkeit brachte Tom durcheinander. In Berliner Kneipen wurde man nicht angelächelt, jedenfalls nicht grundlos. Und im Kumpelnest schon gar nicht.

Seine letzte Affäre lag schon einige Monate zurück. Er hatte die Biologin an der Nachtbushaltestelle kennengelernt, auf dem Nachhauseweg von einer Party, auf der sie einander nicht weiter aufgefallen waren. Der Nachtbus, ein perfekter Moment, dem Abend noch eine gute Wendung zu geben. Eine sanfte Stimmung lag in der Luft, gelöst vom Tanzen und Trinken. Wie auf einer Fähre glitten sie durch die Dunkelheit, vorbei an den Lichtern der Stadt, einem gemeinsamen Ziel entgegen, dem Schlaf. Gleichgesinnte in müder Eintracht, erschöpft von der Nacht und dem, was die Stadt sie hatte erleben lassen. Viel war passiert, noch mehr schien möglich. Zufällige Blicke oder Berührungen reichten für eine letzte Entscheidung. Die Biologin war mit ihm mitgekommen. Nur ihre Unterwäsche brachte ihn kurz aus der Fassung. Ein Sport-BH und ein ebensolcher Slip in Grau. Nicht Schwarz, nicht Weiß, sondern Grau. Noch eigenartiger das Gefühl, wenn er ihr über den Rücken strich. Eine ganz leichte Rauheit wie von allerfeinstem Schleifpapier, die seine Fingerspitzen elektrisierte. Er bildete sich ein, kleine Lichtblitze zu sehen, zumindest konnte er sie fühlen. Das gefiel ihm. Er konnte nicht damit aufhören, seine Hände über ihren Rücken gleiten zu lassen. Das gefiel ihr, und als sie ging, fragte sie nach seiner Nummer.

Zu ihrem nächsten Treffen, nüchtern und bei Tageslicht, kam sie in aufgekratzter Stimmung und hatte eine Freundin untergehakt. Unter einem kurzen Rock trug sie grün geringelte Strumpfhosen. Die graue Unterwäsche hätte ihm eine Warnung sein sollen. Er nahm sich vor, alles so schnell wie möglich abzublasen und zu gehen, und es folgten Minuten desperaten Bemühens, miteinander auszukommen. Doch ganz unvermittelt schickte sie die Freundin weg, und eigentlich fand er sie doch süß, gerade weil sie Unterstützung benötigt hatte für ihr erstes offizielles Treffen, obwohl sie schon eine Nacht miteinander verbracht hatten.

»Kannst du dich noch erinnern, warum die Biologin immer nur Biologin hieß?«, meinte er zu Spax.

»Wegen der Sackratten?«

»Du Arsch!« Er schob seinen Freund vom Barhocker.

Spax fing sich lachend. Die Bierflasche in der Hand setzte er seine Bewegung fort und tänzelte mit kleinen Schritten in Richtung der vier Quadratmeter großen Stahlplatte, die die Tanzfläche darstellte. Beide Arme von sich gestreckt, drehte er sich im Kreis, plötzlich glücklich, genau den Moment getroffen zu haben, in dem alles zusammenkam, wieder mal: ein Freund, ein Spruch, eine Erinnerung, eine Idee, ein Lied. Und lautlos sang er die letzten Zeilen mit:

Up go the flaps, down go the wheels/Hope you got your heat turned on baby/Hope they’ve finally fixed your automobile/Hope it’s better when we meet again, babe.[1]

Spax hatte eine schwere Woche hinter sich. Jeden einzelnen Tag hatte er an einem Filmset zugebracht, zwölf, manchmal vierzehn Stunden in einem eiskalten Gerichtssaal, als Statist. Es ging, so viel hatte er mitbekommen, denn Statisten gab man natürlich kein Drehbuch in die Hand, um einen Vatermord. Zuerst war es ihm wie ein kalt berechnetes Verbrechen aus Heimtücke erschienen, aber nach und nach schälte sich bruchstückhaft ein gequälter und verletzter Charakter heraus. Dass die Einstellungen dabei mehrmals wiederholt wurden, einzelne Sätze wie »Wieso, sagen Sie, konnten Sie mit niemandem darüber sprechen?« bis zu achtmal hintereinander, machte die Angelegenheit für Spax nur umso eindrücklicher. Eine Woche hatte er auf der Besucherbank hinter dem Angeklagten gesessen, den Nacken des jungen Schauspielers betrachtet, leicht vorgebeugt, schutzlos den Blicken und Urteilen imaginärer Zuschauer ausgeliefert. Irgendetwas berührte ihn an der Figur, hier war jemand aus einem gleichförmigen Leben zu einer spontanen und extremen Entscheidung gekommen. Und auch wenn der ganze Fall nur von einem Drehbuchautor erdacht war und in der Dramatik nicht vergleichbar, spürte er eine seltsame Parallelität zu seinem Leben. Es musste etwas passieren. Er musste etwas tun. Er war dran.

Er bemerkte, wie die Maskenbildnerinnen dem Darsteller zwischen den Einstellungen immer wieder über die Haare strichen. Das war Teil ihrer Arbeit, wirkte auf Spax hier im Gerichtssaal aber wie eine Geste des Trostes und der Zuneigung. Er freute sich darüber. Der Schauspieler, einer dieser aufstrebenden Jungstars, wischte die Hände jedoch immer zur Seite wie lästige Fliegen. Als fühlte er sich in seiner Konzentration gestört. Er war ein stadtbekanntes Arschloch.

Statist war ein harter Job. Man füllte ein Bild, man belebte eine Szene, man war Teil der Dekoration, mehr nicht. Und die Hauptaufgabe bestand darin, nicht aus dem Rahmen zu fallen. Die meiste Zeit wartete man, dass man drankam. Sehr oft kam man nicht dran, und man hatte wieder einen ganzen Tag nutzlos in einem improvisierten Aufenthaltsraum verbracht und zu viel aufgewärmten, bitteren Kaffee getrunken. Man verließ solche Orte nach zwölf Stunden mit fünfundsechzig Mark in der Tasche und einer unbestimmten, brennenden Verhärtung in der Region zwischen Magen, Nieren und Prostata.

Fünfzehn Jahre Fun in der großen Stadt machten sich langsam bemerkbar. Mit fast dreißig meinte Spax das herannahende Alter zu spüren und ein diffuses Gefühl, seit dem vierzehnten Geburtstag keinen Schritt weitergekommen zu sein. Mein Leben ist ein Debakel, war sein Lieblingskommentar. Das war ebenso falsch wie wahr, vor allem aber klang es kokett. Passend dazu hatte ihn seine Freundin rausgeschmissen, erst vor ein paar Tagen, und so wohnte er wieder in seiner Bude, die er eigentlich an Rolf, den Ostler, untervermietet hatte. Die Wohnung war verwüstet, zugemüllt und stank, eine einzige Katastrophe, er erkannte sie kaum wieder. Rolf war verschwunden, ohne die letzte Miete zu zahlen, aber beim Aufräumen fand Spax etwas, das ihn auf diese waghalsige Idee gebracht hatte.

»Ich hab eine Woche sauber gemacht, in der Wohnung hat es ausgesehen wie bei einem Messi, bloß alles Zeug nagelneu. Zumindest das, was noch da war, den Rest hat Rolf verhökert. Autoradios zum Beispiel. Nur die ganz feinen Teile, Blaupunkt Bremen, Hildesheim und Osnabrück mit Digitalanzeige, CD-Wechsler …«

»Ich komm aus Osnabrück«, schob Tom ein. Während die meisten Ostberliner echt waren, kamen die meisten Westberliner irgendwoher aus den trostlosen mittelgroßen Städten der Bundesrepublik wie Bielefeld, Hildesheim oder eben Osnabrück.

»… alle leer, wie gesagt, Kartons von Videorekordern, Kameras und so weiter. Nichts mehr da, nur noch ein riesiger Haufen Pappe, Plastik und Styropor, dazu Pizzareste, Coladosen, auf dem Herd ein angebranntes Chili con Carne, grün vom Schimmel, und im Bad, in der Dusche …«

»Bestimmt alles geklaut. Wahrscheinlich ist Rolf im Knast.«

»Möglich, obwohl er die Sachen nicht geklaut hat. Nur mitgehen lassen.«

»Wo ist der Unterschied?«

»Der Unterschied«, erklärte Spax, dessen Sinn für Gerechtigkeit einer langen Arbeiterfamilientradition aus dem roten Wedding entstammte, »ist, dass wenn dir fristlos gekündigt wird, weil irgendein Finanzhai das letzte Geld aus deiner Firma rausgequetscht hat und die Firma liquidiert wird, und du als Entschädigung was mitnimmst, was …«

Tom hob abwehrend die Hand.

»Geklaut ist geklaut, und Rolf sitzt entweder im Knast oder bei seinen Stasikumpels in einer brandenburgischen FKK-Schrebergartenanlage. Kannst froh sein, dass er weg ist.«

Prompt bekam er noch ein Bier hingestellt, von hinter dem Tresen war sein Fingerzeig als Order verstanden worden. Und noch einmal sah Nia ihm direkt in die Augen, ehe sie sich wieder anderen Gästen zuwandte.

»Und dann nehme ich mir die wirklich letzte Ecke vor, du weißt schon, die Nische am Eingang, meine Abstellkammer, in der es aussieht wie auf einem Recyclinghof. Ich denk noch, am besten alles anzünden, da entdecke ich auf einmal diese kleinen Kartons, ein ganzer Stapel, lang und schmal, verschweißt und mit Gewebeband verschlossen. Originalverpackt. Verstehst du? Originalverpackt.«

Und um Tom die ganze Tragweite seines Fundes zu vermitteln, schüttelte er ihn an den Schultern und riss dann beide Hände hoch, was dazu führte, dass sie sofort noch zwei frische Biere vor sich stehen hatten. »Bingo, Volltreffer, Strike.«

Was Tom bei seinem Freund wahrnahm, die übertrieben aufgerissenen Augen, diese exaltierte Fröhlichkeit und das albern juvenile Vokabular, erinnerte ihn an Szenen aus TV-Vorabendserien, die vor Hintergründen aus bunt gestrichenen Spanplatten kleine Leben mit großer Geste nachspielten. Als Tonassistent verbrachte Tom in genau diesen Kulissen zu viel Zeit und sah und hörte Trostloses dieser Art beinahe jeden Tag.

Er dachte immer noch an die Biologin. Nach nur wenigen Nächten mit ihr hatte er an zentraler Stelle einen unbekannten, beunruhigenden Juckreiz verspürt. Erst der Besuch bei einem Arzt für Haut- und Geschlechtskrankheiten brachte Klarheit, und noch peinlicher war der Moment, als die Apothekerin den Namen des rezeptpflichtigen Präparats durch den Laden rief und alle, Kunden wie Angestellte, wussten, was mit Tom los war. Zwei Tage rieb er sich mit der milchigen Flüssigkeit ein, die so scharf roch, dass er sich nicht mehr aus der Wohnung traute, dann rief er die Biologin an. Er sah sich nur als Empfänger der kleinen Tiere, außer mit ihr hatte er keine Intimkontakte gepflegt. Doch bevor er zu Wort kam, teilte sie ihm ansatzlos mit, dass ihr Freund kürzlich von einem Schwerpunktpraktikum Müllwirtschaft aus Ägypten zurückgekommen und ihre Affäre damit zu Ende sei. Eine Zeit lang wäre sie, um die Gefühle zu sortieren, zweigleisig gefahren, erklärte sie. Sie formulierte knapp, präzise und sehr deutlich. Ganz klar war Tom nicht, wie er hier noch die Kurve zum Jucken kriegen sollte, dazu hatte die Eröffnung ihn zu sehr schockiert. Aber wenigstens wusste er jetzt, aus welchem Erdteil die Tiere stammten. Er hatte die Biologin ganz gern. Er wollte etwas sagen, merkte aber, dass er ihren Namen vergessen hatte. Hatte er ihn je gewusst? In dieser kurzen Pause legte sie auf. Er wunderte sich noch lange, ob er der Einzige war, der etwas gespürt hatte.

Tom schüttelte den Kopf. Langsam wurde ihm schwindelig von dem Bier, denn er trank viel zu schnell. Und von der hyperaktiven Energie seines Kumpels. Und auch von Nias Blicken.

»Wie willst du denn in Moskau über tausendzweihundert Scheibenwischerblätter verkaufen?«

Genau die nämlich hatte Rolf Spax in den vielen langen, schmalen Kartons hinterlassen. Spax blieb die Antwort schuldig, das wusste er auch noch nicht. Als Zeichen seiner Ratlosigkeit hob er nur entschuldigend beide Arme: Und zwei weitere Biere standen vor ihnen. Dieser wortlose Service im Kumpelnest 2000 gehörte zu den wenigen Dingen, auf die man sich wirklich verlassen konnte, darauf stießen sie an. Spax ging wieder tanzen. Er fühlte sich immer besser in diesem Frühjahr 1990, das lag an seiner neuen Idee und an den alkoholischen Getränken natürlich.

In seiner mittlerweile wieder aufgeräumten Wohnung, die, abgesehen von einer stetig wachsenden Plattensammlung, wie ein Sinnbild für Spax’ Leben seit mehr als zehn Jahren unverändert geblieben war, stand nun ein großer Stapel Scheibenwischerblätter in Kartons herum. Ein quaderförmiger Fremdkörper, der wie der Monolith in 2001 etwas Zeichenhaftes hatte und in dem er in seinem aussichtslos festgefahrenen Leben eine Botschaft zu verstehen hoffte, im romanhaften Wunsch nach einem glücklichen Zufall, einer wundersamen Wendung, einer Überraschung, die das Schicksal für ihn bereithielt.

Nacht für Nacht, erschöpft nach den langen Drehtagen im Gerichtssaal, hatte er sich ein Bier nach dem anderen aufgemacht und abwechselnd auf den Stapel unnützer Plastikdinger gestarrt und in den kleinen orangefarbenen Röhrenfernseher, der schon in der Wohnung gewesen war, als er sie von einem entfernten Bekannten übernommen hatte. Auf allen Kanälen war der Osten offen: Perestroika, Glasnost, Tauwetter, Aufbruch und Hoffnung, und plötzlich erkannte er die Analogie zu Kubricks Meisterwerk, das ihn in der Klarheit seiner Aussage immer berührt hatte. Endlich wusste er, was zu tun war. Wollte er weiterkommen, musste er losfahren. Die Wischerblätter schickten ihn auf eine Reise. Es gab eine Aussicht, und je länger er darüber nachdachte, desto besser gefiel ihm das. Es würde was passieren, und das war immer gut. Tom würde schon mitziehen, das wusste er. Sein Freund musste in der Regel zu seinem Glück gezwungen werden.

Plötzlich lag eine Hand auf Toms Arm, Nia stand neben ihm, im Mantel. Sie blickte ihm direkt in die Augen. Sie sah ihn so an, wie Frauen einen ansehen, wenn man mitkommen soll. Er stand auf und ging zu seinem Freund, der selbstvergessen auf der Stahlplatte herumtanzte, klopfte ihm auf die Schulter und machte ein Handzeichen zum Abschied, das Spax mit einem Lächeln und einem Nicken beantwortete. Als er Nia bemerkte, die an der Tür wartete und zu ihnen hinsah, breitete er die Arme aus und fiel Tom um den Hals. Manchmal kam wirklich alles zusammen. Er freute sich für seinen Freund, für sich, für alle. Heute überwältigte ihn das Glück. Tom musste auch lachen. Spax war dicht.

Die Musik aus dem Kumpelnest war in Nias Wohnung zwei Etagen darüber nur noch gedämpft zu hören. Dort war es so dunkel, dass Tom, selbst als sich seine Augen daran gewöhnt hatten, kaum ein Detail erkennen konnte. Noch im Flur zog sie ihn an sich und küsste ihn.

Später lag sie nackt auf ihm, und während sie sich küssten, hörte er ganz leise ihre Stimme. Laute, so rund und zart und sanft und von sehr weit her, wie sie wohl ein Ungeborenes im Bauch der Mutter hört.

INTOURIST, ZOO-NÄHE – WEGE, ZIELE

»Mit der Schüssel willst du zweitausend Kilometer in den Osten fahren?«

»Aber sicher.«

Spax lehnte an einem Datsun Bluebird, Baujahr 1980. Der graue Anstrich sah nach solider Grundierung aus, aber nicht wie Autolack. Die vordere Stoßstange und der linke Kotflügel wirkten irgendwie heller und waren sicherlich ausgetauscht worden.

»Wo hast du den Wagen her?«

»Gekauft.«

»Gekauft?«

»Ja, was denn sonst. Meinst du, mir leiht einer sein Auto für eine Moskau-Reise?«

Tom ging einmal um den Wagen herum und trat gegen die Reifen. Er verstand nichts von Kraftfahrzeugen, aber er wusste, dass man das so machte.

»Keine Sorge, mit dem ist alles in Ordnung.« Tom war sich nicht sicher, ob er Spax glauben sollte, der Spruch klang zu sehr nach Gebrauchtwagenhändler. Und das waren alle Verbrecher, bekanntermaßen.

»Die Mauer ist noch kein Dreivierteljahr offen, wieso sollte es plötzlich so einfach sein, mit dem Auto bis nach Sibirien durchzufahren?« So schnell ließ sich Tom nicht überzeugen.

»Das Alte ist weg, was Neues gibt’s noch nicht. Limbo! Unsere Chance.«

»Aber niemand fährt da hin! Alle wollen nur raus, in den Westen oder in den Süden.«

»Wir wollen ja auch keinen Urlaub machen. Wir erschließen einen Markt. Und jetzt komm, bringen wir’s hinter uns.«

Sie gingen die Lietzenburger Straße nach Osten auf die Joachimsthaler zu. Die Bars hier, eine Straße parallel zum Ku’damm, hießen Schwarze Katze, Venus und Chez Cherié. Es gab sozialen Wohnungsbau mit geschwungenen Betonbalkonen, die wie umgedrehte Orangenhälften aussahen und vor allem gebautes Architektenego darstellten. Gegenüber befand sich ein erbärmlich heruntergekommener Biergarten mit einem Miniaturriesenrad, in dem Tom noch nie einen Fahrgast gesehen hatte. Ein Nachkriegsgroßstadtgemenge misslungener Versuche. Bessere Zeiten hatte diese Straße weder in der Vergangenheit erlebt, noch waren sie für die Zukunft vorgesehen. Jetzt, am späten Vormittag, lag die ganze Gegend verwaist vor ihnen.

Sie bogen um die Ecke in die Joachimsthaler Straße und betraten das Reisebüro. In den letzten Tagen waren sie so oft hier gewesen, dass der große leere Raum mit dem makellosen karmesinroten Teppich und den demonstrativ angebrachten Überwachungskameras seine einschüchternde Imposanz verloren hatte. Die Damen am Schalter, exakte Nachbildungen russischer Agentinnen aus den Sechzigerjahre-James-Bond-Filmen, hatten ihre Papiere da. Sie bekamen ihre Pässe wieder, zusammen mit einem Touristenvisum für vierzehn Tage, der vorgegebenen Route, den Hotelbuchungen mit den einzuhaltenden Ankunftszeiten und sogar einer sehr kurzen Auflistung der Tankstellen entlang der Strecke. Sie warteten weiter an verschiedenen Schaltern, entrichteten diverse Gebühren und erhielten dafür kleine, hektografierte Belege in russischer, englischer und deutscher Sprache. Das Ganze dauerte eine Ewigkeit, obwohl sie die einzigen Kunden im Raum waren. Tom betrachtete die violetten kyrillischen Lettern. Der scharfe Geruch des Matrizenspiritus weckte Erinnerungen an die Schulzeit. Er hielt das Blatt an die Nase, schloss die Augen und wollte für einen kurzen Moment verschwinden.