Rebecca C. Schnyder

Alles ist besser
in der Nacht

Roman

DÖRLEMANN

Der Verlag dankt der Stadt St. Gallen und der Kulturförderung des Kantons St. Gallen für ihre Unterstützung.

eBook-Ausgabe 2017
Alle Rechte vorbehalten
© 2016 Dörlemann Verlag AG, Zürich
Umschlaggestaltung: Mike Bierwolf
Satz und eBook-Umsetzung: Dörlemann Satz, Lemförde
ISBN 978-3-03820-928-7
www.doerlemann.com

1

Draußen zündete ich mir eine Zigarette an, blies den Rauch mit in den Nacken gelegtem Kopf in die Luft. Die Sonne, das Arschloch, stand am Himmel, und ich bedeckte meine Augen mit meiner Linken. Zwischen meinen Fingern hindurch sah ich einen Menschen auf einem Fahrrad näher kommen. Er steuerte auf das Wohnhaus zu, vor dem ich stand. Der junge Mann hielt neben der Haustür, stellte sein Rad an die Wand und schloss es ab. Als er seinen vorgebeugten Oberkörper wieder aufrichtete, betrachtete er mich mit einem Seitenblick aus Hundeaugen. Er grinste. Ich blies Zigarettenrauch in seine Richtung.

»Na, hast du deinen Schlüssel vergessen?«, fragte er mich lächelnd.

Ich schwieg, zog an meiner Zigarette. Mitten in den neuen Schwall Rauch fragte er wieder:

»Oder wartest du auf jemanden?« Noch immer lächelte er.

Ein Hund mit Scheißschuhen und einem Zauberlächeln. Könnte schlimmer sein.

»Ich bin eine der Bekloppten.«

»Äh, was?!«, fragte er mich und sein Lächeln wurde zu einem schiefen Grinsen. Er verlagerte sein Gewicht vom rechten auf den linken Fuß. Ich stellte mir vor, wie es wäre, mit ihm Sex zu haben.

»Du wohnst doch in diesem Haus, ja?!«

Er nickte.

»Dann kennst du Doktor Klein, ja?!«

Er nickte wiederum. Ich grinste ihn an und tippte mir an den Kopf.

»Bekloppt.«

Er stand wieder auf dem anderen Fuß. Es war einen Augenblick still und nur die Sonne war immer noch ein Arschloch. Nach dieser Sekunde wurde sein Grinsen wieder ein Lächeln.

»Wie heißt du?«

Ich blickte ihn einen Moment durchdringend an. Schweigend ließ ich meine halb gerauchte Zigarette zu Boden fallen, zerdrückte sie mit meinem Fuß und nickte ihm zu. Dann wandte ich mich ab und ging.

Ich saß im Ellas, starrte ein Loch in die Luft. Ich hatte mich lange aktiv gegen das Rauchverbot in den Lokalen dieser Stadt gewehrt, was zumeist in Hausverbot resultierte. Nicht aber im Ellas. Rauchverbot ja, Hausverbot unmöglich. So spielte ich mit einer kalten Zigarette, wartete auf meinen Milchkaffee extrazuckergroß. Kaffee à la moi.

Erst wollte ich in gar keine Cafés mehr gehen, ein stiller Protest in meiner Egoisten-Kleinwelt. Doch wo sollte ich hin, wo meine Tage verbringen. Das Ellas ist mein Babylon, mein Nirwana. So besetzte ich weiterhin Tag für Tag den gleichen Tisch und Stuhl. An diesem Platz hatte kein anderer zu sitzen außer mir.

»Wie beschissen ist es eigentlich, ein Café nach sich selbst zu benennen«, sagte ich zu Tom, der meinen Milchkaffee vor mich hinstellte. Er hatte Besseres zu tun, als auf meine Provokation einzugehen, und schüttelte den Kopf mit einem Seufzen. Er war Ellas Liebhaber, Bettfreund, Fickpartner. In sie verliebt, klar, sie aber ließ ihn hängen. Herztechnisch. Es ging mich eigentlich nichts an. Doch ich mag keine Veränderungen, und Tom würde mir nur so lange meinen Kaffee servieren, wie er mit Ella mehrmals die Woche ins Bett gehen durfte. Oder wenigstens am Wochenende. Aber sonst, was ging mich das an.

Nicht schon wieder, dachte ich, als Pierre das Café betrat. Das Einzige, was ich am Ellas verabscheute, war das altmodische Klingeln der Eingangstür, das mich aus jener Welt riss, in die ich mich ohne Heimlichkeiten verflüchtige. Schwerfällig ließ sich Pierre in den Stuhl vis-à-vis fallen und kratzte sich im Schritt. Dann schüttelte er den Kopf.

»Billy, Billy, Billy.« Dabei zog er eine Schnute wie ein kleines Kind, dem sein Geburtstagsgeschenk nicht gefällt. Ich war sein Geschenk. Und ich gefiel ihm ganz und gar nicht.

»So mein Name«, gab ich zurück, streckte ihm die Zunge raus.

»Was hast du in deiner Tasche, hm?!«, fragte er mich.

»Deine Mutter«, gab ich zurück.

»Hast du was für mich? Eine Daten-CD? Einen Stick? Oder wenigstens ein paar Seiten Papier?«

Jetzt zog ich eine Schnute. Nach mir die Sintflut.

»Dilettant.«

Aber Pierre lachte. Mich. Aus.

»Mädchen, Mädchen. Ich brauch was Neues.«

Ich tat, als bliese ich Rauch aus.

»Krise«, zuckte ich mit der Achsel.

Ich mag Pierre. Eigentlich. Aber sein ewiges Nachfragen.

Er lehnte sich eindringlich zu mir vor.

»Billy, gib mir was, ich kann die nicht noch viel länger hinhalten.«

»Das ist nicht mein Problem«, ließ ich ihn wissen.

»Doch, das ist es allerdings. Außerdem, du siehst richtig schlecht aus.«

Na und? Ich mochte meine kurzen Haare, die ich mir unter dem Einfluss von viel Gin mit wenig Tonic selbst geschnitten hatte. Rockstar-Hair.

»Ich sage doch, ich hab eine Krise«, wiederholte ich mich.

»Billy, diese Krise dauert seit bald einem Jahr an. Und der Wisch vor Weihnachten war nicht grad vielversprechend. Dein Stern wird nicht mehr allzu lange am Himmel stehen, Schätzchen, wenn du nicht bald was nachlieferst. Die Verkaufszahlen gehen stetig zurück.« Diesen Scheiß mit Stern und Himmel brachte Pierre jedes Mal, wenn er versuchte, mir ins Gewissen zu reden.

»Ich bin kein verfluchter Stern«, machte ich Pierre klar, der mit einem süffisanten Grinsen in seinem Stuhl hing. Tom näherte sich meinem Tisch.

»Er will nichts, er geht gleich wieder«, sagte ich ihm.

Tom hob eine Augenbraue, die linke, blickte zu Pierre. Dieser grinste noch immer blöde und nickte.

»Du willst kein Stern sein, weiß ich, Billy. Aber pass auf, sonst bist du bald nicht mal mehr eine Sternschnuppe.«

»Was hast du bloß mit diesen dämlichen Himmelskörpern? Und jetzt lass mich in Ruhe. Ich muss was schreiben.«

Pierre stand auf. »Das musst du allerdings.«

Er hauchte mir einen Kuss zu, wie bescheuert das aussah von einem über Vierzigjährigen, verabreichte mir dann im Vorbeigehen eine leichte Kopfnuss. Die Glocke über der Tür klingelte, und ich konnte wieder atmen. Ich nahm mein Notizbuch aus der Tasche, schmiss es an das Bücherregal, das die Wände des ganzen Cafés entlangging. Tom bedachte mich dafür mit einem düsteren Blick.

Beim Öffnen der Haustür schmiss ich den Spiegel um, der dahinter an der Wand lehnte. Ein weiteres Mal ging er nicht kaputt. So stellte ich ihn wieder auf seinen Schemel und verhängte ihn wie stets. Billy ansehen ist deprimierend. Dann drehte ich die Anlage an. Babyshambles, Pete, mein Mitstreiter. Ich warf mich auf die Matratze am Boden, zählte von zehn an rückwärts. Und nochmal. Und ein weiteres Mal. Dann nahm ich mein Handy aus der Hosentasche, wählte die einzige Nummer, die ich als Schnellwahl gespeichert habe. Kaum klingelte es, erklang auch schon die Stimme meiner Kindheit.

»Sibylle, ich hab die ganze Woche versucht, dich anzurufen.«

Nicht gut. Dieser Name, nicht gut.

»Hallo, Sibylle, bist du dran?«

Du weißt es doch besser, Mutter, sagte ich zu mir selber, aber schwieg in den Hörer.

»Sibylle? Hallo?«

Ich habe Prinzipien, nicht auf meinen Taufnamen zu hören, ist eines davon.

»Billy, komm schon, sag was.«

»Hallo Frau Hans.«

»Nenn mich nicht so.«

»Dann nenn mich nicht Sibylle.«

Frau Hans seufzte. »Wie gehts dir denn?«

»Mein Hund ist tot.«

»Du hast einen Hund?«

»Nö, aber er wär tot, wenn ich einen hätte.«

Sie seufzte wieder. »Was hast du diese Woche gemacht?«

»Viel. Nichts. Das Übliche.«

»Wann kommst du mich mal wieder besuchen? Ich hab dich seit Monaten nicht gesehen, und anrufen tust du auch nur alle paar Wochen. Sibylle, Billy, komm wieder mal nach Hause. Was tust du denn die ganze Zeit? Hast du genug zu essen?«

Während die Mutter weiterfragte, malte ich mit meinen Füßen Achten in die Luft, pfiff im Kopf den Hochzeitsmarsch.

»Billy, Kind, ich mach mir Sorgen. Kannst du nicht einmal die Woche anrufen? Oder wenigstens eine SMS schreiben?«

Ich nickte.

»Billy? Bist du noch da?«

Ich antwortete mit einem langen »Jaaa«.

»Deine Schwester war vorgestern hier.«

»Ist ja super!«, schrie ich in den Hörer. Es knackte und knirschte in der Leitung, als die Mutter das Telefon fallen ließ. Ich wartete und pfiff den Hochzeitsmarsch auch außerhalb meines Kopfes. Ich konnte die Falten um den Mund der Mutter sehen, als sie, wieder am Telefon, verärgert meinte: »Das war nicht nötig. Dein Zynismus ebenso wenig. Ich soll dir Grüße bestellen.«

»Wie schön«, säuselte ich.

»Du fehlst ihr.«

Ich lachte ein bisschen. »Was für ein Scheiß.«

Das tat ihr weh. Aber das sagte sie nicht. Tat sie nie. Stattdessen: »Du hast eine unmögliche Sprache, Sibylle.«

»Dann ruf nicht mehr an, Frau Hans.«

Das dritte Seufzen erklang in der Leitung. »Ich ruf nächste Woche wieder an. Und iss anständig. Etwas Gesundes. Obst.«

»Bäh!«, sagte ich nur und hängte auf.

Fünf Stunden, sechs Episoden Heroes und eine Flasche billigen Amaretto später lag ich auf dem Rücken auf meiner Matratze, die Beine weit gespreizt, ein Kissen auf meinem Bauch. Ich nenne es das Grenzkissen. Sonst fühlt man nicht, wo der Bauch aufhört und die Welt anfängt. Die unliebsten Momente der Welt sind mir die, bevor ich einschlafe. Auf der Matratze zu liegen, das kalte Laken unter mir. Laken waren noch nie meine Freunde. Ich mag die Stille nicht und das Gefühl, nicht zu wissen, was passiert, wenn man aufwacht, wenn der neue Tag anfängt. Ob überhaupt. Was, wenn die Nacht bleibt? Wach sein ist besser. Tanzen. Weinen. Lügen. Alles ist besser in der Nacht. Nur das Einschlafen nicht. Das Gurgeln in den Rohren, die Schritte vom Nachbarn einen Stock höher, die Frau nebenan, die spät neue Rapsongs auf ihrem Computer aufnimmt. Ich verstehe kein Wort, aber der tiefe Bass der Hintergrundmusik gräbt sich in meinen Bauch. Ich hasse den Moment vor dem Einschlafen, die drückende Stille trotz Geräuschen. Wie kann man erwarten, sich hinzulegen und einfach zu schlafen. Ich bin kein Roboter. Der Schlaf verleidet einem das Beste vom Tag. Das Ende.

Ich erwachte, als Guen sich neben mich fallen ließ und mir einen Lolli vors Gesicht hielt.

»Guten Morgen, John.«

So nannte sie mich, seit ich mich vor zwei Jahren nach Erregung öffentlichen Ärgernisses den unfreundlichen Ordnungshütern als John Malkovich vorgestellt hatte.

»Vor Mittag steh ich nicht auf«, murmelte ich und drehte mich ab.

»Dann ist ja super, dass es schon bald zwei ist.«

Sie wickelte den Lolli geräuschvoll direkt neben meinem Ohr aus dem Plastik, steckte ihn mir in den Mund.

»Hier, Sonnenschein.«

»Ach, fick dich, Guen, es ist zu früh.«

Sichtlich unbeeindruckt von meiner schlechten Morgenlaune, oder Mittagslaune, stand Guen auf, steckte ihren iPod auf meine Boxen, drehte Pink Floyd auf und zündete sich eine Zigarette an.

»Steh auf, wir haben Hunger. Falafel. Jetzt.«

»Ich hab keinen Hunger«, versuchte ich mich rauszureden.

»John, klar hast du Hunger. Wann hast du das letzte Mal etwas gegessen?«

Meine Antwort blieb aus. Was sollte ich auch sagen. Gestern. Vorgestern. Letzte Woche. Guen wusste es sowieso. Ihr war vieles egal, darauf aber hatte sie ein Auge. »Steh auf, geh duschen und dann los«, stellte sie sich vor mein Bücherregal, ließ ihre Finger über den staubigen Rand streifen und ignorierte mich. Nach fünf Minuten des stillen Protests stand ich auf und ging ins Bad.

Wir lagen auf der Wiese im Park oberhalb der Stadt, ich starrte in den leicht bewölkten Himmel. Die in Fladenbrot gewickelten Gemüseklöße lagen mir im Magen wie Steine. Ich überlegte, sie wieder loszuwerden. Guen aber war vorbereitet, mit geschlossenen Augen legte sie die Finger ihrer linken Hand lakonisch, aber bestimmt um mein rechtes Handgelenk.

»Lass es, Schönheit. Du bist auch so schon genug im Arsch.«

Guen ist allwissend, eine Göttin. Meine Diana. Nicht einmal die Augen brauchte sie zu öffnen, um in die tiefen Windungen meines Kopfes zu sehen. Als ich sie betrachtete, huschte ein spöttisches Lächeln über ihre Lippen und sie pfiff It’s a kind of magic.

»Scheißmagie«, wandte ich meinen Kopf auf die andere Seite.

Mein Blick fiel auf ein Pärchen, das unweit auf der Mauer saß und in eifrigen Versuchen, sich mit Küssen zu vereinen, in meinen Augen kläglich scheiterte. Würggeräusche waren mein Kommentar.

»Ich sagte, lass es, John.«

»Nicht ich, das. Scheißfalafel. Die da drüben.«

In bester Faulheitsmanier folgte Guens Blick langsam dem meinen und ihr Kopf dann ihrem Blick. Urplötzlich lachte sie laut auf.

»Mann, sind die scheiße.«

Mehr war ihr die Szene nicht wert, und sie schloss die Augen wieder.