image

Die Klippen von Perronec

1. Auflage 2016
© Ueberreuter Verlag GmbH, Berlin 2016
ISBN 978-3-7641-7060-8

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise –
nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Übereinstimmungen und Ähnlichkeiten mit lebenden Personen
oder Familien sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Autoren- und
Projektagentur Gerd F. Rumler (München).
Umschlaggestaltung: Kathrin Steigerwald, Hamburg,
unter Verwendung von Fotos von Roberto Lo Savio/Fotolia,
adrenalinapura/Fotolia, Annette Shaff/Shutterstock und
BigLike Images/Shutterstock
Vignette am Kapitelanfang © Gizele/Fotolia
Lektorat: Emily Huggins

www.ueberreuter.de

image

Der Sarg schwankte auf den Schultern der Jungen. Vier stützten ihn auf der einen, vier auf der anderen Seite. Moritz ganz vorne links sah wie immer super aus. Das dunkle Jackett mit dem weißen Hemd stand ihm extrem gut. Dazu das kummervollblasse Gesicht und die Augenschatten. Perfekt. Am liebsten hätte sie ihn geküsst. Aber das ging nicht. Schließlich lag sie im Sarg.

Er und auch die anderen konnten von Glück reden, dass sie so schlank war. Wie viel wohl solch ein Sarg wog? 100 Kilo? 200? Egal. Hauptsache er war weiß. Cremefarben würde Mama sagen. In der Mitte des Deckels prangte ein Rosengesteck, das entfernt an Omas Nadelkissen erinnerte, nur gigantisch vergrößert. Sicherlich hatten ihre Eltern dafür einige Scheine hinblättern müssen. Aber das war auch das Mindeste. Schließlich waren sie schuld an ihrem Tod. Indirekt zumindest.

Tja, Mamilein, damit musst du jetzt leben. Du warst es, die die Sache mit der Bretagne und der Obelix-Tante eingefädelt hat. Und mit diesem Unglücksflug.

Okay, sie konnte natürlich nicht wissen, dass die Maschine abstürzen würde. Aber trotzdem. Das hatte sie nun davon. Zack, bumm. Ob es an einem technischen Defekt, einem Vogelschwarm oder an einer Bombe lag, war letztendlich egal. Darüber brauchte sie sich nicht den Kopf zu zerbrechen. Tot blieb tot. Obwohl – wenn schon, dann wäre eine Bombe spektakulärer als bekloppte Vögel oder ein durchgeschmortes Kabel.

Zum Glück hatte sie keine Schmerzen empfunden. Eigentlich war es genau so, als habe jemand das Licht ausgeknipst. Aus die Maus oder besser gesagt, aus mit Mäuselein – grrr.

Oh Mann, Mama war ja komplett fertig. Eigentlich weinte sie so gut wie nie, aber jetzt – das war ja kaum zum Aushalten. Jetzt warf sie sich auch noch laut schluchzend über den Sarg. Den hatten die Jungen mittlerweile vor der offenen Grabstelle abgesetzt – Moritz rieb sich verstohlen die Schulter. Weichei. Geschah ihm recht. Schließlich hatte er ihr auch wehgetan. Dagegen war so ein bisschen Schulterschmerz ein Klacks.

Vielleicht sollte mal jemand die traurige Musik ausmachen. Obwohl … nein, das war eigentlich ganz gut. Als gieße man Öl ins Feuer, wie Oma sagen würde. Sollten sie nur sehen, was sie davon hatten, so gemein gewesen zu sein.

Nun schlug Moritz auch noch die Hände vors Gesicht und heulte. Der Wahnsinn. Aber was machte denn Mama da? Wollte sie etwa mit in die Grube? Sie ließ einfach den Sarg nicht los, als Papa versuchte sie hochzuziehen.

»Mama«, schluchzte Marie und rumpelte unsanft mit dem Kopf gegen die Seitenscheibe.

Aus dem Rückspiegel musterten sie die dunklen Augen des nordafrikanischen Taxifahrers.

»Pardon, da lag was auf der Straße. – Sag mal, weinst du etwa?«

Marie verbarg schnell ihr Gesicht hinter dem Vorhang ihrer Haare und drückte sich aus dem Sichtfeld in die Ecke der Rückbank. Aus der Tasche ihrer Kapuzenjacke fingerte sie ein Papiertaschentuch und trocknete unauffällig die Tränen. Oh Gott, wie peinlich war das denn? Hatte sie sich jetzt tatsächlich ihre eigene Beerdigung ausgemalt und dabei auch noch geheult? Nicht zu fassen. Zum Glück war es schon fast dunkel. Niemand konnte sie sehen oder in ihrer Mimik lesen.

Du mit deiner blühenden Fantasie. Marie konnte ihre Mutter förmlich hören. Vielleicht hätte es ihr aber auch angesichts dieser speziellen Fantasie die Sprache verschlagen, was wirklich bemerkenswert wäre. Marie gluckste erheitert, was einen erneuten Schwall heißer Scham in ihr auslöste. Nein, das ist nicht mehr lustig, schalt sie sich selbst in Gedanken. Ich bin nicht tot. Ich bin im Hier und Jetzt und zwar in einem müffelnden Wagen auf irgendeiner Autobahn in Frankreich und fahre nach Pa… Pe… – verflixt, wie hieß das Kaff doch gleich? … keine Ahnung – also zu Tante Sofie, wo ich dann nach dreieinhalb Wochen sterbe vor … nein, nicht schon wieder. Ich sterbe nicht. Punkt. Aus. Basta.

Marie blickte aus dem Fenster und zerfledderte ihr Taschentuch. Nichts zu sehen außer entgegenkommenden Scheinwerfern und struppigen Schemen von Büschen und Bäumen. Regennass zischten die Reifen auf der Fahrbahn und die Wischer schlurften träge über die Frontscheibe. Wenigstens hatte sich der eklige Geruch nach nassem Hundefell verflüchtigt.

»Un très grand chien«, hatte der Fahrer grinsend erklärt, als er sie in Rennes vom Flugplatz abholte. Mit den Händen hatte er ungefähr die Größe eines Kalbs abgemessen und anerkennend mit der Zunge geschnalzt.

Das war nun schon eine gefühlte Ewigkeit her. Der Akku ihres iPods hatte längst den Geist aufgegeben. Leise dudelte das Autoradio irgendetwas Arabisches vor sich hin und der Fahrer sang ab und zu wimmernd mit.

»Wir sind bald da«, tröstete er sie und setzte den Blinker. Endlich runter von der Autobahn. Das war ja schon mal ein gutes Zeichen. Etwa fünfzehn Minuten später wies der Fahrer mit dem Kopf nach rechts.

»Das Meer.«

Marie richtete sich auf, sah jedoch nur eine gleichförmige dunkle Masse. Wenig später blitzte im Licht der Scheinwerfer ein Ortsschild auf. Perronec. Genau. So hieß Tante Sofies Städtchen.

Gespannt blickte Marie zwischen den Vordersitzen hindurch. Die Straße war eng und wand sich zwischen niedrigen Häusern hindurch. Vor einem Geschäft, auf dessen Scheibe in großen Lettern Café Glacier zu lesen war, türmten sich aufgestapelte Stühle. An Kabeln, die quer über die Straße gespannt waren, schaukelten Lampen im böigen Wind. Mit knirschenden Reifen bog der Wagen in eine von Bäumen flankierte Zufahrt ein, die nach etwa 300 Metern in eine runde gekieste Sackgasse mündete. Dunkel und frontal ragte vor ihnen ein Haus auf.

»Ker Armor«, bedeutete der Fahrer mit einem Kopfnicken und hielt an.

Schnell schlüpfte Marie in ihre Fleecejacke und stieg aus. Das Haus war drei Stockwerke hoch. Dichtes Blattwerk überwucherte die Fassade, sparte nur Fenster- und Türöffnungen aus. An jedem Fenster befanden sich hölzerne Läden, die meisten davon waren geschlossen. Bauchig ausladende Gitterstäbe schützten die Erdgeschossfenster vor ungebetenen Gästen. An der linken Seite des Hauses ragte ein sechseckiger Turm weit über den Dachfirst hinaus. Auf seinem kegelförmigen Dach konnte Marie schemenhaft einen Vogel erkennen – ein Wetterhahn, vermutete sie, bis er heiser krächzte. Es war ein Rabe, der, so schien es Marie, über die nächtliche Ruhestörung schimpfte.

Der Fahrer hob schwungvoll Maries Reisetasche aus dem Kofferraum, trug sie mit schnellen Schritten die halbrunde Treppe hoch und drückte auf den Messingknopf neben der Tür. Dumpf ertönte von innen ein Glockendreiklang, wenige Sekunden später flammte die in den Ranken verborgene Außenbeleuchtung auf. Ein Windstoß peitschte die Zweige und Marie zog fröstelnd den Reißverschluss ihrer Jacke bis zum Kinn hoch. Schlüssel schepperten, einer wurde ins Schloss gesteckt und gedreht. Dann öffnete sich die Tür.

»Marie, endlich … Mon Dieu, bist du aber gewachsen.«

Marie blickte in weit aufgerissene wässrig-blaue Augen. Na super. Gut, dass sie jemand darauf hinwies, wie riesig sie war. Sie hätte es ja sonst glatt vergessen.

»Hallo, Tante Sofie. Das ließ sich nicht vermeiden. Ist ja schon ein paar Jährchen her, dass wir uns gesehen haben«, antwortete sie schnippischer als gewollt.

»Wie wahr, mein Kind, wie wahr. Wenn ich das von meinem Gewicht nur auch behaupten könnte, das hätte sich durchaus vermeiden lassen«, schmunzelte Sofie und tauchte die Hände in die Taschen ihres blau-weiß karierten Bademantels. »Wo hab ich denn nur …? Ach, da ist es ja.« Sie förderte ein Portemonnaie zutage, zählte ein paar Scheine ab und reichte sie dem geduldig wartenden Fahrer.

»Stimmt so«, sagte sie und nickte ihm zu. Der tippte mit dem Finger an seine bunt geringelte Häkelmütze, lief zurück zu seinem Wagen und war kurz darauf verschwunden.

»Nun komm erst mal rein.« Fröstelnd schlang Sofie die Arme um sich, was wegen ihres gewaltigen Busens nur zum Teil gelang.

»Tut mir echt leid, dass es so spät geworden ist«, begann Marie, während sie Sofie nach innen folgte.

»Ts, ts, ts, da kannst doch du nichts dafür oder hast du aus Langeweile ein paar Schrauben verstellt?« Schelmisch zwinkerte Sofie Marie zu.

»Würde ich nie machen«, erwiderte Marie und grinste.

»Unter uns: Mir ist das ohnehin ein Rätsel, wie Flugzeuge fliegen können. Nur gut, dass sie den Defekt rechtzeitig bemerkt haben, nicht wahr? Nicht auszudenken!« Sofie verriegelte die Tür, drehte sich zu Marie um und breitete die Arme aus. »Nun lass dich aber erst mal knuddeln.«

Knuddeln? War sie ein Teddy? Doch ehe sich Marie versah, wurde sie an den Busen ihrer Tante gedrückt und einem Pingpong von Küssen ausgesetzt. Linke Wange, rechte Wange, linke Wange, rechte Wange.

»Ach Mäuselein, ich kann dir gar nicht sagen, wie sehr ich mich freue, dich endlich mal wieder hier bei mir zu haben. Und im Ernst – du bist enorm in die Höhe geschossen, man könnte fast sagen, du willst hoch hinaus, nicht wahr?« Sofie lachte und knuffte sie in die Seite. »Etwas mehr auf den Rippen könnte dir nicht schaden. Isst du nicht genug? Hast du Hunger? Aber natürlich, wie dumm von mir, du musst Hunger haben. Komm mit in die Küche.«

In ihren grauen Filzpantoffeln und dem bodenlangen weißen Nachthemd schlurfte Sofie quer durch die quadratische Eingangshalle über schwarz-weiße Fliesen, die wie ein Schachbrett für Riesen aussahen. Die Wände waren zu drei Vierteln mit schwarzem Holz vertäfelt. Ebensolche Balken spannten sich wie Rippen über die weiß getünchte Decke, von der als glitzernde Wolke ein Kronleuchter herabhing. Es gab mehrere Türen und eine Treppe schwang sich hinauf in die oberen Stockwerke.

Sofie öffnete eine Tür am Fuß der Treppe und knipste das Licht an. Mit unwirschem Surren flammte eine Lampe auf und flackerte, als könne sie nicht glauben, zu solch später Stunde noch einmal leuchten zu müssen.

»Setz dich.«

Sofie wies auf den Stuhl vor dem einzigen Gedeck auf dem blank gescheuerten Kiefernholztisch. Es bestand aus einem blauen Henkelbecher, von dem Marie das englische Brautpaar William und Kate in einem goldenen, herzförmigen Rahmen anstrahlte, und einem dazu passenden Keramikteller samt Besteck. Tante Sofie schenkte Marie aus einer Thermoskanne Kräutertee ein, der lauwarm und fast schwarz war, öffnete den riesigen Kühlschrank und krabbelte förmlich hinein. Wie ein kariertes Daunenkissen ragte ihre gewaltige Kehrseite aus der Tür hervor. Porzellan klapperte und ein paar Unmutslaute drangen aus der Tiefe. Schließlich förderte sie einen großen Teller zutage und kickte mit dem Po die Tür zu, was der Kühlschrank mit einem wohligen Brummen quittierte.

»Jetzt guck dir das an«, schimpfte sie, »wie die Termiten.«

Marie sah sie mit großen Augen an.

»Die Jungs«, erklärte Sofie und deutete auf den Teller. »Hier lag heute Abend noch ein Stück kalter Braten. Und jetzt? Nur noch ein Eckchen. Dabei habe ich ausdrücklich darum gebeten, die Finger davon zu lassen.« Verärgert stellte sie die Platte auf den Tisch.

Marie verkniff sich die Bemerkung, dass sie kalter Braten ohnehin kaltließ. Allein das, was sich sonst noch auf dem Teller befand, ließ ihr das Wasser im Mund zusammenlaufen: Käse, der aussah wie Buttercremetorte, Weintrauben, hart gekochte Eier und Schinken. Aus einem Brotkasten holte Sofie einen kantigen Laib hervor – »heute von mir gebacken« –, drückte ihn gegen die Brust und säbelte mit einem großen Messer dicke Scheiben ab.

»Greif zu, mein Schatz.«

Marie ließ sich das nicht zweimal sagen.

»Jungs? Ich dachte, wir beide seien allein?«, fragte Marie zwischen zwei Bissen.

»Ja, wenn dem nur mal so wäre«, seufzte Sofie und wischte Brotkrümel vom Tisch auf ihren Handteller. »Ich hatte mich so darauf gefreut, ein paar ruhige und gemütliche Wochen mit dir zu verbringen. Aber daraus wird nichts. Sie sind alle da.«

Marie betrachtete kauend das Gesicht ihrer Tante und spürte einen Anflug schlechten Gewissens. Sie schien wirklich bekümmert, was man von ihr selbst nicht behaupten konnte. Gern nahm sie geplünderte Kühlschränke in Kauf, wenn sie nur nicht drei Wochen mit Kaffeekränzchen und dem Betrachten vergilbter Fotoalben, mit dem Häkeln von Topflappen oder dem Einkochen von Himbeeren und Brombeeren verbringen musste – lauter so Kram, den nach Maries Meinung Damen jenseits der siebzig so trieben. Wobei natürlich auch noch das spezielle Risiko bestand, putzen zu müssen. Schließlich durfte Tante Sofie in diesem Anwesen nur deshalb wohnen, weil sie hier bereits seit der Jungsteinzeit als Haushälterin diente, wenn Marie ihre Mutter richtig verstanden hatte.

Laute Schritte hallten auf dem Fliesenboden der Halle wider und rissen Marie aus ihren Gedanken. Einen Moment später wurde die Küchentür aufgestoßen und ein junger Mann blieb, die Klinke in der Hand, wie angewurzelt stehen.

»Mon Dieu, Cedric, willst du mich vorzeitig ins Grab bringen?« Sofie blickte erschrocken hoch, eine Hand auf der Brust.

»Sofie, was machst du denn … oh, hallo, wen haben wir denn da?« Cedric grinste schief, während er in seinen schwarzen Cowboystiefeln zum Tisch schlurfte und Marie, noch ehe sie den Kopf abwenden konnte, ein Kuss-Pingpong verpasste. Entgeistert blickte Marie ihn an. Was fiel denn dem ein? Doch Cedric schien Maries Befremden ebenso wenig zu bemerken wie ihre Tante. Mit großem Interesse musterte er die kalte Platte, griff sich ein ganzes Stück Brie und biss ein großes Stück davon ab.

»Cedric«, schimpfte Sofie, »was fällt dir denn ein? Nimm dir bitte ein Messer und einen Teller, wenn du etwas essen möchtest.«

Cedric musterte Sofie kauend. »Schlimm, schlimm, meine Manieren, ich weiß. Am besten, du hörst auf, dich darüber zu ärgern. Macht nur Falten.«

Grinsend strich er sich eine widerspenstige Strähne seiner welligen schulterlangen Haare hinters Ohr und warf Marie einen Beifall heischenden Blick zu. Kein Zweifel, es gefiel ihm, sich über Sofie lustig zu machen. Wahrscheinlich fand er sich supercool, wie er so mit einer Pobacke auf dem Tisch saß, das herabhängende Bein baumeln ließ und den Brie verspeiste. Er trug schwarze verwaschene Röhrenjeans und ein anthrazitfarbenes T-Shirt mit abgeschnittenen Ärmeln, deren ausgefranste Ränder seine muskulösen Oberarme betonten. Auf der Innenseite seines linken Unterarms zogen sich geheimnisvolle Schriftzeichen hoch und auf seiner rechten Schulter ringelte sich der Schwanz einer tätowierten Echse herab. Widerstrebend musste sich Marie eingestehen, dass er wirklich cool aussah. Doch von Typen, die so von sich eingenommen waren, hatte sie die Nase voll. Schnell wischte sie den Gedanken an Moritz beiseite. So hübsch Cedrics Gesicht war, irgendetwas stimmte mit seiner Nase nicht. Sie saß leicht schief im Gesicht und hatte einen Höcker. Und die rechte Augenbraue rund um das Piercing war gerötet und geschwollen.

Ungerührt von Sofies Ermahnung nahm Cedric Weintrauben von der Platte und pflückte sie mit dem Mund ab. Sofie schüttelte missbilligend den Kopf, sparte sich aber weitere Kommentare.

»Ist das deine Nichte aus Deutschland? Diese … diese … wie heißt sie doch gleich wieder?«

»Weshalb fragst du sie nicht selbst? Sie spricht Französisch«, gab Sofie zurück.

»Bähh, da sind ja Kerne drin.« Angewidert spuckte Cedric die Trauben auf seinen Handteller und deponierte sie auf dem Tisch.

»Cedric!«, rief Sofie empört. »Herrgott noch mal, was soll das? Wirf sie gefälligst in den Mülleimer.«

Ohne auf Sofies Schimpfen zu achten, wischte Cedric seinen Mund mit dem Handrücken ab und blickte Marie abwartend an.

»Ich heiße Marie, Marie Forster, und ja, ich bin Tante Sofies Nichte aus München«, gab Marie in astreinem Französisch zum Besten.

Cedric riss überrascht die Augen auf. »Oh là là, dein Französisch ist ja richtig gut. Darf ich mich vorstellen, nachdem Sofie dies trotz ihrer Vorliebe für Manieren nicht für nötig gefunden hat: Ich bin Cedric, Cedric Prigent aus dem Hause Ker Armor in Perronec. Cedric der Ungeliebte, Cedric der verlorene Sohn, Cedric der Versager.« Theatralisch, als stünde er auf einer Bühne, breitete er einen Arm aus und legte den anderen auf seine Brust.

»Hast du getrunken?«

Cedric ließ seine Arme sinken und blickte Sofie bekümmert an.

»Ach Sofie, dir fehlt einfach jeglicher Sinn für alles, was über Bratpfannen und Blumentöpfe hinausgeht.« Er holte sich aus dem Kühlschrank ein bauchiges Fläschchen Mineralwasser, öffnete es und setzte es an die Lippen. Nach ein paar kräftigen Schlucken ließ er einen Rülpser hören und sagte gleichgültig »Oh pardon«, noch bevor Sofie den Mund öffnen konnte.

»Und was verschlägt dich in die Bretagne?«

Was sollte Marie darauf antworten? Im Beisein von Tante Sofie konnte sie wohl kaum höhere elterliche Gewalt ins Spiel bringen.

»Hm, Flucht vor sommerlicher Hitze? Bedürfnis nach Ruhe?«, antwortete sie stattdessen.

Cedric zog die Augenbrauen hoch und grinste.

»Ach, Marie, mach dir keine Sorgen wegen dem Wetter«, beeilte sich Sofie zu sagen, »es regnet hier nie lange.«

»Nee, nie länger als 365 Tage im Jahr.«

»Ach, was redest du denn, Cedric! Glaub ihm kein Wort, Marie. Schon ab morgen soll es richtig schön …«

»Psst«, unterbrach sie Cedric.

Autoreifen knirschten auf Kies und das Licht von Scheinwerfern drang durch die Ritzen der Fensterläden. Hastig stopfte sich Cedric den Rest Käse in den Mund, nahm noch eine Scheibe Brot und beschwor Sofie: »Ich bün nücht da, hörst du?«

Im nächsten Moment war er zur Tür hinaus. Marie blickte verblüfft zu Sofie, die als Antwort nur die Augen rollte.

Keine halbe Minute später schepperte ein Schlüssel in der Haustür und dünne Absätze klapperten über den Steinboden.

»Nanu, Sofie, du bist noch auf? Ich habe mich schon gewundert, weshalb hier Licht brennt.«

Eine hochgewachsene schlanke Frau in einem dunkelblauen seidig schimmernden Hosenanzug stand im Türrahmen. Hinter ihr tauchte der Kopf eines Mannes auf, der etwas kleiner war als die Frau. Mürrisch blickte er zwischen seinem dichten Schnurrbart und den buschigen Augenbrauen hindurch von Marie zu Sofie. Die erhob sich hastig und raffte ihren Bademantel vor der Brust zusammen.

»Madame, Monsieur, ich habe Sie noch gar nicht zurückerwartet. Darf ich Ihnen meine Nichte Marie Forster vorstellen? Ihr Flugzeug hatte leider erhebliche Verspätung. – Marie, das sind Madame und Monsieur Prigent. Ihnen hast du es zu verdanken, dass du deine Ferien hier in Ker Armor verbringen darfst.«

Marie hatte es ihrer Tante gleichgetan und sich ebenfalls erhoben.

»Ach ja, richtig, deine deutsche Nichte«, sagte Madame Prigent und streckte Marie eine sorgsam manikürte Hand mit dunkelroten Fingernägeln entgegen. »Marie, welch hübscher Name. Ich hoffe, es gefällt dir bei uns. Fühl dich bitte wie zu Hause. Wenn du irgendetwas brauchst, dann scheu dich nicht, mich zu fragen.«

Monsieur brummte etwas Unverständliches, nickte Marie kurz zu und verzog seinen Mund zu etwas, was man mit viel gutem Willen als Lächeln deuten konnte. »Sofie, hast du Cedric gesehen?«

»Cedric? Nein, Monsieur, tut mir leid.«

Überrascht sah Marie ihre Tante an, die ohne mit der Wimper zu zucken dem misstrauischen Blick des Hausherrn standhielt.

»Wenn du ihn siehst, dann schick ihn bitte umgehend zu mir.«

»Aber sicher, Monsieur.«

»Ach, Sofie, jetzt hast du schon wieder vergessen, Perrier in den Kühlschrank zu stellen. Ich bevorzuge Wasser gekühlt und nicht lauwarm, kannst du dir das denn nicht merken?« Bekümmert blickte Madame Prigent Tante Sofie über die geöffnete Kühlschranktür hinweg an.

»Pardon, Madame, wie nachlässig von mir. Es wird nicht wieder vorkommen.«

Nanu? Was ging denn hier ab? Fehlte nur noch, dass Sofie knickste. Bisher kannte Marie Hauspersonal nur aus altmodischen Filmen. Ihre Mutter hatte nicht einmal eine Putzfrau. Sollte Madame ihr Mineralwasser doch selbst in den Kühlschrank stellen.

Als die beiden die Küche wieder verlassen hatten, sank Sofie auf ihren Stuhl zurück und seufzte: »Jetzt fehlen nur noch zwei, dann kennst du sie alle.«

Bislang hatte sich Marie nicht sonderlich für Tante Sofie, die genauer gesagt ihre Großtante war, interessiert, was daran lag, dass sie in ihrem bisherigen Leben kaum eine Rolle gespielt hatte. Sie wusste, dass sie die Schwester ihrer Oma mütterlicherseits war und dass sich die beiden Schwestern irgendwann im vorigen Jahrtausend, noch bevor es Internet oder Handys gab, heftig gestritten hatten. Es ging um Liebe. Die Schuldige war Sofie, denn sie hatte damals ihrer Schwester deren Freund Pierre ausgespannt und war mit ihm in die Bretagne gezogen. Ganz schön mies, wie Marie fand. Auch als Pierre starb, war Sofie nicht nach Deutschland zurückgekehrt. Ab und zu telefonierte Sofie mit Maries Mutter, und alljährlich schickte sie Marie und auch Tobi zum Geburtstag Asterix-und-Obelix-Hefte. Marie konnte sich nur an einen einzigen kurzen Zwischenstopp bei ihrer Tante in der Bretagne und lediglich an einen Besuch der Tante in München erinnern. Letzterer war vor ziemlich genau zehn Jahren gewesen, als Tobi zur Welt gekommen war.

»Ehrlich gesagt, Tante Sofie, hab ich nie so richtig zugehört, wenn Mama was von den Prigents erzählte, ich dachte ja auch, die seien alle verreist. Wer fehlt denn noch?«

»Yann und Tristan. – Aber hör mal«, druckste Sofie rum, »es wäre mir sehr lieb, wenn du denen möglichst aus dem Weg gingst.«

»Warum?« Maries Neugier war geweckt.

»Na ja, wie das halt so ist mit Jungs in dem Alter. Nur Unsinn im Kopf.« Tante Sofie zupfte nervös an den Nachthemdspitzen rund um ihren Hals. »Und wo wir schon gerade dabei sind: Sei bitte immer höflich und freundlich, besonders zu Nolwenn Prigent. Sie ist – nun ja, wie soll ich sagen? – etwas empfindlich und reizbar. Sag lieber einmal zu viel ›bitte‹ und ›danke‹ als zu wenig, hörst du?« Beschwörend sah sie Marie an.

»Okay«, antwortete Marie gedehnt.

Erleichtert, ihre Mahnung losgeworden zu sein, trommelte Tante Sofie mit den Fingern auf die Tischplatte. »Am besten hältst du dich an mich und Elodie.«

»Elodie?«

Sofie sah Marie überrascht an. »Ach, wie dumm von mir, du kannst Elodie ja gar nicht kennen. Die Elodie, lass mich mal überlegen, was ist die denn zu dir? Also: Wenn Elodie die älteste Tochter vom jüngeren Bruder meines Pierre, Gott hab ihn selig, ist« – sie schlug ein Kreuzzeichen vor ihrer Brust – »dann müsste Elodie deine Großcousine sein, oder nicht?«

Marie nickte verwirrt. »Egal. Wie alt ist sie denn?«

»Sechzehn, also nur ein Jahr älter als du. Ein sehr liebes Mädchen. Sie kommt oft vorbei, um Besorgungen zu machen und mir im Haushalt zu helfen. Mag sein, dass sie ein bisschen neugierig ist, aber ihr werdet euch schon verstehen.«

Marie frohlockte innerlich. Die Aussichten für die Ferien wurden ja immer besser.

In dem Bemühen, ein Gähnen zu unterdrücken, verzog Sofie ihr Gesicht zu einer Grimasse. »Bist du auch so müde?«

»Ja«, antwortete Marie und gähnte ebenfalls. »Musste ja tierisch früh aufstehen.«

»Ach je, du armes Kind, natürlich. Und ich plappere hier so rum. Dann lass uns jetzt zu Bett gehen. Wir haben in den nächsten Wochen noch genügend Zeit, zu plaudern, nicht wahr? Komm, ich zeig dir dein Reich.«

Marie nahm Rucksack und Reisetasche und folgte ihrer Tante die Stufen hinauf in den zweiten Stock.

»Hier ist es«, sagte Sofie und öffnete eine Tür. »Ich hätte dir gerne das Gästezimmer gegeben, das ist viel hübscher eingerichtet, aber Madame beansprucht das Zimmer für sich – für den Fall, dass sie überraschenden Besuch erhält.« Ihr Blick verriet, dass sie das für eine Ausrede hielt. »Das Badezimmer ist gleich hier nebenan. Frühstück gibt es um halb sechs.«

Als Marie die Kinnlade herunterfiel, grinste ihre Tante verschmitzt.

»Zu früh? Na gut. Überredet. Schlaf dich aus und komm dann einfach runter ins Esszimmer neben der Küche.« Dann schmatzte sie ihr einen Gutenachtkuss auf die Wange. »Ach ja, und falls irgendetwas ist – du findest mich im Erdgeschoss. Mir gehören die beiden Zimmer hinter der Küche.«

Damit wandte sie sich ab und schlappte in ihren Pantoffeln die Treppe wieder hinab.

Marie schloss die Tür und stellte wenig erfreut fest, dass sie sich nicht absperren ließ. Sie würde am nächsten Morgen ihre Tante nach dem Schlüssel fragen. Dann stellte sie Rucksack und Reisetasche ab, hockte sich auf die Bettkante und begutachtete ihr ›Reich‹. Eins war sofort klar: Hier hatte schon länger niemand mehr gewohnt. Das Zimmer versprühte den Charme einer Rumpelkammer, dagegen konnte auch die Streublümchentapete nichts ausrichten. Auf einem wuchtigen braunen Schrank stapelten sich verschrammt aussehende Lederkoffer bis hoch zur Decke. Der nussbraune Holzschreibtisch war mit Auto-Aufklebern und Comic-Abziehbildchen übersät. An der Wand darüber befand sich ein Spiegel in einem schnörkeligen Goldrahmen, der einem Barockschloss alle Ehre gemacht hätte. Häkelgardinen hingen vor dem Sprossenfenster und ein Häkeldeckchen schmückte auch den Nachttisch, auf dem eine Lampe mit rotem Schirm einen kitschig-rosa Lichtschein verbreitete. Ein nussbraunes Holzregal gegenüber dem Schreibtisch bot einer Schreibmaschine, mehreren Stapeln zerfledderter Micky-Maus-Hefte, Sammelalben von Autobildchen und Fußballspielern, ein paar Matchbox-Autos und einem Heer verstaubter Blumenvasen Platz. Und die Flickenteppiche waren so fadenscheinig, als seien sie zur Zeit der Französischen Revolution gewebt worden. Marie seufzte, öffnete den Reißverschluss ihrer Reisetasche und zerrte ein Schlaf-T-Shirt und karierte Boxershorts hervor. Sie beschloss, aufs Zähneputzen zu verzichten, kroch ins Bett und knipste das Licht aus.

Die Decke bis an die Ohren hochgezogen, lauschte sie dem Wispern des Regens. Einerseits war sie hundemüde, andererseits auch merkwürdig aufgekratzt. Wie wohl die anderen Mitglieder dieser seltsamen Familie waren? Diese Elodie und vor allem die Jungs, von denen sie sich fernhalten sollte? Marie kicherte verhalten. Am meisten interessierte es sie jedoch, ob Moritz wohl schon mitbekommen hatte, dass sie abgereist war. Wer weiß, vielleicht hatte ihn ja genau heute das schlechte Gewissen gepackt – vorausgesetzt, er besaß überhaupt ein Gewissen.

Vor ihrem geistigen Auge sah Marie sein Gesicht und stellte sich vor, dass er an ihrer Haustür klingelte, einen Strauß roter Rosen nervös in den verschwitzten Händen drehte und sich räusperte, als ihre Mutter die Tür öffnete. Und dass sein Mund vor Enttäuschung offen stehen blieb … nein, dass er die Hände vors Gesicht schlug – ohne die Rosen natürlich, die hatte er vor Entsetzen fallen gelassen – und sich ein gequältes Stöhnen aus seiner Brust stahl. Genau. Und dass er so fertig war, dass ihre Mutter ihn in die Küche führte – sie musste ihn sogar stützen – und ihm einen Stuhl und ein Glas Wasser anbot. Und dann beichtete er, wie schändlich er sich ihr, Marie, gegenüber benommen habe und dass er nun wisse, wie sehr er sie und nicht Sandra liebe, aber dass es nun bestimmt zu spät sei. Jap.

Ihr eigenes zufriedenes Grunzen holte Marie schlagartig zurück in die Gegenwart. Von wegen Rosen und Enttäuschung. Garantiert verschwendete Moritz keinen einzigen Gedanken an sie, sondern machte mit Sandra rum. War wirklich erst eine Woche vergangen, seitdem seine sonnenwarme Brust ihren nackten Rücken gestreift hatte, als er hinter ihr in der Schlange vor dem Baggersee-Kiosk stand? Bei jeder Berührung hatte es wie Funken gebitzelt – bis Sandra kam. Sandra mit ihren Doppel-D-Titten. Hatte sich wie ein Aal zwischen sie gedrängt.

›Moritz, bringst du mir ein Magnum mit? Büttääää.‹

Oh, wie Marie sie in diesem Moment gehasst hatte und noch immer hasste! Immer schaffte sie es, sich in den Vordergrund zu drängen. Und Moritz merkte das nicht einmal. Dass zwischen den beiden etwas laufen würde, war so sicher wie Richies Rülpser beim Weißbiertrinken. Sandra wusste haargenau, wie sie sich in Szene setzen musste, ganz im Gegensatz zu ihr. Wieso nur wurde sie jedes Mal steif wie ein Besenstiel, wenn sie sich beobachtet fühlte? Wieso konnte sie ihm nicht einfach in die Augen schauen, ohne Schweißhände zu bekommen oder den Kopf abwenden zu müssen? Wie zum Teufel machte das Sandra?

Aufseufzend warf sich Marie auf den Rücken und starrte an die Decke. Hatte er vielleicht eine SMS geschickt? Wie elektrisiert setzte sich Marie auf, knipste die Lampe an, beugte sich zu ihrem Rucksack und fummelte das Handy aus der Seitentasche. Yippie – oh nee.

›Gut angekommen? Ich drück dich, Bussis, deine Mama‹. Pah, die tat ja gerade so, als sei alles in bester Ordnung. Typisch. Marie schnaubte, tippte ›bin da, alles ok‹ und schob das Handy zurück in den Rucksack. Nichts von Moritz. War ja klar. Verärgert über sich selbst und ihre Gefühlsduselei schaltete Marie das Licht wieder aus, warf sich auf den Bauch und knüllte das Kissen unter ihren Armen so fest zusammen, als habe es Schuld daran, dass Moritz sie verschmähte. Vergiss ihn einfach, murmelte sie. Da war nichts und da wird auch nichts sein. Und jetzt, wo die zwei in Kroatien sind, schon gleich dreimal nicht mehr.

Irgendwann musste Marie eingeschlafen sein, denn sie erwachte von knatterndem Motorengeräusch, das gleich darauf erstarb. Im Halbschlaf hörte sie streitende Stimmen und Schritte auf dem Kies. Kurz darauf kehrte wieder Ruhe ein und das sachte gleichmäßige Tröpfeln des Regens säuselte Marie erneut in den Schlaf.

Als Marie die Augen aufschlug, blickte sie irritiert auf rosa Streublümchen und arabesk gewundene Zweige vor ihrer Nase. Blitzartig kehrte die Erinnerung zurück: Tante Sofie, Bretagne, Ker Armor – und ein mulmiges Gefühl. Nun würde sie also den Rest der Familie kennenlernen. Hoffentlich kam sie mit denen klar. Und was, wenn nicht? Wenn Elodie eine Schnepfe war, so wie Sandra?

Dann hab ich die A-Karte gezogen, murmelte sie, das Gesicht ins Kopfkissen gepresst. Dann blieb nur eins: So viel wie möglich schlafen, um die Zeit totzuschlagen. Zurück nach Hause konnte sie nicht. Da war niemand. Für die kommenden dreieinhalb Wochen war sie diesen Leuten hier ausgeliefert.

Wie spät war es eigentlich? Marie hob den Kopf. Die Zeiger des Weckers standen auf halb elf Uhr. Kein Wunder, dass ihr Magen knurrte.

Sie warf die Decke zurück, lief barfuß zum Fenster und öffnete die hölzernen Fensterläden. Von wegen blauer Himmel und Sonne! Als Wetterfrosch hatte Tante Sofie versagt. Es plätscherte, rieselte und gurgelte wie in einer Tropfsteinhöhle. Der Wind zerzauste die Kronen der Eichen neben der Auffahrt, die mit ihren Pfützen einer Seenlandschaft ähnelte. Links neben ihrem Fenster klebte ein rötlich braun nass glänzendes Rohr wie ein monströser Regenwurm in den Ranken. Es mündete in eine randvoll mit Wasser gefüllte Blechtonne. Sommer sah anders aus.

Fröstelnd rieb Marie sich die Arme und stellte einen Fuß auf den anderen. Durch die Ritzen zwischen den Holzdielen kroch Kühle empor. Warmer Sand, in den sie ihre Zehen bohren könnte, das wäre es jetzt! Zum Beispiel in Kroatien. Dort hatte es bestimmt an die 30 Grad. Socken oder Schlafanzüge waren da überflüssig. Wahrscheinlich trug Moritz maximal eine Boxershorts in seinem Schlafsack … wenn er überhaupt einen Schlafsack benutzte. Marie lehnte ihre Stirn an die Scheibe und verfolgte den zittrigen Lauf eines Wassertropfens vor ihrer Nase, bis sie schielen musste.

Plötzlich ließ ein Geräusch sie aufmerken. Irgendwas schabte an der Tür. Auf Zehenspitzen huschte Marie durchs Zimmer und presste ein Ohr gegen das Holz. Miauuu?

Marie öffnete die Tür einen Spalt und wich erschrocken zurück, als etwas Schwarzes hereinschoss und unter ihrem Bett verschwand.

»Nanu, wer bist du denn?«

Marie ging in die Hocke und sah unters Bett. Die Katze kauerte in der hintersten Ecke und erwiderte ihren Blick arrogant, als wolle sie sagen: Na was wohl? Ein Schwein, oder was dachtest du?

»Was willst du denn da unten? Komm raus, ich tu dir nichts«, säuselte Marie und musste dabei unwillkürlich an die bösen Hexen in ihrem zerfledderten Märchenbuch denken.

Die Katze blickte sie weiterhin unverwandt an, ohne auch nur mit einem Schnurrbarthaar zu zucken.

»Miez, miez, hab keine Angst!«, lockte Marie, legte sich auf den Boden und robbte bäuchlings unters Bett. »Jetzt komm schon, du Schisser.«

»Bin schon da, aber, pardon, ich heiße Yann.«

Marie fuhr vor Schreck zusammen. Sie drehte den Kopf und erblickte zwischen Fußboden und Bettrahmen nackte Zehen in schwarzen Flip-Flops und ausgebleichte fransige Ränder einer Jeans.

»Was machst du denn da unten? Kann ich dir helfen?«, sagte der Typ, der, so befürchtete Marie, ungeniert ihre nackten Beine und den karierten Po betrachtete.

»Da ist ’ne Katze«, sagte Marie und kam sich dabei megadämlich vor.

»Aha. Da ist sie also.« Er bückte sich und lächelte Marie unter dem Bett an. »Ich such sie schon überall. – Pompadour, bist du wieder auf Mäusejagd?«

»Mäuse?«, rief Marie erschrocken und starrte in die dunklen Ecken unter dem Bett.

»Keine Sorge. Meistens hat sie Pech – im Haus zumindest. Aber heute hat sie, wie es aussieht, eine ganz besondere Maus erwischt, wenn auch etwas groß.«

Yann grinste und Marie spürte, wie ihr die Röte ins Gesicht schoss.

»Sehr witzig. Könntest du jetzt bitte deine Katze nehmen und die Tür von außen schließen?«, sagte sie ruppiger als beabsichtigt.

»Tja, das würde ich ja gern, aber Pompadour traut sich nicht raus, solange du dich so breitmachst. Soll ich dir helfen?«

Er streckte Marie eine Hand entgegen. Nach kurzem Zögern griff Marie zu und wurde im nächsten Moment schwungvoll unter dem Bett hervorgezogen und auf die Füße gestellt. Vor ihrer Nase baumelte an einem dunkelbraunen Lederband ein silberner Anhänger: ein Kreis, in den ein Stern eingespannt war. Als sie den Kopf hob, blickte sie in zwei Augen, die sie neugierig musterten.

»Salut«, sagte Yann und attackierte sie mit einem ihr nun schon wohlbekannten Kuss-Pingpong.

»Lass mich raten, du bist Marie, Sofies Nichte aus Deutschland, stimmt’s? Hab schon gehört, dass du richtig gut bist in Französisch?«

Marie nickte. Wahnsinn, diese Augen. So ein intensives Grün hatte sie noch bei niemandem gesehen. Auch nicht bei Cedric, obwohl er eindeutig der Zwillingsbruder von Yann war, nur nicht ganz so hübsch.

Yann hob die Hand – »Darf ich?« – und zupfte ihr ein Staubflöckchen aus dem Haar. »Tut mir leid, dass ich einfach so hereingeplatzt bin, aber die Tür stand offen … und da dachte ich, dass Pompadour … Hast du eigentlich schon gefrühstückt? Hast du Hunger?«

Marie schüttelte den Kopf.

Belustigt legte Yann den Kopf schief. »Hat’s dir die Sprache verschlagen?«

»Nein. – Ähh, ja.« Marie räusperte sich. »Nein, ich hab noch nicht gefrühstückt. Ja, ich hab Hunger. – Du bist der Zwillingsbruder von Cedric, oder?« Gratuliere, Marie, du Superhirn.

»Klar erkannt. Du hast Cedric schon kennengelernt?«

Marie nickte. »Er mag Käse.« Oh nein.

Yann guckte etwas verdutzt. »Unter anderem, stimmt. – Ah, da bist du ja.«

Er bückte sich und nahm die Katze, die mittlerweile ihr Versteck unter dem Bett aufgegeben hatte, auf den Arm.

»Wieso nennst du sie Pompadour?«

»Wieso nicht? Passt doch wunderbar. Sie ist weiblich, schön und launisch.«

»Und ein bisschen dick, wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf«, ergänzte Marie. »Sieht so aus, als gäbe es hier doch viele Mäuse.«

»Ach, Quatsch, das ist nur ihr Fell.« Yann öffnete die Tür einen Spalt, schaute nach links und rechts und lauschte. »Also, dann lass uns frühstücken, ich hab auch noch nichts gegessen.«

»Ähm, ich muss mich noch anziehen.«

Yann blickte Marie mit verhaltenem Lächeln an, und Marie hätte schwören können, dass er insgeheim dachte wegen mir nicht.

»Kein Problem«, antwortete er stattdessen, »ich muss ohnehin noch Pompadour in Sicherheit bringen.«

»In Sicherheit bringen? Wovor?«

»Erklär ich dir später. Bis gleich, unten im Esszimmer.«

Leise lief Yann den Gang entlang, öffnete die braune schwere Holztür am Stirnende und verschwand.

Marie schlüpfte in Jeans und ein frisches T-Shirt, schnappte sich den Waschbeutel und ging in das Badezimmer nebenan. Während sie ihre Hand unter den vorsintflutlichen Hahn hielt und darauf wartete, dass das Wasser warm wurde, betrachtete sie sich im Spiegel. Ihre Augen waren auch grün, aber leider nicht von so dramatischer Farbe wie die von Yann. Wie ein Waldsee, meinte ihr Vater, doch Marie brauchte er nichts vormachen. Im Klartext hieß das matschgrün. Marie presste die andere Hand fest gegen ihr linkes Ohr. Dauernd stahl es sich zwischen den Haarsträhnen hindurch. Elfenohr sagte Oma dazu und bezeichnete es als Maries »gewisses Etwas«. Aber die hatte gut reden. Schließlich besaß sie makellose Ohren. Wie jeden Morgen drückte Marie es mit aller Kraft fest an ihren Kopf in der Hoffnung, dass die für Segelohren zuständigen Knorpel endlich nachgeben würden. Andernfalls, so hatte sie beschlossen, würde sie sich, sobald sie achtzehn wäre, operieren lassen.

Die Ärzte würden gut an ihr verdienen, denn gleich nach dem Ohr kämen ihre Zehen dran. Es sah einfach bekloppt aus, dass der zweite Zeh ein Stück über den großen Zeh hinausragte und dem damit den Rang streitig machte. Dabei ging es Marie nicht wirklich um die Hierarchie ihrer Zehen, sondern rein um die Optik. Und die wurde nur noch dadurch getoppt, dass das letzte Zehenglied knubbelig war. Weg damit, egal wie. Marie strich eine Haarsträhne beiseite und betrachtete ihre Stirn. Pickelfrei. Uff, wenigstens etwas.

Ob Yann sie wohl hübsch fand? Ach was, wahrscheinlich stand er auf Blond. Wie Moritz. Aber auch, wenn sie wider jegliches Erwarten sein Typ sein sollte, so, wie der aussah, hatte er bestimmt bereits eine Freundin. Wenn nicht zwei. Marie beugte sich vor und drückte einen Mitesser neben ihrer Nase aus. Doch nur mal angenommen, er hätte gerade keine, und angenommen, er stünde auf sie, und weiter angenommen, Moritz würde das irgendwie mitbekommen: WÄRE MORITZ DANN EIFERSÜCHTIG? Marie blickte in den Spiegel und streckte die Zunge heraus. Oh Mann, welch gequirlter Mist.

Wann wurde dieses doofe Wasser eigentlich endlich mal warm? Marie schlang ihre Haare im Nacken zusammen und spritzte sich Wasser ins Gesicht. Dann eben nur Katzenwäsche.