Titelseite

Einleitung

Punktierte Linien weisen auf direkte Zitate der verwendeten Literatur hin.

Sie wollen Bücher nicht nur zur Unterhaltung lesen, zum Amüsement, zur Zerstreuung? Sie suchen nach Büchern, die etwas in Ihnen anregen, in denen Sie sich wiederfinden, die vielleicht auch Antworten auf die Fragen des Lebens geben, bei Liebeskummer, Verunsicherung, Ängsten, Depression oder bei der Suche nach dem Sinn des Lebens? Dann sind Sie bei der Roman- oder Bibliotherapie genau richtig. Denn es gibt Bücher, die mehr helfen als 1000 Therapie­stunden.

Warum haben sich bisher so wenige Psychologen mit der Bibliotherapie be­­schäftigt?

Im Vergleich zu Gesprächstherapie, Klinischer Psychologie, Verhaltenstherapie oder Tiefenpsychologie wählt die Bibliotherapie einen anderen Zugang, der mehr mit Kunst und Kreativität gemeinsam hat als mit nüchterner Naturwissenschaft. Deshalb ist es nicht überraschend, dass die Bibliotherapie an den Universitäten keine Erwähnung findet. Zu Unrecht, wie die Praxis zeigt. Die Heilkraft der Literatur ist besonders dort bemerkenswert, wo die klassischen Methoden der Psychologie und Psychotherapie an ihre Grenzen stoßen, wo es einen anderen Zugang braucht. Außerdem ist es erfrischend, in bequemer Haltung auf der Couch, im Garten, am Meer oder in den Bergen ein Buch zur Hand zu nehmen, in die Welt des Autors einzutauchen, alles andere zu vergessen und sich in einem therapeutischen Prozess wiederzufinden, ohne dass man dies so richtig bemerkt. Erst im Nachhinein erkennt man, dass man wie in Trance war, die Aufmerksamkeit vollkommen absorbiert, fast wie in Selbst­hypnose, und sich etwas zu bewegen beginnt, das zuvor unbewegbar schien.

Wie soll man ein Buch lesen? Gibt es bestimmte Regeln, die man einzuhalten hat, einhalten sollte, um den wahren Wert des Geschriebenen zu erfassen? Braucht man eine solide Ausbildung in vergleichender Literaturkritik, in Dichtkunst, in Poesie? Kann man erst dann wirklich erfassen, was uns der Autor mitteilen will? Die Wirkung von Literatur ist ganz und gar subjektiv, kein Literaturkritiker kann wissen, wie ein Buch auf den Einzelnen wirkt, nicht einmal der Autor kann dies ahnen. Umso erstaunlicher die Wirkung, die durch einen Roman möglich ist.

Ein Buch ist eine Zusammenarbeit von demjenigen, der liest,
und dem, was ge­lesen wird, und bestenfalls ist dieses Zusammentreffen
eine Liebesge­schichte wie jede andere.

Rainer Moritz bringt es in „Die Überlebensbibliothek“ schön auf den Punkt:

Eine seltsame Macht scheint von diesem Erfundenen auszugehen; auf ver­schlungene Art und Weise berührt uns oft, was sich Autorinnen und Autoren ausgedacht haben, und verbindet sich mit unserem Leben, ohne dass wir genau zu sagen wüssten, wie und weshalb.

In der dystopischen Gesellschaft von George Orwells „1984“ findet der Hauptprotagonist, Winston Smith, Hoffnung in einem Buch.

Das Buch faszinierte ihn, oder, genauer gesagt, es bestärkte ihn. Es sagte ihm eigentlich nichts Neues, doch gerade das machte einen Teil seiner Anziehungskraft aus. Es sprach das aus, was er gesagt haben würde, hätte er Ordnung in seine konfusen Gedanken bringen können. Das Buch stammte von einem ihm verwandten Geist, der aber unendlich viel stärker, systematischer und weniger angstgepeinigt war.

Und Siri Hustvedt macht das Lesen in „Der Sommer ohne Männer“ zu einer Romanze.

Ein Buch ist eine Zusammenarbeit von demjenigen, der liest, und dem, was ge­lesen wird, und bestenfalls ist dieses Zusammentreffen eine Liebesge­schichte wie jede andere.

Bei einem Buch über Bibliotherapie kann die Auswahl nur subjektiv sein. Ich habe jene Romane gewählt, die mich selbst besonders angesprochen haben,
die mich zum Teil bereits seit der Jugend begleiten oder durch die Fügung des Schicksals erst vor kurzem in meine Hände gelangt sind. Es sind auch jene Romane, die bestimmte Themen meisterhaft beschreiben und auch durch ihre Sprache einen besonderen Zauber entfalten. Viele davon leicht lesbar innerhalb von Stunden verschlungen, manche durch ihre anspruchsvolle, mitunter auch fordernde Sprache den ruhigen Momenten vorbehalten, um ganz in deren Welt eintauchen zu können.

In diesem Zusammenhang bedanke ich mich ganz herzlich bei meiner Frau und Partnerin in der Praxis, Dr. Martina Schmid, die als Ärztin selbst um die Medizin von Romanen weiß und die es immer wieder versteht, mich mit besonderen Büchern zu überraschen, Bücher, zu denen ich selbst vielleicht nicht gegriffen hätte, die aber gerade deshalb eine wunderbare Ergänzung zu den selbst gewählten darstellen. Besonders bedanken möchte ich mich auch bei meinen Verlegerinnen, Dr. Sigrid Neulinger, für die jahrelange exzellente Zusammenarbeit und bei Mag. Jasmin Parapatits, die als gelernte Literatur­wissenschaftlerin eine wertvolle Hilfe bei der Auswahl der Bücher war.

Ich möchte Sie, liebe Leserin, lieber Leser, dazu ermuntern, mit einem besonderen Blick in die Welt der Bücher einzutauchen, die Bücher vielleicht etwas anders zu lesen als bisher, hinter die Kulissen zu blicken, manche Sätze nachklingen zu lassen und sich die nötige Zeit zu geben, damit besondere Geschichten und Formulierungen ihre Wirkung entfalten können.

Viel Vergnügen bei der Bibliotherapie!

Herzlichst Ihr

Dr. Norman Schmid

Liebe

Arten der Liebe

Verschiedene Wege, Beziehungen zu leben

Durch Liebe gerettet werden

Der Beginn und die Faszination der Liebe

Miteinander reden

Erotik und Sexualität


„Ein fliehendes Pferd“. Martin Walser

„Das Schicksal ist ein mieser Verräter“. John Green

„Das fremde Meer“. Katharina Hartwell

„Liebe am Papierrand“. Yoko Ogawa

„Das größere Wunder“. Thomas Glavinic

Arten der Liebe

Die Wege der Liebe sind vielfältig und so einzigartig wie die Menschen selbst. Jeder beschreibt Liebe etwas anders. Was uns zu allererst bei Liebe einfällt, ist die romantische Liebe, die auch „Eros“ genannt wird. Schmetterlinge im Bauch, nur noch an den anderen denken können, alles andere daneben verblassend, jede Minute mit dem anderen verbringen wollend, im Englischen mit „to fall in love“ so treffend beschrieben. Hier gibt es kein Halten mehr, kein Zögern, Zaudern, kein Überlegen, Analysieren oder Abwägen, sondern nur das Sich-Hineinstürzen in die Liebe. Ausschließlich Gefühl, kein Denken. Auch ohne Rücksicht auf Verluste. Diese Form der Liebe geht aufs Ganze, und nicht selten folgt auf das innere Brennen das Chaos, sei es durch widrige äußere Umstände oder dadurch, dass sich die Liebenden selbst und einander verzehren, wie ein Feuer, das außer Kontrolle gerät.

In „Das fremde Meer“ beschreibt Katharina Hartwell die romantische Liebe treffend: Bei unserer ersten Begegnung, da hast du mein Gehirn erschüttert. Tatsächlich erhole ich mich nie wieder von dieser ersten Erschütterung: Von hier an denke ich nicht mehr in geraden Bahnen; fortwährend entgleitet mir jeder Gedanke, jede Überlegung, und ich lande immer wieder bei dir.

Und später: Zu sagen, ich hätte mich verliebt, trifft es nicht. Mir ist das Englische lieber: to fall in love. Ich bin in die Liebe gefallen, ich bin in ihr untergegangen, bin versunken, mein Körper verschwand darin und alles, was ich gewesen war, was ich geglaubt habe, über mich zu wissen.

Von der romantischen Liebe ist es nicht weit zur besitzergreifenden Liebe, der „Mania“. Die Romantik wird dabei überhöht, Leidenschaft, Erotik und Sexualität werden maßlos. Der Partner wird zum Lebensmittelpunkt, um den sich alles dreht. Eifersucht ist dabei häufig und nicht nur auf mögliche Alternativ­partner begrenzt, sondern auch auf Freunde und Arbeitskollegen. Ein vertrauter Blick, ein längeres Gespräch oder eine Unternehmung mit jemand anderem kann bereits genügen und die Eifersucht zum Explodieren bringen. Mania-Liebende sind mehr in die Idee der Liebe verliebt als in den Partner. Projektionen sind dabei typisch, Vorstellungen davon, wie der Partner zu sein hat, Ideale, die in der Realität nicht zu erfüllen sind. Dem Partner wird kein Freiraum zugestanden, und auch selbst besteht kaum der Wunsch nach anderen Sozialkontakten, was zur bequemen Argumentation führt, dass man ja selbst auch keinen Freiraum benötige. Freiraum wollen wird mit mangelnder Liebe gleichgesetzt. Somit gleicht die besitzergreifende Liebe mehr einem Gefängnis.

Diese Form der Liebe treffen wir bei „Ein fliehendes Pferd“ von Martin Walser in Form von Klaus und Hel.

Bei manchen Paaren hat die Liebe weniger mit glühender Romantik zu tun, sondern mehr mit Freundschaft, Vertrauen und Verlässlichkeit. Diese freundschaftliche Liebe, auch „Storge“ genannt, wird getragen durch gemeinsame Interessen und Lebensanschauungen. Häufig entwickelt sich die Liebesbeziehung aus einer längeren Freundschaft heraus. „Wenn wir uns so gut verstehen, können wir doch auch als Paar zusammenleben“, könnte ein Leitsatz für diese Liebesform sein. Obwohl Toleranz, Vertrauen und Respekt zentrale Werte sind, kann (und soll!) sich auch eine sexuelle Anziehung im Lauf der Beziehung entwickeln. Man könnte auch von Liebe auf den zweiten Blick sprechen.

Die freundschaftliche Liebe wird in „Ein fliehendes Pferd“ von Helmut und Sabine Ham verkörpert, und auch wenn dies mit unseren Vorstellungen nicht so ganz harmoniert, ist diese Liebe nicht schlechter als die romantische, sie ist anders.

Die spielerische Liebe, treffend mit „Ludus“ umschrieben, steht für Spaß, Vergnügen, Abwechslung und Ungebundenheit. Es wird keine feste Beziehung beabsichtigt, das Leben soll einfach genossen werden, besonders in Bezug auf Sex. Die spielerisch Liebenden fühlen sich nicht exklusiv an einen anderen Partner gebunden, verschiedene Partner zur gleichen Zeit sind typisch. Klingt etwas chaotisch, ist es meistens auch. Aus dem Spaß wird oft Ernst, besonders wenn einer mehr möchte, mehr Romantik, Vertrautheit und Sicherheit. Das führt dann fast unweigerlich zu Enttäuschungen und „gebrochenen Herzen“. Oder beide Partner stellen fest, dass das Vorspiel nur das Intro in eine feste Beziehung war. Vielleicht ist Ludus auch eine Möglichkeit, einem Partner, der Bindungsprobleme hatte, seine Freiheit zu geben, um ihn oder sie dann zu einer echten, stabilen Partnerschaft zu führen. Klingt wie eine Finte, ist es manchmal auch. Aber manche Menschen muss man zu ihrem Glück einfach über­rumpeln.

Wenn das Wohl der geliebten Person im Vordergrund steht, handelt es sich um die altruistische Liebe. Im Griechischen wird das Wort „Agape“ dafür verwendet und beschreibt die göttliche Liebe. Im neuen Testament beschreibt Agape die Liebesmahlfeier, bei der mitgebrachtes Brot und Wein geteilt wurde. Entsprechend werden bei der altruistischen Liebe eigene Bedürfnisse hintangestellt, das Glück des anderen ist wichtiger als das eigene. Diese Liebe ist häufig bei Eltern in Bezug auf ihre Kinder zu finden. Bei Partnerschaften ist diese Liebesform seltener als andere. Auch wenn der Hintergrund dieser Liebe moralisch hochstehend ist, so kann dies dennoch zu Spannungen in diesen Beziehungen führen. Der Partner entwickelt eventuell ein schlechtes Gewissen, wenn jeder Wunsch von den Augen abgelesen wird, und besonders dann, wenn der Altruismus nicht vollständig erwidert werden kann. Manche fühlen sich dann auch unter Zugzwang oder gar manipuliert. Was soll man denn auch tun, wenn der andere gar keine Bedürfnisse ausdrückt, wenn man sich nicht revanchieren kann, es einem unmöglich gemacht wird, dem Anderen Gutes zu tun, da einem dieser immer zuvorkommt? Auf lange Sicht ist dies aber auch keine empfehlenswerte Situation für den altruistisch Liebenden, werden doch die eigenen Bedürfnisse zu wenig beachtet, das Leben zu sehr auf den Partner abgestimmt und damit das eigene Leben, die Individualität vernachlässigt.

Bei der pragmatischen Liebe, „Pragma“, sieht es auf den ersten Blick nicht nach Liebe aus, gleicht diese doch eher einer perfekt funktionierenden Wohngemeinschaft. Vernunftgründe sind die Grundlage der Beziehung. Präzise aufeinander abgestimmte Aufgabenaufteilungen, Rollen und Verantwortungen, die jeder einnimmt. Dabei sind die Rollen von Beruf, Familie, Kindern und Haushalt in modernen Familien (hoffentlich) längst nicht mehr klassisch verteilt, sondern gemeinsam gestaltet und ausgewogen auf Frau und Mann ausbalanciert. Die Suche nach dem Partner gleicht einem Abarbeiten einer Check­liste: gemeinsame Hobbys, Kinderwunsch, Urlaubsplanung, wohnen in einem Haus oder einer Wohnung. Emotionen sind bei diesem Beziehungstyp nachrangig. Doch bleibt bei all diesen praktischen und auch notwendigen Alltäglichkeiten dadurch nicht die Liebe auf der Strecke? Nicht unbedingt. Dieses gut geölte Paar- und Familienleben kann zu tiefer Zuneigung, Stabilität und Vertrauen führen, einem Geborgensein durch die Gegenwart des anderen. Ein nicht minder wichtiger Aspekt einer Liebesbeziehung.

Diese Liebesstile sind selten in ganz reiner Form vorhanden, bei den meisten Menschen gibt es einen bunten Mix, bei dem der eine oder andere Typus dominiert. Auch über den Lauf der Zeit gibt es häufig einen Wandel. Die romantische oder manische Liebe geht häufig in eine beständigere Form über. Das ist keine reine Alterserscheinung, sondern hat mehr mit der Entwicklung der eigenen Persönlichkeit zu tun. Eine ausreichende, besser üppige Portion Romantik und Leidenschaft sollte man sich dennoch im gesamten Leben bewahren!

Verschiedene Wege,
Beziehungen zu leben

Ein fliehendes Pferd

Martin Walser

Martin Walser beschreibt in „Ein fliehendes Pferd“ zwei Ehepaare, die sich an in einem Urlaubsort am Bodensee treffen und einige Tage gemeinsam verbringen. Gänzlich fremd sind einander diese Paare nicht, verbindet doch die Männer die gemeinsame Schulzeit.
Das scheint aber auch schon alles zu sein, versucht doch Helmut, die Bekanntschaft herunterzuspielen, auszuweichen, um sich wieder seinem beschaulichen Urlaubsdasein widmen zu können.
Bei Klaus ist dies gänzlich anders, ist er doch so begeistert von diesem Treffen, dass er kaum zu bremsen ist, zum Leidwesen von Helmut.
Die Frauen der beiden gehen unbekümmerter und offener auf das jeweils andere Paar zu, freilich beeinflusst vom Enthusiasmus des Einen und der Distanziertheit des Anderen. In dieser Novelle wird das Unterschiedliche der Paare, der Lebensweisen, der Gestaltung
des Lebens und der Beziehungen pointiert aufgezeigt und genau dann, wenn man sich als Leser sicher wiegt im Verlauf der Geschichte, kommt es nicht nur zu einer drastischen Kulmination der sich bereits abzeichnenden Entwicklung, sondern auch zu überraschenden Wendungen, die man diesem Buch nicht zugetraut hätte.

„Ein fliehendes Pferd“ beginnt mit der Beschreibung einer scheinbar beschau­lichen Urlaubsidylle von Helmut und Sabine Ham, die sich wie schon viele Jahre zuvor in einem kleinen Ort am Bodensee gemütlich einrichten wollen. Einer scheinbaren Beschaulichkeit deswegen, da Helmut und Sabine etwas abweichende Vorstellungen davon haben, wie ein idealer Urlaub aussehen sollte. Helmut hatte das Gefühl, die Stühle dieses Cafés seien für ihn zu klein, aber Sabine saß schon. Er hätte auch nie einen Platz in der ersten Reihe genommen. So dicht an den in beiden Richtungen Vorbeiströmenden sah man doch nichts. Man sah wenig. Von dem wenigen aber zuviel. Das sind die kleinen Unterschiede in Beziehungen, wie diese bereits vom ersten Tag an vorhanden sind oder erst nach vielen Jahren entstehen. Jedenfalls nichts Besorgnis­er­re­gendes, wenn denn nur das große Ganze stimmig ist, man den gleichen Kurs vor Augen hat und nur hie und da kleine Abweichungen dem anderen kleine Kompromisse abverlangen.

Helmut ist der Protagonist eines Lebensstils, der das Gewohnte, Beständige zelebriert und den Veränderungen, und seien sie auch noch so klein, aus der Bahn zu werfen drohen. In der Ferienwohnung wäre es auch nicht mehr so heiß wie auf dieser steinigen, baumlosen Promenade. Und jede zweite Erscheinung hier führte ein Ausmaß an Abenteuer an einem vorbei, daß das Zuschauen zu einem rasch anwachsenden Unglück wurde.

In dieser Hinsicht ist seine Frau Sabine ganz anders, genießt sie es doch, den Strom der Promenierenden zu beobachten. Sie kann sich kaum daran sattsehen. Helmut hingegen zieht es mehr zu seinen Büchern, diese in Ruhe zu lesen, sich seinen Gedanken hinzugeben und nicht gestört zu werden durch Vordergründiges. Das war auch bereits in der Schulzeit so. Das hatte er als Fünzehnjähriger getan. Zarathustra hatte er auf dem Bauch liegend gelesen. Snob, wie er war, hatte er die französische Übersetzung gelesen. Ainsi parlait Zarathustra.

Und doch fällt ihm auf, dass die Beziehung mit Sabine in einigen Punkten etwas anderes brauchen würde oder brauchen sollte, weniger Ernst und mehr Leichtigkeit, sich dem Leben einfach hinzugeben, weniger tiefgründig zu denken und zu analysieren. Auch die kleinen Dinge des Lebens als lebenswert zu genießen.

Sabines Vergnügen an den Vorbeiströmenden hatte inzwischen ein Lächeln erzeugt, das sich nicht mehr änderte. Er genierte sich für Sabines Lächeln. Er berührte ihren Oberarm. Wahrscheinlich sollte man reden miteinander. Ein alt werdendes Paar, das stumm auf Caféstühlen sitzt und der lebendigsten Promenade zuschaut, sieht komisch aus.

Verständnis füreinander, zu wissen, wer der andere ist, den Partner mit all seinen Besonderheiten, Seltsamkeiten zu nehmen, wie dieser ist, gehört zu den wesentlichen Grundpfeilern einer stabilen Beziehung. Das bedeutet auch, Dinge, Kleinigkeiten, die einem nicht so gut gefallen, nicht weiter zu hinterfragen, sondern im Sinne einer achtsamen Grundhaltung anzunehmen.

Die wesentlichen Dinge des Lebens, das, was einen im tiefsten Inneren beschäftigt, sollte man aber doch mit seinem Partner austauschen. Hier geht es um die großen Lebensentwürfe, die Lebensphilosophie, das Warum und Wie des Lebens. Werden diese Themen nicht ausgetauscht, kann sich ein Leben nebeneinander entwickelt, Parallelwelten, in denen sich jeder einzelne zurückzieht und dem anderen nur seine äußere Maske zeigt.

Etwas verschweigen kommt mir schön vor. Mein Ideal ist es, ruhig zusehen zu können, wenn man falsch verstanden wird. Dem Mißverständnis zustimmen, das möchte ich lernen.

Mit den Jahren können sich Lebenswelten voneinander entfernen, wie Wege, die zunächst parallel verlaufen, mit einer leichten Abweichung voneinander, die zunächst nicht wirklich auffällt, jedoch mit zunehmender Entfernung sich zu einer respektablen Distanz beläuft. Sabine macht sich in „Ein fliehendes Pferd“ auch so ihre Gedanken über die Ehe mit Helmut, über die Veränderungen, die sie bei ihm feststellen kann.

Er verändere sich durch sein Lesen, das schon. Er komme von keiner gelesenen Seite als der zurück, der die Seite aufschlug. … Auf jeden Fall komme er andauernd weiter, das erlebe sie. Sie auf jeden Fall komme da schon lang nicht mehr mit.

Während einige Paarbeziehungen auf Ruhe und Vertrautheit aufbauen, sind andere Beziehungen von Aktivität, Umtriebigkeit und ständiger Suche nach Neuem gekennzeichnet. Man könnte fast meinen, dass es manche Paare zu einem Wettbewerb hochstilisieren, möglichst viele Aktivitäten in der Freizeit unterzubringen. Nicht genug mit einem Theaterbesuch, es muss auch noch eine Matinée sein, das Treffen mit den Freunden, die Radtour im Grünen und das Fitness-Center. Es ist keine Zeit zu verlieren, zu kostbar ist das Leben, jede ungenützte Minute ein Versäumnis. Diese Geschäftigkeit wird entweder von einem forciert oder auch von beiden, im Sinne eines Turbo-Paares, das sich zu Höchstleistungen motiviert.

Der Urlaub der Hams wird mächtig durcheinandergewirbelt, als sie Klaus, einen ehemaligen Schulkollegen von Helmut, mit dessen neuer Frau treffen. Als er dieser Hel die Hand gab, spürte er, daß Klaus jetzt ein Kompliment erwartete. Das war eine Frau wie eine Trophäe. Ein Treffen, das für Helmut alles andere als erfreulich ist, sieht er doch seine ruhige Urlaubsplanung bedroht. Die beiden redeten. Redend setzten sie sich. Sitzend redeten sie weiter. Helmut dachte an die Tagebücher Kierkegaards.

Der Charakter und das Auftreten von Klaus könnte kaum unterschiedlicher zu Helmut sein. Sprudelnd vor Energie, immer auf der Jagd nach dem Abenteuer, immer in Hochspannung. Das Leben bedarf des Reizes, sagte Klaus Buch, sonst erlischt es. Das Lebendige braucht das ganz Neue. Die total unvorher­sehbare Reaktion, verstehst du, das ist das Leben. Also, paß einmal auf, Helmut, wie oft bummst du deine Frau?

Doch eine deutlich andere Beziehungsauffassung als bei Helmut und Sabine. Zumindest Helmut zieht es vor, Sex schön unter der Bettdecke zu halten, und das nicht wörtlich, sondern im übertragenen Sinn, treibt es doch bereits Schweißperlen auf seine Stirn, wenn er daran denkt, seine Frau könne sich zu ihm herüberkuscheln und mehr wollen als nur ein paar Streicheleinheiten. Das wäre ja noch schöner!

Einig sind sich Helmut und Klaus, wie sie mit ihren Frauen umgehen sollen, diese im Unklaren über die eigenen Motive und Bedürfnisse zu halten. Ich mache ihr was vor. Gibt Klaus zu. Ich halte sie kleiner als sie ist. Ich verführe sie zu Tätigkeiten, denen sie nicht gewachsen ist. Für den Fall, daß ich sie nicht mehr schaffe, verstehst du. Was ich bräuchte, ist ein Mensch wie du, Helmut. Ehrlich.

Bei Helmut: Er mußte Sabine wenigstens sagen, daß er nicht ruhig neben ihr liegen könne, solang er nicht wisse, ob sie ruhig neben ihm liege. Er beneidete Klaus Buch nicht um das, was der jetzt im Augenblick exekutieren mußte. Wirklich nicht?

Etwas mehr Ehrlichkeit würde den beiden Beziehungen gut tun. Aussprechen, was einen innen bewegt, was einem wichtig ist. Nicht darauf vertrauen, dass der andere dies von den Augen abliest, auch wenn sich viele dies wünschen würden. Aber es ist einer der größten Mythen von Beziehungen, dass der Partner nach vielen Jahren die eigenen Gedanken lesen kann. Das muss auch nicht weiter bedauerlich sein, braucht doch jede noch so vertraute Beziehung auch ein Quäntchen Unbekanntes, neu zu Entdeckendes. Zu viel Vertrautheit kann eben rasch in Langeweile münden, so wie zu viel Action dem Genuss, der Acht­samkeit, der Aufrichtigkeit im Wege stehen kann.

Die Liebe sollte kein Kampf sein, auch wenn eine gute Beziehung erarbeitet sein will. Es gibt zwar die romantischen Beziehungen, bei der zwei Menschen beim ersten Augenblick einander verfallen, so wie bei Romeo und Julia. Aber das sollte nicht für jeden die Richtschnur sein. Damit legt man sich die Latte doch etwas hoch. Tiefgreifende Beziehungen können sich auch über die Zeit entwickeln, vielleicht aus einer Freundschaft entstehen oder sogar einer anfangs bestehenden Antipathie. Zu schnell sind wir geneigt zu urteilen, den anderen in eine Schublade zu stecken, ausgelöst durch bestimmte Worte, Verhaltensweisen oder auch Informationen von Dritten. Der zweite oder dritte Anlauf sich näherzukommen wird dadurch noch etwas schwieriger. Es ist dann geradezu wie auf einem Minenfeld, das es zu überwinden gilt. Vielleicht auch von jeder Seite geschickt platzierte Tretfallen, bei denen man genüsslich darauf wartet, dass der andere hineintappt. Ist zwar etwas gemein, aber doch sehr menschlich. Wobei diese kleinen Gemeinheiten oder Neckereien auch schon etwas aussagen können über eine potenzielle Nähe. Ist einem jemand vollkommen gleichgültig, bringt man ja nicht einmal die Energie zum Necken auf. Insofern brauchen manche Beziehungen Zeit, müssen erarbeitet werden oder auch reifen, wie ein guter Tropfen Wein. In weiterer Folge können diese Beziehungen auch tragfähiger sein als die romantischen, sind sie doch bereits von Beginn an erprobt im Umgang mit unterschiedlichen Auffassungen und Standpunkten. Es wird dann nicht erwartet, dass man sich immer einig sein muss, es wird toleriert und geschätzt, dass der andere Meinungen vertritt, die der eigenen nicht hundertprozentig entsprechen. Das kann sogar als Bereicherung gewertet werden, nicht die Abbildung eines selbst neben sich zu haben, sondern einen Menschen, der einen im besten Fall ergänzt, genau das komplettiert, was einem fehlt. Dadurch können sich beide Partner nicht nur ergänzen und von den Andersartigkeiten des jeweils anderen nutznießen, sondern auch sich fördern und fordern und gemeinsam wachsen.

Das Schicksal ist ein mieser Verräter

John Green

Ein Roman über Liebe, Krankheit und Tod. Eigentlich ein Jugendroman, und doch so ergreifend geschrieben, dass man sich auch als Erwachsener zurückgesetzt fühlt in die magischen Momente der ersten großen Liebe. Und dann auch ernst und sehr erwachsen, wenn das Thema einer schweren Krankheit und des nahenden Todes beschrieben ist. Aber doch mit solcher Leichtigkeit und Wortwitz geschrieben, dass das Tragische seine Schwere verliert.
„Das Schicksal ist ein mieser Verräter“ handelt von Hazel Grace, die
an einem Schilddrüsentumor erkrankt ist und wegen der Lungenbeschwerden auf ein tragbares Sauerstoffgerät angewiesen ist. Auf Drängen ihrer Mutter, die überzeugt ist, dass Hazel depressiv ist, besucht sie widerwillig eine Selbsthilfegruppe.
Dort lernt sie Gus kennen, der durch einen Knochenmarkstumor
ein Bein verloren hat. Es entspinnt sich eine Liebesgeschichte
mit allen Höhen und Tiefen und der Besonderheit, dass
die gemeinsame Zeit begrenzt ist.

Der Besuch der Selbsthilfegruppe in der Episkopalkirche wird zu einem festen Bestandteil im Leben von Hazel. Einmal die Woche setzen wir uns in einem Kreis in der Mitte des Kreuzes zusammen, an der Stelle, wo sich im übertragenen Sinn die beiden Balken überschnitten, also da, wo Jesus’ Herz gewesen wäre.

Eines Tages lernt sie dort Gus kennen. Das Kennenlernen gestaltet sich zu Beginn etwas schwierig, wie so oft in Jugendjahren (und auch noch oft genug im Erwachsenenalter). Ein Junge starrte mich an. … Ich wandte den Blick ab, während mir mit einem Mal all meine tausend Schwächen bewusst wurden. Verunsichert und doch neugierig macht sich Hazel so ihre Gedanken und kann es nicht lassen, immer wieder hinzusehen. Der Junge beobachtete mich immer noch. Ich war kurz davor, rot zu werden.

Irgendwann beschloss ich, die richtige Strategie wäre, zurückzustarren. Immerhin haben Jungs kein Monopol aufs Starren. Also sah ich ihn von oben bis unten an, während Patrick zum tausendsten Mal von seinen verlorenen Eiern redete, und bald starrten der Junge und ich um die Wette. Nach einer Weile musste er grinsen, und dann endlich sah er mit seinen blauen Augen weg. Als er mich wieder ansah, zog ich die Brauen hoch, um ihm zu zeigen, dass ich gewonnen hatte.

Wie kompliziert ist doch oftmals das erste Kennenlernen. Wie soll man auf den anderen zugehen? Wie soll man den ersten Kontakt herstellen? Hier bewegt man sich auf einem schmalen Grat zwischen Zurückhaltung und Plumpheit, Nüchternheit und Kitsch. Wie man es auch anstellt, man läuft Gefahr, das Falsche zu tun. Schließlich kann man noch nicht wissen, wie der andere reagiert. Und die Gefahr eines Abblitzens ist allgegenwärtig.

Der Junge beobachtete mich immer noch. Ich war kurz davor, rot zu werden.

Das besonders Reizvolle und auch Ängstigende einer neuen Beziehung ist das wechselseitige Kennenlernen, zu erfahren, was der andere denkt, welche Erfahrungen gemacht wurden, was den anderen einzigartig sein lässt. Je mehr man vom anderen weiß, je intensiver man in die Welt des anderen eintaucht, umso mehr wird dies auch zur eigenen Welt. Das funktioniert nicht über Oberflächlichkeiten, über Small Talk, sondern nur über ehrliche, aufrichtige Gespräche.

„Was ist deine Geschichte?“, fragte er dann und setzte sich mit Sicherheitsabstand neben mich aufs Bett. „Die habe ich dir schon erzählt. Ich bekam die Diagnose, als ich …“

„Nein, nicht deine Krebsgeschichte. Deine Geschichte. Interessen, Hobbys, Leidenschaften, seltsame Fetische und so weiter.“

Genau dies, dieser bunte Mix der Persönlichkeit, macht das Besondere jedes Menschen aus. Genau dies will erkundet werden, wie bei einer Forschungsreise in ein fremdes Land, bei der man ganz aufmerksam, ganz achtsam ist.

Wird diesem Kennenlernen zu wenig Zeit geschenkt, bleibt eine Beziehung auf einer oberflächlichen Ebene stecken, wodurch vieles einer möglichen intensiven Beziehung vereitelt wird. Ganz wie wir es bei Klaus und Hel in „Ein fliehendes Pferd“ gesehen haben.

Besonders nach einiger Zeit, nach einigen Monaten oder Jahren stumpfen viele Beziehungen ab, wird die Routine des Alltags mehr zur Eintönigkeit denn zur Sicherheit. Viele Paare haben sich dann nichts mehr zu sagen. Jeder lebt sein Leben, das Paar lebt dann weniger miteinander, sondern eher nebeneinander. Wo zuvor das Kennenlernen gestanden hat, wird dieses nicht selten durch Entfremdung ersetzt, ein Sich-Auseinanderleben. Wenn nur noch dann miteinander geredet wird, wenn es um die Aufgabenteilung von Haushalt und Kindererziehung geht, dann ist Vorsicht geboten.

Dem muss allerdings nicht so sein, wie man in „Ein fliehendes Pferd“ liest.

Sie saß in der Abendsonne. Er im Schatten. Er hob den Ton an wie noch nie und sagte: Ach du. Einziger Mensch. Sabine. Er sah, daß sie das gern hörte. Das befähigte ihn zu einer weiteren, für sein Gefühl geradezu sprunghaften Tonanhebung. Du Angeschienene, du, sagte er. Mit deiner Stärke, von der du nichts weißt. Aus den Jahren herausschauen wie aus Rosen, das sieht dir gleich.

Durch Liebe gerettet werden

Das fremde Meer

Katharina Hartwell

Eine Liebe, zu groß, um sie in einer einzigen Geschichte zu erzählen. Katharina Hartwell entführt uns auf eine Reise an fremde Orte und Zeiten, zu der Geschichte von Marie und Jan, die sich in zehn Kapiteln finden, verlieren und wiederfinden. Der Leser wird mitgenommen in die Vergangenheit, zur berühmtesten Psychiatrie des
19. Jahrhunderts, der Salpêtrière in Paris, in das Märchenland des Winterwaldes, zur Wendestadt, bei der sich Häuser und ganze Stadtteile auflösen und an anderer Stelle wiederfinden, deshalb „Mobilien“ genannt, und auch zum Luftschiff Nereid23, das Patienten über die Wolken zur Sonne bringt, um sie von der Schattenkrankheit zu heilen. Die Geschichten sind teilweise einer möglichen Realität nahe, teilweise fiktiv und bizarr und immer einem gleichen Muster folgend. Der Verbindung von Marie und Jan, die jedes Mal etwas Besonderes ist, jedes Mal fragil und jedes Mal die Rettung der Liebe durch die Erzählung selbst.

Im Ideal der Liebe finden sich zwei Menschen, die sich ergänzen, vervollkommnen und erst zusammen ein Ganzes ergeben. So als hätte zuvor etwas gefehlt. Das kann nur ein vages Gefühl sein, ein Anflug, etwas würde noch nicht ganz passen, so wie bei einem Infekt, der sich anbahnt, um dann doch nicht auszubrechen. Bei anderen kann es eine tief empfundene Leere sein, so intensiv, als würde ein Arm oder ein Fuß fehlen. Eine psychische Labilität, die nur darauf wartet, vom idealen Partner gerettet zu werden.

Zuerst muss ich von mir erzählen. Und ich fange ganz am Anfang an. So be­­ginnt Marie in das „Das fremde Meer“ von Katharina Hartwell, ein Roman über die Rettung durch die Liebe.

In der Bibliothek sitzend bin ich sicher, dass der Zusammenbruch unmittelbar bevorsteht und ich eines Tages meinen Laptop zuklappen und nie wieder öffnen werde, ich werde schlafen, in der Bibliothek und zu Hause, an den Morgen, den Mittagen, den Abenden und durch die Wochenenden hindurch. Doch statt des großen Zusammenbruchs kommst du.

Die erste Geschichte entführt uns in die Wechselstadt, eine Stadt, bei der sich nach einem quantenphysikalischen Experiment (die Kunst der Bewegung) Gebäude auflösen, um an anderen Stellen wieder aufzutauchen. Dort treffen sich Moira und Jonas, die man als Marie und Jan wiedererkennt. Jonas sitzt bereits seit Tagen oder Wochen, so genau kann er das nicht sagen, in einem verlassenen Loft und wartet auf das Ende. Da taucht Moira auf.

Während sie seine Schränke durchsucht, mustert Jonas ihren Rücken, lang und schmal, ihr Haar, dunkel und strähnig. Und etwas in ihm bewegt sich. Dabei ist es lange still gewesen in Jonas … Jetzt aber hört und fühlt er es deutlich, ein Flattern, ein Rascheln. Es fühlt sich an, wie wenn – wie was?

Genau so geht es auch Verliebten, wenn sie sich zum ersten Mal begegnen, in den ersten Tagen des Kennenlernens und manchmal auch noch später, wenn ein Paar beginnt, sich wieder neu zu entdecken. Genau dies macht den Zauber der Liebe aus, dieses unbeschreibbare Gefühl, diese Empfindung, dieses sonderbare Etwas in einem drinnen, das nicht in Worte zu fassen ist. Wodurch etwas bewegt wird, angestoßen wie ein Resonanzkörper, der bei der richtigen Frequenz zu schwingen beginnt. Vielleicht ist das auch der Grund dafür, warum uns Musik derart bezaubern kann, wie es sonst nur der Liebe möglich ist.

Zuerst muss ich von mir erzählen. Und ich fange ganz am Anfang an.

Es kann auch ein Gefühl vorhanden sein, den anderen bereits zu kennen, zu vertraut scheint manches zu sein, wie eine Folge von wiederkehrenden Déjà-vus.

Moira betrachtet ihn, nein, sie ist ihm sicher noch nie begegnet. Doch mit einem Mal bemerkt sie es: Hier ist etwas, das sie kennt, das sie so schon einmal gesehen hat. Hier ist die alte Schwierigkeit, es zu benennen.

In der Geschichte über den Klinikaufenthalt in der Salpêtrière in Paris finden beide wieder zueinander. Ähnlich rätselhaft wie schon zuvor, ist die Begegnung, und doch sehr vertraut.

Er sieht dich an, etwas stellt sich scharf im Schwarz der Pupille oder im helleren Ring darum herum. Wo genau im Auge passiert das Erkennen, die Angst, die Freude? Du weißt es nicht, weißt nur: In den, vielleicht auch zwischen den Kreisen verrutscht etwas, justiert sich, ordnet sich neu. Er hat dich erkannt.

Besonders zu Beginn einer Liebesbeziehung ist der Wunsch nach Gemeinsamkeit so stark, dass das Getrenntsein eine Leere hinterlässt und auch körperlich spürbar ist, wie ein Schmerz.

Wenn du nicht weißt, wo Jacques sich aufhält, was er tut, mit wem er spricht, rennen tausend Ameisen durch deine Arme und Beine, tausend Ameisen, die dich aufspringen lassen.

So wie dieses Gefühl wie tausend Ameisen auf der Haut spürbar sein kann, kann das Herz brechen und natürlich auch wie Schmetterlinge im Bauch sein. Schöne Redewendungen, die ganz deutlich auf die enge Verbindung von Gefühlen, Gedanken und Körper hinweisen. Durch dieses körperliche Spüren wird ein Gefühl erst so richtig intensiv, lebendig und real. Dabei ist Peinigendes und Heilendes nah beieinander.

Niemand kann den anderen durch das Leben tragen, ihn aber begleiten und unterstützen. Beide Partner beeinflussen sich wechselseitig, können einander in schwierigen Zeiten Halt und Sicherheit geben und sich in guten Zeiten fördern und zu Besonderem oder Größerem anregen.

Weil es ihr, wenn sie auf der Bank sitzt und Ghostboy beim Sterben zusieht, scheint, als sei sie verantwortlich für das Scheitern oder Gelingen seines Kunststücks, als seien es ihre Augen, die dafür sorgen, dass er zwischen den beiden Möglichkeiten – zurückzufinden und verloren zu gehen – die richtige wählt. Dies erfahren wir bei der sechsten Geschichte von Katharina Hartwell über Ghostboy, einer Attraktion in einem Zirkus.

Und später in der Geisterfabrik. „Ich kann nicht …“, beginnt sie und bricht ab und starrt ihn weiter an, und weiß nicht, ob ihr Aufeinandertreffen eine Fügung ist oder ein Scherz, ein Zufall oder die Art von Schicksal, an die sie nicht glaubt. Ist es eine Probe, ist es ein Test? Ist sie hier, um ihn zu retten, oder ist er hier, um sie zu retten?