VOM SATTEL ZUM TANZPARKETT

THOMAS SCHÄFER-ELMAYER

Herausgeber

~ VOM SATTEL ~
ZUM TANZPARKETT

Die Lebensgeschichte meines Großvaters
Willy Elmayer

ISBN 978-3-218-00914-0
Copyright © 1966, 2014 by Verlag Kremayr & Scheriau GmbH & Co.KG, Wien
Alle Rechte vorbehalten
Schutzumschlaggestaltung: Kurt Hamtil, Wien
Illustrationen auf dem Cover und im Innenteil: Wilfried Zeller-Zellenberg
Gestaltung des Innenteils: Wilfried Zeller-Zellenberg, Reprint der Ausgabe von 1966
Typografische Gestaltung des Vorwortes: Kurt Hamtil, Wien
Datenkonvertierung E-Book: Nakadake, Wien

VORWORT

Als ich mich 1986 entschloss, die Leitung der Tanzschule Elmayer zu übernehmen, hatte ich vor allem die Befürchtung, dass mir die Fußstapfen meines Großvaters viel zu groß sein würden. Die 20 Jahre von 1966 bis 1986 hatten meine Eltern die Tanzschule gemeinsam mit dem ehemaligen Assistenten meines Großvaters und nunmehrigen Direktor Robert Hysek sehr erfolgreich geführt und die Elmayer-Tradition nahtlos fortgesetzt.

Welche außergewöhnliche Persönlichkeit Willy Elmayer war und was für ein abwechslungsreiches Leben er geführt hat, lesen Sie in diesem Buch, das kurz nach seinem Ableben 1966 erschienen ist. Es liest sich so flüssig und unterhaltsam, dass man es kaum weglegen kann, und führt uns in eine Zeit der unbegrenzten Möglichkeiten für einen energiegeladenen Macher wie Willy Elmayer.

Geboren am 27. Mai 1885 als Sohn von Feldmarschallleutnant Ludwig Elmayer von Vestenbrugg, kam er schon als Kind ins Internat des Militärgymnasiums. Oft hat er mir von seiner äußerst harten Jugend und den drakonischen Erziehungsmaßnahmen erzählt, die er dort über sich ergehen lassen musste. Die nächste Station war – für einen adeligen Offizierssohn wie ihn logischerweise – die Theresianische Militärakademie, wo er als Leutnant 1905 ausmusterte. Er wurde Reitlehrer im Dragonerregiment Kaiser Franz Nr. 1 und dann im k. u. k. Reitlehrinstitut, dessen höchste Auszeichnung er errang: die Silbernen Sporen. Eine seiner Leidenschaften waren Galopprennen. Er galt als einer der kühnsten, draufgängerischsten und besten Reiter der Armee. In dieser Disziplin war er so erfolgreich, dass er 1919 den Umbau der Pferdestallungen im Palais Pallavicini zu einer Tanzschule finanzieren konnte, indem er seine Reitpreise verpfändete. Allerdings hat ihn ein schwerer Sturz bei einem der berüchtigten Steeplechase-Galopprennen fast das Leben gekostet und für sein Leben gezeichnet: Seither hatte er ein etwas verkürztes Bein. Außerdem hatte er bei diesem Unfall ein Auge verloren. Ein monatelanger Spitalsaufenthalt und sein eiserner Wille stellten ihn jedoch so weit wieder her, dass er im Ersten Weltkrieg an der Front – vor allem in Italien – als Offizier der k. u. k. Truppen im Einsatz war und mehrfach verwundet und hoch dekoriert wurde.

Davor aber war er als Jugenderzieher auf der Kavallerie-Kadettenschule in Mährisch-Weißkirchen tätig. Und diese Aufgabe war die beste Vorbereitung auf seinen späteren engagierten Einsatz in der Jugenderziehung in Wien innerhalb und außerhalb der Tanzschule Elmayer.

1918 kam Willy Elmayer als Rittmeister heim und arbeitete zunächst in einem Ministerium. Sehr bald vermisste er dort den Umgang mit jungen Menschen und seine Arbeit in der Jugenderziehung. Da fiel ihm ein Buch in die Hände, das die Geschichte eines französischen Offiziers beschrieb, der – ähnlich seinem eigenen Schicksal – sein Leben ohne die Grande Armee nach der Niederlage Napoleons ebenfalls neu organisieren musste. Dieser französische Offizier gründete etwa 100 Jahre vor dem Ersten Weltkrieg eine Tanzschule in Paris.

Willy Elmayer verbanden verschiedene Aktivitäten und gemeinsame Erlebnisse mit dem Eigentümer des Palais Pallavicini, Markgraf Pallavicini. Unter anderem unterstützten beide intensiv die vertriebene Familie des letzten Habsburger Kaisers Karl. Beispielsweise brachte mein Großvater verschiedene Gegenstände – darunter ein Grammophon – von Wien nach Madeira. Dank dieser Freundschaft mit der Familie Pallavicini kam es zu der Idee, die leer stehenden Pferdestallungen in der Bräunerstraße zu einer Tanzschule umzubauen.

Dieses umfangreiche Bauprojekt überstieg die finanziellen Ressourcen meines Großvaters bei weitem, sodass er in eine besorgniserregende finanzielle Lage geriet. Es ist bezeichnend für seinen überaus großmütigen Charakter und seine karitativen Überzeugungen, dass er auch in dieser Situation unzähligen durch den Krieg in Not geratenen Menschen und Organisationen finanzielle Unterstützung gewährte. Hilfsbereitschaft war für ihn immer die wichtigste Facette des „guten Benehmens“. Er setzte sich auch persönlich mit aller Kraft für vom Schicksal benachteiligte Menschen ein. So brachte er Kindern von verarmten Familien persönlich Weihnachts- und Geburtstagsgeschenke, verteilte in Gefängnissen Radioapparate, besuchte Versehrte in Spitälern und unterstützte sie nach ihrer Entlassung, brachte sein organisatorisches Geschick und seine Erfahrungen durch seine Mitarbeit bei sozialen Projekten ein usw. Er brachte es nie übers Herz, Hilfestellung abzulehnen. Im Gegenteil: Die meisten Bittsteller wurden von seiner Großzügigkeit überwältigt.

Bis heute wird diese Tradition von der Tanzschule Elmayer weitergeführt. So geht der Erlös unseres Hofburgballes, des beliebten Elmayer-Kränzchens, jeden Faschingdienstag an das Haus der Barmherzigkeit und an eine zweite karitative Organisation. Weiters steht unverändert in allen Jahresprogrammen der Tanzschule Elmayer seit 1919 und inzwischen auch auf unserer Homepage, dass finanzielle Gründe auf keinen Fall einen jungen Menschen an der Teilnahme an unseren Jugendtanzkursen hindern dürfen und wir in sozialen Härtefällen Preisermäßigungen gewähren. Alljährlich besuchen etwa 200 junge Menschen unsere Tanzkurse aus diesen Gründen gratis.

Ab November 1919 und bis zu seinem Ableben im November 1966 war mein Großvater wieder Jugenderzieher, nunmehr in seiner (wie er immer betonte) „kleinen und bescheidenen Tanzschule“. Er war ein dynamischer, ideenreicher, innovativer und mutiger Unternehmer, der jede sich bietende Gelegenheit nutzte, um seine außergewöhnlichen Fähigkeiten als Grandseigneur, Lehrer, Entertainer, Organisator und Experte in Etikette-Fragen einzusetzen. Er war mit allen bedeutenden Persönlichkeiten in Österreich und vielen internationalen Prominenten bestens bekannt. Vor allem aber hat er für die Wiener Jugend einerseits und die Wiener Balltradition andererseits Fundamente im Tanz gelegt, auf denen die berühmten Wiener Bälle noch heute – ein halbes Jahrhundert nach seinem Ableben – in vielen Punkten ruhen.

Den durch meinen Großvater so nachhaltig geprägten, besonderen und unverwechselbaren Stil der Tanzschule Elmayer bemühe ich mich – gemeinsam mit meinem Team – lebendig zu erhalten, wenn auch den modernen Ansprüchen an Komfort und Qualität entsprechend. Immer noch verwenden wir im Tanzunterricht pädagogische Elemente, Begriffe und Redewendungen meines Großvaters. Ehemalige Elmayer-Schüler, die durch die Bräunerstraße gehen und dem Tanzunterricht zuhören, trauen oft ihren Ohren nicht, weil sie meinen, seine Stimme zu hören.

Auch dem vorbildhaften Engagement meines Großvaters für die Wiener Balltradition sind wir unverändert verpflichtet. Zahlreiche Dankschreiben – unter anderem von dem Ministerium, das die Leistungen von Willy Elmayer beim ersten Wiener Opernball 1935 würdigt – belegen, dass er auch auf diesem Gebiet Maßstäbe setzte.

Im Zweiten Weltkrieg rückte Willy Elmayer wieder ein, wurde wiederum hoch ausgezeichnet und rüstete 1945, erst als 60-Jähriger, im Rang eines Oberstleutnants endgültig ab. Im Bombenhagel auf Wien verlor er fast alles, nahm aber ungebeugt sofort die Arbeit an seinem Lebenswerk wieder auf. Bald waren die berühmten Wiener Bälle, deren Eröffnungen er schon vor dem Zweiten Weltkrieg gestaltet hatte, wieder eine Domäne der Tanzschule Elmayer.

Berühmt wurde Willy Elmayer schließlich auch durch seine Benimmlehre. Nicht nur in den Tanzkursen in seiner Elmayerschule, sondern auch in seinen Büchern „Gutes Benehmen wieder gefragt“, „Früh übt sich“ und „Vom Sattel zum Tanzparkett“, die in fast 300.000 Exemplaren verkauft wurden, sowie in seinen Vorträgen und Radiosendungen hat er Hunderttausenden Menschen wertvolles Savoir Vivre, österreichische Lebenskultur und Elemente kultivierter Lebensqualität mit auf den Weg gegeben. Als vorbildhafter Gentleman hat er sich immer durch sein Taktgefühl, seine Bescheidenheit und seine Großmut ausgezeichnet und durch sein eigenes Verhalten das seiner Mitmenschen positiv beeinflusst.

„Vom Sattel zum Tanzparkett“ beleuchtet wichtige Passagen im Leben eines Mannes, für den auch Nächstenliebe kein leeres Wort, sondern zentraler Bestandteil seines Wirkens war. Freuen Sie sich auf die Geschichte eines unglaublich dynamischen und äußerst erfolgreichen Selfmademans und die Schilderung der Höhen und Tiefen eines außergewöhnlichen österreichischen Lebensweges. Dieses Buch erweckt eine Welt zum Leben, in der die Menschen zwei Weltkriege und die spannende Zeit zwischen diesen beiden Katastrophen bewältigen mussten. Ich wünsche Ihnen unterhaltsame Stunden bei dieser ganz besonderen Lektüre.

Ihr
Thomas Schäfer-Elmayer
Wien, 18.11.2013

Herr Dr. Thomas Chorherr hat zum Entstehen dieses Buches durch seine wertvolle Mithilfe wesentlich beigetragen. Ihm gilt mein besonderer Dank.

IM SATTEL

Die Pferde

Der pferdebespannte Straßenbahnwagen ratterte langsam über die Schienen bergauf, vorbei an der Stiftskaserne. Der Kutscher – „Conducteur“ ließ er sich hochtrabend nennen – döste vor sich hin. Er konnte es sich leisten, denn der wichtigste Mann auf diesem ersten Teilstück der Pferdetramwaylinie vom Ring über die Mariahilfer Straße nach Penzing war der Vorreiter: jener Mann, dessen Aufgabe es war, mit einem zusätzlichen dritten Pferd den vollbesetzten Wagen über den Berg zur Stiftskaserne zu ziehen. Dort hielt das Gefährt, der Vorreiter spannte aus, der Conducteur war wieder Chef. Und während der blecherne Zweiachser in Richtung Neubaugasse zuckelte, trabte der Vorreiter bergab, zurück zur Babenbergerstraße, zum nächsten Wagen der Pferdetramway. Und alles begann wieder von vorne: das Anspannen, der erste Ruck bergauf, das mühevolle Ziehen.

Der Bub oben im Fenster der Stiftskaserne konnte sich nicht satt sehen. Die Pferdetramway, die an der elterlichen Wohnung vorüberführte, war der ganze Inhalt seines knapp sechsjährigen Lebens. Mit glänzenden Augen verfolgte er vor allem den Vorreiter, der ausgerechnet unter seinem Fenster ausspannte und umdrehte. „Ein Königreich für ein Pferd“, heißt es bei Shakespeare. Der Bub aus der Stiftkaserne hatte kein Königreich zu vergeben – höchstens einen Kreuzer vom kärglichen Taschengeld, das der Papa für die vier Söhne springen ließ. Er hätte den Kreuzer liebend gerne dem Vorreiter gegeben, hätte dieser nur einmal erlaubt, daß der Kleine so wie sein vielbewundertes Vorbild hoch zu Roß der Tramway voranreite. Vorreiter der Wiener Tramwaygesellschaft zu sein, das war damals, im Jahre 1891, der sehnlichste Wunsch des kleinen blonden Buben im Fenster der Stiftskaserne.

Der kleine blonde Bub war ich, Willy Elmayer, drittältester Sohn des Genieoffiziers Ludwig Elmayer. Das Wiehern der Pferde war gleichsam mein Wiegenlied gewesen, die k. u. k. militärärarische Atmosphäre mit ihrem so typischen Geruch von frischgeputztem Lederzeug und feuchtem Uniformtuch umgab meine Kindheit. Der Traum, Vorreiter zu werden, sollte sich erfüllen. Ich wurde Vorreiter, aber nicht bei der Tramway. Ich ritt vor Kaisern und Kronprinzen, vor Generälen und Rekruten. Ich ritt in zwei Weltkriegen. Die Pferde ließen mich mein ganzes Leben lang nicht los. Ihnen habe ich im Grunde alles zu verdanken: sogar meine Existenz. Denn mit errittenen Preisen finanzierte ich meine Tanzschule und in einem Pferdestall erteilte ich Anstandsunterricht.

Es war 1919. Ich stand auf der Straße – ein Reiteroffizier ohne Pferd, ein kaiserlicher Soldat ohne Kaiser, ein Sohn vermögender Eltern ohne Vermögen. Mein Vater, in Kroatien geboren, mußte sich vorerst ohne Pension durchfristen – und meine Mutter hatte ihr ganzes Geld in Kriegsanleihen angelegt und verloren, ein Los, das damals viele mit ihr teilten. Es waren trübe Zeiten für die Österreicher, trübe Zeiten für meine Familie.

Die Mutter traf das Schicksal doppelt schwer. Sie war erblindet. Auf mir lastete nun die Verantwortung für den pensionierten General ohne Pension und die Frau ohne Augenlicht. So bewarb ich mich – warum und wie, soll später erzählt werden – um eine Tanzlehrerkonzession. Und erhielt sie. Aber noch fehlte mir das Geld für ein Lokal. Also nichts? Keine Schule, kein Verdienst, kein neuer Aufstieg, keine Existenz?

Ein Schwiegerenkel des alten Kaisers, Otto Windisch-Grätz, der Gatte von Kronprinz Rudolfs Tochter Elisabeth, half mir. Es war, wie so oft, der Zufall, der mir zu Hilfe kam. Ich traf den Fürsten auf der Straße. Die Frage, wie es mir gehe, konnte ich leicht beantworten: „Schlecht.“ Warum? Ich erzählte es. „Ich habe eine Idee“, sagte Otto Windisch-Grätz. „Markgraf Pallavicini will seinen Pferdestall vermieten.“

Dem Markgrafen war, ebenso wie mir, das Geld knapp geworden. Aber immerhin: er hatte ein prächtiges Barockpalais am Josefsplatz, das sich verwerten ließ. Der Pferdestall vor allem – aus dem konnte man Geld machen. Für Pferde war damals, als die Motorisierung ihre ersten zaghaften Wellen schlug, im Weichbild der Stadt nur mehr in der „Spanischen Reitschule“ Platz. Alle anderen Stallungen wurden umgewandelt: in Garagen, in Ausstellungsräume – wie die Fischer von Erlachschen Hofstallungen an der Mariahilfer Straße –, in Geschäftslokale.

Etwas Derartiges schwebte auch dem Markgrafen Pallavicini vor. Er willigte trotzdem ein, als ich mich bei ihm vorstellte und als Mieter bewarb. Der Handel war bald perfekt – aber noch immer fehlte das Geld.

Da erinnerte ich mich an einen Herrn, für den ich, noch als Offizier im Reitlehrinstitut, gelegentlich den Inkassanten gespielt hatte. Er lieh jungen Offizieren Geld und wandte sich stets an mich, wenn einer der Schuldner nicht zahlen wollte. Mir gelang es dann immer, den Säumigen zum Begleichen der Schuld zu bewegen – meist, indem ich ihn an die sogenannte Standesehre erinnerte, manchmal aber auch, indem ich mit einer Exekution drohte. Jedenfalls: meine Interventionen waren immer von Erfolg gekrönt.

An diesen Herrn dachte ich also. Ob er sich auch an mich erinnerte? Er tat es. Mehr noch: ich schien ihm in guter Erinnerung geblieben zu sein. Denn er hörte sich meine Geschichte an, und dann griff er zum Scheckbuch. Ich frohlockte bereits: so leicht war es auch noch in der Nachkriegszeit, Schulden „wie ein Stabsoffizier“ zu machen? Auf meinen guten Namen, auf mein ehrliches Gesicht hin, wollte mir der Gönner die Summe vorstrecken?

Es ging nicht ganz so glatt. Denn die Feder hielt inne, noch bevor sie den Namenszug ganz unter die Summe auf dem Scheck geschrieben hatte. „Ganz ohne Sicherstellung – Sie verstehen – geht es natürlich nicht!“

Sicherstellung? Was konnte ich bieten? Den alten, barocken Pferdestall? Oder meine abgetragene, zerschlissene Uniform? Mehr besaß ich nicht. So glaubte ich zumindest.

Aber der Verleiher wußte es besser. „Sie haben doch Preise gewonnen, nicht wahr?“

Da war mir klar, worauf er hinauswollte. Er wollte meine Preise haben! Meinen Silberschatz, meine Pokale, erkämpft in vielen Rennen, in Concours Hippiques und Steeplechasen. Er wollte das haben, woran mein Reiterherz am meisten hing: die Erinnerung an die schönen, friedlichen, sorglosen Zeiten, da ich noch k. u. k. Kavallerieoffizier war.

Es waren fünf Kisten, gefüllt mit rund hundert schweren silbernen „Häferln“. Hundert erste Preise, hundert Siegestrophäen. Aber im Grunde hatte der Mann recht: Was nützten mir jetzt meine Pokale? Kein Hahn krähte mehr danach. Also weg mit ihnen. Mochten sie als Sicherstellung dienen! Ich sagte zu.

Aber der Gönner, der diese Bezeichnung jetzt schön langsam nicht mehr verdiente, wollte noch mehr. „Also die Preise als Sicherstellung“, sagte er, „und fünfzehn Prozent Zinsen. Und die Summe ist in Dollar fällig – selbstverständlich.“

Mir war das gar nicht selbstverständlich, aber ich verstand. Kronen standen damals in denkbar schlechtem Ruf – Adelskronen ebenso wie Kronennoten.

Ich war jung und optimistisch. Ich hatte den Krieg überlebt, warum sollte ich nicht auch die Inflation überleben? Noch einmal nickte ich mit dem Kopf. Und die Feder begann wieder zu schreiben, der Scheck wurde ausgefüllt. Ich war um hundert Silberpokale ärmer, aber um einen Pferdestall reicher. Also habe ich im Grunde alles, was ich heute bin, den Pferden zu verdanken. Später, in den zwanziger Jahren, konnte ich meine Preise wieder einlösen. Pünktlich und in bar – und natürlich, wie verlangt, in Dollar – bezahlte ich meine Schuld und konnte meinen Einsatz kassieren.

„Ich habe gewußt, daß Sie ein tüchtiger Mensch sind. Und ein guter Tänzer waren Sie ja immer schon“, sagte mein Gönner. Und ich ließ mir die Kisten mit den Silberpreisen von zwei Dienstmännern in die Wohnung schaffen.

Von den hundert Pokalen ist kaum mehr als ein Dutzend erhalten geblieben. Die Galerie der silbernen Preise wurde gewaltsam umgeschmolzen – viele Jahre später, von der Glühhitze amerikanischer Brandbomben, die mein Haus in der Heinestraße in Schutt und Asche legten. Sic transit gloria mundi! Nur jene Trophäen blieben heil, die ich nicht in Vitrinen daheim aufgestellt hatte, sondern im Garderobekasten der Tanzschule aufbewahrte, also im Pferdestall. So haben mir die Pferde wieder geholfen!

Sie haben mir allerdings auch ganz schöne Blessuren zugefügt, meine geliebten Pferde. Und so sicher sie später meine Existenz begründeten – so sicher schien es mir im Jahre 1912, daß ein Pferd mein Leben zerstört habe. Ich wurde umgeritten und stürzte so schwer, daß ich einen doppelten Oberschenkelbruch erlitt. Die Ärzte sagten: „Reiten? Nie wieder! Gehen? Kaum!“ Ans Tanzen dachte ich damals überhaupt noch nicht.

Es war in Theresienstadt, und natürlich war ein Rennen schuld. Diese verflixte Lust am Galoppieren, am Springen, diese verhängnisvolle Freude, schneller zu sein als die anderen! Ich hatte bei Regimentsrennen bereits zweimal den ersten Preis gewonnen, als ich angeritten wurde. Das heißt: ein anderes Pferd rammte mein Tier, dieses stürzte, fiel auf mich und begrub mich unter seinem schweren Rücken. Ein stechender Schmerz durchzuckte mein Bein, ließ mich beinahe ohnmächtig werden. In einer Wolke von Staub und Sand kroch ich aus der Rennbahn, und da waren auch schon die Sanitäter alarmiert. Man schaffte mich auf einer Bahre zuerst in mein Zimmer, dann ins Lazarett. Und der Eiselsberg-Schüler Dr. Krondl, der mich untersuchte, zog die Stirne kraus: „Sie werden Ihre Reiterlaufbahn wahrscheinlich aufgeben müssen!“

Der Stich, den es mir gab, als ich diese Worte hörte, war schmerzhafter als jener nach dem Unfall auf der Reitbahn. Er ging mir durch Mark und Bein. Nie mehr reiten können – das war für mich gleichbedeutend mit nicht mehr leben können. Reiten, das hieß für mich: leben. Ich war aktiver Kavallerieoffizier, Reitlehrer – ein guter noch dazu, wie mir meine Vorgesetzten immer wieder versicherten und wovon meine „Häferlsammlung“ zeugte. Ich sollte meine Karriere aufgeben müssen? Am Ende in irgendeiner Schreibstube dahinvegetieren und ansonsten auf Krücken durchs Leben humpeln?

Wenn ich jemals in meinem Leben einen Augenblick daran gedacht habe, Schluß zu machen, dann war es damals. Denn meine ganze Zukunft schien mir zerstört, mein Leben sinnlos. Dann aber überlegte ich. Vielleicht …! Am Ende doch …! Ein Sprichwort der Römer kam mir in den Sinn, das mir aus dem Geschichtsunterricht in der Militärrealschule im Gedächtnis geblieben war: „Dum spiro, spero.“ Solange ich lebe, hoffe ich. Also hoffte ich. Worauf? Auf ein Wunder?

Es war kein Wunder, sondern die Tüchtigkeit meines Arztes, die mich die schwere Verletzung schließlich überwinden ließ. Zwar steckte damals, Anno 1912, die Unfallchirurgie in den Kinderschuhen. Böhler war noch weithin unbekannt, Knochenmarksnagelung kannte man in den Lazaretten der k. u. k. Garnisonen nicht. Dafür kannte man den Streckverband. Die Inquisition hätte kein perfekteres Marterwerkzeug erfinden können.

Man lag ausgestreckt im Bett. Das gebrochene Bein war hochgelagert und mit Heftpflaster umwickelt. Und daran hingen dreißig Kilo Gewicht. Die Pflaster konnten nicht gewechselt werden. Die Folgen stellten sich bald ein: Ekzeme, wunde Stellen, Entzündungen. Es war höllisch. Und das alles dauerte neuneinhalb Wochen. Jedesmal, wenn ich draußen vor dem Fenster ein Pferd wiehern hörte, gab es mir einen Riß – und neuer Schmerz fuhr mir durch die Glieder.

„Schon gut, schon gut“, sagte die Schwester, eine blonde Deutschböhmin, dann immer. „Es wird alles wieder gut.“ Mir schien dann, als ob Mitleid in ihrer Stimme mitschwinge. Das machte mich wütend. Ich wollte kein Mitleid. Ein Soldat – und Mitleid? Das paßte doch nicht zusammen!

Und dann endlich kam der große, heißersehnte Tag. Der Streckverband wurde gelöst. Ein Ärztekonsilium untersuchte mein Bein – und dann sagten die Herren in den weißen Mänteln: „Das Bein ist um drei Zentimeter kürzer geworden.“ Das hieß also wirklich: Nur mehr humpeln. Mit dem Stock gehen. Nicht mehr reiten. Ein neuer, tödlicher Schock?

„Wenn Sie sich bemühen, geht’s vielleicht wieder“, sagte Dr. Krondl, als die anderen das Zimmer verlassen hatten. Und dann erzählte er mir, was die Medizin an Therapie für Fälle wie den meinen bereithalte. In erster Linie Heilgymnastik. Aber das sei anstrengend, meinte er.

Anstrengend? Das war mir egal. Nur wieder gehen können, wieder reiten können! Willig unterwarf ich mich allen Qualen. Nie hatte ich geahnt, daß Ärzte solche Folterwerkzeuge besäßen. Ich wurde eingespannt, gedreht, gewendet, durchgewalkt, von Maschinen gerüttelt, massiert, gezerrt. Wochenlang, monatelang.

Aber am Ende konnte ich wieder gehen. Ich erinnere mich genau, wie ich das erstemal – natürlich noch auf Krücken – aus dem Zimmer humpelte und dann die Krücken fallen ließ. Zaghaft machte ich einige wenige Schritte, dann knickte ich ein. „Zu schwach“, konstatierte die Blondine in Schwesterntracht.

Ich biß die Zähne zusammen und versuchte es noch einmal. Und noch einmal – und immer wieder. Bis es endlich ging. Bis ich mich ohne Krücken vom Bett bis zu den Fenstern bewegen konnte.

Wieder eine Woche später saß ich auf dem Pferd. Die Kameraden starrten mich an wie ein Weltwunder. Denn beim Gehen mußte ich noch einen Stock benützen. Wenige Monate später, im Frühjahr, ritt ich zum ersten Male wieder ein Rennen – und gewann. Ich fühlte mich wie neugeboren. Die Pferde, meine geliebten Pferde, hatten mich wieder.

Noch einmal verletzte mich ein Tier schwer. Es war viele Jahre später, während des zweiten Weltkriegs, in Stockerau. Der Reiteroffizier, der später Tanzlehrer geworden war, hatte abermals die Uniform anziehen müssen. Ich war reaktiviert worden, als Rittmeister, und mußte in Stockerau eine Abteilung des Kavallerieregiments Nr. 11 übernehmen. Bei einem Stallbesuch trat ich unvorsichtig hinter eine Stute, das Tier schlug aus, und der Hufschlag traf mich ins Gesicht. Knochenzertrümmerung, Augenverletzung, konstatierten die Ärzte. Aber auch diese Schäden heilten wieder – und taten meiner Liebe zu den Pferden keinen Abbruch.

Der alte und der junge Kaiser

Ich sah den alten Herrn zum erstenmal, als er über die Mariahilfer Straße fuhr: im offenen Landauer, nicht etwa vierspännig, wie es sich für die k. u. k. Apostolische Majestät geziemt hätte, sondern mit zwei Schimmeln, und nur von Leibkutscher, Adjutant und Büchsenspanner begleitet. Wenn heute Potentaten vom Westbahnhof in die Stadt oder vom Hotel Imperial zu einem Staatsempfang nach Schönbrunn fahren, steht an jeder Straßenecke ein Polizist, und die Motorradeskorte verschafft sich mit Blaulicht und Folgetonhörnern freie Bahn. Damals fuhr Kaiser Franz Josef zweimal täglich nach Schönbrunn. Es gab weder Eskorte noch Polizeischutz, und die Mariahilfer Straße, schon in den neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts eine Hauptschlagader des Wiener Straßenverkehrs, wenngleich dieser auch nur aus Kutschen, Fiakern, Pferdelastwagen und einigen wenigen Autos bestand, bot ihr gewohntes Bild.

Wenn am Gehsteigrand die Herren die Hüte zogen, die Damen einen leichten Knicks andeuteten und die Rayonsposten der Polizei, die zufällig vorüberkamen, die Hand an den Rand der Pickelhaube legten, salutierte auch der alte Herr, und manchmal winkte er auch leicht mit der rechten Hand. Er gehörte damals schon zum Alltag der Mariahilfer Straße, wie er zum Alltag des Reiches gehörte. Er war bereits mehr als ein Symbol: er war eine Institution, der Kaiser Franz Josef.

Und ich winkte ihm zu, wenn ich aus dem Fenster unserer Wohnung in der Stiftskaserne auf die Straße blickte und den alten Herrn gerade vorüberfahren sah. Das erstemal war ich furchtbar aufgeregt und erzählte es jedem, der es hören wollte. Später wurde der Kaiser mit seiner Generalsuniform, den grünen Federn am Hut, den zwei weißen Schimmeln und dem Leibkutscher auch für mich etwas Alltägliches. Der Tramwayvorreiter lief ihm in der kindlichen Phantasie entschieden den Rang ab.

Ich ließ es mir dennoch damals nicht träumen, daß mich der zum Symbol des Reiches gewordene alte Herr einmal in Geschichte prüfen und meine Kenntnisse lobend hervorheben würde. Das war 1897, und ich war Zögling der Militärrealschule in Sankt Pölten. Schon Wochen vorher war es den Schülern mitgeteilt worden und seither mit Spannung erwartetes Hauptereignis des Jahres: Seine Majestät kommt die Schule inspizieren!

Wir übten bis zum Umfallen, schwitzten unsere blauen Uniformen mit den roten Aufschlägen durch und probierten immer und immer wieder: Aufstellung im Hof, Kommando, Meldung, Ehrenbezeigung, Vorbeimarsch. Und wieder: Kommando, Meldung, Ehrenbezeigung, Vorbeimarsch. Ich dachte an den freundlichen alten Herrn im Landauer und wunderte mich, daß so viel Aufhebens gemacht wurde, da der Kaiser doch genau wie auf der Mariahilfer Straße nur freundlich lächeln, winken und salutieren würde.

Er lächelte diesmal nicht, der alte Herr, und er winkte nicht. Er salutierte bloß, als er dann wirklich kam – diesmal nicht jovial-leutselig, sondern ganz oberster Kriegsherr. Sogar vor den Elf- und Zwölfjährigen. Denn immerhin handelte es sich ja um zukünftige Offiziere, um den Kern der großen, braven, tapferen Armee des Vielvölkerreiches.

Alles lief ab wie am Schnürchen. Wie geprobt – wie gehabt: Aufstelllung, Kommando, Meldung, Ehrenbezeigung, Vorbeimarsch. Die vier Kompanien Zöglinge gaben ihr Bestes, und die vierte – der letzte Jahrgang – wurde von mir höchstpersönlich kommandiert. Es war nicht die Hitze, die mir den Schweiß auf die Bubenstirn trieb, sondern die Angst. Denn ich hatte schon gemerkt, daß wir hier nicht auf dem Gehsteig der Mariahilfer Straße standen, sondern im Hof der Militärunterrealschule, und daß der Kaiser keineswegs freundliche, sondern streng geradeaus blickte und, wie wir schien – aber es war sicher nur Einbildung –, dabei doch immer nur auf mich schaute.

Es ging alles gut, trotz des gestrengen Gehabens des allerhöchsten Herrn. Nachher hieß es „Abtreten“, und wir liefen in die Klassen, in der Meinung, der Besuch sei vorüber, der Unterricht werde fortgesetzt. Der Unterricht wurde fortgesetzt – aber in Gegenwart des Kaisers. Und ich, ausgerechnet ich, mußte vor ihm eine Prüfung ablegen.

Seine Majestät besichtigte alle Schulräume, hielt sich aber in den meisten nur kurze Zeit auf. Als er unseren Saal betrat, der Jahrgangsälteste „Habt acht“ rief und wir uns erhoben und kerzengerade in den Bänken standen, die Hände an der Hosennaht, den Blick stramm nach vorne gerichtet, da schien mir Franz Josef etwas besser gelaunt zu sein als vorhin.

„Bitte Platz nehmen“, sagte er leise. Ich blickte mich suchend um. Wohin wird sich der Kaiser setzen? Auf den Katheder? Das schien doch wohl nicht ganz passend. In eine Bank? Etwa gar in die letzte? Der hohe Herr in der Generalsuniform, mit dem schneeweißen Backenbart, mit dem Säbel? Das schien noch unpassender. Sessel aber gab es im Klassenzimmer nicht.