Alexander
Schimmelbusch

Hochdeutschland

Roman

Impressum

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Tropen

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© 2018 Alexander Schimmelbusch

© 2018 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung

Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle Rechte vorbehalten

Cover: Zero Media GmbH, München

unter Verwendung eines Gemäldes von © Caspar David Friedrich: Der Morgen/akg-images

Datenkonvertierung: Dörlemann Satz, Lemförde

Printausgabe: ISBN 978-3-608-50380-7

E-Book: ISBN 978-3-608-11051-7

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Unser Anliegen ist es, eine Faktenbasis und
einen Interpretationsrahmen für notwendige
Diskussionen zu liefern. Dabei geht es uns nicht darum, ein fertiges Rezept oder ein bestimmtes Zielbild vorzugeben, sondern Optionsräume zu skizzieren.

McKinsey & Company

Frühjahr 2017

Eins

Als Victor beschleunigte, erzeugten die Wirbelschleppen hinter seinem elektrischen Porsche ein schauriges Pfeifen. Die Geschwindigkeit, der Wald, der sich als Dach über der Straße schloss, die perfekte Passform seines orthopädischen Schalensitzes – oft fühlte er sich auf dem Weg zur Arbeit, als würde er sterben.

Dabei sah er sich von oben, seine graue Maschine wie ein U-Boot in einem tiefgrünen Meer, ein Schiff der Klasse 212A der ThyssenKrupp Marine Systems zum Beispiel, an der er gerade einen Anteil von 33 % bei der Staatsholding von Katar platziert hatte.

Natürlich war ihm der Porsche peinlich, aber Victor war eine flexible Persönlichkeit. Es handelte sich um einen Firmenwagen, einen Anachronismus im Grunde, auf dem er bei seinem letzten Bankwechsel aber aus Prinzip bestanden hatte – aus Prinzip im umgangssprachlichen Sinne, also nicht einer Überzeugung Folge leistend, sondern da er spontan Lust gehabt hatte, nach einem Porsche zu verlangen, und da in Anbetracht des großen Interesses der Birken Bank an seiner Verpflichtung nur halbherzige Einwände zu erwarten gewesen waren.

Mal abgesehen davon, dass es sich bei seinem Shere Khan, so die Modellbezeichnung, wie bei jedem Porsche mittlerweile, um einen auf Porsche getrimmten Audi handelte, der im Kern wiederum nicht mehr als ein getunter Volkswagen war.

Als einer seiner Kunden, der Chef der Daimler AG, ihm vor kurzem bei einem Lunch die Zielsetzung anvertraut hatte, »Menschen davon träumen zu lassen, sich mit ihrem Auto ausdrücken und ihre Persönlichkeit darstellen zu können«, wäre ihm beinahe ein Bissen Branzino im Hals stecken geblieben. Denn etwas zu wollen mit seinem Auto, erschien Victor als armselig und deprimierend.

Natürlich hätte man ihm seine Wahl der elektrischen Variante als Resultat des Bedürfnisses auslegen können, einen uniformen Individualismus auszuleben – ein Risiko, das Victor durch den Wegfall der schauerlichen Motorsport-Assoziation, den das Fehlen eines brüllenden Triebwerks garantierte, allerdings mehr als aufgewogen sah. Der Shere Khan war in seinen Augen ganz einfach ein Standardprodukt seiner sozioökonomischen Gruppe, das außer seiner Zugehörigkeit zu dieser, die sich ohnehin kaum leugnen ließ, rein gar nichts über ihn aussagte.

Als er beim Fahren in den Wald hineinblickte, musste Victor an die Vergangenheit denken, nicht an seine eigene, sondern an die Vergangenheit im Allgemeinen: Die Stämme an der Fahrbahn verloren im Vorbeifliegen ihre Konturen, während tiefer im Wald stehende als beinahe stationär erschienen, als Angelpunkte, um die sich die Augenblicke der Gegenwart drehten. Es war nicht ungefährlich, hier die Augen von der Straße zu nehmen, in diesen Wäldern hatte es über die Jahre derart viele Unfälle gegeben, dass nun Schilder alle paar Kilometer eine vorsichtige Fahrweise anmahnten. Aber die Jugendlichen der Gegend besiegelten weiterhin ihre Schicksale, indem sie in ihren übermotorisierten Kleinwagen über Kurven hinausschossen, um in der ersten Reihe der kahlen Stämme hängenzubleiben.

Die Beeinträchtigten hausen im Taunus in den Gartengeschossen, in den Einliegerwohnungen. Die Toten liegen auf den idyllischen Friedhöfen begraben, auf denen Mahnmale auf die in Kriegen gefallenen Söhne der Dörfer verweisen und auf denen an Wochenenden Taunusmütter dabei zu beobachten sind, wie sie die Gräber ihrer Kinder gärtnerisch gestalten, in sportlichen Steppjacken, mit einem leichten Zittern in den Fingern.

Victor lebte in Falkenstein, in einem Haus aus Glas aus den 30er Jahren, das in der Nacht wie eine modernistische Lampe wirkte, die am Südhang des Altkönigs auf einem Felsen installiert worden war. Auch im Februar war man darin über dem Nebel. Vom IT-Support der Bank hatte er sich eine App der Apple-Tochter Cribz einrichten lassen, ein Kontrollpaneel für sein Zuhause, sodass er an jedem Ort der Welt Herr über all dessen Systeme war, über die Filteranlage seines Schwimmbeckens wie auch über den Anlasser seines Notstromaggregates.

Wenn ihm in seinem Büro langweilig war, einem Fischtank in Frankfurt im 32. Stockwerk, aus dem der Blick nach Norden bis nach Falkenstein ging, wischte er auf seinem Touchscreen hin und her, um in der Ferne seine große Lampe an- und auszuschalten. Er spielte mit dem Gedanken, das Morsen zu erlernen.

Aus allen Zimmern des Hauses war im Tal die Frankfurter Skyline zu sehen, deren Bohrtürme ihre Meißel in eine Tiefenströmung trieben, in unerschöpfliche, da erfundene Reserven. Der Wohlstand schwappte aus der Stadt, sodass zwischen Frankfurt und Falkenstein die letzten Makel der Nicht-Premiumhaftigkeit verschwanden, die letzten Reste von Armut und Kleinbürgertum, nicht aus den Seelen der Menschen, aber aus dem gesellschaftlichen Gewebe, das man sich am ehesten als eine pastellfarbene Seide hätte vorstellen können.

Er dachte an seine Tochter an diesem Frühlingstag, an die kleine Victoria, die seit der Trennung Victors von ihrer Mutter Antonia jedes zweite Wochenende bei ihm verbrachte. Die beiden hatten begonnen, das Baumhaus einzurichten, das er ihr in seinem Garten hatte bauen lassen, und am Dienstag würde er sie von der Schule abholen und außerplanmäßig mit in den Taunus nehmen, so war es vereinbart, um das Projekt schnell voranzutreiben.

Victor liebte seine Tochter auf die geradezu besessene Weise, auf die Kinder aus den schwindenden bürgerlichen Milieus damals geliebt wurden, und so war sie immer in seinen Gedanken. Während er auf der A66 nun der Innenstadt entgegenraste, dachte er an den langen Aaah-Laut, den Victoria von sich gab, wenn er mit ihr im Shere Khan über Kopfsteinpflaster fuhr, wobei der Laut aufgrund der kurzen Federwege des Sportwagens dann lustig gerüttelt wurde. Er dachte an ihre letzte E-Mail, in der seine Erstklässlerin ihm einen Traum geschildert hatte: Sie sei in »Falschrumland« aufgewacht, wo Nein Ja heiße und Ja Nein, wo die Bösen lieb und die Lieben böse seien.

Wenn Victor sie zurechtwies, aufgrund ihres Widerwillens, sich an die wenigen Regeln zu halten, auf denen er bestand, lenkte Victoria immer scheinheilig ein, um nach effektvoller Pause mit hervorblitzender Zunge ein leises Furzgeräusch zu erzeugen – um eine individuelle Note allgemeinen Disrespekts zu setzen, der ihre Mutter, wie Victor vermutete, geradewegs in den Wahnsinn trieb.

Antonia und er waren vor allem deshalb ein Paar geworden, da Victor sie zum richtigen Zeitpunkt getroffen hatte. Er war in einem Zustand gewesen, in dem er eine Freundin gebraucht hatte, im Sinne einer mit ihm befreundeten Person, einfach irgendeine Form der Nähe, um sich gegen die Depression zur Wehr setzen zu können, die das Resultat seiner damaligen Phase destruktiver Arbeitsbelastung gewesen war – einer finsteren Wolkendecke der Grenzerfahrung, durch die er sich hatte kämpfen müssen, um in das strahlende Licht des Reichtums emporzuschweben.

Sie hatte auf ihn sofort attraktiv, da seltsam unbelastet gewirkt, als ob sie keinen Druck verspürt, als ob sie keine Probleme gehabt hätte. Und sie war interessiert an ihm gewesen, oder zumindest an der Persona, als die er aufgetreten war: Schon in seiner Kindheit hatte er damit begonnen, für die Interaktion mit jedem Gegenüber eine maßgeschneiderte Persona zu entwickeln, die diesem das zeigen sollte, was es erwartete, und das geben, was es wollte, während Victor sich hinter der resultierenden Benutzeroberfläche verborgen halten konnte.

Die beiden hatten sich in der Alten Oper kennengelernt, auf der Sommerparty einer Anwaltskanzlei, als er sich von ihrem Tablett für sich allein immer gleich zwei Gläser Wein genommen hatte. Er hatte sie einfach gefragt, ob sie mal mit ihm essen gehen wollte, und sie hatte gleich Ja gesagt.

Antonia sprach fließend Italienisch – ihr Vater hatte Karriere im Mittelbau der Lufthansa gemacht, sodass sie als Kind in Italien und Kenia gelebt hatte –, und beim Italiener hatte sie daher für die beiden nicht nur auf Italienisch bestellt, sondern mit dem Padrone auch noch das in Deutschland beim Italiener obligatorische Bellissima-Tartufo-Porcini-Va-Bene-Parlando getrieben, was Victor insgeheim als enervierend empfunden hatte. Aber sie hatte ihm auch schöne Geschichten aus Afrika erzählt, von einem Äffchen beispielsweise, das am Morgen immer vor ihrem Fenster gesungen hatte.

Nach der Dorade hatten die beiden sich schon ganz vertraut ein Tiramisu geteilt. Mit den langen Dessertgabeln hatten sie sogar einen neckischen Kampf um die Amaretto-durchweichten Löffelbiskuits ausgetragen. Ihre Beziehung hatte acht Jahre lang gehalten, obwohl sie aus Victors Perspektive nicht auf Dauer angelegt gewesen war, was weniger mit Antonia und mehr damit zu tun gehabt hatte, dass eine Konstante in seinem Leben schon immer das Gefühl gewesen war, sich gerade in einer Übergangsphase zu befinden.

Momentan hatte Victor eine noch kaum definierte Affäre mit seiner Nachbarin Maia. Diese war dünn, ausgemergelt beinahe, mit einem asketischen Jil-Sander-Style und so einer Kunst-und-Kultur-Kurzhaarfrisur. Bei ihrem Anblick konnte man an eine schöne Dissidentin nach einem Monat im Hungerstreik denken. An Spitzhacken im Permafrost, an Uranabbau im Baikalgebirge. An den Holodomor in der Ukraine unter Stalin.

Die sowjetischen Assoziationen hatte Victor möglicherweise deshalb, da er Maia zum ersten Mal in Moskau gesehen hatte, auf seinem iPhone, während einer Besprechung. Sie war durch die Lücke in der Hecke in seinen Garten gekommen, wo sie die Bewegungsmelder und somit die Alert-Funktion seiner Cribz-App aktiviert hatte. Auf seinem Touchscreen hatte er sie dabei beobachten können, wie sie durch seine gläsernen Außenwände sein Interieur begutachtet hatte.

Sie hatte nur ein langes T-Shirt getragen, und Victor hatte sich gefragt, was sie wohl darunter angehabt hatte – nichts? Einen String von La Perla? Einen weißen Baumwollslip wie seine Freundinnen in der Schule damals? Bevor er sich im Detail Maias Irokesen hatte ausmalen können, hatte er mehrfach seine große Lampe an- und ausgeschaltet, woraufhin sie panisch geflohen war und Victor manisch aufgelacht hatte – dies war in einem Meeting mit dem Strategiechef der Gazprom gewesen.

Von Beginn an hatte es zwischen ihnen die unausgesprochene Abmachung gegeben, einander nichts über die eigene Situation zu erzählen, sodass sie am Morgen, wenn Maia übernachtet hatte, da ihr Mann auf Reisen war, über das Zeitgeschehen sprachen, über das, was in der Frankfurter Allgemeinen zu lesen war. Maia zeigte eine Vorliebe dafür, mit der Politik zu beginnen, was Victor zupasskam, da er selber lieber über das Feuilleton einstieg – fuck buddies, eingespielt wie ein Ehepaar.

Wenn Victor ihren Ehemann sah, einen jungen Deutschbanker der alten Schule, musste er jedes Mal an die sorgfältigen Pitches denken, von Historikern kürzlich im Keller der Hauptfiliale Hannover entdeckt, mit denen sich die Deutsche Bank Anfang der 40er Jahre um die Finanzierung verschiedener Bauabschnitte des Vernichtungslagers Auschwitz beworben hatte. Aber Maias Gatte war harmlos, ein Sonderling, so sah es Victor, die Art Mann, der Wälder zur Jagd pachtet und sich in einer Art Förster-Outfit in seiner Freizeit darin auf die Lauer legt, um zur Erholung mit einem Präzisionsgewehr Pelztiere zu exekutieren. Der die Kadaver dann ausweidet, häutet, trocken reifen lässt und schließlich fein häckselt, um aus ihnen delikate dünne Wildbratwürste zu drehen.

Maia war zwölf Jahre jünger als er, und Victor war zu Beginn entsetzt darüber gewesen, was das in seinem Alter für einen Unterschied machte. Natürlich gab es den Mythos vom Mann, der immer attraktiver wurde, und tatsächlich ließen Victor seine grauen Strähnen stimmiger erscheinen. Andererseits war er 39, im Rentenalter für Investmentbanker, und wenn er sich nur für ein paar Wochen gehen ließ, also zu viel soff und zu wenig Zeit auf seinen Mountainbikes verbrachte, machte sich sofort das Verbrauchte an ihm bemerkbar, als Vorbote einer verfrühten Greisenhaftigkeit, möglicherweise als Spätfolge der schon erwähnten Phase der systematischen Überarbeitung, die in Victors Fall erst vor sechs oder sieben Jahren in den relativ entspannten Rhythmus einer kaum noch hinterfragbaren Weisungstätigkeit umgeschlagen war.

Maia hingegen war makellos, trotz Unterernährung, sie benutzte kein Make-up, sondern nur diese obszön teure Crème de la Mer, die im Zuge ihrer Herstellung angeblich mit »La Mer« beschallt wurde, dem Zyklus aus drei symphonischen Skizzen von Debussy, um ihre Moleküle optimal auszurichten und somit ihre Effektivität zu maximieren. Ein Tiegel der Crème kostete daher mehr als tausend Euro, obwohl es sich dabei, so Victors Verdacht, wie auch der Konsens unter den Kollegen, mit denen er über das Thema gesprochen hatte, in Wahrheit um Nivea handelte.

Und dann gab es noch Valezska, eine polnische Masseurin im Spa des Adlon, in dem er wohnte, wenn er beruflich in Berlin zu tun hatte. Er verbrachte dort ganze Nachmittage, er ließ sich im Spa zum Beispiel auch die Haare schneiden, da es dort eine Wäscherin gab, die sich einen gepflegten Achselflaum stehen ließ, sodass Victor während des Waschvorganges in eine flauschige Höhle hinaufblicken konnte. Dies verlieh ihm ein Gefühl der Geborgenheit. Er hatte auch die Wortwechsel mit der Wäscherin zu schätzen gelernt, einen meditativen Floskel-Verkehr à la:

»Ist die Temperatur angenehm so?«

»Ja, danke.«

»Sie haben schönes Haar, so voll und kräftig.«

»Ihre Haare sind auch schön.«

»Aber Sie sind verspannt, gehen Sie noch zur Massage später?«

»Ja, zu Valezska.«

Als Victor ein Jahr lang deren Kunde gewesen war, hatte Valezska ihn gefragt, ob sie ihm nicht auch »Handentspannung« verschaffen sollte, was für ihn eine Erleichterung bedeutet hatte. Denn für einen heterosexuellen Mann unter dem Alter von 70 Jahren ist es unmöglich, im Zuge des Einölens seines nackten Körpers durch eine attraktive Frau nicht schon zu Beginn von einer aufdringlichen Erektion gepeinigt zu werden – die Valezska mit ihrem freundlichen Angebot nun quasi legitimiert hatte: Victors Erektion auf ihrer Massageliege war fortan salonfähig, ja, für die vereinbarte Transaktion sogar notwendig gewesen.

Er war also offiziell Single, was ihn in der Gesellschaft einer Gegend, deren grüne Hänge fast ausschließlich von Paaren bevölkert waren, zur Anomalie machte. Dies war Victor ebenso klar wie gleichgültig, da er sicher nicht in die Natur gezogen war, um in dieser dann an zivilisatorischen Ritualen teilzunehmen. Er kam allerdings nicht umhin, gelegentlich analytische Beobachtungen zu machen.

Zum Beispiel jene, dass hier oben noch entschlossen geheiratet wurde: Nach dem Ja-Wort absolvierte jedes Paar eine 18-monatige Planungsphase, um dann tagelang seiner Übereinkunft zu Teamwork und Monogamie huldigen zu lassen, auf uralten Rieslingweingütern, mit hundert anderen Paaren als Publikum und ohne einen Gedanken daran, ob diese Form der Selbstfeier im Falle von Menschen, die ja nichts Besonderes waren, keine Personen des öffentlichen Lebens, keine Figuren der Zeitgeschichte, nicht anmaßend und auf beinahe tragische Weise lächerlich erscheinen musste.

In den resultierenden Ehen war eine Sollbruchstelle angelegt, die einerseits auf das weibliche Idealbild der finanziellen Unabhängigkeit und andererseits auf die beneidenswerte ökonomische Lage der Partner zurückzuführen war. Diese wiederum war Resultat eines grundlegenden Paradigmenwechsels im Frankfurter Wohlstandsgefüge, der sich in den Jahren um die Jahrtausendwende vollzogen hatte.

Die beherzte Deregulierung der deutschen Kapitalmärkte, die Victor neben der Inkompetenz auch einer kindlichen Lust der politisch Verantwortlichen geschuldet sah, die Talare der sozialen Marktwirtschaft zu lüften, hatte in der Stadt eine neue Klasse von Angestellten geschaffen, die ungefähr ab ihrem 30. Lebensjahr über eine Million Euro im Jahr bezogen. In Victors Fall kam noch eine jährliche Ausschüttung hinzu, die sich, da er einer von nur drei Partnern der Birken Bank war, im letzten, eher durchschnittlichen Geschäftsjahr auf etwa neun Millionen Euro summiert hatte.

Was ihn dennoch verband mit seiner beruflichen Kohorte, war das Gefühl, mit Leichtigkeit zu Reichtum gelangt zu sein, mit einem absurden Übermaß an Arbeit zwar, aber abgesehen davon wie von ganz allein, sodass ihnen das viele Geld als irreal erschien, was ihrem Wirken im Dienste von Investmentbanken wiederum zuträglich war.

Parallel zu dieser Entwicklung hatten Frauen in ihrem Kampf um totale Gleichberechtigung Schlacht um Schlacht um Schlacht gewonnen und dadurch ein gesellschaftliches Klima geschaffen, in dem sie nicht ernst genommen wurden, wenn sie nicht beruflich erfolgreich waren. Es war kaum noch ein intelligenter Mann vorstellbar, der Lust auf eine Hausfrau hatte – von Rollenspielen mit Schürze und Nudelholz einmal abgesehen. Wer sich tatsächlich nach derart antiquierten Strukturen sehnte, würde Victors Einschätzung nach nicht in der Lage sein, auf unorthodox-visionäre Weise auf die Herausforderungen eines sich rapide und radikal transformierenden globalen Wettbewerbsumfeldes zu reagieren.

Und so entstanden Fliehkräfte in diesen Ehen, die als Allianzen autonomer Einheiten angelegt waren, da die Abwesenheit aller Erwerbszwänge die Ehefrauen mit der Versuchung konfrontierte, ihre Männerberufe aufzugeben, um fortan ihren Interessen nachzugehen. Um sich zu emanzipieren vom gesellschaftlichen Zwang, eine Führungsfunktion im Risikomanagement oder im Devisencontrolling auszuüben.

Um endlich etwas Kreatives zu machen – ein Bedürfnis, das Victors Einschätzung zufolge im Hochtaunuskreis in den kommenden Jahren zu einem Boom im Bau und der Vermarktung hochwertiger, aber kompakter Bungalows führen würde, klassischer Erstfrauen-Bungalows in bewaldeten B-Lagen, deren Bewohnerinnen im Heilklima gegen das seelenlose Surren ihrer Töpferscheiben würden antrinken können.

Im Büro vertiefte sich Victor in die Süddeutsche Zeitung, um sich in einen Zustand der Konzentration zu manövrieren. Es war früh am Nachmittag, Maia hatte bei ihm übernachtet, sodass der Morgen sich bis in den Vormittag erstreckt hatte. Auf der Titelseite ging es um eine Studie der Wohltätigkeitsorganisation Oxfam, die zum Ergebnis gekommen war, dass die acht reichsten Menschen der Welt ein höheres Vermögen als die gesamte ärmere Hälfte der Erdenbevölkerung akkumuliert hatten.

Auch in Deutschland, wo sich der Megatrend Ungleichheit vor allem in einer immer rigideren sozialen Undurchlässigkeit manifestierte, waren einer Umfrage des Blattes zufolge über 80 % der Befragten mit der Darstellung einverstanden, dass die Gesellschaft sich auf einen Zustand der »ökonomischen Apartheid« zubewegte.

Victor konnte nicht nachvollziehen, dass es diesbezüglich noch zu keiner radikalen Korrektur gekommen war. Natürlich, im vergangenen Jahrzehnt hatte sich das ganze politische Koordinatensystem nach links verschoben. Aber fundamentale Maßnahmen, etwa die Neuordnung der Eigentumsverhältnisse, waren entgegen seiner Erwartung bisher nicht Teil der Debatte gewesen. Woran mochte das liegen? Wo waren die roten Fahnen, wo waren die Mistgabeln? Warum ölte niemand eine Guillotine?

Auch war ihm nicht klar, warum diese Entwicklung eine solche Ablehnung in ihm hervorrief, denn er zählte zu ihren Profiteuren. Dass er es nicht ertragen konnte, wenn seine Prognosen nicht eintrafen, konnte dabei ja nicht die zentrale Rolle spielen. Seit Mitte der Nullerjahre, seit er begonnen hatte, viel Geld zu verdienen, hatte Victor immer wieder ökonometrische Modelle konstruiert, um zu einer belastbaren Einschätzung davon zu kommen, wie lange das gut gehen würde; wann das ewige Pendel von der Vermögenskonzentration wieder in Richtung der Kollektivierung sausen würde.

Er sah auf die Stadt hinab, in der er aufgewachsen war und die wie immer keinen Eindruck außer dem von Sauberkeit hinterließ. Seine Heimatstadt war zu einer Schmerzensgeld-Shoppingmall degeneriert, einem Trostpflaster dafür, sein Dasein der Mitwirkung an der Organisation und Abwicklung einer fortwährenden finanziellen Umschichtung widmen zu müssen.

Frankfurt war eine Stadt des Bürgertums gewesen, der Journalisten, Verleger, Ärzte, Kaufleute, Politiker, Anwälte, Piloten und Professoren, deren Einkommen in einem nachvollziehbaren Verhältnis zueinander gestanden hatten, wie auch zu jenen der Blaumannträger und, nahm Victor an, zu den Transferbezügen der Ausgestiegenen, die an Vormittagen in zerknitterten Anzügen vor den Trinkhallen an der frischen Luft gestanden hatten, die Rundschau vor sich, eine schöne Flasche Römer Pils in der Hand. Das Bürgertum hatte als Ensemble in den Wirtschaften gesessen, im Gemalten, im Operncafé, beim Claudio oder beim ersten Japaner der Stadt, in einem Gewölbekeller in der Nähe des Goethe-Hauses. An dessen Eingang hatte man die Schuhe aus- und Papierschlappen angezogen, die mit der Silhouette des Fuji bedruckt gewesen waren.

Victor konnte sich noch an das Vergnügen seiner Mutter erinnern, als sein Vater einmal spät nach Hause gekommen war und sich mit verwehtem Scheitel bemüht hatte, seiner Frau für die Teilnahme an einem wohl anlasslosen Sake-Gelage an einem Wochentag ein legitim klingendes Alibi aufzutischen – ein langes Konferenztelefonat, ein paar Gläser Sancerre dabei, Probleme mit der Handelstochter in Chicago, etwas in dieser Art. Dummerweise hatte er aber, ohne dies zu merken, die Glaubwürdigkeit seiner Erzählung durch das Tragen von papiernen Fuji-Schlappen untergraben.

Für Victor als Teenager war Frankfurt ein Abenteuerspielplatz gewesen, eine ungefährliche Stadt mit einem völlig enthemmten Nachtleben. Er hatte viel Zeit im Omen verbracht, wo die Hälfte der Gäste grundsätzlich vor den Waschräumen Schlange gestanden hatte, und im Maxim im Bahnhofsviertel, wo eine ausrangierte Dirne morgens um sechs immer mit einer Platte ekelerregender Brötchen die Runde gemacht hatte, die mit einer grau-violett changierenden Leichenwurst belegt gewesen waren.

Das Schlimmste, was einem hatte passieren können damals, war ein Tritt ins Gesicht durch den No-Name-Turnschuh eines halbstarken Kickboxers gewesen, eines Türken oder Marokkaners. Dieser hatte es in der Regel auf eine Chevignon-Jacke abgesehen, eine der mit Fellbesatz veredelten Bomberjacken, die unter Frankfurter Bürgerkindern damals der Standard gewesen waren und die sich der Nachwuchs-Kriminelle niemals hätte leisten können.

»Ey Alter, krasse Jacke«, hatte man also gehört, auf dem Heimweg, im Morgengrauen. »Isch will mal anprobieren.«

»Nee, lass mal gut sein.«

»Ey Alter, bleib stehen, isch will nur anprobieren!«

»Nee, jetzt lass mich mal.«

»Was?«

»Wie bitte?«

»Was hast du gesagt?«

»Was?«

»Du hast meine Mutter gefickt?«

»Wie bitte?«

Dann verlor man eben eine seiner Jacken oder einen seiner Zähne, hatte wegen der Betäubungsmittel aber keine Beschwerden.

Frankfurt war eine Stadt des Widerstandes gewesen, der Sympathisanten, Säufer, Junkies, Hausbesetzer, Stricher, Bombenleger, Schriftsteller, Punks und Jazzkneipengänger, die Befehlsempfängern gewichen waren, lebensängstlichen Untertanen, deren Vorgabe es war, die Wirklichkeit in Zahlen zu übersetzen, um sich mit der daraus resultierenden Finanzkraft von sich selbst ablenken zu können. Um es sich schön zu machen. Der gute Wein. Die Patek Philippe. Das schwere Teakholzmobiliar auf der Dachterrasse. Dior-Duftkerzen. Die Malediven.

Die Birken Bank, die auf M&A spezialisiert war, Mergers & Acquisitions, also Fusionen und Übernahmen, residierte auf den obersten Stockwerken des sogenannten Silberturmes, der jahrzehntelang der Dresdner Bank als Zentrale gedient hatte, bis diese ihren fehlgeleiteten M&A-Strategien zum Opfer gefallen war. Aus seinem schalldichten Glaskasten blickte Victor auf eine offene Etage, deren Layout ihn an ein Straflager erinnerte, als seien die zu versetzten Clustern arrangierten Schreibtische flache Betonbauten oder provisorische Holzbaracken.

Bei seinem Eintritt in die Bank hatte Victor den Entschluss gefasst, keine Empathie für seine Untergebenen zu entwickeln, die als Studenten dem vermessenen Irrtum aufgesessen waren, als Investmentbanker eine gesunde sogenannte Work-Life-Balance erwarten zu können. Einen Arbeitgeber, der ernst nehme, dass der Sinn der Arbeit das Leben sei. Dass Leistung immer mit Erholung und Ausgleich Hand in Hand gehe.

Seit einigen Jahren war in Vorstellungsgesprächen von der Spiritualität die Rede, vom Schwäche-Zeigen, vom Loslassen-Können, was Victor und seine Partner mit verbindlichen Mienen überhörten, bevor sie die Kandidaten ins Surf & Turf ausführten, wo es ein Côte de Boeuf für zwei für 186 Euro gab, ohne Beilagen. Denn beim Recruiting zeigte man den Kandidaten eine Sphäre der Harmonie und der Verfeinerung, von umsichtigen Anführern gesteuert, die man sich auch super als einfühlsame Mentoren vorstellen konnte.

Nach ihrer Unterschrift zeigte man den Rekruten das Straflager. Dies führte in der Regel zu einem Schockzustand, aber nur selten zu einer Kündigung, da die jungen Hoffnungsträger mit ihren makellosen Lebensläufen auf privaten Wirtschaftsakademien dazu konditioniert worden waren, um jeden Preis eine frühe Niederlage zu vermeiden. Es war für sie nicht diskutabel, als Versager dazustehen. Hinzu kam das Vorbild ihrer ein oder zwei Jahre älteren neuen Kollegen, die eine Art Versehrtheit in Würde ausstrahlten, einen von Illusionen befreiten Stoizismus, den viele der Neuzugänge dankbar als vorgefertigtes Lebensgefühl übernahmen. Etwaige Restwiderstände wurden von der Birken Bank identifiziert, analysiert und durch individuell maßgeschneiderte monetäre Anreize neutralisiert – für die Begünstigten oft eine demütigende Erfahrung.

Finanziell wäre ohne weiteres möglich gewesen, die Zahl der Häftlinge zu erhöhen, um ihr Arbeitspensum zu senken, aber Victor war dagegen. Ihm war an einer klaren Rollenverteilung gelegen, und die Rolle des Investmentbankers in den ersten Berufsjahren war es nun mal, und war es seit Erfindung der Branche immer gewesen, sich mit den Grenzen seiner physischen Kapazitäten vertraut zu machen. Der Lebensrhythmus des jungen Investmentbankers war der sogenannte magische Kreisverkehr: Er fuhr bei Sonnenaufgang mit dem Taxi nach Hause, ließ es warten, während er duschte, um sich dann wieder in die Bank fahren zu lassen.

Victor sah keine Notwendigkeit, hier eine Abkehr vom überlieferten Protokoll zu vollziehen. Er hatte immer nur für Investmentbanken gearbeitet und nun, da er seine eigene Investmentbank hatte, wollte er eine nach klassischem Schema. Er war nicht pervers, es machte ihm keine Freude, seine Mitarbeiter zu schinden. Aber er hatte auch kein Interesse daran, sich diesbezüglich kontrovers zu positionieren. Es gab Dinge, die konnte man tun oder lassen, so sah es Victor, aber an denen konnte man nicht nach Belieben herummodifizieren.

Die klare Rollenverteilung erlaubte ihm zudem eine effiziente Kommunikation und Führung, ohne den Unterhalt einer Vielzahl zwischenmenschlicher Beziehungen notwendig zu machen. Die Pflege der persönlichen Ebene mit seinen Partnern Julia und Baldur raubte Victor ohnehin schon einen Teil seiner Kraft. Julia saß in ihrem Glaskasten an der Südflanke der Etage, und während Victor sie nun beim Telefonieren beobachtete, sah er hinter ihr einen der Bussarde hinabstürzen, die auf dem Dach des Silberturmes nisteten.

Er kannte Julia seit 16 Jahren. Sie war zweimal seine direkte Vorgesetzte gewesen, erst bei Credit Suisse First Boston und dann bei UBS Warburg, den angelsächsischen Investmentbanking-Töchtern zweier Schweizer Großbanken, denen es nach ihren Akquisitionen dieser wie einem Bergsee ergangen war, in dem man eine invasive Spezies von paarungsfreudigen Raubfischen ausgesetzt hatte.