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Twelve Stars Initiative, Bertelsmann Stiftung (Hrsg.)

Twelve Stars

Philosophen schlagen einen Kurs für Europa vor

Übersetzt aus dem Englischen von Joachim Helfer, Karola Klatt und Kai Schnier

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der
Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten
sind im Internet über dnb.dnb.de abrufbar.

© 2019 Verlag Bertelsmann Stiftung, Gütersloh

www.bertelsmann-stiftung.de/verlag

Inhalt

Vorwort

Europäische Solidarität

Philippe Van Parijs: Die Eurodividende

Lisa Herzog: Betriebe sollten von Arbeitnehmer/innen geführt werden und die EU sollte solche neuen Formen der Unternehmensführung fördern

Juri Viehoff: Der Europäische Gedenktag

Nicholas Vrousalis: Für eine EU-weite 35-Stunden-Woche

Europas Geld

Peter Dietsch: Die Europäische Zentralbank sollte die Verteilungseffekte ihrer Geldpolitik berücksichtigen

Clément Fontan, Joakim Sandberg: Die Europäische Union soll sich mehr um ihre Einwohner/innen kümmern als um die Banken

Gabriel Wollner: Ein dreifaches Hoch auf die Finanztransaktionssteuer

Jens van ’t Klooster: Ein unidentifiziertes parlamentarisches Objekt für die Eurozone

Marco Meyer: Die EU sollte anhaltende Handelsbilanzüberschüsse innerhalb des Euroraums bestrafen

Europas Regeln

Mara-Daria Cojocaru: Die Europäische Union sollte Massentierhaltung bis 2030 abschaffen

Ingrid Robeyns: Für eine EU-weite Klimasteuer auf den Flugverkehr

Kalypso Nicolaïdis: Nachhaltige Integration als demokratische Herausforderung – ein Hoffnungsschimmer für die EU

Kasper Lippert-Rasmussen: Die EU und Altersdiskriminierung: Schafft die Zwangspensionierung ab!

Europa und die Welt

Cécile Fabre: Warum die EU eigene Streitkräfte aufbauen sollte

David Rodin: Nur aufgrund der Menschenrechte dürfen EU-Mitglieder bewaffnete Gewalt anwenden

Peter Niesen, Markus Patberg: Den Brexit umkehrbar machen

Mark Alfano: Die EU steht in der Verantwortung, den vom Klimawandel am schwersten betroffenen Inselstaaten zu helfen

Boudewijn de Bruin: Die EU ist kein Selbstzweck, sondern dient dem Frieden

Europas Verfassung

Rainer Forst: Toleranz in der Europäischen Union

Miriam Ronzoni: Das Europaparlament sollte nach transnationalen Listen gewählt werden

Richard Bellamy: Nationale Parlamente sollten mehr Einfluss auf die Entscheidungen der EU haben

Jakub Kloc-Konkołowicz: Die konzentrischen Kreise der Solidarität – oder wie lässt sich das Europäische mit dem Nationalen versöhnen?

Helder De Schutter: Die EU sollte eine Sprachakademie für europäisches Englisch errichten

Matthew Braham, Martin van Hees: Der Entwurf der Freiheit: Einheit in Vielfalt

Die Twelve Stars Initiative

Vorwort

Die zwölf Sterne in der EU-Flagge stehen für Europas Einheit in Vielfalt. Kurz vor den Europawahlen 2019 sind die Europäer jedoch entlang nationaler, ideologischer und kultureller Trennlinien gespalten. Die Twelve Stars Initiative gründet auf der Hoffnung, dass allgemeinverständlich formulierte philosophische Gedanken und Argumente einen konstruktiven Dialog in Gang zu setzen vermögen. Sie können uns helfen, in den Kontroversen über die Europäische Union das Gemeinsame und Verbindende zu entdecken. Philosophinnen und Philosophen diskutieren, was die auf kurzfristige Zustimmung angewiesenen Politikerinnen und Politiker oft nur ungern ansprechen: die langfristigen Weichenstellungen für die Zukunft, die seit geraumer Zeit nur noch auf europäischer Ebene getroffen werden können.

Über zwei Dutzend politische Philosophinnen und Philosophen aus allen Teilen Europas machen Vorschläge, was Europa in nächster Zeit tun sollte. Jeder Beitrag gründet auf politischer Philosophie. Entgegen dem verbreiteten Vorurteil vom Denker im Elfenbeinturm beziehen die Beitragenden zum Twelve Stars Projekt klare Standpunkte zu konkreten politischen Fragen. Jeder Essay macht einen kühnen Vorschlag, den Europa sofort umsetzen könnte. Das Ergebnis sind 24 originelle und zum Nachdenken anregende Essays, die neue Ideen und Lösungen zu den aktuellen politischen Entscheidungen vorstellen, denen sich Politikerinnen und Politiker und Bürgerinnen und Bürger in der Europäischen Union heute gegenübersehen.

Twelve Stars ist dabei nicht einfach eine Sammlung von Essays politischer Philosophinnen und Philosophen, sondern zugleich ein neues Format, in dem sich die Zivilgesellschaft im politischen Diskurs Gehör verschafft. Die Autorinnen und Autoren sprechen nicht als Fachleute oder Politikberaterinnen und Politikberater, sondern als Bürgerinnen und Bürger, die wie alle anderen einen bestimmten beruflichen Blickwinkel haben, in ihrem Fall eben den der Philosophie. Diese bestimmte Art, auf die Welt zu sehen, zeichnet sich durch ihre normative Ausrichtung aus. Alle Beiträge sind Teilantworten auf dieselbe umfassende Frage: Wie wollen wir in Europa leben?

Die jeweiligen Vorschläge haben wir zunächst einer besonderen Prüfung unterzogen, die wir den Teufelsadvokatentest nennen: Jeder Vorschlag wurde in einer eigenen Onlinedebatte vorgestellt und kritisiert, an der sich jeder beteiligen konnte, der oder die mit den Autorinnen und Autoren diskutieren wollte. Diese Onlinedebatten wurden von uns zusammengefasst und nach der Struktur der vorgebrachten Argumente analysiert. Diese Auswertungen wurden den Autorinnen und Autoren vor Ausarbeitung ihrer Essays mit der Bitte um Beachtung zur Verfügung gestellt. Leser, die überprüfen wollen, wie die Philosophinnen und Philosophen mit diesen Einwänden umgegangen sind, können dies tun, indem sie die Onlinedebatte im Netz nachlesen. Ein Link dazu findet sich am Ende jedes Essays. Für einen raschen Überblick haben wir zusätzlich die jeweils treffendsten Einwände in Schaubildern zusammengestellt.

Für diesen Teufelsadvokatentest haben wir das Onlineforum „Change my View“ benutzt. Es zeichnet sich durch eine bewährte Kultur des begründenden Debattierens aus sowie durch eine Funktion, die Teilnehmerinnen und Teilnehmer dafür belohnt, andere Teilnehmerinnen und Teilnehmer dazu gebracht zu haben, ihre Meinung oder Ansicht zu verändern. Für die zusammenfassende Übersicht am Schluss jedes Essays haben wir die Kommentare aus der Onlinedebatte danach sortiert, ob sie sich auf die Machbarkeit, die Nützlichkeit oder die Risiken des jeweiligen Vorschlags beziehen.

Herausgekommen ist weit mehr als eine Sammlung philosophischer Essays zur Zukunft der Europäischen Union. Im Anhang zu jedem Essay findet man eine Auswahl kritischer Kommentare sowie den QR-Tag zur vollständigen Diskussion. Ein Link verweist auf eine von uns recherchierte Übersicht, wie der jeweilige Vorschlag sich dazu verhält, was derzeit in der europäischen Politik tatsächlich geschieht, einschließlich laufender Gesetzgebungsverfahren. Auch diese Recherche stand den Autorinnen und Autoren zur Verfügung, bevor sie ihre Beiträge für diesen Band verfasst haben. Vor allem aber haben sie dabei die Onlinedebatte berücksichtigt, sodass sie in den Texten auf viele dort erhobene Einwände eingehen.

Die Twelve Stars Initiative und die Bertelsmann Stiftung danken der Universität Hamburg und der Heinrich-Böll-Stiftung für ihre Unterstützung der deutschen Ausgabe dieses Buches.

Marco Meyer

Twelve Stars Initiative

Joachim Helfer

Twelve Stars Initiative

Joachim Fritz-Vannahme

Senior Advisor, Programm Europas Zukunft
Bertelsmann Stiftung

Christian Kastrop

Director, Programm Europas Zukunft
Bertelsmann Stiftung

Europäische Solidarität

Philippe Van Parijs

Die Eurodividende

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Vorschlag

Die EU sollte jedem legalen Bewohner der Europäischen Union oder der Eurozone ein moderates Grundeinkommen zahlen, das durch die Mehrwertsteuer finanziert wird.

Begründung

Die Überweisung einer Eurodividende wäre sinnvoll, um Ungleichgewichte zwischen EU-Ländern zu beheben. Eine Eurodividende würde die Anreize für EU-Bürger, aus ärmeren Ländern fortzugehen, mindern. Eine Eurodividende würde außerdem EU-Staaten helfen, mit dem Druck auf ihre Wohlfahrtssysteme fertig zu werden, der durch den freien Grenzverkehr von Kapital, Personen, Waren und Dienstleistungen entsteht. Letztlich würde eine Eurodividende den Bürgern auch die Vorzüge einer EU-Mitgliedschaft deutlich machen.

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Philippe Van Parijs, geboren in Brüssel, Belgien. Professor an der Katholischen Universität Löwen, Belgien, wo er den Hoover-Lehrstuhl für Wirtschafts- und Sozialethik begründet hat.

Kritisieren ist leicht und unsere höchst unvollkommene Europäische Union (EU) ist eine dankbare Zielscheibe. Konkrete Verbesserungsvorschläge zu machen, ist sehr viel schwieriger. Hier ist einer: schlicht, radikal und doch genauso vernünftig wie dringlich.

Ich schlage eine Eurodividende vor. Sie besteht darin, jedem rechtmäßigen Einwohner der EU – oder zumindest jener Länder, die den Euro als Währung nutzen oder zugesagt haben, dies zu tun, sobald sie sie Voraussetzungen dafür erfüllen – ein bescheidenes Grundeinkommen auszuzahlen. Die Idee ist es, jedem Einwohner ein einheitliches und bedingungsloses Mindesteinkommen zu geben, das nach Belieben durch Arbeitsentgelte, Kapitaleinkünfte und Sozialleistungen aufgestockt werden kann. Die Höhe könnte entsprechend der unterschiedlichen Lebenshaltungskosten von Land zu Land variieren. Es könnte auch für ältere Menschen höher sein, für jüngere niedriger.

Der Begriff „Dividende“ – das „zu Verteilende“ – bezeichnet üblicherweise jenen Anteil eines Gewinns, den eine Aktiengesellschaft an ihre Aktionäre ausschüttet. Die Eurodividende kann als die Verteilung eines Teils der Gewinne der wirtschaftlichen Integration Europas an die Gesamtbevölkerung verstanden werden. Ich schlage vor, dafür die Mehrwertsteuer zu nutzen. Um allen Einwohnern der EU eine durchschnittliche Eurodividende von 200 Euro pro Monat auszahlen zu können, müsste man die Mehrwertsteuer EU-weit um ungefähr 20 Prozentpunkte erhöhen, was knapp 10 Prozent des Bruttoinlandsproduktes der EU entspräche.

Europa ist anders als die USA; deshalb brauchen wir die Eurodividende

Das sind happige Beträge. Warum benötigen wir ein so beispiellos großes Projekt? Im Folgenden werde ich vier Gründe anführen, von denen der dringlichste die anhaltende Krise in der Eurozone ist. Warum kommen die USA seit Jahrhunderten mit einer Einheitswährung gut zurecht, obwohl sich die amerikanischen Bundesstaaten stark unterscheiden und sich wirtschaftlich ganz unterschiedlich entwickeln, während die Eurozone schon nach einem Jahrzehnt am Rande des Zusammenbruchs stand? Warum haben die Vereinigten Staaten die Schäden der Finanzkrise mehr oder minder überwunden, während Europa noch immer unter ihr leidet? Ökonomen wie Milton Friedman und Amartya Sen haben uns immer wieder gewarnt: Vor der Einführung des Euros konnten europäische Staaten den Druck nur einseitig auftretender wirtschaftlicher Schocks oder von Land zu Land unterschiedlich verlaufender Entwicklungen durch das Sicherheitsventil der Wechselkursanpassung ablassen. Europa fehlen jedoch die beiden abfedernden Mechanismen, die den Vereinigten Staaten seit jeher als Ersatz für dieses Sicherheitsventil dienen.

Einer dieser Puffer sind die Wanderungsbewegungen zwischen den einzelnen Bundesstaaten. Der Anteil der US-Bürger, die in einem bestimmten Zeitraum von einem in den anderen Bundesstaat ziehen, ist ungefähr sechsmal höher als der Anteil der EU-Bürger, die ihren Wohnsitz in einen anderen EU-Mitgliedstaat verlegen. Europäer mögen zwar mit jeder Generation ein wenig mobiler werden. Inwieweit wir erwarten – oder auch hoffen – können, diesen ersten Ausgleichsmechanismus zu verstärken, wird durch die sprachliche Vielfalt auf unserem Kontinent jedoch eng begrenzt. Athens Arbeitslose werden niemals so mühelos nach München ziehen wie Jobsuchende aus Detroit nach Austin.

Der zweite wirksame Puffermechanismus der Dollarzone besteht aus einem automatischen Länderfinanzausgleich. In den USA wird er im Wesentlichen durch Sozialleistungen erreicht, die überwiegend auf Bundesebene organisiert und finanziert werden. Beide Puffer zusammen bewirken, dass Michigan oder Missouri in Wirtschaftskrisen niemals in eine Abwärtsspirale geraten könnten wie Griechenland. Die Arbeitslosigkeit wird bei ihnen durch Abwanderung gemildert. Zum anderen führen verringerte Steuereinnahmen bei gleichzeitig steigenden Sozialausgaben dazu, dass ein wachsender Teil dieser Sozialleistungen de facto vom Rest der USA bezahlt wird.

Nach jüngsten Schätzungen beträgt der Umfang dieses automatischen Ausgleichs – je nach angewandter Methode – zwischen 20 und 40 Prozent der Gesamtaufwendungen zur Abfederung des wirtschaftlichen Abschwungs eines Mitgliedstaates. In der EU hingegen wird weniger als ein Prozent dieser Kosten durch Anpassungen der zwischenstaatlichen Transferzahlungen aufgefangen.

Da EU-Bürger ungern auswandern und viele EU-Mitgliedsländer Einwanderer nur widerwillig aufnehmen, taugt Migration als Puffer innerhalb Europas kaum. Umso weniger kann die EU es sich leisten, ohne einen Länderfinanzausgleich auszukommen. Wie sollte er gestaltet werden? Theoretisch lässt sich ein EU-weiter Megawohlfahrtsstaat denken. Doch selbst die wenigen, die derlei für wünschenswert halten, müssen einräumen, dass es kaum je Wirklichkeit werden wird. Dafür sind die Unterschiede zwischen den bestehenden nationalen Sozialstaaten, an denen die Bürgerinnen und Bürger verständlicherweise hängen, einfach zu groß. Benötigt wird vielmehr eine zugleich maßvollere und gröbere, pauschalere Lösung, wie sie eher den Traditionen und Prinzipien der EU entspricht. Wenn unsere Währungsunion überleben soll, müssen wir sie mit neuen Instrumenten ausstatten. Eines davon ist ein Mechanismus, um wirtschaftliche Ungleichgewichte innerhalb der EU abzufedern; dies kann nur so etwas wie die Eurodividende sein.

Europas Vielfalt verlangt eine Eurodividende

Der zweite Grund, weshalb wir Transferleistungen zwischen den Nationalstaaten benötigen, betrifft die EU als Ganzes. Die sprachliche und kulturelle Vielfalt des europäischen Kontinents macht es nicht nur teurer und dementsprechend komplizierter für die betroffenen Menschen, von einem Staat in den anderen zu ziehen. Sie schmälert auch die Vorteile und erhöht die Kosten solcher Wanderungsbewegungen für die davon betroffenen Gesellschaften. Die gesellschaftliche wie wirtschaftliche Eingliederung in die neue Umgebung dauert länger, verlangt Verwaltung und Bildungseinrichtungen mehr ab und schafft länger anhaltende Spannungen als Umzüge zwischen den Staaten der USA. Wenn Migranten aus nicht nur ärmeren, sondern auch sprachlich und kulturell grundverschiedenen Ländern in wohlhabende Metropolregionen ziehen, dann kann das unter der dort ansässigen Bevölkerung den Eindruck einer Invasion wecken. Solche Gefühle als Rassismus anzuprangern, macht sie nicht weniger wirklich oder gefährlich.

Sie verstärken den Drang, Grenzen zu schließen und sowohl die Freizügigkeit als auch Diskriminierungsverbote zurückzunehmen. Die rasche Abwanderung großer Teile der Bevölkerung untergräbt zudem den gesellschaftlichen Zusammenhalt und die wirtschaftlichen Aussichten in den Herkunftsländern. Es gibt jedoch eine Alternative, die wesentlich weniger Unordnung stiftet: systematische Transferleistungen vom Zentrum in die Peripherie. Sie würden verhindern, dass Menschen, nur um ihren Lebensunterhalt zu sichern, entwurzelt würden und Heimat und Verwandte verlassen müssten. Stattdessen könnte die Bevölkerung in den abgebenden wie aufnehmenden Staaten so weit stabilisiert werden, dass die Einwanderung in den Wachstumsregionen besser verkraftet wird und die Abwanderung in den Randregionen weniger Schaden anrichtet. Wenn sie politisch Bestand haben und wirtschaftlich und sozial erfolgreich sein will, muss eine Europäische Union mit Personenfreizügigkeit etwas in der Art einer Eurodividende einführen.

Die vier Freiheiten des EU-Binnenmarkts erfordern die Eurodividende

Der dritte und tiefste Grund für die Eurodividende ist dieser: Die freie Bewegung von Menschen, Gütern, Dienstleistungen und Kapital über die Grenzen der EU-Mitgliedstaaten hinweg untergräbt deren Fähigkeit, jene Umverteilungsaufgaben wahrzunehmen, die sie in der Vergangenheit einigermaßen gut erfüllt haben. Sie sind nicht länger souveräne Staaten, die ihre Prioritäten demokratisch festlegen und Solidarität innerhalb ihrer Gesellschaften verwirklichen können. Ohne zwischenstaatliches Transfersystem, mit dem sich wirtschaftliche Ungleichgewichte ausgleichen lassen, zwingt die Freizügigkeit die EU-Staaten, sich mehr und mehr wie Unternehmen zu verhalten: Besessen von ihrer Wettbewerbsfähigkeit, stets besorgt, Finanz- oder Humankapital an die Konkurrenz zu verlieren, bemüht, Sozialleistungen zu kürzen, die keine Rendite versprechen, und alles zu streichen, was Wohlfahrtstouristen oder andere unproduktive Leute anlocken könnte. Es ist nicht mehr die Demokratie, die die Märkte ordnet und die Wirtschaft für ihre Zwecke nutzt. Es ist der Binnenmarkt, der der Demokratie seine Regeln aufdrängt und sie zwingt, der Wettbewerbsfähigkeit die höchste politische Priorität zu geben. Wenn wir unsere unterschiedlichen Weisen, Solidarität zu organisieren, aus dem Würgegriff des steuerlichen und gesellschaftlichen Wettbewerbs lösen wollen, müssen wir einige davon auf ein neues Niveau heben. Die Kraft und die Verschiedenheit unserer Wohlfahrtsstaaten werden dem mörderischen Wettbewerbsdruck nicht standhalten, wenn der europäische Binnenmarkt ohne einen Mechanismus wie die Eurodividende im Hintergrund arbeitet.

Zum Vierten und Letzten wird die EU nur funktionieren, ja in all ihren Dimensionen sogar nur überleben, wenn ihre Bürgerinnen und Bürger die Entscheidungen der EU als zulässig empfinden; wenn weder nationale Regierungen noch Privatpersonen sich berechtigt fühlen, sie auf jede nur denkbare Weise zu umgehen. Ein wesentlicher Gesichtspunkt von Legitimität ist es, dass Bürgerinnen und Bürger wahrnehmen, dass die EU etwas Spürbares für sie tut. Für jede und jeden von ihnen, nicht nur für die Eliten, die Macher, die Beweglichen, die in der Lage sind, die neuen Möglichkeiten zu nutzen, sondern auch für die Unterlegenen, die Zurückgelassenen, die Nichtberufstätigen und Vollzeiteltern. Bismarck festigte die wacklige Legitimität des von ihm vereinigten Deutschen Reichs, indem er die weltweit erste öffentliche Rentenversicherung einführte. Wenn die EU in den Augen der Menschen mehr sein will als eine herzlose Bürokratie, wenn sie als fürsorgliche Union wahrgenommen werden will, mit der sich jedermann identifizieren kann, dann muss sie Wege finden, das vollkommen Beispiellose Wirklichkeit werden zu lassen: eine Eurodividende für alle.

Einige Einwände

Gibt es berechtigte Einwände gegen diesen Vorschlag? Selbstverständlich gibt es sie, auch wenn in der Twelve-Stars-Onlinedebatte überraschend wenige vorgebracht wurden. So kann man zum Beispiel anzweifeln, ob es klug ist, eine Eurodividende über die Mehrwertsteuer zu finanzieren. Die Mehrwertsteuer ist die europaweit einheitlichste Form der Besteuerung. Aber wäre es nicht sinnvoller, die in diesem Band ebenfalls geforderte Finanztransaktionssteuer für die Finanzierung der Eurodividende zu nutzen? Oder auch eine Kohlendioxidsteuer? Was dagegen spricht, ist die Größenordnung: Was sich über Steuern auf Finanztransaktionen oder Kohlendioxid finanzieren ließe, entspräche selbst unter optimistischen Annahmen einer Eurodividende von nicht mehr als 10 bzw. 14 Euro im Monat.

Warum also nicht die progressivere Einkommensteuer heranziehen? Weil die Besteuerungsgrundlage beim Einkommen von Land zu Land sehr unterschiedlich bestimmt ist und politisch stets höchst umstritten ist. Zudem ist die Einkommensteuer in ihrer heutigen Form kaum noch progressiver als die Mehrwertsteuer. Aber wäre eine zusätzliche, auf die bestehenden nationalen Mehrwertsteuersätze aufgeschlagene EU-Mehrwertsteuer von 20 Prozent nicht untragbar und folglich nicht durchzuhalten? Die Antwort ist, dass die Mehrwertsteuer für die Eurodividende keineswegs auf die unveränderten nationalen Mehrwertsteuersätze aufgeschlagen werden müsste. Vielmehr könnten diese gesenkt werden, da die Eurodividende Spielraum schafft, sowohl die Einkommensteuer zu erhöhen, ohne das Nettoeinkommen der Steuerzahler zu senken, als auch Sozialleistungen zu kürzen, ohne das Einkommen ihrer Empfänger zu senken.

Andere mögen einwenden, dass jede der vier oben genannten Funktionen der Eurodividende von einem komplizierteren und ausgereifteren Instrument besser erfüllt werden könnte – und das dürfte meist sogar stimmen. Was ich sage, ist einfach, dass kein anderer machbarer Mechanismus alle vier Funktionen der Eurodividende gleich gut erfüllen könnte und dabei den Bürgerinnen und Bürgern unmittelbar einleuchten würde.

Ein grundlegenderer Einwand ist – so wünschenswert der zu erwartende Nutzen einer Eurodividende auch sein mag –, dass es ungerecht wäre, jedermann etwas ohne Gegenleistung zu geben. Dieser Einwand beruht auf einem Missverständnis. Die Eurodividende läuft nicht darauf hinaus, die Früchte der Arbeit einiger schwer arbeitender Menschen umzuverteilen. Vielmehr besteht sie darin, einen Teil der durch die europäische Integration erzielten Gewinne in Form eines bescheidenen Grundeinkommens mit allen europäischen Bürgerinnen und Bürgern zu teilen.

Wie viel Geld haben wir dadurch gespart, dass wir keinen Krieg mehr mit unseren Nachbarn führen oder uns zumindest dafür rüsten müssen? Wie viel Geld haben wir durch den erhöhten Wettbewerb zwischen unseren Unternehmen gewonnen oder dadurch, dass die Produktionsfaktoren Kapital und Arbeit europaweit dorthin gehen können, wo sie am produktivsten sind? Der genaue Betrag lässt sich offenkundig unmöglich berechnen. Was wir jedoch sicher wissen, ist, dass diese Gewinne real und erheblich sind. Was wir auch wissen, ist, dass sie äußerst ungleichmäßig auf die europäische Bevölkerung verteilt sind, je nachdem ob man an Haus und Heimat gebunden ist oder nicht, ob die europäische Integration ihr Leben billiger gemacht hat oder ihre beruflichen Qualifikationen wertvoller. Eine bescheidene Eurodividende ist eine einfache und wirksame Weise sicherzustellen, dass bei allen Europäern spürbar etwas von diesen Gewinnen ankommt.

Ist das utopisch? Natürlich ist es das, so wie die Europäische Union selber bis vor gar nicht allzu langer Zeit utopisch war. Das war auch der Wohlfahrtsstaat, bevor Bismarck seine ersten Fundamente legte. Und auch Bismarck schuf das Rentensystem nicht aus reiner Herzensgüte. Er tat es, weil die Menschen in jenem Reich, das er politisch einen wollte, landauf, landab radikale Reformen einzufordern begannen. Worauf also warten wir?

Für Hintergrundinformationen dazu, wie dieser Vorschlag sich in die Tagesordnung und die politischen Prozesse der EU einfügt, siehe www.twelvestars.eu/CMV/Philippe-van-Parijs.

Einwände

Am 30. Juni 2018 verteidigte Philippe Van Parijs seinen Vorschlag in der Debatte von Twelve Stars. Im Folgenden werden die Haupteinwände aufgeführt. Seine Erwiderungen darauf können online verfolgt werden.

www.twelvestars.eu/CMV/Philippe-van-Parijs

image Wäre es machbar, dass die EU jedem ständigen Bewohner eine Eurodividende zahlt?

„Würden Sie als Politiker Ihren Wählern eine enorme Steuererhöhung verkaufen wollen, die Sozialsysteme in anderen Ländern finanziert?“ AffectionateTop

„Die EU hat niemals das Recht, ihre Bürger zu besteuern.“ AffectionateTop

image Wäre es von Nutzen, wenn die EU jedem ständigen Bewohner eine Eurodividende zahlen würde?

„Das ist keine Lösung für die Armut in Europa oder die kulturelle Integration.“ swearrengen

image Welche Risiken hätte es, wenn die EU jedem ständigen Bewohner eine Eurodividende zahlen würde?

„Ihr Vorschlag würde sofort dazu führen, dass die reichen Länder aussteigen.“ AffectionateTop

„Damit erhöht man die Abhängigkeit der Bürger, sie werden sich auf den Staat verlassen. Die politische Macht wird noch weiter gestärkt.“ swearrengen

Lisa Herzog

Betriebe sollten von Arbeitnehmer/innen geführt werden und die EU sollte solche neuen Formen der Unternehmensführung fördern

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Vorschlag

Die EU sollte neue Formen der Unternehmensführung fördern. Diese können vielfältige Strukturen haben: von selbstorganisierten Teams über Unternehmen mit zwei Kammern für Arbeit und Kapital bis hin zum traditionellen Genossenschaftskonzept, bei dem der Betrieb den Mitarbeiter/innen gehört.

Begründung

Kapitalistische Firmen üben eine Art privater Herrschaft über ihre Angestellten aus. Mit den neuen Kommunikationstechnologien werden neue, horizontale Führungsstile möglich, durch die sich die Spannung zwischen Effizienz und Teilhabe an den Entscheidungsprozessen verringert. Warum sollte man nicht die Gelegenheit ergreifen und die Rechte der Mitarbeiter/innen in Richtung auf mehr Mitsprache bei der Unternehmensführung stärken?

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Lisa Herzog, geboren in Nürnberg, Deutschland. Assistenzprofessorin für Politische Philosophie und Theorie an der Technischen Universität München, Deutschland.

Am Arbeitsplatz der Zukunft werden Roboter und Algorithmen eine immer größere Rolle spielen. Ob das für Arbeitnehmer/innen gut oder schlecht sein wird, ist nicht klar. Werden wir in Zukunft alle für niedrige Löhne und unter schlechten Arbeitsbedingungen schuften, so wie es die Angestellten in Amazons Warenlagern bereits heute tun? Werden wir zu jenen Clickworkern gehören, die per Internet Kleinstaufgaben für Unternehmen verrichten? Werden Arbeitnehmer/innen, so wie es bereits Marx befürchtete, bloße Anhängsel der Maschinen sein, deren Arbeitsbedingungen von den Besitzer/innen jener Maschinen diktiert werden? Oder können wir optimistischer in die Zukunft blicken und auf ein Szenario hoffen, in dem Arbeitnehmer/innen Roboter und Algorithmen für Routineaufgaben benutzen und den Kopf so für humanere und sozialere Aufgaben frei bekommen? Die Antworten auf diese Fragen werden maßgeblich davon abhängen, wer entscheiden darf, wie Arbeit in Zukunft organisiert wird. Dies hängt wiederum davon ab, wie Unternehmen geführt werden – auf hierarchische, gewinnorientierte oder auf demokratische, partizipative Weise.

Der digitale Wandel verändert die Arbeitswelt dramatisch. Diese Veränderung bietet die historische Chance, den Einfluss der Arbeitnehmer/innen auf die Arbeitsorganisation auszuweiten. In kapitalistischen Unternehmen liegt die Kontrolle bei den Eigentümer/innen oder den für sie tätigen Manager/innen. Die Arbeitnehmer/innen dagegen erhalten für ihre Arbeit Lohn, aber keine Mitsprache. Dies führt, wie unter anderem von Elizabeth Anderson beschrieben, zu einer Art Privatregierung. In vielen europäischen Ländern und insbesondere in Deutschland haben die Arbeitnehmer/innen jedoch mehr Rechte: Ihre Vertreter sitzen in den Aufsichtsräten der Aktiengesellschaften und alle Werktätigen – bis auf die in den kleinsten Firmen – dürfen Betriebsräte wählen. Diese Betriebsräte müssen zu allen wichtigen Vorgängen informiert und gehört werden und dürfen bei Entscheidungen über veränderte Arbeitsbedingungen, etwa über neue Arbeitszeiten, mitbestimmen. Dies trägt auch dazu bei, dass Unternehmen die Arbeitnehmerschutzgesetze beachten, beispielsweise in Hinblick auf die Arbeitszeitregelung.

Mitbestimmung allein demokratisiert Unternehmen nicht vollständig, da schlussendlich das Kapital die Oberhand behält. Firmen, die Arbeitnehmer/innen an der Arbeitsorganisation beteiligen, sind allerdings um einiges demokratischer als jene Unternehmen, wie sie im angelsächsischen Raum vorherrschen. Folgt man der ökonomischen Standardtheorie, dann dürften solche semidemokratischen Firmen überhaupt nicht existieren, da sie von rein kapitalistischen Konkurrenten schlicht aus dem Markt gedrängt würden. Doch sie existieren und konkurrieren sogar erfolgreich in der globalisierten Wirtschaft. Und es existieren auch zahlreiche Genossenschaften: Firmen, die demokratisch geführt werden, weil die Arbeiter/innen als Miteigentümer/innen agieren. Solche Genossenschaften sind im Bereich der Landwirtschaft und des Bankensektors in vielen europäischen Ländern weit verbreitet. Einige von ihnen, etwa Mondragon in Nordspanien, wirtschaften in verschiedensten Branchen. Natürlich sind demokratisch organisierte Unternehmen kein Allheilmittel für alle sozialen Missstände. Aber sie geben Arbeitnehmerrechten mehr Gewicht. In Hinblick auf die Herausforderungen, vor die uns neue Technologien stellen, könnte das von entscheidendem Vorteil sein.

Chancen und Risiken der digitalen Transformation

Der digitale Wandel verleiht dem alten Konflikt zwischen Kapital und Arbeit eine neue Dringlichkeit, da er Arbeitnehmerrechte zu untergraben droht. Dies wiederum zwingt uns, die Machtverhältnisse innerhalb unseres Wirtschaftssystems zu überdenken. Der digitale Wandel stellt aber nicht nur eine Gefahr, sondern auch eine Chance dar. Moderne Kommunikationstechnologien erlauben es, neue, horizontale Formen der Arbeitsorganisation einzuführen, die den Widerspruch zwischen Effektivitätsdenken und Mitbestimmungsrechten auflösen könnten. In vielen Unternehmen werden solche Technologien bereits eingesetzt; leider bleiben die Machtstrukturen jedoch meist unverändert. Warum also nicht den Moment nutzen, um die Rechte der Arbeitnehmer/innen zu stärken und mehr Einfluss auf die Unternehmensführung zu nehmen? Um dieses Ziel zu erreichen, könnten unterschiedlichste Strategien verfolgt werden: von der Bildung sich selbst organisierender Teams bis hin zu Unternehmen mit zwei verschiedenen Kammern – eine für Kapital und eine für Arbeit –, wie zuletzt von Isabelle Ferreras vorgeschlagen. Derweil erlebt die traditionelle Idee der Genossenschaft eine Renaissance im sogenannten Platform Cooperativism, der das genossenschaftliche Prinzip, dass Arbeiter/innen auch Eigentümer sind, auf Onlineplattformen anwendet. Etwa auf digital organisierte Taxidienste: Anstatt den Eigentümer/innen von Plattformen und Apps horrende Gebühren zu zahlen, sind es die Fahrer/innen selbst, die den Onlinedienst organisieren. Es ist an der Zeit zu lernen, wie wir solche Unternehmen erfolgreicher machen können, welche Geschäftsmodelle in welchen Branchen funktionieren und wie digitale Technologien demokratische Entscheidungsfindung unterstützen können.

Die Arbeitswelt zu demokratisieren, bedeutet, einen Grundsatz auf das Feld der Wirtschaft auszuweiten, den wir im politischen Feld für richtig halten: Die Machthaber/innen schulden denjenigen Rechenschaft, über die sie ihre Macht ausüben. Kritiker/innen dieses Standpunkts argumentieren, dass Arbeitnehmer/innen mit den Füßen abstimmen können und deshalb keine Stimmrechte brauchen. Für die meisten Werktätigen ist diese Annahme jedoch unrealistisch. Einen neuen Job zu finden, ist sowohl im wörtlichen als auch im übertragenen Sinne kostspielig. Arbeitnehmer/innen müssen Geld, Zeit und Mühe in ihre Ausbildung und in die Pflege von Beziehungen investieren, die nötig sind, um eine bestimmte Position in einer bestimmten Firma zu erlangen. Sind sie gezwungen, sich beruflich zu verändern, verlieren sie zwangsläufig einen Teil dieses Investments. Diejenigen, die in kapitalistischen Unternehmen wirklich mit den Füßen abstimmen können, sind nicht die Arbeitnehmer/innen, sondern die Investor/innen – und insbesondere die Anteilseigner/innen börsennotierter Unternehmen, die ihre Aktien einfach verkaufen können. Dennoch haben diese Investor/innen aufgrund ihrer finanziellen Beteiligung am Unternehmen Stimmrechte. Arbeitnehmer/innen, die statt Kapital ihre Arbeitskraft zum Erfolg eines Unternehmens beitragen, sollten die gleichen Rechte haben.

Warum Demokratie am Arbeitsplatz ein EU-Thema ist

Warum sollte Demokratie am Arbeitsplatz ein Thema für die EU sein? In traditionell kapitalistisch geprägten Wirtschaftssystemen haben von der Belegschaft geführte Firmen aufgrund von Pfadabhängigkeiten und geringer Größe oder Zahl oft einen Wettbewerbsnachteil. Zudem laufen sie Gefahr, von potenziellen Kund/innen, Kreditgeber/innen und sogar Mitarbeiter/innen mit Misstrauen betrachtet zu werden. Die EU könnte hier eine entscheidende Rolle spielen, indem sie Mitgliedstaaten gestattet und sie sogar dazu ermuntert, steuerliche Anreize für von Mitarbeiter/innen geführte Unternehmen zu schaffen. Die EU könnte außerdem Startkapital für Firmen bereitstellen, die neuartige, arbeitnehmerfreundlichere Strukturen ausprobieren. Nicht zuletzt könnte eine Plattform für den Austausch bewährter Verfahren und Strategien geschaffen werden, auf der erfolgreiche Firmen miteinander in Kontakt treten könnten. All diese Schritte könnten dazu beitragen, eine kritische Masse mitarbeitergeführter Unternehmen zu schaffen. Dies könnte wiederum den Boden für EU-weite Gesetze bereiten, die demokratische Formen der Unternehmensführung rechtsverbindlich machen.

Einige Einwände aus der Twelve-Stars-Debatte

Vorschläge zur Demokratisierung unserer Arbeitswelt stoßen häufig auf Widerstand. Im Folgenden möchte ich einige der Gegenargumente aufgreifen, die bereits während der Twelve-Stars-Onlinedebatte angesprochen worden sind.

Eine weit verbreitete Sorge ist, dass Arbeitnehmer/innen nicht die Fähigkeiten besitzen, die es braucht, um Unternehmen zu führen. Dieser Einwand beruht meist auf dem Missverständnis, dass Demokratie am Arbeitsplatz eine Art von direkter Demokratie sein soll. Direkte Demokratie, in der alle Entscheidungen gemeinsam von der gesamten Wählerschaft getroffen werden, ist jedoch stets nur in kleinen Gruppen praktikabel. Geht es um Demokratie am Arbeitsplatz, so können wir bestenfalls auf eine Form der repräsentativen Demokratie hoffen. Dabei müssten Arbeitnehmer/innen lediglich hinreichend viel von der Sache verstehen, um Manager/innen mit den benötigten Qualifikationen wählen zu können – so wie sie als Bürger/innen die anstehenden politischen Fragen gut genug verstehen, um Abgeordnete und andere Politiker/innen zu wählen. Ich gebe zwar gern zu, dass man bezweifeln kann, ob ebendies in unserer repräsentativen Demokratie immer optimal funktioniert. Allerdings darf man unterstellen, dass es für die Mitarbeiter/innen eines Unternehmens leichter ist, die Fähigkeiten verschiedener Manager/innen zu beurteilen – schließlich können sie diese während der Arbeit aus größerer Nähe beobachten. Zudem bleibt anzumerken, dass sowohl in der politischen als auch in der betrieblichen Demokratie Probleme, deren Lösung besonderes Fachwissen erfordert, an Ausschüsse von Fachleuten überwiesen werden können.

Ein anderes Gegenargument betrifft die Eigentumsrechte, insbesondere von Inhabern kleiner und junger Firmen: Wenn mutige, unternehmerisch gesinnte Leute mit eigenem Kapital eine Firma gründen, sollten sie dann nicht auch die volle Kontrolle über diese Firma haben? Ganz grundsätzlich ist dazu zu sagen, dass Eigentumsrechte immer Einschränkungen unterworfen sind. Eigentümer eines Messers zu sein, gibt Ihnen nicht das Recht, es in meine Brust zu rammen. Lassen Sie es unabgeschlossen herumliegen und ein Kind verletzt sich damit, so können Sie wegen Fahrlässigkeit zur Rechenschaft gezogen werden. Ähnlich verhält es sich auch mit den Eigentumsrechten von Firmeninhaber/innen. Auch diese sind stets durch gewisse Vorschriften beschränkt, etwa im Bereich der Umweltverträglichkeit oder Arbeitssicherheit. Das Recht der Beschäftigten auf Demokratie am Arbeitsplatz würde die Eigentumsrechte von Inhaber/innen also nicht abschaffen, sondern lediglich weiter einschränken.

Eine praktische Kompromisslösung könnte beispielsweise vorsehen, dass sich nur Unternehmen ab einer bestimmten Belegschaftsgröße oder Gesellschaftsform – etwa Aktiengesellschaften – demokratisieren müssten. Die beschränkte Haftung von Gesellschaftern und Aktionären stellt sicher, dass die Eigentümer/innen eines Unternehmens nicht sein volles wirtschaftliches Risiko tragen. Sie können das Geld verlieren, das sie investiert haben, sind aber nicht verpflichtet, für Unternehmensschulden mit ihrem Privatvermögen aufzukommen. Der formale Eigentümer der Produktionsmittel ist bei GmbHs und AGs die Firma als juristische Person. Für eine demokratische Führung von Unternehmen kommt es darauf an, wie die Kontrollrechte innerhalb dieses Rechtssubjektes verteilt werden. Eigentumsrechte als solche bieten keinen Grund, der dagegenspräche, sie mit den Mitarbeiter/innen zu teilen.

Eine verwandte Befürchtung ist, dass Investor/innen ihr Geld nicht in demokratische Firmen stecken würden – allein schon, weil sie ihnen mit Vorurteilen begegnen. In Gesellschaften, die lupenreinen Kapitalismus sozusagen für den natürlichen Zustand halten, nichts anderes kennen und sich auch nichts anderes vorstellen können, mag dies tatsächlich der Fall sein. Europa hat jedoch, wie beschrieben, eine reiche Tradition demokratischerer Unternehmensführung. Weltmarktführer wie Siemens oder BMW, bei denen die deutsche Mitbestimmung gilt, finden problemlos Investor/innen. Deutsche Mittelständler mit ihren Betriebsräten sind sogar bevorzugte Übernahmekandidaten für die kapitalistischsten unter den Private-Equity-Fonds. Darüber hinaus werden sie oft von den deutschen Volksbanken finanziert, die ihrerseits eingetragene Genossenschaften (eGs) sind. In der derzeitigen Tiefzinsphase bieten außerdem Bankkredite eine echte Alternative zur Finanzierung über Börsengänge. Angesichts der Tatsache, dass gute Gelegenheiten zur Geldanlage selten geworden sind und das Interesse an nachhaltigen Investitionen wächst, gibt es schlicht keinen triftigen Grund zu glauben, dass niemand in demokratisch verfasste Unternehmen investieren würde.

Die Bedenken hinsichtlich der Investor/innen sowie mittelbar ihrer Eigentumsrechte beruhen auf der Annahme, dass demokratisch organisierte Unternehmen weniger effizient seien als streng hierarchisch geführte. Die unzähligen demokratisch oder halb demokratisch organisierten Firmen, die bereits heute nicht nur überleben, sondern auch im globalen Wettbewerb bestehen, beweisen jedoch das Gegenteil. Dabei bringt Demokratisierung zweifellos gewisse Nachteile für die Effizienz von Unternehmen mit, da Beratungs- und Abstimmungsprozesse zwangsläufig Zeit und Kraft kosten (wobei Onlinetools hier bereits in gewissem Maße Abhilfe schaffen können). Das verstärkte Augenmerk auf Arbeitnehmerrechte, das Demokratisierung mutmaßlich mit sich bringen wird, dürfte den Gewinn eines Betriebes ebenfalls schmälern. Es sollte jedoch beachtet werden, dass diese Ineffizienz eine rein monetäre ist.

Ihr stehen positive Effekte gegenüber – und zwar durchaus nicht nur solche, die man nicht in Geld messen kann. Mitarbeiter/innen demokratisch geführter Unternehmen dürften motivierter sein und weniger zur Sabotage oder Zeitverschwendung neigen, wenn sie die Firma als eine gemeinsame Unternehmung erleben, an der sie Anteil haben. Wahrscheinlich wird das Management in solchen Betrieben auch empfänglicher für Rückmeldungen aus der Belegschaft sein, da Manager/innen, die die langfristigen Interessen der Gesamtfirma außer Acht lassen, abgewählt werden könnten. Ob am Ende mehr positive oder mehr negative Effekte zu Buche schlagen, hängt von der Branche und den jeweiligen konkreten Umständen ab und lässt sich schwer bestimmen. Der unbestreitbare langfristige Erfolg vieler halb demokratisch organisierter europäischer Betriebe ist jedoch am überzeugendsten dadurch zu erklären, dass sie nicht trotz, sondern zumindest zum Teil wegen ihrer Unternehmensstruktur florieren.

In der Twelve-Stars-Debatte wurde von einem Teilnehmer außerdem das Bedenken geäußert, demokratisch organisierte Unternehmen könnten weniger innovativ sein, weil ihre Beschäftigten das Risiko scheuten, den Arbeitsplatz zu verlieren, falls eine Innovation scheitern sollte. Ich bezweifle zwar, dass dies immer zutrifft, aber einmal angenommen, es wäre der Fall: Dann ließe sich aus dem Argument ableiten, dass Demokratie am Arbeitsplatz für einige stark von Innovation getriebene Branchen wie Maschinen- oder Automobilbau weniger gut geeignet wäre als für andere Wirtschaftsbereiche. Oder vielmehr, dass man Abstriche hinsichtlich der Innovationsfähigkeit in Kauf nehmen muss, wenn für Demokratisierung gesorgt werden soll. Doch nicht alle Branchen, zumal im Dienstleistungsbereich, stehen unter dem gleichen Innovationsdruck. Zu meinem Vorschlag gehört auch, dass die EU Experimente finanzieren soll, um die Dynamik der Demokratie am Arbeitsplatz besser zu verstehen und herauszufinden, welche Modelle am besten zu welcher Branche passen.