Dieses Buch wird herausgegeben mit einer Empfehlung von

Attac Deutschland,
Mehr Demokratie e. V.,
der Heinrich Böll Stiftung
Schleswig-Holstein
und dem BUND Schleswig-Holstein

Meiner Schwester Ulrike, mit der die Nächte stets zu kurz waren, um bis zum Morgengrauen alle Fragen auszudiskutieren

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <www.dnb.de> abrufbar.

ISBN 978-3-86764-894-3(Print)

ISBN 978-3-7398-0457-6 (ePUB)

ISBN 978-3-7398-0458-3 (ePDF)

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Einleitung

Das Modell der Gewaltenteilung der heutigen Demokratien stammt aus einem Buch, das 1748 von einem französischen Adligen geschrieben wurde.1 Charles de Montesquieu war kein Demokrat und erst recht kein Revolutionär. Er fand die Monarchie in Ordnung. Der König sollte die Regierung einsetzen, aber nicht alles alleine bestimmen. Deshalb schlug Montesquieu zwei Kammern des Parlamentes vor: Eine für die reichen Bürger, die damals allein die Steuern zahlten, und eine für den Adel, damit die Ordnung gewahrt bleibt und kein Chaos ausbricht. Die Bürger sollten dem verschwenderischen König nur auf die Finger schauen. Da Montesquieu auch Oberster Richter in Bordeaux war, schlug er vor, dass die Gerichte unabhängig entscheiden sollen, denn es ärgerte ihn, dass sich die Regierung zu oft einmischte.

Als vierzig Jahre später John Adams und seine Kollegen die Verfassung der USA schrieben, griffen sie die Ideen von Montesquieu auf – und nicht die des Demokraten Rousseau! Sie wollten keine Demokratie – ein Wort das damals synonym für Pöbelherrschaft stand – sondern eine Regierung der Würdigen, eine Wahlaristokratie. An die Stelle des Königs sollte ein von Wahlmännern gewählter Präsident treten. Wahlberechtigt sollten nur reiche Grundbesitzer und Kaufleute, also ehrenwerte Persönlichkeiten, sein. An der ersten Kongresswahl nahmen daher nicht mal zwei Prozent der Bevölkerung teil.

Heute hat sich die Welt völlig geändert. Wir müssen unsere Freiheit nicht mehr gegen Könige und Adel erkämpfen. Stattdessen haben wir es mit internationalen Konzernen, Mega-Banken und billionenschweren Investment-Fonds zu tun, die die Demokratie gefährden. Sechzig Prozent der Deutschen glauben, dass nicht die Politiker, sondern die Wirtschaft am meisten Macht habe.2 Es wird daher Zeit, die Demokratie von Grund auf neu zu denken. Welche Art von Demokratie brauchen wir im 21. Jahrhundert, um die großen Herausforderungen des Klimawandels, der Entwicklungspolitik, der wachsenden Ungleichheit und der Bedrohung des Friedens zu bewältigen?

Anmerkung: Die in den Fußnoten aufgeführten Quellen sind gekürzt. Ausführliche Quellenangaben findet man im Quellenverzeichnis am Schluss des Buches.


1 Montesquieu 1748: Vom Geist der Gesetze

2 dpa, mhi 2015: Mehr als 60 Prozent bezweifeln Demokratie in Deutschland

Dank

Ich bedanke mich bei allen, mit denen ich in den letzten Jahren über die grundlegenden Fragen der Demokratie, Europa und die Transformation der Welt sowie über Nachhaltigkeit und Gerechtigkeit diskutiert habe. Auch all denen, die mich kritisiert, mir zugehört, mich bestärkt oder mit ihren Ideen inspiriert haben. Dazu gehören Mitstreiter im Verein „Mehr Demokratie“ wie Claudine Nierth, Sarah Händel, Tim Weber, Roman Huber, Stefan Padberg, Ralf-Uwe Beck, Michael Efler und Ingrid Eppert; Helena Peltonen von Transparency International; Daniel Schily von Democracy International; Carsten Berg von ECI Campaign; grüne Weggefährten wie Anja Koch, Ruth Kastner, Monika Friebl, Arfst Wagner, Anke Erdmann, Monika Heinold, Gerald Häfner und Robert Habeck; Dirk Scheelje, Heino Schomaker und Peter Wiebe von der Heinrich-Böll-Stiftung Schleswig-Holstein; Alfred Eibl, Andreas Meyer, Tim Büttner, Detlev von Larcher und Thomas Eberhardt-Köster von Attac; Markus Henn von WEED; Jutta Sundermann von der Aktion Agrar; Ralf Krämer von Ver.di; Wolfgang Obenland vom Global Policy Forum; Andreas Bummel von Democracy without Borders; Markus Meinzer vom Tax Justice Network und viele andere.

Mein Dank gilt auch meiner Familie sowie Freunden und Bekannten, die über zwei Jahre lang immer geduldig zugehört haben, wenn ich ihnen von meinen verrückten Ideen, die Welt zu verbessern, erzählt habe, die Texte gegengelesen, korrigiert, die nachgefragt haben, wenn ich mich nicht verständlich ausgedrückt habe und die mich durch Diskussionen, Anmerkungen, Kritiken und Zweifel angeregt, geerdet und motiviert haben, weiter an diesem Projekt zu arbeiten. Dazu gehören meine Frau Gabriele sowie Joanna und Noah Abrokwa, Lars Hentschel, Kolja Meyer, Lovis Sand, Klaus Wellendorf, Anne Idel, Rosa Größler und alte Freunde wie Lutz Richter, Jochem Spieker, Konrad Wolf, Maren Boysen sowie Achim und Susanne Diekmann und viele andere.

Inhaltsübersicht

Inhalt

Der Einfluss des großen Geldes hat in meinem Land – und einigen anderen – ein toxisches Maß erreicht. Die Konzerne haben eine ungesunde Macht bekommen. Das heißt: Sie haben unsere Demokratie gehackt, bevor Putin sie gehackt hat. “ (Al Gore)3

Prolog

It’s the democracy, stupid!4

Die Richtung stimmt nicht – Die heilige Kuh – Es gibt Alternativen – Die Transformation hat begonnen – It’s the democracy, stupid!

Heute halte ich den fünfzigsten Vortrag über Steueroasen. Diesmal in Radolfzell am Bodensee – von meiner Heimat an der Ostsee dauerte die Anreise mit der Bahn elf Stunden. Etwa dreißig Zuhörern erzähle ich Geschichten aus einer absurden Welt:5

Nachdem ich zwei Stunden lang solche verrückten wahren Geschichten, die möglichen Gegenmaßnahmen und unseren jahrelangen Kampf dagegen geschildert hatte6, stellte einer der Zuhörer in Radolfzell die Frage, die immer gefragt wird und die mich zu diesem Buch geführt hat: „Glauben sie, dass man diesen Irrsinn abstellen kann, und wenn ja: Wie?“

Die Richtung stimmt nicht

Diese Frage ist nicht unberechtigt: Es ist offensichtlich, dass die Welt sich trotz all der Mühe vieler engagierter Aktivisten, Autoren und Politiker immer noch in die falsche Richtung bewegt. Die Schere zwischen Reichtum und Armut öffnet sich in allen entwickelten Staaten seit 1980 weiter. Afrika wird weiterhin abgehängt. Rund um unsere noch friedliche EU rücken die Bürgerkriege immer näher: Afghanistan, Sudan, Mali, Libyen, Syrien, Ukraine. Der jahrzehntelange Siegeszug der Demokratie nach dem Zweiten Weltkrieg ist ins Stocken geraten.

In Russland und der Türkei, und jetzt sogar in Polen und den USA kamen Populisten an die Macht. Menschenrechte geraten unter Beschuss. Herr Gauland, Fraktionsvorsitzender der AfD im Bundestag, konnte ohne Widerspruch in seiner Partei erklären, dass er nicht neben Jérôme Boateng wohnen möchte. Und er hat dann noch hinzugefügt, er hätte nichts persönlich gegen ihn, da er ihn gar nicht kenne. Deutlicher kann man es nicht sagen: Die Gleichheit der Menschen unabhängig von Hautfarbe, Religion, Herkunft, Weltanschauung und Geschlecht gilt für diesen Menschen nicht mehr. Wie konnte es dazu kommen, dass in Deutschland eine Partei zweistellige Ergebnisse erzielt, die die Grundprinzipien der französischen Revolution – Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit – wieder offen in Frage stellt?

Es ist offensichtlich: Die Erfolge von Rechtspopulisten und die zunehmende Aggressivität sind Ausdruck einer Vertrauenskrise der Demokratie. Dabei sind es nicht mal die Armen, die sie wählen. Überwiegend sind es verunsicherte Menschen aus der Mitte der Gesellschaft.7 Sie haben Angst vor dem Verlust des Arbeitsplatzes, Angst vor Konkurrenz durch Einwanderer, Wut auf all die „Eliten“, die politisch Korrekten, besonders die Grünen, auf all diejenigen, die kluge Reden schwingen. Sie wollen zurück zu angeblich besseren Zeiten, zur Republik vor 1968, vor 1945 oder gar zur DDR, wo das Leben noch wohl organisiert war.

Über weiße und schwarze Schafe

Letztes Jahr wurde unsere Lichtgestalt Franz Beckenbauer erwischt: Als er für die Weltmeisterschaft 2006 in Deutschland warb, machte er das nicht ehrenamtlich, wie er behauptet hatte. Er soll dafür 5,5 Millionen Euro Schwarzgeld kassiert und dies nicht versteuert haben. Ist es Zufall, dass sein Freund Uli Hoeneß für das gleiche Verbrechen bereits vier Jahre ins Gefängnis musste? Da fragt man sich, ob der FC Bayern München gar eine kriminelle Vereinigung ist?8 Oder steckt noch mehr dahinter?

Warum erwies sich Finanzminister Schäuble im Ministerrat der europäischen Union immer wieder als Spielverderber, wenn Maßnahmen gegen die Steuervermeidung von internationalen Konzernen ergriffen werden sollten?9 Warum wird nicht endlich den schwarzen Schafen konsequent das Handwerk gelegt?

Vielleicht ist die Antwort die, dass Steuervermeidung eben kein exklusives Hobby von ein paar schwarzen Schafen ist. Schwarze Schafe fallen auf, weil die anderen weiß sind. Aber hier haben wir es mit einer überwiegend schwarzen Herde zu tun.10 Steuervermeidung ist spätestens seit der Jahrtausendwende zu einem fest etablierten internationalen System geworden: Mehr als ein Zehntel des Vermögens dieser Welt soll bereits in Steueroasen liegen.11 Während kleine und mittlere Unternehmen brav ihre Steuern zahlen, verlagern Großkonzerne ihre Milliardengewinne auf idyllische Inseln wie die Bermudas oder Curaçao. Dort findet man reihenweise Briefkästen mit den Labels unserer vertrauten Freunde wie Apple, IKEA, Amazon, E.ON, Starbucks oder die Bayer AG – deren iPhones, Billy-Regale, Bücher und Pillen wir so lieben. Nahezu jeder macht das! Und genau da liegt das Problem. Denn auch deutsche Großkonzerne profitieren erheblich von niedrigen Steuern in anderen Staaten und befürchten, dass sie daran gehindert werden.

Die heilige Kuh

Warum also wird nichts getan? Sind die Politiker korrupt? Sind sie zahnlos? Oder feige?

Es ist komplizierter: Das Magazin Stern brachte letztes Jahr verblüffende Ergebnisse einer Umfrage zur Erbschaftssteuerreform12. Auf die Frage: „Sollen Erben von Familienunternehmen auch künftig steuerlich weitgehend verschont bleiben?“ antworteten 69 Prozent mit „Ja“. Erstaunlich! Wollen die Menschen nicht mehr Gerechtigkeit? Wieso sprechen sich die gleichen Menschen, die ständig mehr Geld für Schulen, für Renten oder für Straßen fordern, gegen höhere Steuern für Reiche aus?

Mir fallen zwei mögliche Gründe dafür ein: Einmal liegt es an der Formulierung: Die Befragten denken bei dem Wort „Familienunternehmen“ nicht an Milliardenkonzerne wie BMW, Aldi oder Bosch, sondern an den kleinen Handwerker von nebenan. Vor allem aber haben viele Menschen Angst um die Arbeitsplätze, wenn man Konzernerben mehr besteuert. Komischerweise macht die Politik, wenn sie hier wirtschaftsfreundlich agiert, genau das, was die meisten Menschen fordern. Und im nächsten Augenblick wird den Politikern vorgeworfen, sie nähmen die Sorgen der kleinen Leute nicht ernst. Dazu passt dann auch, dass Uli Hoeneß mittlerweile wieder zum Präsidenten des FC Bayern gewählt wurde.

Oder betrachten wir das für unser Überleben wichtigste Top-Thema – den Klimawandel: Man kann ihn kaum noch übersehen – auch wenn einige von der Kohle- und Erdölindustrie gesponserte Institute immer noch das Gegenteil behaupten.13 Nicht nur in der Karibik toben die Hurrikans. Auch bei mir an der Ostsee erlebten wir im Sommer 2017 mehrere tropische Gewitterstürme. Unsere Landesbehörden in Schleswig-Holstein wollen die Deiche bis 2100 um einen Meter erhöhen. Sonst stände bei Flut ein Drittel des Landes unter Wasser. Es wird also Zeit zu handeln.

Und nun? Was passiert? Obwohl die Bundesregierung das Pariser Abkommen zusammen mit 175 anderen Staaten unterzeichnet hat, hat sie auf Druck der Energiekonzerne die Förderung der Erneuerbaren Energien drastisch zusammengestrichen. Auch beim VW-Abgas-Skandal bleibt die Regierung tatenlos. Während in den USA Strafzahlungen von sechzehn Milliarden Euro für VW in Rede stehen, kommt von der Bundesregierung – nichts. Schließlich ist VW ein deutscher Konzern.

Offensichtlich ist die Wirtschaft die heilige Kuh unserer Gesellschaft. Und eben nicht nur für die Politiker und die Eliten. Nein, die Menschen insgesamt – die Mehrheit der Wähler – denken so. Und die Angst vor einer Störung der Wirtschaft hat zugenommen. Dabei geht es uns doch gut – die deutsche Wirtschaft brummt. Die deutschen Exportüberschüsse haben im Jahr 2016 sogar die von China übertroffen – Weltspitze. Und trotzdem sind viele Menschen beunruhigt. Man hat fast den Eindruck, wir leben in Deutschland im Auge eines Hurrikans – hier bei uns ist es zurzeit windstill – doch um uns herum bläst es immer doller. Und die Menschen spüren das und sind verunsichert.

Es gibt Alternativen!

In dieser Lage scheint die Politik handlungsunfähig zu sein. Oder das Handeln erscheint angesichts des Drucks der Finanzmärkte „alternativlos“ – die Merkelsche Raute ist dafür bereits ein Symbol geworden. Colin Crouch hat für diesen Zustand den Begriff „Postdemokratie“ geprägt: Die demokratischen Institutionen arbeiten einfach weiter, aber die Entscheidungen werden „alternativlos“ von ökonomischen Zwängen bestimmt.14

Gibt es wirklich keine Alternativen? Diese Frage hat mich Jahre lang beschäftigt. Und je länger ich Beispiele für gute Politik in aller Welt untersucht habe, je länger ich an Lösungskonzepten für Entwicklung, Umwelt, Klima, Wirtschaft und Steuern mitgearbeitet habe, umso mehr bin ich zu der Überzeugung gelangt: Für alle Probleme dieser Welt gibt es gute Lösungen. Am Mangel an Lösungen scheitert die Politik nicht.

Und noch mehr: Für die meisten Lösungen gibt es auch bereits konkrete Beispiele, wo diese erfolgreich angewandt werden: Für Bildungspolitik in Finnland, für Umweltschutz in Japan, für Renten in den Niederlanden, für die Energiewende in Dänemark, für das Bahnsystem in der Schweiz, für die Kinderbetreuung in Frankreich, für ein Unternehmenssteuerrecht in Kanada und viele mehr.15 Diese Beispiele sind keine grauen akademischen Theorien. Es sind reale Modelle, die längst schon irgendwo in der Welt praktiziert werden. Und ich kenne auch keine überzeugenden Gründe, warum diese Lösungen nicht auf Deutschland übertragbar sein sollten.

Auch für die große Bedrohung durch den Klimawandel gibt es längst Lösungen: Dass der Umbau auf erneuerbare Energien bezahlbar und machbar ist, wird nicht mehr ernsthaft bezweifelt. Er schafft sogar viele neue Arbeitsplätze.16 Es ist ein Trauerspiel, dass die große Koalition in Deutschland in den letzten Jahren die Solarwirtschaft weitgehend in den Ruin getrieben hat, während China mehr Kollektoren aufstellt als der Rest der Welt zusammen. Auch die Wende im Verkehrssektor kann schneller gehen als bisher gedacht. In wenigen Jahren wird die Reichweite von elektrischen PKWs über 500 Kilometern liegen und die Preise für die Batterien purzeln. Dann wird niemand mehr ein veraltetes fossil angetriebenes Auto kaufen und die Konzerne, die darauf nicht eingestellt sind, werden die Verlierer sein.

Auch die Probleme der Entwicklungsländer sind lösbar. Dass Entwicklung möglich ist, hat China bewiesen, auch wenn sich die chinesische Wohlfahrtsdiktatur nicht als Vorbild eignet.17 Es gibt auch andere Beispiele, wie die stabile Demokratie Botswana im südlichen Afrika. Es gibt mit Uruguay eine Direkte Demokratie in Südamerika, wo mit Volksabstimmungen der Verkauf ihrer Wasser- und Energieversorgung an internationale Konzerne verhindert wurde – mit bemerkenswertem wirtschaftlichen Erfolg. In Kerala, einem der vormals ärmsten Bundesstaaten von Indien, gelang es mit einer Schulbildungskampagne nicht nur bei der Alphabetisierung an die Spitze vorzustoßen, sondern auch die Geburtenrate auf europäisches Niveau zu senken. Auch die Entwicklung des Vielvölkerstaates Malaysia zum wohlhabendsten Land in Südostasien beeindruckt. Malaysia hat mittlerweile ein Bruttoinlandsprodukt nach Kaufkraftparität wie Russland, Ungarn und Griechenland.

Trotzdem fallen viele arme Staaten – insbesondere in Afrika – immer weiter zurück. Für sie ist der Konkurrenzkampf mit den Industriestaaten ein hoffnungsloses Unterfangen. Dazu trägt die Wirtschaftspolitik der reichen Länder erheblich bei, die sich – wider alle Vernunft – immer noch weigern, endlich faire und gleichberechtigte internationale Handelsverträge zuzulassen. Sie wollen unbedingt noch mehr Waren absetzen und noch mehr billige Rohstoffe bekommen. Es ist geradezu absurd, dass Deutschland und andere Staaten es zulassen, dass Diktatoren, Waffenhändler und Rauschgiftkartelle ihre schwarzen Gelder bei uns in Sicherheit bringen.18

Die Transformation hat begonnen

Man kann also feststellen: Trotz aller guten Beispiele ist die Bilanz negativ. Die Augen zumachen und von alten Zeiten träumen, nützt auch nichts. Ob wir es wollen oder nicht, wir stehen vor grundlegenden Veränderungen. Die dreihundertjährige Phase des exponentiellen Wachstums – im Volksmund Kapitalismus genannt – geht zu Ende (siehe dazu Kapitel 2). Die Versuche von Präsident Reagan und anderen Regierungen, die Grenzen des Wachstums mit Steuersenkungen und dem Abbau der Regulierung der Weltmärkte zu überwinden, sind offensichtlich gescheitert. Sie mussten scheitern. Denn die Welt und die Ressourcen sind endlich. Als Folge dieser gescheiterten Politik nimmt seit 1980 die Ungleichheit in der Welt wieder zu.

Tatsächlich hat der Übergang vom industriellen Nationalstaat zur künftigen Weltgesellschaft längst begonnen. Es gibt kein Zurück. Die Welt im 21. Jahrhundert kann nicht zu den Rezepten der Vergangenheit zurückkehren. Das Ende des Wachstums, der Klimawandel und die wachsende Ungleichheit der Welt und die daraus entstehenden Konflikte sind allesamt globale Probleme. Sie können nicht mit einer Rückkehr in nationalstaatliches Denken gelöst werden.

In dieser Situation fehlt es nicht an geeigneten Konzepten. Es fehlt aber umso mehr an der Fähigkeit der Politik, gute Konzepte umzusetzen. Deshalb glauben manche Leute, dass es besser wäre, wenn einer auf den Tisch haut und dass scheinbar starke Männer wie Putin oder Trump benötigt werden. Doch in Wirklichkeit hilft das nicht weiter. Im Gegenteil! Solche „Hauruck“-Politiker haben in der Geschichte die Probleme der Welt regelmäßig nur noch vergrößert – die letzten tragischen Beispiele waren der Einmarsch der USA in Afghanistan und der in den Irak unter George W. Bush.

Erinnern wir uns: In den ersten sechzig Jahren nach dem irrsinnigen Massenmorden des Zweiten Weltkrieges erlebte die Staatsform Demokratie einen triumphalen Siegeszug auf allen Kontinenten. Die Menschen hatten genug vom Nationalismus, von Diktatoren – von Hauruck-Politikern – jeglicher Couleur, die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts über 100 Millionen Menschen in den Tod getrieben hatten. Deshalb wurde nach dem Ersten Weltkrieg der Völkerbund, nach dem Zweiten die UNO und in Europa die Europäische Gemeinschaft gegründet.

Aber heute verblassen diese Erinnerungen. Je weniger man der Politik zutraut, je weniger Menschen die Demokratie für handlungsfähig halten, desto mehr wenden sich ab. Abstruse Verschwörungstheorien werden geglaubt. In Russland, der Türkei, in Thailand und selbst in Ungarn, mitten in der EU, punkten Regierungen mit Angriffen auf die Presse, auf die Justiz, sperren Oppositionelle ein und viele Menschen jubeln ihnen zu. In Österreich erreicht ein Rechtsaußen bei der Präsidentenwahl fast 50 Prozent, in Frankreich wird die Front National in einigen Regionen stärkste Partei, und dann kommt auch noch Donald Trump. Die Stunde des Populismus hat geschlagen.

It’s the democracy, stupid!

Ich bin überzeugt davon, dass Demokratie eine großartige Errungenschaft ist. Jahrtausende wurde die Menschheit von starken Männern regiert, von Diktatoren, Königen, Pharaonen, Parteisekretären und anderen Autokraten. Manchmal sogar gut. Aber meist waren diese Herrscher brutal, grausam und verbrecherisch – oft einfach nur dumm. Selbst zivilisierte britische Könige ließen noch vor 150 Jahren Millionen Iren schlicht verhungern, ohne auch nur auf die Idee zu kommen, ihnen zu helfen.19 Natürlich weiß ich, dass auch die Demokratie nicht immer zu den besten Entscheidungen führt. Aber dafür können Regierungen abgewählt werden, bevor sie zu viel Schaden anrichten.

Leider ist die moderne Demokratie aber nicht wirklich modern. Alle vier Jahre ein Kreuz zu machen, ist keine Volksherrschaft. Lautstarke Reden und Talkshows sind keine demokratischen Dialoge. Auch die Rituale der Parteien verlieren an Attraktivität. Und die heutige Form der Gewaltenteilung stammt aus dem 18. Jahrhundert.

Die Organisation der heutigen Demokratie ist entstanden aufgrund der Erfahrungen der ersten Demokraten mit Kaisern und Königen und deren Beamten und Richtern. Das Wahlsystem zum US-Präsidenten stammt sprichwörtlich aus den Zeiten der Postkutsche: Man wählte einen Wahlmann, der mit der Kutsche nach Philadelphia – später dann nach Washington – fuhr, wo sich die Kandidaten vorstellten.

Heute hat die Demokratie es mit anderen Problemen zu tun: Mit internationalen Konzernen, die Politik für ein Geschäftshindernis halten und Regierungen unentwegt mit der Arbeitsplatzkeule drohen; mit Medienmonopolen wie dem von Berlusconi in Italien oder von Rupert Murdoch in England und in den USA. Dessen Fernsehsender haben mit Falschmeldungen entscheidend dazu beigetragen, dass die beiden Länder in den Irakkrieg zogen, dass der Klimawandel in den USA als chinesische Erfindung abgetan wurde und dass schließlich ein Trump Präsident wurde. Wir haben es mit Finanzmarktakteuren zu tun, die Staaten samt ihren Regierungen und der Bevölkerung erpressen können; und schließlich auch noch mit Populisten, die zum Nationalstaat des 19. Jahrhunderts zurück wollen.

In dieser Situation brauchen wir mehr als einige kleine Verbesserungen im politischen Dialog oder eine lautstarke Rede für Europa. Damit die Politik ertüchtigt wird, muss die Demokratie selbst so weiterentwickelt werden, dass sie in der Postwachstumsgesellschaft des 21. Jahrhunderts im Interesse der Menschen besser funktionieren kann. Wenn wir unsere Demokratie, unseren Sozialstaat, unser friedliches Zusammenleben retten wollen, wenn wir die Ungleichheit reduzieren, die Klimakatastrophe verhindern, das Ansehen der Politik wieder herstellen wollen, dann reicht kein Klein-Klein. Wir brauchen eine demokratische Erneuerung – eine Revolution der Demokratie selbst.

Ja - wir haben eine Chance

Was uns also fehlt, sind keine Steuerkonzepte, keine Klimakonzepte, keine Verkehrskonzepte usw. – die gibt es alle schon. Was uns fehlt, sind Konzepte für die Transformation der Demokratie. Wenn die ökologischen und ökonomischen Probleme lösbar sind, dann müssen wir uns jetzt Gedanken machen, wie wir die Demokratie so weiterentwickeln können, dass sie die scheinbare Alternativlosigkeit überwindet – dass sie sich von den Zwängen der Konzerne und Finanzmärkte emanzipiert. Und dass sie so handlungsfähig wird, dass Autokraten und Populisten nicht gebraucht werden und sich als das entlarven, was sie sind: Schaumschläger, die keine Lösungen haben, sondern alles nur noch schlimmer machen.

Genau davon handelt dieses Buch. Darum habe ich es geschrieben.

Und es gibt noch einen zweiten Grund für dieses Buch: Ich möchte Ihnen – den Lesern – Mut machen, sich zu engagieren, sich aktiv in die Demokratie einzumischen, Demokratie mit Leben zu erfüllen.

Auf die Frage des Zuhörers in Radolfzell, ob wir angesichts von wachsender Ungleichheit, ungelösten Umweltproblemen und populistischen Demagogen noch eine Chance haben, sagte ich deshalb entschieden Ja“!

Ja – wir können den Tanz um das goldene Kalb der globalen Wirtschaft beenden, sogar ohne dass unser Lebensstandard darunter leidet. Wir können uns die Wirtschaft wieder zu Diensten machen, anstatt ihr zu Füßen zu liegen. Ja – wir können, müssen und wollen die Sorgen und Bedürfnisse der einfachen Menschen ins Zentrum der Politik rücken – und die Angst, etwas könne der Konkurrenzfähigkeit der Wirtschaft schaden, überwinden. Demokratie hat Zukunft – davon möchte ich Sie überzeugen.


3 Gore 2017: Konzerne haben eine ungesunde Macht.

4 „It’s the economy, stupid!“ war der zentrale Slogan der Wahlkampagne, mit der Bill Clinton 1992 gegen den amtierenden Präsidenten George H. W. Bush gewann.

5 APA/AFP 2012: Ikea verkauft Markennamen – an sich selbst; Monitor 2005: Das unmögliche Möbelhaus; Neuerer 2013: Amazon, Apple & Co; Süddeutsche Zeitung 2016: US-Senat rügt Großbank HSBC

6 Hentschel 2016: Der Kampf gegen aggressive Steuervermeidung hat begonnen

7 Brähler/Decker 2014: Die Parteien und das Wählerherz

8 Auch Karl-Heinz Rummenigge wurde zu 250.000 Euro Strafe verurteilt, Michael Ballack zu 70.000 Euro, Oliver Kahn zu 125.000 Euro – alle wegen Steuer- und Zollvergehen.

9 Tax Justice Network/Netzwerk Steuergerechtigkeit 2016: „Transparenzregister“ der Bundesregierung ist ein verspäteter Aprilscherz

10 U.S.PIRG/CTJ 2015: Offshore Shell Games

11 Henry 2012: The Price of Offshore Revisited

12 Forsa 2016: Viel Verständnis für Firmenerben

13 Hervorragend dokumentiert wurde das in: Klein 2015: This Changes Everything

14 Crouch 2003: Postdemokratie

15 Siehe Hentschel 2013: Von wegen alternativlos! Dort habe ich viele Beispiele aus aller Welt gesammelt.

16 Stern 2006: The Economics of Climate Change

17 Die Zahl der Opfer durch Hunger und Repression in der VR China wird auf 20 bis 40 Millionen Menschen geschätzt. Ohne Demokratie bleibt eine Rückkehr der Parteiführung zu einer voluntaristischen Politik à la Mao eine stets drohende Gefahr.

18 Meinzer 2015: Steueroase Deutschland; Meinzer 2016: Auswirkungen von Steuervermeidung und Steuerhinterziehung auf die Entwicklungsländer

19 Während der großen Hungersnot von 1845 bis 1852 in Irland wurde umso mehr Getreide exportiert, je mehr Menschen hungerten, da die Iren kein Geld mehr hatten, welches zu kaufen, und die Getreidepreise gestiegen waren. Von 1840 bis zum Ende der britischen Herrschaft 1921 sank die Bevölkerung Irlands kontinuierlich von 8,3 Millionen auf weniger als die Hälfte. Viele verhungerten, noch mehr wanderten aus.

„Manche mögen nach alldem nun einwenden:
Demokratie ist doch kein Wunschkonzert. Doch, genau das ist sie!
Im Gegensatz zu allen anderen Staatsformen ist allein die Demokratie in
der Lage, sich ständig weiterzuentwickeln und in der Pflicht, die Wünsche
des Volkssouveräns zum Ausdruck zu bringen.“ (Ute
Scheub)20

Kapitel 1

Von Athen bis nach Paris

Eine kleine Geschichte der Demokratie

Am Anfang war der Sex – Despotien und Seefahrer – Als die Holländer die Welt beherrschten – Die Philosophen der Demokratie – Die Rolle der Mittelschichten

Letzte Woche erschien ein ungewöhnlicher Artikel in der TAZ über die ehemalige Sowjetrepublik Kasachstan.21 Seit 25 Jahren regiert dort der Diktator Nursultan Nasarbajew. Bei der letzten Wahl 2015 bekam er 98 Prozent der Stimmen. Mittlerweile soll er ein Vermögen von sieben Milliarden US-Dollar angehäuft haben. Opposition wird konsequent mit Gefängnisstrafen unterdrückt. Nun berichtet die TAZ von jungen gebildeten modernen Menschen, die Nasarbajew für einen klugen Staatsmann halten, einen Patriarchen, der das Volk der 130 Ethnien zusammenhält, die russische Minderheit schützt, sich mit Putin gut versteht. Diese Menschen haben Angst davor, dass er stirbt und Chaos und Nationalismus ausbricht – wie in der Ukraine. Fazit: Lieber ein guter Diktator als Chaos und Unsicherheit.

Das erinnert an Russland. Die Menschen wählen Putin, weil sie die Chaoszeit der Wende, in der sich Oligarchen gnadenlos bereicherten, in schlimmer Erinnerung haben. Putin hat die Öl- und Gasquellen wieder verstaatlicht und kann damit die Renten wieder zahlen – auch wenn das mit sinkendem Ölpreis schwieriger wird.

Ist das nun ein Trend? Nach dem Zweiten Weltkrieg war die Demokratie siebzig Jahre lang im Vormarsch. Heute bezeichnet sich fast jeder Staat irgendwie „demokratisch“ – selbst die Volksrepublik China nennt sich eine sozialistische Demokratie. Aber nach dem jährlichen Bericht von Freedom House nimmt die Freiheit in der Welt seit 2007 wieder ab.22 Immer häufiger werden Machthaber wie Putin und Erdogan zwar demokratisch gewählt, stecken aber trotzdem Opposition und Journalisten ins Gefängnis – meist mit Zustimmung ihrer Wähler.

Wer heute für Demokratie kämpft, wer verstehen will, welche Chancen sie künftig hat und was man verbessern kann, der muss sich deshalb mit folgenden Fragen beschäftigen:

Wollen Menschen von Natur aus lieber demokratisch oder autoritär regiert werden? Welche Rolle hat die Demokratie in der Geschichte gespielt? Von welchen Bedingungen hängt es ab, ob Demokratie sich durchsetzen kann und ob sie stabil bleibt?

Ist der Mensch von Natur aus demokratisch?

Welche Regierung die beste ist und der Natur des Menschen am meisten entspricht – das hat Philosophen und Historiker seit Urzeiten beschäftigt. Manche hielten die Menschen von Natur aus für gut wie Rousseau23. Andere glaubten, sie seien schlecht und brauchen einen König, der Blutvergießen verhindert, wie Hobbes es in seinem Hauptwerk Leviathan24 vertrat. Auch über die Frage, was den Menschen eigentlich so erfolgreich machte, gingen die Meinungen auseinander. Mal war es die Seele, der Glaube an Gott, das große Gehirn, der Werkzeuggebrauch und bei Friedrich Engels schließlich die Arbeit, die den Menschen vom Tier unterscheiden sollte.25

Heute wissen wir es besser:26 Die gemeinsame Brutpflege, Sex und eine unglaubliche Flexibilität und Anpassungsfähigkeit sind es, die den Menschen ausmachen. Die ersten Menschen waren kleine bereits aufrechtgehende Affen, die eine Besonderheit hatten: Sie lebten in Sippen von ein bis zwei Dutzend Mitgliedern zusammen, die ihre Jungen gemeinsam aufzogen. Diese gemeinsame Brutpflege war ihre Spezialität – ihr Selektionsvorteil! Deshalb trugen sie ihre Nahrung zu einem Platz, wo sie gemeinsam verzehrt wurde. Das klingt einfach, war aber sehr kompliziert! Denn nach dem Gesetz von Darwin gibt es Altruismus nur gegenüber ganz nahen Verwandten – also Kindern und Geschwistern. Der Einzelne – der einem Fremden etwas abgibt – muss darauf vertrauen können, dass er oder sie etwas zurückbekommt.

Damit die gemeinsame Brutpflege funktionierte, entwickelten die Menschen eine unglaubliche Vielfalt von sozialen Verhaltensmustern, die Abhängigkeiten schaffen und Missbrauch verhindern sollten: Liebe, Vertrauen, Eifersucht, Hass (gegen Betrüger), Misstrauen (gegen Fremde), Witze und Aggression, Schmeichelei, Lüge, Ironie sowie das Spielen als soziales Training. Beim Sex irrte die Kirche total: Sex diente nicht der Fortpflanzung, sondern vor allem als emotionaler Kleister, weshalb Menschen anders als die meisten anderen Säugetiere jederzeit dazu Lust haben und nicht nur während des Eisprungs. Sowieso waren Frauen noch ziemlich gleichberechtigt – wenn es auch meist eine strikte Arbeitsteilung gab.

Noch komplizierter wurde es, als benachbarte Sippen begannen, sich meist einmal im Jahr an einem futterreichen Platz zu treffen, um dort Partner zu finden, seltene Fundstücke und Schmuck zu tauschen, Feste zu feiern und Geschichten zu erzählen. So entstand der Stamm – ein Solidarverband von 150 bis 500 Menschen mit engen Bindungen. Er war eine Art urzeitliche Lebensversicherung. Wenn eine Sippe in Notzeiten in Schwierigkeiten geriet, dann konnten ihr andere helfen oder sie sogar zeitweise aufnehmen. Aber der Stamm bestimmte auch die Grenze, wer dazu gehörte und wer ein Fremder war und in Zeiten knapper Ressourcen bekämpft wurde.

Es ist dieser riesige emotionale Ballast oder Reichtum, mit dem wir heute noch zu tun haben – insbesondere in der Politik. Immer noch ist der Bundespräsident unser emotionaler Sippenhäuptling. Immer noch ist Demokratie eine vergrößerte Stammesversammlung – ein Palaver – mit Vorwürfen, Beifallskundgebungen, Verdächtigungen, Selbstdarstellungen und vielem mehr. Am besten erlebt man das in Bürgerversammlungen der Gemeinde oder auch auf Parteitagen – die in der Regel in etwa Stammesgröße haben. Und wie heute waren solche Versammlungen mehr oder eben auch weniger demokratisch. Selbst wenn der Sohn eines Häuptlings als Nachfolger gewählt wurde, so wurde er doch nur aufgrund seiner natürlichen Autorität akzeptiert – es reichte nicht, wenn sein Vater schon Häuptling war.

Aber die Erkenntnis, dass Liebe und Eifersucht, Altruismus und Fremdenhass genetisch im Zwischenhirn verankert sind, enthält nur die halbe Wahrheit. Die andere Hälfte ist noch wichtiger: Der Mensch ist keineswegs auf ein bestimmtes Verhalten festgelegt, sondern im Gegenteil extrem variabel. Von den patriarchalischen Strukturen mit Haremsbildung der Viehzüchter in den Steppen bis zum sehr egalitären Verhalten bei den Cherokee-Indianern oder dem weiblichen Erbrecht der Friesen an der Nordsee ist bei den Menschen alles möglich. Erst das hat sie befähigt, sich an die unterschiedlichsten Ökotope dieser Erde anzupassen – vom tropischen Regenwald bis zur Eiswüste Grönlands, die unterschiedlichsten Gesellschaftsformen zu bilden und die unterschiedlichsten Rollen und Berufe zu lernen: Sammler, Jäger, Bauer, Fischer, Viehzüchter, Händler, Friseur, Verkäufer, Lehrer, Soldat, Wissenschaftler, Zahnarzt, Ingenieur, König und Präsident.

Die Agrardespotien

Die erste große Revolution in der Geschichte der Menschheit war die Erfindung des Ackerbaus – zunächst im Nahen Osten vor circa 10.000 Jahren. Sie führte zu einem dramatischen Anstieg der Bevölkerungsdichte. Sie war begleitet von zahllosen Erfindungen – vor allem zum Anbau von Nahrungspflanzen, ihrer Lagerung und Verarbeitung, der Tierzucht und Pflanzenzucht. So kam es zu einer radikalen Veränderung des gesamten Lebens. Heute weiß man, dass das Leben keineswegs einfacher und besser wurde. Im Gegenteil: Aufgrund der einseitigen Abhängigkeit vom Ernteertrag weniger Pflanzen wurden Hungersnöte sogar häufiger. Durch das enge Zusammenleben mit Tieren übertrugen sich zahlreiche Infektionskrankheiten, die die Lebenserwartung oft drastisch reduzierten. Wenn die Nahrung knapp wurde, kam es zu Raubüberfällen und regelrechten Kriegen, da die Bauern nicht mehr einfach einem überlegenen Gegner ausweichen konnten. Sie mussten ja ernten. Wenn ein Stamm Arbeitskräfte brauchte, dann wurden diese gefangen: Die ersten Sklaven der Geschichte. Doch politisch änderte sich noch wenig. In den frühen Ackerbaugesellschaften wirtschaftete man gemeinsam und relativ gleichberechtigt. So ging das mehr oder weniger demokratisch organisierte Zusammenleben in Sippen und Stämmen noch für Tausende von Jahren weiter.27

Dann aber kam vor etwa 5.000 Jahren die zweite große Revolution und damit die endgültige Vertreibung aus dem Paradies: Die Entstehung von Städten und Staaten. Auslöser waren die Viehzucht und/oder die Vorratshaltung in Stammestempeln – sprich die Konzentration von Eigentum. Damit verbunden begann eine erneute Revolution der Technologie und des Wissens: Pflug, Rad, Ochsengeschirr und Wagen, Segelschiff, künstliche Bewässerung, Obstzüchtung, Dünger, Kupfer- und Bronzeverarbeitung, Ziegelstein, Schrift, Architektur, Mathematik. Besonders bei den Viehhirten in den Steppen waren die Eigentumsunterschiede schon früh sehr groß. Dort bildeten sich erstmals Stämme mit Tausenden von Menschen. An der Spitze stand nun ein Häuptling oder König – der üblicherweise das Oberhaupt der reichsten und mächtigsten Sippe war. Oft machten die kriegerischen und mobilen Hirten die anliegenden Ackerbauern tributpflichtig und entwickelten sich so zu einer Adelsschicht. In anderen Gegenden wurden die Hüter der Getreide- und Ölvorratstempel zu Priestern und Königen.

So entstanden die Städte und mit ihnen die ersten Agrarstaaten – oder besser Agrardespotien. In diesen Staaten stieg die Bevölkerungsdichte nicht selten um das Zehnfache an. Wo sich erst mal Herrscher herausgebildet hatten, konnten diese den Bauern das Mehrprodukt abpressen und damit Soldaten und Steuereintreiber – später auch Künstler und Handwerker, Kaufleute und Dienstboten – ernähren und vergüten. Meist umfasste der Adel nur ein bis zwei Prozent der Bevölkerung. Über neunzig Prozent der Bevölkerung waren Bauern und mussten oft die Hälfte ihrer Produkte wie Getreide, Vieh oder Pelze – später auch in Geldform – abgeben. Oder sie mussten regelmäßig – oft jahrelang – für die Herrscher Fronarbeit leisten, um gigantische Tempelanlagen, Straßen, Kirchen und Befestigungen zu bauen.

Die Macht des Adels und der Agrarherrscher war stets mit der Kontrolle eines Territoriums verbunden. Um die Vorratstempel entstanden Städte. Um die Besitzstände und die Schulden aufzuzeichnen, erfanden die Sumerer, die Chinesen, die Mayas und andere Völker die ersten Schriften. Und mit der Erfindung der Schrift begann vor etwa 5.000 Jahren die Geschichte der Menschheit (die Zeit vorher nennt man Vorgeschichte). Aber die Zeit der technologischen und Wissensrevolutionen war damit – erst mal – wieder vorbei.

Heute erscheint es geradezu erstaunlich, dass die gleiche Art von Menschen, die mindestens 100.000 Jahre in egalitären Gesellschaften gelebt hatte, von einer kleinen Minderheit ihresgleichen immer mehr und immer grausamer versklavt werden konnten. Die Soziologen Lenski und Nolan kommen in ihrer Bilanz zum Ergebnis, dass seit der Entstehung der Klassengesellschaften nur die Oberschicht kontinuierlich vom Fortschritt profitiert hat – siehe die nebenstehende Grafik. Für die Masse der Menschen wurde die Unterdrückung immer schlimmer. Erst mit der Industriegesellschaft und der Entstehung des Sozialstaates nahmen die Freiheit, sein Leben zu gestalten, die Freiheit vom täglichen Kampf um Nahrung, die Freiheit von Elend und Krankheiten, endlich zu.

Diese Entwicklung hin zu den großen Agrarstaaten und zu brutalen Klassengesellschaften vollzog sich unabhängig voneinander überall in der Welt – von China bis hin zu den Azteken in Mexiko. Ideologisch wurde die Herrschaft gerechtfertigt, indem die Könige zu Göttern wurden oder göttlich legitimiert wurden. In Europa wurde dies durch die christliche Kirche perfektioniert. Interessanterweise dauerte es bis 1944, bis Papst Pius XII. und damit die katholische Kirche die Demokratie als Staatsform per Edikt akzeptierte und endlich von der gottgewollten christlichkatholischen Monarchie als Idealbild eines Staates Abschied nahm.28

Fazit 1:

Die Menschen können Demokratie, Konsensfindung und Aushandeln von Kompromissen. Aber sie sind flexibel und oft opportunistisch und lernten auch unter schlimmsten Verhältnissen der Klassengesellschaf-ten und der Sklaverei zu überleben. Deshalb werden sich die Menschen jeweils für die Form aussprechen, von der sie sich die besten Chancen für sich und ihre Kinder versprechen.

Prädemokratien

Auch in den 5.000 Jahren, in denen die Klassengesellschaften der Agrarstaaten dominierten, gab es immer wieder auch Ausnahmen, Vorformen von Demokratien – ich nenne sie deshalb Prädemokratien: Diese Prädemokratien waren Nischengesellschaften am Rande der großen Agrarstaaten.

Freie Bauern und Seefahrer

In den engen Bergtälern der Schweiz konnten die Bauern ihre urtümliche Demokratie bis Ende des 18. Jahrhunderts erhalten, da die Versuche von auswärtigen Fürsten, sie zu unterjochen, immer wieder scheiterten. Berühmt waren auch die Irokesen in Nordamerika, deren „egalitäre Konsensdemokratie“ möglicherweise einen direkten Einfluss auf die Verfassung der USA gehabt haben soll.29 Die reichen Marschbauern in Dithmarschen konnten ihre Freiheit bis Ende des 16. Jahrhunderts verteidigen, indem sie den Einmarsch von Ritterheeren durch das Öffnen der Deiche verhinderten, so dass die Ritter ertranken. Ähnliches galt für die Friesen an der Nordseeküste und die Wikinger mit ihren Volksversammlungen (Things30) in Skandinavien. Dort betrieben die Frauen die Landwirtschaft, die Männer fuhren als Händler zur See, manchmal plünderten sie auch und sorgten für ihren schlechten Ruf. Oder sie traten in den Dienst fremder Könige – aber immer als freie Menschen.31 Die benachbarten Feudalreiche ließen sie lange Zeit in Ruhe, solange Eroberungsfeldzüge zu kostspielig waren und regelmäßige Abgaben nicht zu bekommen waren.

Nach der Entdeckung – oder besser Eroberung – Amerikas wurden zuvor dünn besiedelte Gebiete im Norden der USA und in Kanada, später auch in Australien, Neuseeland und teilweise in Südafrika von Bauern aus Europa erobert und besiedelt. Hier gab es viel Land und es herrschte ein Mangel an Arbeitskräften. Das traditionelle Klassensystem brach rasch zusammen. So bildeten sich am Rande der Zivilisation erneut Prädemokratien, lokale Gesellschaften freier Bauern mit Selbstverwaltungsstrukturen.

Dort jedoch, wo die Arbeit von unterdrückten Eingeborenen oder importierten Sklaven gemacht wurde, wie in den Südstaaten der USA, in Lateinamerika und in den meisten Gegenden Afrikas und Asiens entstanden die Kolonialsysteme, also neue agrarische Klassengesellschaften mit den Einwanderern als herrschender Klasse.

Das Mittelmeer und die Kaufmannsrepubliken

Ein völlig anderer Typus von Prädemokratien entstand im ersten Jahrtausend vor Christus in Handelsstädten wie Athen, die über Jahrhunderte den Handel im Mittelmeer beherrschten. Lenski und Nolan bezeichnen diesen Gesellschaftstyp als „maritime Gesellschaft“.32 Häufig wird auch die Bezeichnung Thalassokratie verwendet.33 Es begann mit den phönizischen Städten wie Tyros und Byblos im Osten und den Etruskern im Westen, dann folgten die Griechen und schließlich Rom. Athen war das berühmteste Beispiel. Typisch für diese Gesellschaften war, dass Erfolg und Wohlstand nicht vom Ackerbau herrührten, sondern vom Handwerk und Seehandel. Wichtig für die Entstehung der Demokratie war die Beweglichkeit der Produktionsmittel. Die Schiffe wurden von freien Bürgern gerudert – sie bildeten also quasi gemeinschaftliche Handelsunternehmen. Da wollte jeder mitreden. Und wenn ein Stadtkönig versuchte, den Kaufleuten zu viele Abgaben abzupressen, konnten diese mit den Schiffen wegfahren und sich woanders niederlassen – was sie auch häufig taten.

Allerdings eine Demokratie im heutigen Sinne war Athen nie. Im alten Athen waren nur maximal zehn Prozent der Bevölkerung in der Volksversammlung stimmberechtigt – nicht die rechtlosen Sklaven, die die Mehrheit der Bevölkerung darstellten, nicht die Frauen und auch nicht die Metöken, die „Ausländer“ – meist Griechen aus dem Umland ohne Bürgerrecht in Athen. Auch für Karthago (eine Gründung der Phönizier) ist dokumentiert, dass die führenden Beamten, der Ältestenrat und die Feldherren vom Volk gewählt wurden. Bei den Etruskern, deren Reichtum auf dem Eisenerzabbau auf Elba, der Eisenverhüttung und dem Handel im gesamten Mittelmeerraum beruhte, wurden die ehemals erblichen Priesterkönige später ebenfalls jährlich gewählt.

Das gleiche passierte in Rom.34 Auch Rom war zunächst eine Handelsstadt – in unfruchtbarer Landschaft mit sandigem Boden an der einzigen Furt über den Tiber gegründet. Hier kreuzten sich vier Handelswege – darunter die via salaria (Salzstraße) zur Adria. Zugleich war der Tiber der einzige schiffbare Fluss auf der Ostseite des Stiefels. Als Rom unter etruskische Herrschaft geriet, übernahmen die Römer die Schrift, die Toga und Tunika als Kleidung, die Religion und schließlich auch die Republik – eine Prädemokratie – besser Wahlaristokratie – mit einem Senat gebildet aus Vertretern der vornehmen Familien und gewählten Konsuln und Beamten.