Cover

Gustloff im Papierkorb

Ein Forschungskrimi

Guy P. Marchal

HIER UND JETZT

Mit weiteren Beiträgen haben das Buchprojekt unterstützt:
Berta Hess-Cohn-Stiftung Forschungskommission Universität Luzern

Dieses Buch ist nach den aktuellen Rechtschreibregeln verfasst. Quellenzitate werden jedoch in originaler Schreibweise wiedergegeben. Hinzufügungen sind in [eckigen Klammern] eingeschlossen, Auslassungen mit […] gekennzeichnet.

Gestaltung und Satz: Simone Farner, Naima Schalcher, Zürich
Bildbearbeitung: Benjamin Roffler, Hier und Jetzt
Druck und Bindung: Beltz, Grafische Betriebe, Bad Langensalza
ISBN Druckausgabe 978-3-03919-498-8
ISBN E-Book 978-3-03919-961-7

E-Book-Herstellung und Auslieferung:
Brockhaus Commission, Kornwestheim
www.brocom.de

© 2019 Hier und Jetzt, Verlag für
Kultur und Geschichte GmbH, Baden, Schweiz
www.hierundjetzt.ch

Vorbemerkung

Als ich an jenem Frühlingstag auf die zwei gelben Kuverts stiess, als ich vorsichtig die wenigen Schriftstücke herauszog und zu lesen begann, als mich die Neugier packte, wusste ich nicht, wohin mich diese Neugier führen würde. Ich konnte nicht im Entferntesten ahnen, dass meine Recherchen mich einmal zum Finanzchef der NSDAP – dem Reichsschatzmeister –, zum «Mindener Bericht» über das SS-Wirtschafts-Verwaltungshauptamt, der in einem britischen Internierungslager entstanden ist, zu Himmlers Dienstkalender, zur Entnazifizierung in der Sowjetzone und schliesslich zum deutschen Wirtschaftswunder bringen würden.

Und doch: Am Anfang lagen, wie meistens, lediglich ein paar wenige alte Schriftstücke vor. Bis diese jedoch als aussagekräftige Quellen für ihre Zeit erkannt und in ihrer Bedeutung voll verstanden werden können, braucht es einen langen Weg, viele Schritte und manchmal einen langen Atem. Diesen Weg beschreibt das vorliegende Buch auf allgemein verständliche Art und Weise: meine Recherchen und Überlegungen, die Überraschungen, die ich dabei erlebte, und die Irrwege, denen ich bisweilen folgte. Es ist eine Geschichte darüber geworden, wie aus «Vergangenheit», die endgültig entschwunden ist, über einige zufällige Zeitzeugnisse «Geschichte» werden kann.

Das Buch ist also so entstanden, wie es im Folgenden berichtet wird. Wenn sich die grösste Überraschung in dem Moment einstellt, in dem ich das ursprüngliche Büchlein für abgeschlossen betrachte, wenn ich nochmals beginnen muss, die Geschichte in einem zweiten Teil andersherum zu erzählen, wenn ich mich in einem dritten Teil auf die Suche nach einem Geheimagenten mache, so ist das kein dramaturgischer Trick. Es ist so geschehen.

Teil 1 Paul – Geheimnisse im Papierkorb (1933)

Zwei gelbe Kuverts

Drei Briefe aus Basel

Der Papierkorb

Geschichten schreiben

Schicksal

Seidenhandel

Schattenduell im Kontor

Weiterleben

Dicke Post aus Berlin

Fiktion und Faktizität

Zeit und Gerechtigkeit

Teil 2 Max – Die Geheimnisse des Staatsarchivs (1945)

Ein Archivar hilft weiter

«Zellwolle bedeutet Fortschritt»

Sich um Kopf und Kragen reden

Sich reinwaschen

Gustloff taucht wieder auf

Die Entscheidung

Teil 3 Rumpelstilzchen – Spurensuche im Internet (2018)

Fragen über Fragen

Recherchen

Geheimoperation «Recenia Basel»

Wirtschaftswunder

Farewell!

P.S.: Das letzte Geheimnis des Staatsarchivs

Dank

Die Quellen

Der Inhalt des Papierkorbs

Akten aus dem Bundesarchiv Berlin

Akten aus dem Staatsarchiv Basel

Anmerkungen

Bildnachweis

Paul – Geheimnisse im Papierkorb (1933)

Teil 1

Zwei gelbe Kuverts

Dinge reisen durch die Zeit. Einige sind schon mehrere Menschengenerationen unterwegs, andere erst seit Kurzem.

Dinge transportieren Erinnerungen. Manche reisen offen und feierlich, und die Erinnerung gibt ihnen Bedeutung. Jenes Silberbesteck weist ein Monogramm auf, und die Namen der einstigen Besitzer sind in der Familientradition noch immer bekannt. Ein einfacher barocker Schrank voller Engelsköpfe und Ornamente, die zu versteckten Teufelsfratzen stilisiert sind, zeigt stolz das Datum 1688. Es lässt sich nur mehr ahnen, dass er wohl aus einer Sakristei stammen könnte. Wie er den Weg in eine Familie gefunden haben mag und hier seine Zeitreise fortgesetzt hat, davon gibt es verschiedene Erzählungen. Der altehrwürdige, massive Familientisch aus Eichenholz, an dem ich sitze, weist verschiedene Gebrauchsspuren auf. Früher stand er bedeutungslos in meinem Kinderzimmer, und über ihn rollte eine Modelleisenbahn durch Gipsberge und über Ebenen. Seine Reise hat er aber viel früher, schon im 19. Jahrhundert, angetreten und ist wohl mit den Urgrosseltern den Rhein herauf nach Basel gekommen.

Andere Dinge, Alltagsgegenstände wie Kaffeelöffel, Brieföffner oder Aschenbecher, reisen verstohlen mit. Sie sind einfach da, gehören «seit je» zur Familie, ohne dass man wüsste, von wem her, wann und wie sie zur Zeitkarawane der Familie gestossen sind. Nur einer gewissen Sentimentalität verdanken sie den Umstand, dass sie mehr geschätzt werden als ein fabrikneues Produkt und nicht längst weggeworfen wurden.

Und dann gibt es Dinge, die im Dunkeln reisen. Vergessene Alben, die niemand mehr öffnet, Fotos, auf denen man niemanden mehr kennt, Bündel von Liebesbriefen oder Reiseberichten von Verwandten, die man längst vergessen hat. Alte Aufsatzhefte in deutscher Schrift, vergilbte Schulzeugnisse, Postkartengrüsse aus alter Zeit – alles Dinge, die bei jeder Räumung und jedem Umzug überraschend wieder zum Vorschein kommen und die jeweiligen Besitzer vor die Frage stellen, was weggeworfen und was aufbewahrt werden soll. Aus einer merkwürdigen Pietät heraus werden die Stücke schliesslich behalten, verschwinden in Schubladen und Schachteln, gehen da vergessen und warten wieder geduldig Jahre, Jahrzehnte lang, bis sie wiederentdeckt werden. Und manchmal, nicht immer, wird dann plötzlich ihre wirkliche Bedeutung erkannt.

In dieser dunkeln Zone reisten auch zwei mittelgrosse, gelbe Kuverts mit, bis ich sie an einem freundlichen Frühlingstag 2017 bei einer Aufräumaktion in einer übervollen Schachtel wiederfand. «Ach ja, Papas gelbe Kuverts!», erinnerte ich mich.

*

1987 wars, wenn ich mich recht erinnere, zu weihnächtlicher Zeit. Ich war mit meiner Familie bei Erica und Paul, meinen alt gewordenen Eltern, zu Besuch. Irgendwann an jenem Abend nahm mich mein Vater zur Seite und überreichte mir mit diskreter Feierlichkeit mehrere mittelgrosse, gelbe Kuverts, die er mit kurzen Inhaltsangaben beschriftet hatte. Es seien Erinnerungen aus seiner Kindheit und den 1930er-Jahren, und beim Historiker, der ich ja nun sei, seien sie am besten aufgehoben. Ich spürte schon, dass dies seine Art war, mir, dem Jüngsten, dem «Kleinen», wie er immer zu sagen pflegte, seine Anerkennung auszudrücken. Es hat mich berührt und etwas verwirrt, und so habe ich die Beschriftungen der Umschläge nur flüchtig zur Kenntnis genommen. Namen standen da: «Saurenhaus», «Gustloff», «Nationalsozialistische Umtriebe». Aber Ende der Achtzigerjahre war ich viel zu sehr mit anderem beschäftigt. Damals hatte ich eben die für mich stürmische Zeit um das Sempacher Jubiläum von 1986 hinter mir, arbeitete an den Luzerner Rechtsquellen, verfolgte verschiedene Fragestellungen im Bereich der Mediävistik, forschte über die Veränderungen des Geschichtsbilds von den «Alten Eidgenossen» vom Mittelalter bis ins 20. Jahrhundert, und schon standen auch berufliche Veränderungen an, kurz: Ich hatte schlicht keine Zeit für das, was die Kuverts enthielten.

Später an jenem Abend, zu Hause, schaute ich schon flüchtig hinein. Aber die «Nationalsozialistischen Umtriebe» interessierten mich damals eigentlich nicht. Zudem handelte es sich nur um wenige handgeschriebene, merkwürdig zusammengeklebte Papiere. Was nur liesse sich mit diesen paar Blättern anfangen? Und Max Saurenhaus, der Schwager und ehemalige Geschäftspartner meines Vaters? Er war eine unerfreuliche Erinnerung, die noch bis in die 1960er-Jahre in der Familie bisweilen evoziert worden war. Aber meistens erregte sich Mutter dann, und Vater wollte nichts mehr davon hören. Dann wurde es still um Saurenhaus. Weshalb sollte ich mich also jetzt, nach dieser langen Zeit, damit beschäftigen? Die Kuverts verschwanden in irgendeiner Kartonschachtel, wo auch anderes, nicht Benötigtes lag, das man doch nicht wegwerfen wollte.

Die Jahre gingen ins Land. Die Schachtel wanderte mit dem Umzugsgut nach Luzern und zehn Jahre später wieder nach Basel zurück, ohne dass sie näher angeschaut worden wäre. Mutter war inzwischen gestorben und dann auch Vater. Ich wurde emeritiert, arbeitete bei einem internationalen Forschungsprogramm mit, das die europäischen Nationalgeschichten vergleichend analysierte und das ich noch in meiner Aktivzeit lanciert hatte, genoss schliesslich die Freuden des Ruhestands bis – ja, bis eine schwere Erkrankung mich dazu bewog, meine Sachen zu ordnen.

*

Und jetzt war er da, jener milde Frühlingstag im Jahr 2017, an dem ich in diesen paar Papieren von 1987 endlich erkennen sollte, was sie waren: ein eigentümlicher Quellenfund, klein zwar, aber er hatte es in sich.

Ich war wieder zu Kräften gekommen, die Sonne schien zum Fenster herein, der Duft frischer Blätter und Blumen wehte durchs Zimmer, draussen spielten Kinder, und ich nahm mir die beiden Kuverts, die Erinnerungen aus den 1930er-Jahren enthielten, vor. Vorsichtig zog ich die Schriftstücke heraus, begann zu lesen, und diesmal packte mich eine fiebrige Neugier. Nun wollte ich wissen, was hier vorlag, worum es hier ging. Der eine Umschlag war dünn und enthielt einige Seiten maschinengeschriebener Durchschläge auf dünnem, gelbem Papier, wie es im Zeitalter der Schreibmaschine üblich gewesen war. Der andere war prall gefüllt mit Papieren unterschiedlichsten Formats. Auf dem dünnen Kuvert stand geschrieben: «Nazi Umtriebe in der Schweiz. Kopie einiger Original Briefe. Je ein Exemplar wurde an das politische Dep. nach Bern gesandt. Ohne sichtbaren Erfolg, denn einige Zeit später wurde Gustloff tatsächlich zum Konsul in Davos akzeptiert!! Bern übermittelte diese Briefe an das Polizeidepartement Basel, wo die Briefe verschwanden!!!»

Auf dem dickeren Umschlag stand in grosser Schrift: «Nationalsozialistische Umtriebe in der Schweiz. Korrespondenz: Gustloff, Saurenhaus, Böhmer».

Ich falte die Blätter so behutsam wie möglich auseinander. Denn sie sind zusammengeklebt mit Klebstreifen und Rabattmarken auf der Rückseite. Sie könnten leicht auseinanderfallen. Sofort fällt ein grosses, intaktes Blatt auf mit einem protzigen Briefkopf: im Mittelpunkt ein Hakenkreuz im Lorbeerkranz mit einem Adler darüber und dem Motto «Freiheit und Brot». Dick in Frakturschrift und unterstrichen steht zuoberst: «Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei». Darunter in gespreizter Schrift und zentriert: «Landesgruppe Schweiz». Links ist zu lesen «Ortsgruppe Basel» und «Propagandaleitung Basel», rechts der Hinweis auf das «Zentralorgan der Landesgruppe ‹Der Reichsdeutsche›».

Ich halte ein, vergesse Raum und Zeit. Das brüllende Stakkato einer gutturalen Stimme dringt in mein Ohr, das Trampeln von Tausenden von Stiefeln, Marschlieder, das Schreien einer Volksmenge. Vor meinem inneren Auge wehen zahllose Hakenkreuzfahnen im Wind, wippen Stahlhelmreihen auf und ab, auf und ab, schwingen Arme in zackiger Bewegung, schnellen gestreckte Beine im Stechschritt vor. Und ringsum eine bis an den Horizont ausufernde Menschenmenge, und überall steif nach vorn gestreckte Arme. 1933.

Die Schriftstücke, die ich da entfalte, weisen alle irgendwo und irgendwie ein Datum des Jahres 1933 auf. Auf den zerrissenen und zusammengeklebten Blättern eine ungestüm schwungvolle, vorwärtsdrängende Schrift mit wilden Streichungen, auf anderen Blättern eine sorgfältige, senkrechte Schrift. Und beinahe überall taucht ein Name auf: Max Saurenhaus. Der Kassenwart Max Saurenhaus, der mit einem Formular die ausstehenden Mitgliederbeiträge für die Ortsgruppe der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (NSDAP) anmahnt. Max Saurenhaus, der sich als Wirtschaftsberater der NSDAP Landesgruppe Schweiz vorstellen will. Max Saurenhaus, der für den Aussenhandelsverband Berlin irgendwelche Listen erstellen will. Max Saurenhaus, der mit dem Aussenpolitischen Amt der NSDAP in Berlin korrespondiert und sich warm für den ihm widerfahrenen Empfang bedankt. Und die Briefentwürfe schliessen, soweit sie bis ans Ende kommen, immer wieder mit dem Gruss «Heil Hitler!». Und da beginnt ein Brief tatsächlich so: «Lieber Herr Gustloff, sehr geehrter Herr Parteigenosse»! Am Ende schliesst er mit: «Mit herzlichen Grüssen von Haus zu Haus, Heil Hitler». Ich suche in den Blättern. Gustloff wird wiederholt angeschrieben, und Gustloff antwortet.

Gustloff? – Wilhelm Gustloff.

Stand der Name nicht vor einiger Zeit in allen Zeitungen? Ich suche mich zu erinnern, ich schaue im Internet nach. Ja, da ist es: Am 4. Februar 1936 wurde er erschossen durch den jüdischen Studenten David Frankfurter. Achtzig Jahre ist das her. Im Gedenken an dieses Ereignis erschienen 2016 überall detaillierte Berichte. Die Neue Zürcher Zeitung (NZZ) etwa schilderte, wie Frankfurter allen Mut zusammennimmt, sich Zugang zu Wilhelm Gustloffs Haus verschaffen kann und ins Büro geführt wird, wie er, verunsichert, seinen Mut verliert und Gustloffs Stimme hört. «‹Diesen Schweinejuden werden wir es schon zeigen›, ruft Gustloff im Flur draussen noch ins Telefon, wie Frankfurter später angibt. Das lässt ihn den ersehnten Mut finden. Als der Nazi ins Arbeitszimmer tritt, schiesst der junge Mann drauflos und trifft viermal.»1 Von Gustloff wurde geschrieben, der die NSDAP Landesgruppe Schweiz leitete und wohl Gauleiter der Schweiz geworden wäre, wenn … Gustloff, der Fanatiker, der von sich gesagt haben soll: «Würde der Führer mir befehlen, heute Abend um 6 meine Frau zu erschiessen, so mache ich fünf Minuten vor sechs meinen Revolver parat, und fünf Minuten nach sechs ist meine Frau eine Leiche.»2 Und hier liegen vor mir Briefe an diesen Nazifanatiker. Ich kanns kaum fassen.

*

Ich habe das letzte Blatt, gelbes Durchschlagpapier, auf den Tisch zurückgelegt. Da liegen sie, die Blätter und Fetzen. Einige sind leicht zerknittert, andere wieder zusammengefalzt, so, wie sie Jahrzehnte durch die Zeit gereist sind. Einige bilden merkwürdig steife Gebilde, die durch Rabattmarken und Klebstreifen zusammengezogen werden und nicht mehr in die ursprüngliche Faltung zurückfinden. Und darunter unübersehbar der Briefkopf mit dem Reichsadler und dem Hakenkreuz im Lorbeerkranz.

Langsam meldet sich das Hier und Jetzt zurück. Ein leichter Windstoss lässt die Blätter etwas erzittern. Das linde Rauschen des jungen Laubs draussen dringt wieder ans Ohr, Vogelgezwitscher, fernes Motorengeräusch, die Rufe und Schreie von Kindern und das Klatschen eines Balls auf dem Asphalt. Mild zieht die Luft dieses Frühlingtags durch den Raum. Das Leben kehrt zurück. Erwachen, wie aus einem schweren Albtraum, und Fragen: Wie kann man heute diese paar Blätter verstehen und in das, was man allgemein weiss, einordnen? Wie ist diese in ein gelbes Kuvert verschlossene Dokumentation überhaupt entstanden?

Und, ach Gott, wäre es nicht besser gewesen, die Umschläge ungeöffnet zu entsorgen?

*

Wegwerfen? Das kann ich nicht. Nicht mehr, seitdem ich den Inhalt der Kuverts zur Kenntnis genommen habe. Nicht mehr, seit der Historiker in mir zu ahnen begann, dass hier ein kleiner, aber einzigartiger Quellenbefund vorliegen könnte. Doch was soll ich nun damit tun?

Es ist eine absurde Situation: Endlich kann ich die paar Blätter in einen grösseren Zusammenhang stellen. Aber jetzt sind jene, die ich über damals hätte befragen wollen, meine Eltern und meine Schwester, die das Geschäft am besten kannte, 1997 und 2010 verstorben.

Ich überlege hin und her. Ich ordne die Papiere schon mal chronologisch und erstelle «Regesten», also Zusammenfassungen ihres Inhalts. Aber wohin soll das führen? Schliesslich entscheide ich mich: Sollte sich ihr Inhalt tatsächlich als noch nicht bekannt erweisen, werde ich diese paar Quellen publik machen. Aber wie?

Für einen wissenschaftlichen Artikel in einer Fachzeitschrift, etwa «Unbekannte Quellen zur frühen Geschichte der NSDAP in Basel», mit einer Edition, kann ich mich nicht erwärmen, und das zu edierende Schriftgut ekelt mich eher an. Es gehört eigentlich definitiv in den Papierkorb.

Doch da kommt mir unvermittelt die Idee, diese Quellen in Form eines «dokumentarischen Romans» oder einer «romanhaften Geschichtsschreibung» bekannt zu machen. Streng wissenschaftlich und diszipliniert – meist limitiert auf eine gewisse Textlänge –, so habe ich mein Leben lang geschrieben und sogar diese Art zu schreiben als eine Kunst ausgeübt. Aber jetzt bin ich alt, muss mich nicht mehr ausweisen, jetzt könnte ich drauflos schreiben, nach Lust und Laune. Schreiben, wie und so viel ich selbst will.

Der Entscheid fällt mir auch aus einem anderen Grund leicht. Ich bin ja kein Spezialist der Neueren Geschichte, kein Zeitgeschichtler. Ich bin ein Mediävist, ein Mittelalterhistoriker. Ich weiss ziemlich gut, wie man mit Quellen umgeht. Aber meine Zeitreisen gingen bisher Jahrhunderte zurück, in eine Epoche, die vielen fremd geworden ist, ins Jahrtausend zwischen dem 6. und dem 16. Jahrhundert. Da lagen meine abenteuerlichen Jagdgründe. Die Schweiz in den 1930er-Jahren hat mich bislang nur am Rand interessiert. Für diese Zeit bin ich sozusagen ein wissenschaftlich geschulter Unwissender.

Genau darin erkenne ich meine Chance. Ich will ja ohnehin wissen, welche Bewandtnis diese zusammengeklebten Papiere haben. Ich muss mich informieren, muss in einem Feld recherchieren, mit dem ich wissenschaftlich bis jetzt wenig zu tun hatte, muss Erfahrungen sammeln. Es ist dieser Prozess des allmählichen Zugewinns von Erkenntnissen, den ich hier darstellen will. Man soll mitverfolgen können, wie es zum Schreiben von Geschichte kommt: dem Forscher über die Schulter schauen, wenn er auf eine Spur stösst, ihm durch Bibliotheken und Archive folgen. Man soll die Grenzen bei der Rekonstruktion vergangenen Geschehens erfahren, auch wenn diese hier bisweilen leichtfüssig überschritten werden. Man soll die Quellen selbst einsehen und mit ihnen die Interpretation überprüfen können. Und man soll auch das Abwägen mitdenken, wenn es darum geht, eine wissenschaftlich vertretbare Würdigung des Festgestellten zu finden. Es soll so etwas wie ein allgemein verständlicher, ja spielerischer «Werkstattbericht» werden. Kurz: Leserinnen und Leser sollen, wenn sie sich darauf einlassen, am Abenteuer historischer Forschung teilnehmen können.

Das Buch bietet also Geschichte auf eine ungewohnte Art dar. Im Zeitalter der Fake News ist es aber vielleicht dennoch nötig, von vornherein klarzustellen: Was folgt, ist eine Mischung aus Fakten und Fiktion. Die abgedruckten Briefe und Dokumente sind echt. Die Geschichten um sie herum bewegen sich zwischen Fiktion und Faktizität. So viel Fantasie in die Fiktion eingeflossen ist, sie bemüht sich immer um Plausibilität: Unter Berücksichtigung der Zeitumstände und der Quellenaussagen könnte es tatsächlich so gewesen sein. Auch die für jene Jahre zu den einzelnen Daten gesetzten Wochentage stimmen. Man darf das ruhig mit Grotefends «Taschenbuch der Zeitrechnung» überprüfen.

Merkwürdigerweise habe ich erst im Nachhinein erkannt, dass damit so etwas wie ein Krimi entstanden ist. Denn detektivische Erlebnisse gehören eigentlich zum normalen Alltag der Historiker und zu ihrer Arbeit mit Quellen aller Art. Das macht die Faszination dieses Metiers aus.

So ist eine Art Forschungskrimi entstanden – geschrieben für all jene, die keine Fachleute, keine Historiker sind, die aber interessiert sind daran, wie «Geschichte» eigentlich entsteht. Und dieser Forschungskrimi beginnt natürlich mit der Publikation, die ich ursprünglich geplant und verfasst habe.3

Drei Briefe aus Basel

Die Frage, die sich mir zuallererst stellt, lautet: Ist, was in meinem Quellenfund berichtet wird, überhaupt schon bekannt? Davon wird ja abhängen, ob ich mich weiter damit beschäftige. Ich nehme mir zunächst die drei Durchschlagskopien aus dem dünnen Kuvert vor, deren Originale nach Bern geschickt worden waren. Ihr Inhalt muss also an offizieller Stelle von irgendjemandem zur Kenntnis genommen worden sein. Wie hatte man reagiert? Zeitigten die Briefe Folgen? Weiss man heute noch von dem, was sie berichten? Am besten ist es also, dieses Kapitel aus der Perspektive der damaligen Empfänger zu erzählen.

Oktober 1933

Am 16. Oktober 1933, einem Montag, traf im Bundeshaus in Bern ein kleines Kuvert aus Basel ein, adressiert «an das Eidgenössische Politische Departement, Abteilung Auswärtiges, Bern». Darin lag ein kurzer, maschinengeschriebener Brief, datiert vom 14. Oktober, mit dem Titel «Mitteilung»:

«Die Treibereien der nationalsozialistischen Partei in der Schweiz dürften Ihnen bekannt sein.

Vielleicht ist es dennoch von Nutzen für unser Land, wenn ich Sie von Nachstehendem in Kenntnis setze. Anfangs Oktober war ein Delegierter der deutschen nat. soz. von Basel in Berlin, um mit dem dortigen Aussenpolitischen Amt der N.S.D.A.P die Organisation der Partei in der Schweiz durchzuberaten.

Die Gruppe soll straffer geführt werden und der Propagandatätigkeit in der Schweiz soll eine ganz besondere Aufmerksamkeit geschenkt werden. Man will die Schweiz nicht mit Waffen erobern, hofft aber durch Verbreitung der nat. soz.

Ideen nach und nach eine Annäherung an das III. Reich zu erlangen.

Die verschiedenen Angriffe der schw. Presse gegen die nat. soz. Partei in der Schweiz wurden ebenfalls besprochen. Da man eine Ausweisung befürchtet, will man nun dazu übergehen, den hauptsächlichen ‹Führern› amtliche Funktionen zu übertragen, damit sie gegen die Zugriffe der eidg. Behörden geschützt sind und auch die Presse ihre Angriffe einstellt. So soll vorerst der Landesgruppenführer Herr Gustloff in Davos ein Konsulat übertragen bekommen, ‹denn wenn einmal› – so heisst es in dem Bericht – ‹die Schweiz das Exequator an Pg. [Parteigenosse, Anm. d. A.] Gustloff gibt und sie wird es geben, (!) sind weitere Angriffe nicht mehr möglich.›

In Ihrer Hand liegt es, die deutschen Herren in die gebührenden Schranken zu setzen.»

Der Brief war nicht unterschrieben. Konnte ein solch anonymes Schreiben, das zudem keinen Namen preisgab, in Bern überhaupt ernst genommen werden? Immerhin schien der Verfasser Informationen über Interna der NSDAP zu haben, und er berichtete Unbekanntes über Wilhelm Gustloff.

Kenner der Szene wussten damals, dass Wilhelm Gustloff der Sekretär des Physikalisch-Meteorologischen Observatoriums in Davos war. Hierhin hatte es den Schweriner während des Ersten Weltkriegs zum Auskurieren einer Lungenkrankheit verschlagen. Man wusste, dass er ein Nazi geworden war und in Davos nebenher einen NSDAP-Stützpunkt gegründet hatte. Ende 1931 wurde bekannt, dass er zum Landesvertrauensmann der NSDAP in der Schweiz ernannt worden war. 1932 liess sich erkennen, dass er am Aufbau einer NSDAP Landesgruppe Schweiz arbeitete. Zum Zeitpunkt, als der Brief in Bern eintraf, war die innerhalb der NSDAP-Auslandsorganisation selbstständige NSDAP Landesgruppe Schweiz Tatsache, und ihr Führer, der Landesgruppenleiter Gustloff, war bereits durch antidemokratische und antisemitische Äusserungen aufgefallen.4 Dass er offiziell zum Konsul in Davos ernannt werden sollte, davon hatte man aber keine Ahnung. Und: Was hatte eine Basler Ortsgruppe, von der man noch kaum etwas wusste, damit zu tun? Man wird den Brief fürs Erste beiseitegelegt haben.

Doch drei Wochen später, am 8. November, traf erneut ein Kuvert aus Basel ein, datiert vom 7. November. Es enthielt einen dreiseitigen Brief, überschrieben mit «Mitteilung Nr. 2».

«Am 14. Oktober 1933 ging Ihnen die Meldung zu betr. der eventl. Ernennung des Landesgruppenführers in der Schweiz der NSDAP in Davos. In dieser Angelegenheit antwortet nun das A. P. der N.S.D.A.P in Berlin am 26. Oktober 1933:

‹Was die Übertragung des Konsulats in Davos an Pg. Gustloff anbetrifft, so muss das Aussenpolitische Amt aus finanziellen Gründen auf diese Neueinrichtung verzichten. Pg. Gustloff bleibt aber für diesen Posten vorgemerkt.›

Ferner wird ein eingesandter Artikel der Nationalzeitung Basel vom 30. Sept. 1933 ‹Die Achtung der Grenze› verdankt. Dieser Artikel spricht am Schluss von der Notwendigkeit die deutsche NSDAP auszuweisen.

Die Ortsgruppe Basel erneuert nun ihren Antrag nach Berlin und schreibt, dass es für die hiesigen Pg. eine ausserordentliche Beruhigung wäre, wenn dem Antrag entsprochen würde. Die Lage für die NSDAP in der Schweiz sei sehr heikel und man habe das Gefühl, auf einem Pulverfass zu sitzen. – Was wunder, wenn man sich der unlauteren Machenschaften bewusst ist, von denen die beiliegenden Briefcopien Zeugnis ablegen. Weiter wird betont, dass die Errichtung des Konsulats in Davos ja keine besonderen finanziellen Aufwendungen verursache, da es sich ja lediglich um ein Honorarkonsulat handeln würde. Die Situation der Partei in der Schweiz werde von Tag zu Tag unhaltbarer, besonders für die leitenden Organe. Der Obmann der hiesigen Gruppe beklagt sich über die terrormässigen Zustände, die hier herrschen. Ein weiterer Vorsteher der Partei in Basel missbraucht schon jetzt seine Stellung als Konsul eines kleinen südamerikanischen Staates um von Zugriffen der Behörden geschützt zu sein.

Vom Aussenpolitischen Amt sind nun die Massnahmen zur Förderung des deutschen Exports dem Aussenhandelsverband in Berlin übertragen worden.

Ich werde die Angelegenheit weiter verfolgen und Ihnen berichten. Ich betone, dass ich keiner politischen Partei angehöre und keiner der genannten Personen schaden möchte. Ich finde aber, dass es meine Pflicht ist, die Landesbehörde von diesen Vorgängen zu unterrichten.

Abschrift No. I.

Berlin den 19. Oktober 1933
Aussenhandelsverband Berlin NW 7,

Robert Koch Platz 7 (Handelsvertragsverein)

An die NSDAP Basel, z.Hd. des Herrn X Basel Zeichen J.Nr.Dr.N./Pf.

Sehr geehrte Herren!

Die Tatsache, dass der deutsch-feindliche Boykott in einem grossen Teil des Auslandes noch immer andauert und soweit wir unterrichtet sind, von einem Abflauen wenig zu merken ist, gibt uns Veranlassung, Ihnen die Anregung zu unterbreiten: Gemeinsam mit den amtlichen deutschen Auslandsvertretungen, wenn möglich mit den etwaigen Ortsgruppen der NSDAP und des Bundes der Auslanddeutschen, den deutschen Auslands-Handelskammern, den Vertrauensleuten des Leipziger Messe Amtes und des Deutschen Auslands Instituts Stuttgart folgende Listen aufzustellen:

– Eine Liste solcher Firmen und Vertreter, von denen bekannt ist, dass sie mittelbar oder unmittelbar zum Boykott deutscher Waren auffordern.
– Eine Liste von zuverlässigen und geschäftstüchtigen Vertretern, wenn möglich arischer Abstammung, möglichst nach Branchen geordnet.
– Listen von Zeitungen:
a) deutsch-freundlichen
b) deutsch-feindlichen

Vielfach wird es nötig sein, dass deutsche Firmen ihre Vertretungen im Ausland wechseln und sie in die Hände zuverlässiger deutscher Herren legen. Es wäre daher sehr wertvoll, wenn wir für die in Frage kommenden Länder über solche Listen verfügen. Selbstverständlich sind wir uns bewusst, dass die Aufmachung solcher Listen geraume Zeit beanspruchen wird und wohl auch nur in gewissem Umfange möglich sein dürfte. Aber auch dann, wenn die Listen zunächst nur wenig Adressen enthalten sollten und eine Ergänzung erst später von Zeit zu Zeit stattfindet, würden sie für uns von unschätzbarem Wert sein. Durch eine Mitarbeit würden Sie sowohl unserem Verband wie dem deutschen Aussenhandel überhaupt einen grossen Dienst erweisen.

Wir wenden uns noch an die angeführten Stellen und bitten sie um ihre Mitarbeit. Um ihre dortigen Adressen festzustellen, empfiehlt es sich, dass Sie sich mit der dortigen Auslandsvertretung in Verbindung zu setzen. Wir geben diese Anregung auch den übrigen Stellen.

Mit vorzüglicher Hochachtung die Geschäftsführung, gez. Niezsche

Darauf frägt die hiesige Ortsgruppe den Landesgruppenführer Herr Gustloff in Davos an, ob er damit einverstanden sei, dass man dieser Anregung Folge geben [soll] und bittet gleichzeitig eines ihrer Mitglieder zum Wirtschaftsberater der N.S.D.A.P. Landesgruppe Schweiz zu ernennen. Dieser Bitte wird entsprochen und der Kassenwart der hiesigen Ortsgruppe zum Wirtschaftsberater der N.S.D.A.P. Landesgruppe Schweiz ernannt.

Am 27. Okt. 1933 schreibt Herr Gustloff wörtlich: ‹Bitten möchte ich Sie, dem Gesuch der Aussenhandelsvertretung zu entsprechen, allerdings würde ich raten, dem Verband zu schreiben, dass Ihre Auskünfte gegenüber den Amtsstellen in der Schweiz (Konsulate etc.) streng geheim zu halten sind, da diese nicht als verlässig bezeichnet werden können.›

Von Basel aus wird nun an den Aussenhandelsverband in Berlin was folgt geschrieben: (Anfangs November 1933)

‹Wir kommen zurück auf Ihr gesch. Schreiben vom 19. v. M. Ohne Zweifel ist unbedingt eine Gegenmassnahme gegen die gegen Deutschland gerichtete Boykottbewegung dringend erforderlich.

Es wird von gewissen Kreisen geheim aber sehr stark gegen Deutschland gearbeitet und zwar ist in der letzten Zeit eher eine Verschärfung festzustellen als ein Abflauen des Boykotts.

Wir sind gerne bereit, die von Ihnen angeregte Arbeit durchzuführen. Auf Wunsch des Landesgruppenführers in der Schweiz der N.S.D.A.P. müssen wir aber zur Bedingung machen, dass den amtlichen deutschen Stellen im Ausland (deutsche Konsulate, Gesandtschaften usw.) das von uns zur Verfügung gestellte Material nicht zur Kenntnis gebracht wird. Der Landesgruppenführer der Schweiz hat diese Anregung nach reiflicher Überlegung getroffen. Wir haben auch mit einem Konsulat in der Schweiz die denkbar schlechtesten Erfahrungen gemacht. Wir würden überhaupt empfehlen, die Sache vertraulich zu behandeln, da es nicht im deutschen Interesse liegt, dass Ihre Schritte an der Öffentlichkeit bekannt werden.›

Ein anderer Brief aus Basel sagt: ‹Gerade in den letzten Tagen haben wir festgestellt, dass die Vertretung einer grossen deutschen Firma in einer ausgesprochen deutschfeindlichen Hand liegt.›

In einem weiteren Schreiben werden die übrigen Ortsgruppen in der Schweiz und Kreisleiter zur Mitarbeit aufgefordert.»

Das war nun dicke Post. Kaum anzunehmen, dass diese Information einfach zur Seite gelegt wurde. Die Nachricht von den erbetenen Listen war neu und musste beunruhigend gewesen sein. Es stellten sich Fragen: Der Absender hatte offenbar direkten Zugang zur Korrespondenz der NSDAP. Wer konnte das wohl sein? Wiederum verhielt er sich geheimnisvoll, nannte keine Namen. Aber er legte Fährten aus, schrieb von einem Kassenwart der Ortsgruppe Basel, von einem Wirtschaftsberater der NSDAP, von dessen Existenz zu diesem Zeitpunkt noch niemand Kenntnis hatte. Er erwähnte einen Konsul, verbarg aber das Land, das dieser vertrat, in einer Umschreibung. Warum nur? War dem Ganzen überhaupt zu trauen, oder handelte es sich um eine Desinformation?

Noch war man in der Posteingangsstelle des Eidgenössischen Politischen Departements am Rätseln, als schon wieder ein Umschlag aus Basel eintraf. Er enthielt einen zweiseitigen Brief, datiert vom 8. November, und war wiederum anonym. Merkwürdigerweise beinhaltete er das Gleiche wie das bereits vorliegende Schreiben. Allerdings wurde hier alles bloss resümierend berichtet. Ausser dem Rundschreiben des Berliner Aussenhandelsverbandes wurde nichts mehr wörtlich zitiert und auch die Datierung der verschiedenen Korrespondenzen weggelassen. Der Brief schloss mit den Worten:

«Ich werde Sie weiter unterrichtet halten, falls ich neuerdings Nachrichten erfahre, die von Interesse sind. Sie können versichert sein, dass meine Mitteilungen den Tatsachen entsprechen. Wenn die Behörden einmal einschreiten müssen, werden sie sich sofort von der Richtigkeit meiner Meldungen überzeugen. Es sei noch erwähnt, dass ein Hauptbeteiligter der N.S.D.A.P. als Konsul eines ganz unbedeutenden überseeischen Staates sich der Exterritorialität rühmt. Ich vermute, dass das belastende Material dort in Sicherheit gebracht wird. Endlich bitte ich Sie noch, die Meldung als vertraulich zu behandeln. Seien Sie überzeugt, dass es einzig die Pflicht meinem Vaterlande gegenüber ist, die mich zu diesem Schritte veranlasst.»5

Aus dem Kuvert fiel noch ein kleines, von Hand beschriebenes Blatt: «Bitte bei Befragungen diesen Brief vorlegen zur Wahrung der Vertraulichkeit.»

Das alles wird die zuständigen Bundesbeamten ziemlich irritiert haben. Warum nur machte der Anonymus auch hier keine Personen namhaft? Wenn er doch dem Vaterland helfen wollte, hätte er Namen nennen müssen. Immerhin waren einige Hinweise vorhanden, denen man folgen konnte. Aber das machte am besten die Polizei vor Ort. Eine Bundespolizei, die man damit hätte beauftragen können, gab es damals noch nicht.6 Man wird in diesem Stadium ohne weitere Abklärung gewiss darauf verzichtet haben, bereits die Bundesanwaltschaft einzuschalten. Die Mitteilungen werden im besten Fall wieder auf die Reise geschickt worden sein, zurück nach Basel ins Polizeidepartement.

In Basel sah man sich aber mit ganz anderen Problemen konfrontiert.7 Hier hatte man es mit Schikanen und Übergriffen deutscher Beamter an der Riehener Grenze und beim Hörnli zu tun, mit Entführungen, mit dem Hissen von Hakenkreuzfahnen am Badischen Bahnhof und anderswo und vor allem mit der Saalschlacht anlässlich des Sommerfests der politisch neutralen Deutschen Kolonie an der Mustermesse am 1. Juli 1933.

Die Bevölkerung war aufgewühlt. Beim Badischen Bahnhof gab es bereits stürmische Gegendemonstrationen. Die Polizei musste eingreifen. Die Basler Zeitungen, am aggressivsten die Arbeiterzeitung, aber auch die Basler Nachrichten und die Nationalzeitung, schossen aus allen Rohren gegen die Umtriebe und Rechtsverletzungen der «Nazis». Am Sommerfest nun trat erstmals ein «NSDAP Ortsgruppenführer» auf und missbrauchte die ihm zugestandenen Grussworte zu einer agitatorischen Hetzrede. Dieser «Obmann der NSDAP Ortsgruppe Basel» war von der Polizei schon am 26. Mai bei der Gründung der «Deutschen Studentenschaft» im Braunen Mutz identifiziert worden, als «Ernst Böhmer-Silberbauer, geb. 13.6.1894, preussischer Staatsangehöriger, Kontrolleur bei der Mitropa-Schlaf- und Speisewagengesellschaft». Seine Rede löste spöttische Zwischenrufe aus, und als nachher unprogrammgemäss das «Horst-Wessel-Lied», die Parteihymne der NSDAP, angestimmt wurde, blieben viele sitzen. Nun erschienen, so die Arbeiterzeitung, ungefähr fünfzig Schläger, schrien: «Aufstehen und mitsingen!», schlugen auf einige Leute ein und jagten sie aus dem Saal. Auf einen Journalisten der Nationalzeitung sei besonders eingedroschen worden. Als die Polizei sich nachträglich ein Bild zu verschaffen suchte, erhielt sie widersprüchliche Angaben. Der beim Sommerfest anwesende Leiter der Deutschen Kolonie, Prof. Erwin Ruh, schrieb am 6. Juli, dass «von Gleichschaltung» der Deutschen Kolonie keine Rede sein könne und dass es sich bei der NSDAP Ortsgruppe Basel um eine «kleine Gruppe von Reichsdeutschen» handle, «die nicht einmal 1% der deutschen Kolonie ausmachen». Der Journalist der Arbeiterzeitung, Wilhelm Auffenmann, beharrte darauf, dass er «ca. 50 NSDAP-Schläger» gesehen habe. Der im Saal anwesende Detektiv Hofer hatte nur einen kleinen Zwischenfall aufgrund einer Verwechslung bemerkt, der mit einer korrekten Entschuldigung abgeschlossen worden sei. Das eben erst gegründete Wochenblatt der NSDAP Schweiz, Der Reichsdeutsche, berichtete am 7. Juli, «über 100 Mitglieder und Freunde der Bewegung» seien anwesend gewesen und hätten Hitler hochleben lassen.8 Das Polizeidepartement konnte die NSDAP Ortsgruppe Basel schlicht nicht beurteilen, umso weniger, als diese ansonsten nicht in Erscheinung trat, so erhitzt und aufgewühlt die Atmosphäre in Basel damals auch war. Sollte da die Polizei wirklich die Schnitzeljagd aufnehmen, die ein mysteriöser Anonymus ausgelegt hatte? Und wäre das überhaupt möglich gewesen? Die gesetzlichen Grundlagen wurden erst 1935 mit dem eidgenössischen «Spitzelgesetz» geschaffen. Eine «Politische Abteilung», die gerade für solche Fälle zuständig wäre, wurde im Basler Polizeidepartement gar erst 1938 eingerichtet.9

Hakenkreuz über Basel: die umstrittene Fahne am Turm des Badischen Bahnhofs.

Als der Regierungsrat 1946 seinen abschliessenden «Bericht über die Abwehr staatsfeindlicher Umtriebe in den Vorkriegs- und Kriegsjahren sowie die Säuberungsaktion nach Kriegsschluss» vorlegte, behandelte er das Jahr 1933 nur kursorisch. Die Machtergreifung Hitlers am 30. Januar 1933 habe den nationalsozialistischen Elementen sofort starken Auftrieb gegeben. Die NSDAP Ortsgruppe, für die schon im Jahr zuvor der Boden bereitet worden sei, sei gegründet und vom Ortsgruppenleiter geradezu diktatorisch geführt worden. Sie habe regelmässig Sitzungen in einem Saal des Deutschen Reichsbahnhofs abgehalten. Über die Mitgliederzahl könne man erst ab 1936 Aussagen machen. Die Deutsche Kolonie sei dann 1938 gleichgeschaltet worden. Die Bevölkerung habe 1933 vor allem auf die Hakenkreuzfahne reagiert, die am Badischen Bahnhof, am Bahnhof der Wiesentalbahn und am Konsulat als offizielle Reichsflagge gehisst worden sei. Erst 1935 hätten kantonale Interventionen dazu geführt, dass die Hakenkreuzflagge bei festlichen Gelegenheiten nur mehr am deutschen Konsulat gehisst worden sei. Von weiteren Umtrieben der NSDAP Ortsgruppe im Jahr 1933 wusste wohl auch der Regierungsrat nichts, und er erwähnte sie auch nicht.10

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Warum bin ich dazu gekommen, die Wirkung der Briefe so zu beschreiben, wie ich es getan habe? Ich habe schon unter der Hand die Literatur konsultiert. Das Fazit: Niemand weiss etwas von diesen Umtrieben der NSDAP im Jahr 1933. Punkt. Aber ich habe doch nützliche Informationen erhalten, und diese sollen hier kurz vorgestellt werden:

Die Literatur über die NSDAP in der Schweiz hat in letzter Zeit etwas zugenommen. Der jüngste, 2016 erschienene Beitrag von Peter Bollier, der die «Geschichte einer existentiellen Herausforderung für Davos, Graubünden und die Schweiz»11 darstellen will, ist vor allem auf den Landesleiter Gustloff ausgerichtet. Eine Ortsgruppe Basel wird nicht thematisiert und kommt nur beiläufig vor. Doch bietet Bollier einige interessante Aufschlüsse zur Organisation der NSDAP in der Schweiz. Sie erfassen allerdings das Jahr 1933 kaum: Gustloff habe erstmals 1934 begonnen, sich um das seit 1932 vakante Konsulat in Davos zu bemühen. Er habe damals nämlich regelmässige Einkünfte gesucht, nachdem er seine Stelle am Physikalisch-Meteorologischen Observatorium habe aufgeben müssen. Die NSDAP Ortsgruppen hätten monatlich Tätigkeitsberichte und Abrechnungen an Gustloff schicken müssen, und einmal jährlich seien die Parteikader verpflichtet gewesen, an einer Amtswaltertagung teilzunehmen. Das Aussenhandelsamt der NSDAP Ausland Organisation habe seit seiner Gründung Informationen über die schweizerische Wirtschaft gesammelt. Hierzu sei die Landesgruppenleitung in der Schweiz konsultiert worden. Die Ortsgruppen Basel und Zürich hätten sogar über Wirtschaftsberater verfügt, welche «an prominenter Stelle (z. Bsp. als Leiter der deutschen Handelskammer)» die Nachrichtenbedürfnisse der Zentrale zu befriedigen gehabt hätten. Diese Auskünfte hätten nicht nur Wirtschaftlichem gegolten, sondern auch die politische Einstellung, die Haltung gegenüber dem Boykott und private Daten der Führungskräfte beinhaltet. Allerdings scheint dann 1934 nur die Deutsche Arbeitsfront (DAF) in dieser Beziehung tätig gewesen zu sein. 1935 habe die NSDAP Schweiz 5000 Mitglieder gezählt, was drei Prozent der in der Schweiz wohnhaften Deutschen ausmache. Deren Zahl habe dann abgenommen, und zwar auf Druck der Parteileitung. Schliesslich bietet Bollier aufgrund einer Zusammenstellung vom 1. Januar 1935 einen Überblick über die Organisationsstruktur: Aus Basel kamen zwei Leitungsmitglieder, nämlich der «Landesgruppenverwalter der Deutschen Arbeiterfront G. Schrader» und der «Kreisleiter Nordwestschweiz E. Geiger». Wirtschaftsberater für die Schweiz kommen keine vor. Allerdings wechseln diese Zusammenstellungen innert kurzer Zeit häufig.12 Aus älteren Darstellungen lässt sich entnehmen, dass es vor allem in der Ostschweiz schon 1933 Gleichschaltungsbemühungen gegeben habe, während die Deutsche Kolonie in Basel bis 1935 sich erfolgreich habe wehren können.13 Parteigenossen in der Schweiz sei ein «direkter dienstlicher Verkehr mit Parteiinstanzen in Deutschland untersagt gewesen», er habe sich über einen Dienstweg, nämlich «über den Ortsgruppen- und Landesgruppenleiter», abwickeln müssen.14

Zur Situation in Basel gibt es zwei Beiträge: Martin Meier bietet im Katalog zur Ausstellung des Historischen Museums über das «Réduit Basel» von 1989 den ersten Überblick über «die NS-Organisationen in Basel». Die NSDAP Ortsgruppe Basel sei offiziell in den ersten Monaten des Jahres 1933 gegründet worden und am Sommerfest der Deutschen Kolonie erstmals in Erscheinung getreten. Im Oktober 1933 habe ein Kameradschaftstreffen stattgefunden. Nach dem Bericht im Reichsdeutschen habe es der «Festigung des Verbundenheitsgefühls aller Parteigenossen im Sinne der grossen Ideen unseres Führers» gegolten und sei ein voller Erfolg gewesen. Nach dem Schlussbericht des Bundesrats von 1946 hätten der NSDAP in Basel wegen der erschwerten Aufnahmebedingungen nur etwa 160 Mitglieder angehört. Über sonstige Aktivitäten der Ortsgruppe und ihre Organisation erfährt man nichts.15 Die neueste Arbeit, jene von Kai Arne Bühler über die Machtübernahme der NSDAP in Deutschland im Spiegel der Basler Presse 1933/34, bietet einen wertvollen Einblick in die damalige Stimmung und die Einschätzungen der Lage, weist aber darauf hin, «dass die Geschichte der NS-Organisationen in Basel insgesamt nur wenig aufgearbeitet ist und hier noch ein Nachholbedarf besteht».16 Aber finden sich überhaupt noch Unterlagen, etwa Sitzungsprotokolle, Abrechnungen, Mitgliederverzeichnisse und Korrespondenzen, mit denen eine Geschichte der NSDAP Ortsgruppe Basel geschrieben werden könnte?

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Ein Archiv der Ortsgruppe Basel existiert, wenn es ein solches überhaupt je gab, heute natürlich nicht mehr. Als der Krieg zu Ende war, hat sich der Spuk vollständig verflüchtigt. Aber gibt es vielleicht Spuren im Basler Staatsarchiv?

Der Gang ins Archiv beginnt immer im Internet. Dort lassen sich mit einem speziellen Suchprogramm im Archivkatalog die Bestände durchforsten. Findet sich etwas Nützliches, lässt es sich elektronisch bestellen. Ich gebe also «NSDAP» in die Volltextsuche ein. Sofort werden alle Bestände aufgelistet, in denen dieses Kürzel vorkommt. Viele sind es nicht, und vor allem: Es gibt keine eigenen Bestände der Ortsgruppe. Lediglich das Gästebuch des Deutschen Heims aus den Jahren 1941 bis 1944 ist noch vorhanden und Materialien, die bei der polizeilichen Schliessung 1945 konfisziert worden waren.17 Für das Jahr 1933 findet sich in den Einlieferungen des Polizeidepartements unter der Rubrik «Nationalsozialismus» eine Ablage «Allgemeine Akten» für die Jahre 1932–1947.18 Die bestelle ich, soweit sie die Jahre 1933 und 1934 betreffen. Hier finden sich zahlreiche Zeitungsausschnitte von Berichten über Vorkommnisse in der Stadt, etwa über das Sommerfest, über Demonstrationen und Flugblattaktionen, es finden sich Flugblätter, Verhörprotokolle, Berichte von Detektiven, Korrespondenzen und Berichterstattungen des Departementsvorstehers Ludwig sowie Bekanntmachungen des deutschen Konsuls Foerster. Man erhält einen lebendigen Einblick in die bedrückenden Geschehnisse jener Jahre. Meine kurze Darstellung der Situation in Basel hat sich auf dieses Material gestützt. Auch einige Anzeigen von privater Seite lassen sich finden. Am ehesten hier wären wohl auch die «Mitteilungen» des Anonymus zu erwarten gewesen. Sie sind nicht vorhanden. Und irgendwelche Schriftstücke der NSDAP Ortsgruppe sucht man vergebens. Aber vielleicht findet sich etwas im Schweizerischen Bundesarchiv in Bern? Ich führe in dessen Archivkatalog die gleiche Internetrecherche durch: Für die Ortsgruppe Basel findet sich tatsächlich ein Bestand, aber erst über die Jahre 1940 bis 1947.19 Das Jahr 1933 kommt in keinem für meine Frage relevanten Archivbestand vor. Trotzdem: Ich fahre an einem regnerischen Tag nach Bern. Das Aktenmaterial ist wirklich reichhaltig. Aber wiederum handelt es sich um Polizeiberichte, Verhöre, Zeugenaussagen, Anklagen mit Belegmaterial. Akten der NSDAP Ortsgruppe selbst lassen sich nicht finden. Eigentlich erstaunlich, dass dieses reichhaltige Quellenmaterial im Basler Staatsarchiv und im Schweizerischen Bundesarchiv noch niemand verwertet hat!

Es gibt schlicht keine Quellen mehr, die Aufschlüsse über die NSDAP Ortsgruppe Basel, ihre Organisation und ihr Innenleben geben könnten. Für mich aber ist jetzt klar: Es gibt kein Zurück mehr. Ich muss die Schriftstücke publizieren. Sie berichten ja so genau von jenen Geschehnissen im Jahr 1933, über die heute niemand mehr Bescheid weiss. Und das heisst, ich muss auch herausfinden, unter welchen Umständen die Briefe geschrieben wurden und in die Hände meines Vaters gelangt sind.

Der Papierkorb

Frühjahr 2017

Draussen scheint die Sonne, draussen spielen Kinder. Draussen ist das Leben, und es herrscht Freude am Frühlingserwachen der Natur. Doch hier drin, am Tisch mit den zusammengeklebten Papieren, lässt sich eine Person nicht mehr wegdrängen: Max Saurenhaus. Seine ungeduldig vorwärtsstrebende Handschrift lugt zwischen den zerstreuten Blättern hervor. Unwirsche Streichungen, Neuversuche und wieder Streichungen, bis der Text neu ansetzend weiterläuft. Und am Ende, wenn es denn einmal erreicht wird, zwei schwungvolle Krakel, in denen sich das «Heil Hitler» andeutet. Was war das nur für ein Mensch? Ich lese die Schriftstücke genauer durch.

Die Briefe verraten einiges über seine Persönlichkeit. Von Grossmannssucht scheint er getrieben zu sein, will sich mit «Konsul» angesprochen wissen (11),20 auch wenn das mit der Partei gar nichts zu tun hat. Ein Wichtigtuer, der frustriert politische Phrasen drescht, obwohl oder gerade weil er nichts bewirken kann (4, 12). Nach oben ein Schleimer, der sich beim Landesführer Gustloff einschmeichelt, diesem wegen dessen unglaublicher Arbeitsleistung Bewunderung zollt – nicht ohne auf seine eigenen Erfahrungen in der Parteiarbeit hinzuweisen –, um dann um die Ernennung zum Wirtschaftsberater zu betteln (5). Mit dem Landesgruppenführer vertrauter geworden, spricht er ihn gerne mit «Lieber Kamerad Pg. Gustloff» an und grüsst familiär «von Haus zu Haus» (12). Nach unten ist er rücksichtslos, wenn er etwa ein widerständisches Vorstandsmitglied der Deutschen Kolonie «entfernen» will – wenn auch (wiederum) ohne Erfolg – oder den Ortsgruppenleiter Böhmer bei Gustloff anschwärzt (12). Er ist einer, der sich gerne in Funktionen, die ihm wichtig erscheinen, sehen würde (10, 15) und, wenn er eine innehat, dies nicht genug bekannt machen kann (6, 7, 8). Als «Amtswalter» formuliert er in seinen Verlautbarungen möglichst umständlich und gestelzt, etwa mit dem häufigen einleitenden «Ich gestatte mir» und «Erlauben Sie mir» (2, 7, 8, 10) oder wenn er Berlin etwas luftig, ohne genaue Referenz, «informiert» (20). Effizient scheint er kaum gewesen zu sein. Wie schwer tut er sich doch bei der Formulierung eines Rundschreibens (6–8). Und als er von Gustloff mit der Zusammenstellung der schwarzen Listen, für die er sich anerboten hat, betraut wird, meldet er sich gleich wieder zurück, um Hilfe bittend und umständlich Modalitäten erörternd (9). Und aus einer Frustration heraus kann er sich auch mal zielbewusst betrinken, wie in der Zeit nach Gustloffs Ermordung: «zwei Flaschen Wein», «total besoffen» usw. Ob er auch in Geschäfte mit Raubkunst verwickelt ist? Am 3.April 1936 trägt er eine «Versteigerung Isak von Ostade» in seinen Taschenkalender ein (19). Der Gesamteindruck ist: mehr Auftreten als Handeln, mehr Schein als Sein. Irgendwie trifft die Feststellung des damaligen Botschafters in der Schweiz, Ernst von Weizsäcker, auch für ihn zu: «Das Gros aber aller Ortsgruppen-, Kreis- und sonstigen Leiter in der Partei rekrutierte sich aus Existenzen, die es in ihren Berufen zu nichts gebracht hatten und nun ihre Zeit gekommen glaubten. Wie bei jeder Revolution kamen die Nichtarrivierten, die Schreihälse und die Spitzelnaturen an die Oberfläche.»21

Wichtiger sind andere Einblicke. Es gibt sie, auch wenn die damalige Entwicklung im Allgemeinen bekannt ist. Schon aus dem abschliessenden Bericht der Basler Regierung von 1946 lässt sich entnehmen,22 dass mit der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler am 30. Januar 1933, den Reichstagswahlen am 5. März und mit dem Ermächtigungsgesetz, das in der «berühmten Reichstagssitzung in der Kroll-Oper» am 24. März beschlossen wurde, auch «die Aktivitäten der nationalsozialistischen Elemente innerhalb der deutschen Kolonie Basels sofort starken Auftrieb» bekamen. Doch Details werden nicht angeführt.

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