Cover

Für meine Prinzessinnenjungs
und meine Seeräubermädchen,
ohne die ich dieses Buch
niemals geschrieben hätte.

Für meine Lebenskomplizin,
der ich die Prinzessinnenjungs,
die Seeräubermädchen und
überhaupt so ziemlich alles verdanke.

Inhalt

1
Bubensolo

2
Was soll es denn werden?

Wann ist ein Mann ein Mann?

Spitze Bäuche, dunkle Haare

Geschlechtsneutral ist auch keine Lösung

Wie lässt sich vorurteilsbewusst erziehen?

3
Mit Puppen spielt Mann nicht

Eine kleine Farblehre

Haarige Angelegenheiten

Rocktage

Vielfalt für alle

4
Wachstumsschmerzen

Männlichkeitswehen

Vater Morgana

Schmerzhaft gut

5
Wer cool sein muss, erfriert

Maskenball

Muttersöhnchen

Frühlingserwachen

6
»Schwule Mädchen«

Schwule Sau

Angeboren oder anerzogen?

Schulhofschwuchteln

Ist doch nur Rap

Besser schimpfen

7
Gewalt ist (k)eine Lösung

Schlagen müssen

Nicht zurückschlagen dürfen

Gewalt gegen Frauen

Hinter dem Horizont

8
Du Opfer

Opfer sein

Opfer spielen

Opfer stärken

9
Liebe, Sex und Pornoseiten

Das Harry-und-Sally-Syndrom

Unaufgeklärt

Ausstellungssex

Einvernehmlichkeit. Immer.

10
Hotel Mama

Ich bin nicht krank

Das bisschen Haushalt

Behördliche Existenz

Bedürfnis versus Strategie

11
Die Revolution liebt ihre Kinder

Liebe

Spaß

Anwaltschaft

Identität

Heldinnen

Verantwortung

Scheitern und Tendenz

Freiheit

1

Bubensolo

Ein Buch über Jungen also. Als hätte es davon in letzter Zeit nicht schon genug gegeben. Noch dazu eines, das (wie praktisch alle vor ihm) behauptet, vieles anders zu machen und einen ganz neuen Blick auf Jungenerziehung zu werfen. Nun ja, einen fast ganz neuen Blick. Denn ich bin bei Weitem nicht der Erste, dem auffällt, dass es um unsere Jungen schlecht bestellt ist, und ich werde hoffentlich nicht der Letzte sein. Jungen, so konnte man in den vergangenen Jahren immer häufiger lesen und hören, seien das eigentlich schwache Geschlecht. Das bedrohte Geschlecht, das »entehrte« Geschlecht, wie es der Autor Ralf Bönt 2012 in seinem Buch mit gleichnamigem Titel nannte. Das Geschlecht, dem ständig gesagt wird, dass es sich jahrhundertelang danebenbenommen hat und jetzt aber mal wirklich Schluss damit sein muss. Jungen und Männer können es seit einigen Jahren gefühlt nicht mehr recht machen. Sie gelten als zu laut, zu gewalttätig, zu übergriffig. Sie werden zu Problemfällen erklärt, denen die Anschlussfähigkeit an die Gegenwart fehlt. Und deshalb muss ihnen geholfen werden. Ich schließe mich dieser Diagnose an: Jungen haben es zunehmend schwerer. Aber die Gründe dafür liegen nicht in dem, was der Kinderpsychologe und Buchautor Wolfgang Bergmann ab 2008 im Buch Kleine Jungs – große Not »Antimännlichkeitstraining« sowie in zahlreichen Interviews »verhuscht weibliches Klima« in Bildungseinrichtungen nannte. Man verbessert die Situation auch nicht bloß dadurch, dass man wie der Pädagoge Reinhard Winter 2014 auf Jungen brauchen klare Ansagen setzt – ganz so als brauchten Mädchen aufgrund ihres Geschlechts keine klaren Ansagen.

Diese Ansätze haben, egal von welcher Autorin oder von welchem Autor sie vertreten werden, immer denselben blinden Fleck: Sie gehen von einer starren jungenspezifischen Geschlechtsidentität aus, der wir in unserer modernen Gesellschaft kaum noch gerecht werden. Weil wir keinen Platz mehr für Wildheit, Regelbrechen, Aggressivität, körperliches Kräftemessen und das Rebellische haben. In der sehr ernst gemeinten Sorge um Jungen fordert dieser Ansatz eine Rückbesinnung auf die Wertschätzung klassisch männlicher Eigenschaften, damit sie wieder Vorbildfunktionen übernehmen können. Damit heranwachsende Männer sich erneut darauf verlassen dürfen, dass »nur die Harten in den Garten kommen«.

Dadurch wird das Problem allerdings nicht behoben, sondern noch verschärft. Denn die Harten sind gar nicht immer hart, und der Garten hat sich mittlerweile so verändert, dass mit Härte oft kein Blumentopf mehr zu gewinnen ist. Im Garten der Gegenwart sind Eigenschaften wie Konfliktfähigkeit, Kommunikationstalent, Problemlösungsorientierung, Fehlerbewusstsein und Achtsamkeit gefordert. Alles Eigenschaften, die nach traditionellem Rollenverständnis eher Frauen zugeschrieben werden. Der Konzernkrieger, der im Meeting nicht auf andere hört, bis zur Erschöpfung Überstunden schiebt und private wie berufliche Konflikte so lange hinunterschluckt, bis sie sich zu Magengeschwüren verdichten, wird schon eine ganze Weile nicht mehr als Mitarbeiter des Monats gefeiert. Und der Mann als finanzieller Versorger von Frau und Kind scheint angesichts prekärer und befristeter Arbeitsverhältnisse oft nur noch ein Märchen aus uralten Zeiten zu sein, das vielen aber immer noch nicht aus dem Sinn geht. Leider. Denn die Lösung läge ja auf der Hand: Wenn diese Eigenschaften die Eintrittskarten in den Garten der Gegenwart sind, ließen sie sich ja durchaus erwerben. Allerdings nicht, wenn der Preis dafür die eigene Männlichkeit ist. Die Rollenklischees werden gewahrt, selbst wenn sich die Regeln verändert haben.

Lassen Sie mich das anhand eines Beispiels veranschaulichen: Stellen Sie sich vor, Sie lebten in einer Beziehung, in der der Mann signifikant weniger verdient als die Frau. Die Mehrheit von Ihnen muss dazu die Fantasie bemühen. Für einige andere stellt dies jedoch die Lebensrealität dar. Bei jedem siebten deutschen Paar verdient sie mehr als er. Wie würden Sie damit umgehen, wenn man Sie dazu befragte? Wenn Freunde und Verwandte sich erkundigten? Oder wenn Sie für eine Umfrage unverbindliche Gehaltsangaben machen sollten? Eine US-amerikanische Studie mit dem Titel Manning up and womaning down: How husbands and wives report their earnings when she earns more, die 2018 veröffentlicht wurde, ist genau dieser Frage nachgegangen. Zwei Forscherinnen der Universität von Massachusetts sahen sich dafür unterschiedliche Datensätze an. Die gegenüber der Volkszählungsbehörde freiwillig angegebenen Gehaltsinformationen wurden mit den unbestechlichen Zahlen der Sozialversicherungsbehörde verglichen. Das Ergebnis zeigte, dass Paare mit einer Hauptverdienerin im Gegensatz zu Paaren mit einem Hauptverdiener über ihre Einkommenssituation logen. Oder sagen wir besser: in Richtung stereotyper Rollenerwartung beschönigten, damit der Mann als Hauptverdiener präsentiert werden konnte und alles wieder seine althergebrachte Ordnung hatte. Genau zwischen dieser Ordnung und der Realität des 21. Jahrhunderts werden Männer aufgerieben. Jungen und Männer sitzen in der Falle und kommen weder vor noch zurück. Zeigen sie sich weicher, fürsorglicher, kommunikativer und verletzlicher, wird ihnen ihre Männlichkeit abgesprochen. Töten sie diese Aspekte in sich ab, fehlen ihnen hingegen zentrale Kernkompetenzen. Der Platz, den Jungen heute haben, um ihr Rollenverständnis zu entwickeln und ihre Identität zu finden, wird auf die Größe eines DIN-A4-Blatts beschnitten. Man verunsichert sie. Man verunmöglicht sie. Dabei ist die Frage nicht, ob Jungen heutzutage noch Jungen sein dürfen. Die Frage lautet vielmehr, ob jeder Junge er selbst sein darf?

Dieser Frage möchte ich mit Ihnen nachgehen. Dafür werden wir uns anschauen, wie Jungen heutzutage aufwachsen. Mit welchen Rollenbildern werden sie konfrontiert, womit dürfen sie spielen, wie definieren sie Freundschaft? Wie erzählen wir ihnen Männlichkeit, welche Versionen von Männlichkeit unterstützen wir, bewundern wir, leben wir offen vor? Wann gelten Jungen wirklich als Jungen und warum werden sie »als Mädchen abgewertet«, wenn sie nicht den gängigen Männlichkeitsnormen entsprechen?

Und vor allem: Was können wir tun, um Jungen aus der Geschlechterfalle herauszuhelfen?

Denn sie verdienen so viel mehr als das, was ihnen momentan angeboten wird. Sie verdienen Körperkontakt, Mitgefühl, Trost und Einhornglitzer. Sie verdienen es, Prinzessinnenjungs sein zu dürfen. Diesen Titel trägt das Buch nicht zufällig. In jedem Jungen steckt ein Prinzessinnenjunge. In jedem Jungen stecken Träume, Hoffnungen und Eigenschaften, die als unmännlich, schwach und mädchenhaft bezeichnet und als falsch markiert werden. Deshalb werden sie verleugnet, versteckt und letztendlich begraben. Viel zu lange schon haben wir Männlichkeit zu einem Götzenbild erhoben, vor dem sich alle Anwärter in den Staub zu werfen haben, um sich ihrer als würdig zu erweisen. Dabei verhält es sich genau andersherum: Männlich ist, was Jungen und Männer tun. Wenn sie sich ins Gesicht schlagen, dann ist das ebenso männlich, wie wenn sie sich streicheln. Und wenn sich Jungen für Rennautos begeistern, dann verhalten sie sich ebenso männlich, wie wenn sie für Ballett schwärmen.

Aber bevor wir damit beginnen, die Debatte um Jungenerziehung vom Kopf auf die Füße zu stellen, möchte ich Sie noch darauf aufmerksam machen, was ich in diesem Buch nicht tun werde. An Vorurteilen und Geschlechterrollen zu rütteln ist eine anstrengende und durchaus auch gefährliche Sache. Und da ich Sie mit der Lektüre dieses Buches darum bitte, sich darauf einzulassen, ist es nur fair, wenn Sie wissen, was Sie erwartet beziehungsweise was Sie nicht erwartet:

Ich werde Ihnen nicht sagen, dass Jungen schlecht sind. Jungen sind großartig. Ich bin selbst Vater zweier wunderbarer Söhne. Aber ich weiß, wo die Probleme liegen. Was wir ihnen zumuten und womit wir sie davonkommen lassen. Schlicht und einfach weil wir glauben, dass Jungen nun einmal Jungen sind.

Ich werde Ihnen nicht sagen, dass Mädchen schlecht sind. Die sind nämlich auch großartig. Ich bin selbst Vater zweier wunderbarer Töchter. Hier werden Jungen nicht gegen Mädchen ausgespielt und Mädchen nicht gegen Jungen. Wenn Sie sich von diesem Buch eine weitere Einladung zum Geschlechterk(r)ampf und zu den immer noch sehr populären Stereotypfestspielen erhoffen, dann legen Sie es besser weg. Damit wird Ihnen hier nicht gedient.

Ich werde Sie nicht ermahnen, dass Sie keine Vorurteile haben dürfen. Es gibt keine vorurteilsfreien Menschen, und das aus gutem Grund. Wir alle sind darauf angewiesen, ständig Personen und Situationen in kürzester Zeit ohne ausreichende Hintergrundinformationen einzuschätzen und zu bewerten. Anders kommen wir überhaupt nicht durch ein sich immer mehr beschleunigendes und zunehmend digitalisiertes Leben. Die Möglichkeit, sich etwas reiflich zu überlegen, haben wir viel zu selten. Aus diesem Grund plädiere ich nicht für eine vorurteilsfreie, sondern für eine vorurteilsbewusste Erziehung. Mir ist nicht daran gelegen, Ihnen Vorhaltungen zu machen, falls Ihnen womöglich unbehaglich dabei wird, wenn Ihr 4-Jähriger ein rosa Laufrad zum Geburtstag haben möchte oder sich Ihr 14-Jähriger für Tanz und Theater begeistert. Wir werden uns diese Vorurteile genau anschauen und herausfinden, woher sie kommen, wofür sie stehen und wie sie sich überwinden lassen.

Und vor allem werde ich Ihnen nicht erzählen, dass Sie schlechte Eltern sind. Die überwältigende Mehrheit von Müttern und Vätern wünscht sich für ihre Kinder nur das Beste und tut ihr Menschenmöglichstes, es unter den gegebenen Umständen zu verwirklichen. Kann sein, dass Sie über Geschlechtergerechtigkeit noch nicht weiter nachgedacht haben. Vielleicht sind Sie auch überfordert von Söhnen, die sich nicht so verhalten, wie man es gemeinhin von Jungen erwartet. Aber da Überforderung immer ein zentraler Bestandteil von Elternschaft war, ist und sein wird, soll es in diesem Buch eben nicht darum gehen, mit dem Finger auf Sie zu zeigen. Im Zweifelsfall bin ich als Elternteil ähnlich überfordert wie Sie – nur eben in anderen Bereichen. Stattdessen werden wir uns gemeinsam ein paar Gedanken darüber machen, wie wir das Leben von Jungen erleichtern und verbessern können. Wo wir zu viel und wo zu wenig verlangen. Warum wir sie fallen lassen und erwarten, dass sie die Zähne zusammenbeißen und von alleine wieder aufstehen. Und wie wir uns verhalten, wenn sie das nicht tun.

Eine Debatte über eine sensiblere, aufmerksamere Jungenerziehung ist überfällig. Denn obwohl sich unsere Vorstellung von Männlichkeit allmählich wandelt, wird diese Männlichkeit immer noch viel zu oft dadurch verwirklicht, dass wir die Prinzessinnenjungenhaftigkeit aus unseren Söhnen wegerzählen und hinausstrafen. Mit althergebrachten Sätzen wie »Das macht ein Junge nicht«, »Rosa ist nur etwas für Mädchen« und »Hör auf zu weinen«. Es ist an der Zeit, Jungen nicht mehr das Lächeln aus dem Gesicht zu wischen, wenn sie sich für Verschönerung oder Ponys interessieren. Genauso wie es an der Zeit ist, ihnen nicht länger dafür auf den Rücken zu klopfen, wenn sie sich und anderen Gewalt antun. Jungen sind so viel mehr als das.

2

Was soll es denn werden?

»Glückwunsch, Sie erwarten ein Kind – Junge oder Mädchen?! Na, jetzt sagen Sie schon: Junge oder Mädchen?!!« Schließlich will man ja wissen, was einen erwartet. Aber warum eigentlich? Was genau gibt es denn bei der Vorbereitung auf einen Jungen anderes zu tun als bei der auf ein Mädchen? Eine ganze Menge offensichtlich. Wer dachte, ein Reisebericht durch die einengenden Stereotype, mit denen Jungen im Laufe ihrer Kindheit und Jugend konfrontiert werden, beginne mit der Geburt, der irrt sich gewaltig. Sie beginnt in den Köpfen von Erwachsenen. Schon bevor ein Kind das Licht der Welt erblickt, hat sich diese Welt bereits millionenfach um die Frage gedreht, was denn nun Jungen von Mädchen unterscheidet. Und auch wenn ich in diesem Buch einiges auffahren werde, um Ihnen zu verdeutlichen, dass unsere Söhne und Töchter vor allem dadurch verschieden voneinander sind, welche geschlechtsspezifischen Erwartungen sie als Regieanweisung für ihr Leben befolgen, ist diese Frage alles andere als trivial. Selbst wenn Sie und ich mit großer Gelassenheit und Souveränität den permanenten Anforderungen an Kinder und Erwachsene begegnen, ihr Geschlecht vor und für andere zu belegen, wären diese Anforderungen immer noch da. Geschlecht wäre in allen Belangen immer noch ein entscheidendes Kriterium.

Deshalb kommen wir nicht umhin, hier auch über Geschlecht zu sprechen und einige Definitionen zu skizzieren. Andernfalls versperrt uns ein riesiger Elefant den Blick darauf, worüber wir uns hier eigentlich unterhalten wollen: Jungenerziehung.

Wann ist ein Mann ein Mann?

Nehmen Sie beispielsweise mich: Ich bin ein weißer, mittelalter, heterosexueller Mann aus der Mittelschicht, der als Autor und Journalist arbeitet und sich nebenbei für die Nichtregierungsorganisation Pinkstinks gegen Sexismus engagiert. Ich habe meine ersten zehn Lebensjahre in der DDR verbracht, ich ernähre mich vegetarisch, ich hasse Fußball und verstehe nichts von Autos. Ich bin ein Sorgenvater von vier Kindern, die alle begeistert viel zu oft irgendwelchen (in meinen Augen) lebensgefährlichen Unfug anstellen und dabei von ihrer Mutter angefeuert werden, während ich lieber woanders hingucke. Inwieweit verbindet mich das zwangsläufig mit anderen Männern? Was habe ich mit einem kinderlosen, westdeutschen Schalke-Fan Ende 60 gemeinsam, der, seit er sich erinnern kann, ausschließlich Männer begehrt, sonntags gerne Formel 1 guckt, am liebsten im Steakhaus um die Ecke essen geht und über drei Jahrzehnte in der Sparkasse Gelsenkirchen gearbeitet hat?

Er ist ein Mann und ich bin ein Mann. Es ist ganz offensichtlich nicht unser Begehren, das Männer aus uns macht. Aber was dann? Ist es die generelle Möglichkeit, ein Kind zu zeugen? Dann bin ich kein Mann mehr. Nach der Geburt meiner jüngsten Tochter habe ich mich sterilisieren lassen, somit ist diese Option für mich vom Tisch. Wenn Zeugungsfähigkeit Männlichkeit definiert, dann bin ich schon seit einiger Zeit ausgesprochen unmännlich. Und wenn es die Tatsache sein sollte, dass ich schon Kinder gezeugt habe, dann wäre mein fiktiver Schalke-Fan, wie viele andere Männer übrigens auch, kein »echter« Mann.

Blieben noch Dinge wie genitale Grundausstattung, Muskelstruktur, Behaarungsgrad, Hormonstatus, Stimmfarbe und derlei mehr. Aber all diese Dinge treten in zahllosen Variationen und Abstufungen auf, sodass eine klare Zuordnung, wann ein Mann ein Mann oder eine Frau eine Frau ist, gar nicht so selbsterklärend ist, wie oft behauptet wird.

Nehmen Sie nur das Beispiel der südamerikanischen Weltklassemittelstreckenläuferin Caster Semenya, die sich aufgrund ihrer Stimme, ihrer Muskulatur und ihrer Leistungen immer wieder vorwerfen lassen muss, sich dadurch Wettbewerbsvorteile zu erschleichen, dass sie in Wahrheit ein Mann ist beziehungsweise dopt. Es wurden mehrfach Geschlechtstests angeordnet, der ehemalige Generalsekretär des Weltleichtathletikverbands, Pierre Weiss, verstieg sich zu der Aussage: »Es ist klar, dass sie eine Frau ist, aber vielleicht nicht zu 100 Prozent.«

Inzwischen hält es der Verband für die beste Lösung, Semenya und anderen Frauen mit genetisch erhöhtem Testosteronwert aufzuerlegen, diesen mittels Medikamenten künstlich zu senken. Der Preis dafür wäre ein erhöhtes Risiko, an Depressionen, Blutarmut und Osteoporose zu erkranken. Und das alles, weil nur die wenigsten von uns willens und in der Lage sind, ihr Konzept von Zweigeschlechtlichkeit zu überdenken. Womit wir beim nächsten Punkt wären.

Geschlecht wird unterschätzt.

Geschlecht ist nicht binär. Unsere Vorstellung von einer einfachen, unstrittigen Einteilung in Mann und Frau ist schlicht und ergreifend falsch. Mir ist klar, dass das schwer zu verdauen ist, deshalb lassen Sie es mich noch einmal anders sagen: Sie und ich, wir sind höchstwahrscheinlich mit den gleichen unzutreffenden Annahmen über Geschlecht und Geschlechtsidentität aufgewachsen. Wir haben gelernt, dass Jungen immer einen Penis und Mädchen immer eine Vagina haben. Wir haben vermittelt bekommen, dass Jungen das harte und Mädchen das zarte Geschlecht sind. Jungen sind grundsätzlich eher körperbetont, laut, aggressiv und kreativ. Mädchen sind eher zurückgenommen, weich, fleißig und kommunikativ. Ausnahmen bestätigen die Regel. Aber dieses Wissen bildet nicht ansatzweise den gegenwärtigen Stand der Wissenschaft ab. Tatsächlich betrachtet die Forschung aufgrund der vielfältigen Merkmale und Ausprägungen des biologischen Geschlechts (seien es nun Hormone, Chromosomen, Geschlechtsorgane oder das Gehirn) dieses inzwischen mehr und mehr als Kontinuum. Die Personen, die wir aufgrund verschiedener Merkmale zweifelsfrei als Mann oder Frau einordnen, repräsentieren in Wirklichkeit eine Vielzahl von unterschiedlichen Geschlechtsidentitäten. Geschlecht hat mehr Schattierungen, als die bisher übliche Schwarz-Weiß-Malerei auf diesem Gebiet erkennen lässt.

Das klingt alles furchtbar kompliziert. Es hört sich an wie eine Art Relativitätstheorie für Geschlechtsidentität. Und im Grunde ist es genau das. Denn unser physikalisches Weltbild kapituliert vor den Auswirkungen der Entdeckungen Einsteins in ähnlicher Weise wie unser binäres Identitätsverständnis vor dem Geschlechtskontinuum. Mit dem Unterschied, dass über Zeitdilatation und Lichtstrahlen, die sich um Planeten krümmen, im Allgemeinen keine schlechten Witze gerissen werden. Über Unisextoiletten und darüber, dass man demnächst wohl auch noch »Gurke« oder »Frotteeunterhose« als Geschlecht wird angeben können, allerdings schon. Und das ist ein Problem. Nicht etwa, dass wir uns herausnehmen, über komplexe Sachverhalte zu scherzen und sie ironisch herunterzubrechen. Sondern dass wir so desinteressiert und abwertend mit Identität umgehen.

Warum erzähle ich Ihnen das? Nun, zum einen musste wie bereits erwähnt in aller Deutlichkeit auf den Elefanten gezeigt werden, bevor wir im Text fortfahren können. Zum anderen ist mir sehr daran gelegen, Ihr Verständnis von Normalität im Unterschied zu Durchschnittlichkeit zu schärfen, bevor wir uns näher mit Jungen befassen. Sowohl was die erlernten Geschlechterrollen als auch das biologische Geschlecht betrifft. Dass ein Junge im Alter von zwölf Jahren für Ponys schwärmt und Choreograf werden möchte, entspricht mit Sicherheit nicht den durchschnittlichen Träumen und Hoffnungen dieser Altersgruppe. Das ist aber noch lange kein Grund, sein Verhalten als unnormal zu klassifizieren.

Ebenso wenig ist ein Junge, der mit Vagina und Vulva geboren wird, abnormal. Er entspricht nach allen wissenschaftlichen Erkenntnissen absolut der Norm, genauso wie es der physikalischen Norm entspricht, dass auf Berggipfeln die Zeit schneller vergeht als im Tal, auch wenn Sie und ich diesen Unterschied nicht spüren, messen oder anfassen und daher vermutlich auch nicht begreifen können. Auch wenn beides mit den Alltagserfahrungen der meisten wenig bis gar nichts zu tun hat, sollten wir doch in der Lage sein, Menschen mit mindestens ebenso viel Offenheit, Interesse und Neugier zu begegnen wie physikalischen Gegebenheiten.

Spitze Bäuche, dunkle Haare

So offen sind in geschlechterspezifischen Fragen aber eher wenige, und deshalb jetzt mal Butter bei die Fische: Was wird es denn nun? Die Großeltern wollen schließlich wissen, welche Erstausstattungsgarnitur sie kaufen sollen – pink oder hellblau? Das Kinderzimmer will auch in den entsprechenden Farben gestrichen werden, die Freundinnen und Freunde wollen womöglich eine Babyparty für Sie organisieren und geschlechtsspezifische Accessoires besorgen. Fachzeitschriften, Ratgeber, fremde Leute auf der Straße: Alle wollen Ihnen vorab sagen, wie es denn auf jeden Fall und ohne jeden Zweifel wird als Elternteil eines Jungen beziehungsweise eines Mädchens. Also rücken Sie endlich raus mit der Sprache!

Aber vielleicht wissen Sie es ja noch gar nicht. Entweder weil es noch zu früh ist oder weil das Baby beim zweiten Ultraschall um die 20. Schwangerschaftswoche Ihnen nur den Hintern zeigen wollte. Dann muss es halt anders gehen. Glücklicherweise existiert ein ganzes Arsenal an stereotypen Schwangerschaftsmythen, mit denen Sie das Geschlecht angeblich vorab bestimmen können. Denn wie bereits erwähnt: Das Klischeekarussell dreht sich schon lange vor der Geburt in den Köpfen von Erwachsenen. Sie brauchen nur ganz fest daran zu glauben, dann klappt das schon mit der pränatalen Geschlechtsbestimmung.

  1. Ein spitzer Schwangerschaftsbauch spricht für einen Jungen, ein runder für ein Mädchen. Beachten Sie einfach nicht, dass das vielleicht mit der Anatomie der werdenden Mutter zu tun haben könnte oder mit der Lage des Kindes. Stattdessen gilt schon hier: typisch Junge, typisch Mädchen. Jungen behaupten spitz und fordernd ihre Existenz. Mädchen bilden eher weiche, runde Formen.

  2. Mädchen rauben ihren Müttern die Attraktivität, um selbst besonders hübsch zu werden. Wenn die Haare der Schwangeren also während der Schwangerschaft nachdunkeln oder ihr Gesicht durch einen Hautausschlag temporär »entstellt« wird, dann ist es ein Mädchen. Denn so sind Mädchen. Schon im Mutterleib an der knappen Ressource Attraktivität interessiert und nicht willens, sie mit anderen Frauen zu teilen. Kleine Zicken eben. Jungen hingegen sorgen für das sprichwörtliche Schwangerschaftsstrahlen. Die sind eben schon vor der eigenen Geschlechtsreife an schönen Frauen interessiert. Auch wenn es die eigene Mutter ist (Grüße an Sigmund Freud).

  3. In die gleiche Kategorie fällt die Überzeugung, dass angehende Jungsmamas nur am Bauch zunehmen, Mädchenmamas hingegen am ganzen Körper. Jungen wissen einfach schon früh, wie Frauen auszusehen haben, und so eine Schwangerschaft ist keine Ausrede, dass frau sich gehen lässt.

  4. Gleichzeitig steht eine zunehmende Körperbehaarung für Jungen, obwohl diese schon seit Längerem nicht mehr dem gängigen Schönheitsideal entspricht. Aber hier schlägt Behaarung als Indiz für die im Körper heranreifende Männlichkeit die Attraktivitätsregel.

  5. Exzessiver Fleischkonsum lässt selbstverständlich auf Jungen schließen. Denn Männer und Fleischessen, das gehört einfach zusammen. Jagen, erlegen, schlachten, Feuer machen, Grillen. Nicht umsonst wurden Männer 2017 in der Werbung des Discounters Edeka zur Grillsaison als »Herren des Feuers« bezeichnet. Frauen hingegen waren die »Frauen der Herren des Feuers«. »Herrinnen des Feuers« geht ja nicht. Frauen grillen aus Geschlechtsgründen bekanntlich nur ein bisschen Fisch und Geflügel, vor allem aber viel Gemüse. Deshalb bedeutet viel Gemüse während der Schwangerschaft auch, dass es ein Mädchen wird.

  6. Analog funktioniert das bei verstärkter Lust auf Süßes beziehungsweise auf Saures. Die Frage danach, was für welches Geschlecht stehen soll, ist so einfach zu beantworten, dass ich mich mehr dafür interessieren würde, wofür besonderer Heißhunger auf Hähnchen süß-sauer steht. Zweieiige Zwillinge?

Es gibt noch mehr solcher Mythen, einer bizarrer als der andere. Und viele davon, wie auch die hier vorgestellten, sind schon sehr eindeutig in ihren geschlechtsspezifischen Zuschreibungen. Wenn man ganz genau hinschaut, kann man sogar entdecken, dass sie auf einen noch früheren Zeitpunkt anwendbar sind: auf den der Zeugung nämlich. Auf der nach oben offenen Absurditätsskala finden sich Klassiker wie der, dass weniger Aktivität beim Zeugungsakt auf ein Mädchen schließen lässt und mehr Aktivität auf einen Jungen. Das sollte für einen groben Überblick reichen. Die Socken-an-den-Füßen-Regel erspare ich Ihnen und mir lieber. Irgendwo muss auch mal Schluss sein.

Geschlechtsneutral ist auch keine Lösung

Nun kann man das natürlich alles eher lustig finden. Wir sind doch erwachsene Menschen und solche Mythen sind bloß harmloser Spaß. Gleichzeitig ist unser Bedürfnis, unsere Annahmen über Geschlecht in anderen bestätigt zu finden, uns sowohl als Individuum als auch im gesellschaftlichen Kontext todernst. Wenn Sie einmal gespürt haben, wie viel Unverständnis, Hilflosigkeit und letztendlich auch Wut Ihnen entgegengebracht wird, falls Sie sich aus welchen Gründen auch immer weigern, Ihrem Umfeld das Geschlecht Ihres Kindes mitzuteilen, dann wissen Sie, was ich meine. Wir validieren unsere eigene Geschlechtsidentität anhand der Geschlechtsidentität anderer Menschen. Deshalb ist es auch so wichtig, Menschen mit Vorannahmen und Vorurteilen über Geschlecht zunächst keine bösen Absichten zu unterstellen. Die Großeltern meinen es tatsächlich nur gut, auch wenn Sie vielleicht überhaupt keine Lust auf diesen ganzen rosa-hellblauen Wahnsinn haben. Die Freundin, die Ihnen den niedlichen Feuerwehrmann-Sam-Strampler geschenkt hat, will wahrscheinlich bloß alles richtig machen. Jungen wollen Feuerwehrmänner und Polizisten werden – was denn sonst?

Vorurteile und stereotypisierende Überzeugungen sind etwas, das man nicht einfach abstellen kann. Es gibt keinen Schalter, den man nur umlegen muss, damit 3-jährige Jungen auch mit Puppen spielen dürfen, Neuntklässler sich auf dem Schulhof nicht mehr als »Schwuchtel« beleidigen und erwachsene Männer nicht mehr krank davon werden, dass sie ihr Leid mit niemandem teilen können. Das ist tief eingebettet in unsere soziale Programmierung und muss dementsprechend entlernt werden. Auch dazu möchte dieses Buch ein Beitrag sein.

Denn was nützt ein knalliger Debattenbeitrag über die Missachtung der Prinzessinnenjungshaftigkeit unserer Söhne, wenn wir uns nicht auch darüber unterhalten, was sich ganz konkret tun lässt, um diese Prinzessinnenjungshaftigkeit zu bewahren und die Jungen zu unterstützen.

Wie lässt sich vorurteilsbewusst erziehen?

Wie schaffe ich es als Elternteil, meine eigenen Vorstellungen davon, wie männliche Geschlechtsidentität auszusehen hat, nicht meinem Jungen überzustülpen?

Wie wehre ich mich gegen die ständigen Anforderungen, mich vorgeblich geschlechtskonform zu verhalten?

Was kann ich tun, wenn andere auf meinen Sohn Einfluss nehmen und die ganze Arbeit, die ich mir mit geschlechtersensibler Erziehung mache, untergraben?

Und was tue ich, wenn mein Sohn irgendwann aus anderen ihre Prinzessinnenjungshaftigkeit herausmobbt oder herausprügelt?

Schauen wir doch noch einmal weiter auf diese Situation: Sie erwarten also immer noch ein Kind, der Rest der Welt will unbedingt wissen, was es wird, und Sie haben eigentlich gar keine Lust, darüber zu reden. Weil Sie genau wissen, was dann passiert.

Sie können das Geschlecht verraten und allen mitteilen, dass Sie sich für das Kind jede Farbe außer Rosa und Hellblau für Kleidung, Spielzeug etc. wünschen. Grün, Braun oder Gelb sind ja auch tolle Farben. Das ist eine gute Möglichkeit, um Verwandte und Bekannte nicht gleich mit Ihrer »Genderagenda« vor den Kopf zu stoßen. Allerdings sollte Ihnen dabei klar sein, dass diese »geschlechtsneutrale« Lösung nicht wirklich hält, was sie verspricht. Ihr Kind wird ja trotzdem noch in eine Welt geboren, in der man Farben, Kleidungsstücken und anderen Dingen ein Geschlecht zuschreibt. Die Wirkungsmacht dieser Zuordnung bleibt bestehen und lässt sich auch nicht einfach umgehen. Sie wird so lediglich eine Weile auf Distanz gehalten. Irgendwann kommt Ihr kleiner Kerl dann doch aus der Kita und erzählt Ihnen, dass Rosa eine Mädchenfarbe ist und er seine Schuhe deshalb nicht mehr anziehen will. Vielleicht wollen Sie deshalb ein Stück weiter gehen, wollen das Geschlecht selbst nicht wissen (oder nicht verraten) und den Schenkungsfreudigen mitteilen, dass Sie sich für das Baby über Dinge in allen möglichen Farben freuen. Auch in Rosa und Hellblau. Fügen Sie allerdings unbedingt hinzu, dass Sie dem Kind auf jeden Fall alle Kleidungsstücke anziehen werden und es alle Spielzeuge benutzen wird. Unabhängig davon, in welcher Farbe diese vorhanden sind. Aus eigener Erfahrung kann ich Ihnen sagen, dass das die Anzahl von rosa oder hellblauen Kleidungsstücken stark dezimiert. Diese Ansage verunsichert, aber nicht zu stark.

Wenn Sie es allerdings darauf anlegen, Ihre Vorstellungen von geschlechtergerechter Erziehung als kleine Kampfansage zu formulieren, dann könnten Sie die Frage nach dem Geschlecht mit einem Unisexnamen beantworten.

»Junge oder Mädchen?«

»Kim. Das Baby heißt Kim!«

Meine Lebenskomplizin (großartigste Person überhaupt, beste Freundin, tollste Mutter auf der ganzen Welt; seit über zwei Jahrzehnten mobiles Zuhause und Sehnsuchtsmensch des Autors, mit ihm eng verbandelt und unter einer Decke steckend, aber nicht verheiratet) und ich haben uns während ihrer Schwangerschaft mit unserer ersten Tochter für diesen Weg entschieden. Weniger aus einem konkreten Plan heraus, wie wir mit der Thematik umgehen wollten, als mehr aus einem Gefühl der Notwehr. Bücher, Freundinnen und Freunde, irgendwelche Leute auf der Straße oder im Bus: Von allen Seiten bedrängte man uns mit Ansichten über Jungen als Stammhalter und über Mädchen, mit denen es die ersten Jahre angeblich leichter sei. Ob ich denn eher so der sportliche Typ sei, wollte man wissen, um mir je nach Antwort entweder einen Jungen oder ein Mädchen zu wünschen. Und als mich Kommilitonen an der Uni davor warnten, aus mir könne ja auch ein »Büchsenmacher« werden, waren diese Kommilitonen für mich indiskutabel geworden. Falls Sie nicht wissen, was »Büchsenmacher« sein sollen: So bezeichnet man Väter, die Mädchen zeugen. Genauer gesagt: die NUR Mädchen zeugen. Büchse dient an dieser Stelle als vulgäre Anspielung auf das Geschlechtsorgan des Kindes.

Was das Ekelhafte an diesem Begriff ist, brauche ich Ihnen wohl kaum zu sagen. Er ist abwertend gemeint, er markiert Mädchen als etwas Minderwertiges und lebt von der Vorstellung, dass Männer in ihren Kindern ihr eigenes Geschlecht wiedererkennen wollen, um sich ihnen zugehörig fühlen zu können. Oder anders formuliert: Väter wollen jemanden, mit dem sie Fußball spielen können – was sollen sie da mit Töchtern?

Einen Namen zu wählen, der für beide Geschlechter funktioniert, fühlte sich damals instinktiv richtig an. Und das tat es auch bei unseren anderen drei Kindern. Es gab uns die Möglichkeit, von Anfang an darauf hinzuweisen, dass wir diese Art Spiel nicht mitspielen. Es hätte auch noch weitere Möglichkeiten gegeben: Manche Eltern verraten auch nach der Geburt nicht das Geschlecht ihres Kindes. Andere gehen sogar noch weiter und halten sich selbst dem Kind gegenüber mit einer Geschlechtszuschreibung zurück. Man mag das übertrieben finden, aber im Grunde wäre das nur folgerichtig. Denn es sind von Anfang an stets Fremdzuschreibungen. Obwohl es wie bereits erwähnt an vielen Komponenten hängt, wird Geschlecht zunächst rein genital bestimmt. Wenn es wie im Fall von Intersexualität nicht eindeutig bestimmbar ist, wird meist eine Operation vorgenommen. Eine nicht notwendige »kosmetische Operation« – Betroffene fordern nachdrücklich, dass diese endlich abgeschafft werden! Aber trotz der ausdrücklichen Empfehlung des UN-Kinderrechtsausschusses, die körperliche Unversehrtheit und Selbstbestimmung der betroffenen Kinder zu gewährleisten, ist die Anzahl dieser Operationen seit Jahren gleichbleibend hoch. Auf den Grund dafür hatte ich eingangs schon hingewiesen: Eltern beschädigen in den seltensten Fällen vorsätzlich Identität. Stattdessen machen sie sich Sorgen: Wie wird es dem Kind gehen? Was kommt an medizinischen Eingriffen auf das Kind zu, wenn es diese schon bewusst registriert? Wird man es auslachen und verächtlich machen? Was wird die Familie sagen? Also entscheiden sie sich für das, was sie für den leichteren Weg halten. Für den, der mehr Akzeptanz erhoffen lässt. Auch an dieser Stelle zeigt sich, dass Geschlecht zugleich überbewertet und unterschätzt wird.

Deswegen ist es umso wichtiger, die Räume für Identität zu erweitern und sie möglichst den Betroffenen offenstehen zu lassen. Weniger »Wer bist du?« fragen, mehr zuhören und darauf achten, wie sich jemand beschreibt. Ganz besonders bei Kindern. Denn die fordernden, übergriffigen Zuschreibungen haben gerade erst begonnen. Im nächsten Kapitel wartet schon ein Schnuller mit der Aufschrift »Bad Boy« auf Sie und Ihren Jungen.

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Mit Puppen spielt Mann nicht

Ein »Bad Boy« also. Womöglich noch in einem dieser Strampler für Väter, auf denen mit Pfeilen angezeigt wird, wo was zu tun ist. Damit alle Bescheid wissen. Vielleicht haben Sie aber gar nicht das Bedürfnis, die Welt über das Geschlecht Ihres Babys zu informieren. So ging es auch den Eltern von Storm Stocker, die 2011 einiges an medialem Aufsehen dadurch erregten, dass sie ihrem Umfeld bewusst das Geschlecht ihres Kindes vorenthielten, damit dieses sich frei entfalten kann. Abgesehen davon, dass man diese Entscheidung unter vielerlei Gesichtspunkten kritisch sehen kann, ist bemerkenswert, mit wie viel Wut der Familie und dem Kind begegnet wurde. Fremde Menschen fuhren an dem Haus der Stockers vorbei und brüllten Storm »Junge« entgegen. Man kann und sollte sich fragen, was Storms Geschlecht mit diesen Menschen zu tun hat. Eigentlich nichts, aber anscheinend doch alles. Und auf die eine oder andere Weise begleitet diese Frage nach der Geschlechtsidentität Ihr Kind bis zu dessen Tod. Denn selbst wenn es die Phase hinter sich lässt, in der es anderen schwerfällt, anhand erkennbarer Merkmale das Geschlecht zu bestimmen, und mit zunehmendem Alter vorgeblich klarer wird, worum es sich handelt, wird diese Frage immer wieder gestellt und verlangt eine Antwort. Auch in Abwesenheit. Zum Beispiel wenn Sie in einem dieser Spielzeugfachgeschäfte stehen und Ihrem Kind etwas zum Geburtstag kaufen wollen. Die erste Frage, die Ihnen gestellt wird, ist nicht etwa die nach dem Alter oder nach Ihrem Budget. Auch nicht nach den Vorlieben des Kindes. Die erste Frage lautet mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit: »Junge oder Mädchen?« Und wenn Sie dann gestanden haben, wenn Sie stellvertretend für Ihr Kind die mündliche Geschlechtsprüfung abgelegt haben, dann werden Sie freundlich, aber bestimmt in die entsprechenden Ecken verwiesen. Rosa für Mädchen und Hellblau für Jungen. In dem Spielzeugbereich der Mädchen geht es um Kümmern, Haushalt, Pflege und Verschönerung. Bei den Jungs hingegen findet sich alles rund um Fahrzeuge, Bauen, Abenteuer und Technik. Mädchen sind Prinzessinnen, Jungen die Piraten. Das Ganze kommt einem Verdikt gleich, dem Sie sich besser nicht entgegenstellen. Denn sonst …! Gender Marketing, also das gezielte Ansprechen von Geschlechtern durch Stereotype, ist nie nur Angebot, sondern immer auch eine Form von sublimer Drohung: Wenn du nicht mitmachst, wenn du für uns nicht identifizierbar und kategorisierbar bist, dann gehörst du nicht dazu und wirst entsprechend behandelt. Das ist auch der Grund, warum es herablassend wäre, einfach nur zu behaupten, Eltern würden zu wenig wissen und deshalb ihren Kindern lediglich stereotypes Spielzeug vorsetzen. In gewisser Hinsicht wissen Eltern nämlich zu viel. Sie sind sich vollkommen im Klaren darüber, was die Mehrheitsgesellschaft von Jungen und Mädchen erwartet, welches Spielzeug den meisten Menschen für welches Geschlecht angemessen erscheint und welche Verhaltensweisen mit Männlichkeit oder Weiblichkeit assoziiert werden. Deshalb ist es auch mit Aufklärung allein nicht getan. Die bloße Wissensvermittlung darüber, dass Rosa nicht schwul macht und Homosexualität nichts Unnatürliches ist, löscht die Vorurteile darüber nicht aus. Und schon gar nicht die Sorge davor, das eigene Kind könnte trotz einer vorurteilsbewussten Erziehung, nein, gerade wegen einer vorurteilsbewussten, geschlechtergerechten Erziehung durch andere Nachteile erleiden. Die Konfrontation mit der Realität ist nicht nur hier unvermeidbar. Darum muss es zugleich Aufgabe sein, für einen Prozess des Entlernens von Stereotypen zu werben und aufzuzeigen, warum dieser sich lohnt.

Deswegen sind Sie und ich ja auch hier. Nicht nur damit ich Ihnen lustige Anekdoten darüber erzähle, warum es nett wäre, Jungen mit Puppen spielen zu lassen. Sondern auch, damit wir darüber ins Gespräch kommen, wie defizitär die momentane Situation für Jungen ist. Wie sehr die Dinge in Schieflage geraten sind. Mit Puppen spielen zu dürfen ist für Jungen nicht nur ein netter Bonus, den wir ihnen im Zuge einer sich von Stereotypen emanzipierenden Gesellschaft vielleicht mal zugestehen könnten. Das Spiel mit Puppen, und darüber ist sich die Forschung einig, vermittelt Fähigkeiten, die für ein heranwachsendes Individuum von essenzieller Bedeutung sind: Soziale Interaktion, Kümmern, Pflege, Verantwortung, Sprachschatz, Vorstellungskraft – all diese Bereiche werden durch das Puppenspiel gefördert. Und übrigens nicht erst seit gestern. Puppen gehören zusammen mit Rasseln, Pfeifen und Reifen zu den ältesten bekannten Spielzeugen. Kinder spielen schon seit Jahrtausenden mit Puppen. Welchen Sinn sollte es also ergeben, Puppen für Jungen zu tabuisieren? Man könnte argumentieren, dass das Puppenspiel nicht zwingend erforderlich ist, um die genannten Fähigkeiten zu entwickeln. Zweifellos ist das richtig. Ich muss als Junge nicht mit Puppen gespielt haben, um meine sprachlichen Fähigkeiten zu entwickeln und soziale Interaktion zu lernen. Die Frage ist vielmehr, warum ich es nicht darf? Warum werden Jungen in einer von Frühförderung besessenen Gesellschaft von diesem Arsenal an positiven Entwicklungsmöglichkeiten ausgeschlossen? Die Antworten auf diese Frage bewegen sich irgendwo zwischen »Es ist nicht seine Aufgabe« und »Es schadet seiner Männlichkeit«.

Das leuchtet mir nicht ein. Wieso diese Beschränkung? Jungen haben ein Recht darauf, Kümmern, Pflegen, Fürsorge und Verantwortung spielerisch zu erfahren. Das hätte nicht zuletzt auch den schönen »Nebeneffekt«, dass wir uns nicht länger darüber wundern müssten, warum sie sich später, wenn überhaupt, nur zwei Monate Elternzeit nehmen oder die Pflege von Angehörigen mehrheitlich Frauen obliegt. Und wenn Männlichkeit wirklich dadurch beschädigt werden kann, dass Jungen mit Puppen spielen, dann braucht sie dringend ein Update. Wo Puppen eine Zumutung für die Männlichkeit von Jungen darstellen, wird Männlichkeit für Jungen zur Zumutung.

»Aber mein Junge spielt eben nur mit Autos und Bauklötzen, was soll ich denn machen?!« Wenn es um die Spielzeugvorlieben kleiner Kinder geht, sind sich Eltern relativ einig. Jungen spielen anders als Mädchen. Sie interessieren sich mehr für Bewegung, Mobilität und Dinge, die Geräusche machen. Sie schlagen gerne Sachen gegeneinander. Nur eines tun sie eher selten: mit Puppen spielen. Wenn man Eltern darauf hinweist, dass ihrem Sohn Puppen möglicherweise vorenthalten werden, reagieren sie häufig schmallippig und ungehalten. Schließlich hätten sie ihrem Sohn immer wieder alle möglichen Spielzeuge angeboten, aber er würde sich nun einmal nicht für Puppen interessieren. Und tatsächlich gibt es einige Studien, die zeigen, dass Jungen sich überdurchschnittlich häufig mit Fahrzeugen beschäftigen, während Mädchen sich eher für Puppen begeistern. Das klingt allerdings bedeutender, als es ist. Denn zum einen treffen diese Studien gar keine Aussagen darüber, dass Jungen überhaupt nicht mit Puppen spielen oder spielen sollten. Genau genommen gibt es keine einzige Studie, die belegt, dass Jungen nur mit Fahrzeugen oder Bauklötzen und nie mit Puppen spielen. Oder dass es in irgendeiner Weise ratsam wäre, Jungen nicht mit Puppen spielen zu lassen. Zum anderen übersehen diese Studien den Sozialisationsfaktor. Der Verstand eines Babys ist keine unbeschriebene Fläche, an der man eins zu eins ablesen kann, wie sich genetische Merkmale in Verhalten übersetzen. Um das nachzuweisen sind seit den 70er-Jahren immer wieder sogenannte Baby-X Versuche durchgeführt worden. In der Ursprungsvariante von 1975 untersuchten drei Forscherinnen der Universität von New York, wie sich Erwachsene verhalten, wenn sie aufgefordert werden, sich um ein drei Monate altes Baby zu kümmern. Die Ergebnisse zeigten, dass die überwiegende Mehrheit der Testpersonen das Baby mit stereotypen Spielzeugen beschäftigte. Wurde das Kind den Testpersonen als Mädchen vorgestellt, kamen Puppen zum Einsatz. Wurde das Kind als Junge bezeichnet, wurde zu Fahrzeugen und Bauklötzen gegriffen. Wurde das Kind neutral gekleidet und nicht auf das Geschlecht verwiesen, verschwand dieser Effekt fast gänzlich – bis auf eine kleine Präferenz in Richtung Jungenspielzeug, weil die Mehrheit der Erwachsenen das Kind, das eigentlich ein Mädchen war, für einen Jungen hielt. Dieser Versuch wurde seitdem in verschiedenster Abwandlung mehrfach wiederholt. Mit den immer gleichen Ergebnissen. Nur dass diese über die Jahre sogar noch deutlicher wurden. Selbst Eltern, die von sich sagen, dass ihnen eine geschlechtergerechte, stereotypfreie Erziehung wichtig ist, sind davon betroffen. Und es ist auch nicht nötig, dass Kindern das entsprechende Spielzeug weggenommen wird, um Präferenzen auszudrücken. Es genügen Vorschläge. Es genügt Bestärkung.

»Lass uns doch den Bagger nehmen. Toll hast du das gemacht. Was für ein großer Bagger für einen großen Jungen!«