ADRIAN DOYLE

&

TIMOTHY STAHL

 

 

BLUTVOLK, Band 18:

Die Loge der Nacht

 

 

 

Roman

 

 

 

Apex-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Das Buch 

Die Autoren 

 

Was bisher geschah... 

 

DIE LOGE DER NACHT 

 

Vorschau auf BLUTVOLK, Band 19: DIE SPUR DES TIERES 

von ADRIAN DOYLE und TIMOTHY STAHL 

 

Glossar 

 

Das Buch

 

Äußerlich waren sie normale Menschen, doch ihr Geist wurde vom Bösen beherrscht. Ihr Ziel war es, einen Ort zu schaffen, wo Satan sich manifestieren und sein Reich auf Erden errichten konnte.

Sie nannten sich die »Loge der Nacht«. Ihre Waffen waren Lüge, Hinterlist, Verrat – und Schwarze Magie. Mit ihr schufen sie eine Armee der Spinnen, die ihr schleichendes Gift in alle Gassen und Winkel der Stadt tragen sollte.

Doch es regte sich Widerstand. Gottesfürchtige Männer, die die Ziele der Loge durchschaut hatten, fanden zusammen, um sich gegen den Dunklen Plan zu stellen.

Man schrieb das Jahr des Herrn 1635. Die Stadt wurde Heidelberg genannt. Es war die Zeit einer großen Schlacht des Guten gegen die Übermacht des Bösen...

 

BLUTVOLK – die Vampir-Horror-Serie von Adrian Doyle und Timothy Stahl: jetzt exklusiv als E-Books im Apex-Verlag.

Die Autoren

 

 

Manfred Weinland, Jahrgang 1960.

Adrian Doyle ist das Pseudonym des deutschen Schriftstellers, Übersetzers und Lektors Manfred Weinland.

Weinland veröffentlichte seit 1977 rund 300 Titel in den Genres Horror, Science Fiction, Fantasy, Krimi und anderen. Seine diesbezügliche Laufbahn begann er bereits im Alter von 14 Jahren mit Veröffentlichungen in diversen Fanzines. Seine erste semi-professionelle Veröffentlichung war eine SF-Story in der von Perry-Rhodan-Autor William Voltz herausgegebenen Anthologie Das zweite Ich.

Über die Roman-Agentur Grasmück fing er Ende der 1970er Jahre an, bei verschiedenen Heftroman-Reihen und -Serien der Verlage Zauberkreis, Bastei und Pabel-Moewig mitzuwirken. Neben Romanen für Perry-Rhodan-Taschenbuch und Jerry Cotton schrieb er u. a. für Gespenster-Krimi, Damona King, Vampir-Horror-Roman, Dämonen-Land, Dino-Land, Mitternachts-Roman, Irrlicht, Professor Zamorra, Maddrax, Mission Mars und 2012.

Für den Bastei-Verlag hat er außerdem zwei umfangreiche Serien entwickelt, diese als Exposé-Autor betreut und über weite Strecken auch allein verfasst: Bad Earth und Vampira.

Weinland arbeitet außerdem als Übersetzer und Lektor, u. a. für diverse deutschsprachige Romane zu Star Wars sowie für Roman-Adaptionen von Computerspielen.

Aktuell schreibt er – neben Maddrax – auch an der bei Bastei-Lübbe erscheinenden Serie Professor Zamorra mit.

 

 

 

Timothy Stahl, Jahrgang 1964.

Timothy Stahl ist ein deutschsprachiger Schriftsteller und Übersetzer. Geboren in den USA, wuchs er in Deutschland auf, wo er hauptberuflich als Redakteur für Tageszeitungen sowie als Chefredakteur eines Wochenmagazins und einer Szene-Zeitschrift für junge Leser tätig war.

In den 1980ern erfolgten seine ersten Veröffentlichungen im semi-professionellen Bereich, thematisch alle im fantastischen Genre angesiedelt, das es ihm bis heute sehr angetan hat. 1990 erschien seine erste professionelle – sprich: bezahlte - Arbeit in der Reihe Gaslicht. Es folgten in den weiteren Jahren viele Romane für Heftserien und -reihen, darunter Jerry Cotton, Trucker-King, Mitternachts-Roman, Perry Rhodan, Maddrax, Horror-Factory, Jack Slade, Cotton Reloaded, Professor Zamorra, John Sinclair u. a.

Besonders gern blickt er zurück auf die Mitarbeit an der legendären Serie Vampira, die später im Hardcover-Format unter dem Titel Das Volk der Nacht fortgesetzt wurde, und seine eigene sechsbändige Mystery-Serie Wölfe, mit der er 2003 zu den Gewinnern im crossmedialen Autorenwettbewerb des Bastei-Verlags gehörte.

In die Vereinigten Staaten kehrte er 1999 zurück, seitdem ist das Schreiben von Spannungsromanen sein Hauptberuf; außerdem ist er in vielen Bereichen ein gefragter Übersetzer. Mit seiner Frau und seinen beiden Söhnen lebt er in Las Vegas, Nevada.

  Was bisher geschah...

 

 

Das Geschlecht der Vampire steht vor seinem Untergang, als sich Lilith, Urmutter aller Blutsauger, mit Gott versöhnt. Er »impft« den Lilienkelch, mit dem allein neue Vampire aus Menschenkindern entstehen können, mit einer Seuche, die alle Sippenoberhäupter rund um den Globus infiziert. Landru, Kelchhüter und einer der ältesten Vampire, setzt unwissentlich die Seuche frei. Sie wird von den Oberhäupter auf ihre Sippen übertragen. Die infizierten Vampire – bis auf die Anführer selbst – werden von einem unbändigen Durst nach Blut befallen und altern rapide. Lilith Eden, Tochter einer Vampirin und eines Menschen, erhält von Gott den Auftrag, die letzten überlebenden Vampire zu vernichten.

Aber auch das Böse reagiert. In einem Kloster in Maine, USA, gebiert die junge Nonne Mariah ein Kind, das den todgeweihten Vampiren alle Kraft und Erfahrung raubt und dabei rasch zum Knaben heranwächst.

Die Seuche macht auch vor einem Stamm von Vampir-Indianern nicht halt, die dem Bösen widerstehen, indem sie geistigen Kontakt zu ihren Totemtieren, den Adlern, halten. Hidden Moon, Schüler des Häuptlings Makootemane, bittet Lilith Eden um Hilfe. Sie steht den Arapaho gegen die Seuche bei, die jedoch alle Adler und letztlich – durch Lilith – auch Makootemane tötet. So zerstreut sich der Stamm auf der Suche nach neuen Totemtieren. Hidden Moon schließt er sich Lilith an – denn sie hat die Rolle seines Adlers übernommen: Nur in ihrer Nähe kann er dem Bösen trotzen.

Sowohl die Seuche als auch die Geburt des Knaben namens Gabriel erschüttern das Weltgefüge auf einer spirituellen Ebene. Para-sensible Menschen träumen von unerklärlichen Dingen und möglichen Zukünften. Die »Illuminati«, ein Geheimbund in Diensten des Vatikans, rekrutiert diese Träumer.

Als das Kind die Kraft in Lilith erkennt, bringt es sie in seine Gewalt und seine Träume. Doch Raphael Baldacci, ein Gesandter von Illuminati, rettet sie, indem er sein Leben für sie opfert. Baldacci ist der Sohn Salvats, der Illuminati vorsteht. Die Ziele des Ordens sind eng an ein Tor in einem unzugänglichen Kloster nahe Rom gebunden. Gabriel wird auf das Tor aufmerksam. Er erkundet die Lage und ruft gleichzeitig Landru herbei, dessen Kraft er sich einverleiben will, bevor er das Tor öffnet.

Im Kloster befinden sich die Para-Träumer. Von ihnen erfährt Salvat vom Sterben der Vampire, von der Geburt des Kindes – und dass das Tor bald geöffnet wird! Auch Lilith Eden kommt in den Träumen vor, was sie und Hidden Moon zum Kloster hinführt. Dort ist mittlerweile auch Landru angelangt, der in dem Knaben den Messias der Vampire sieht, von ihm aber getäuscht und seiner Kräfte beraubt wird. Mit der Magie des Vampirs betritt das Kind das Kloster und öffnet das Tor. Doch Salvat ist gerüstet und kann es wieder schließen. Für zwei Personen allerdings zu spät: Landru und Lilith werden durch das Tor gesogen.

Eine ganz ähnliche Erfahrung machte zu der Zeit, als Gottes Fluch von der Ur-Lilith genommen wurde, der Geist einer jungen Frau, die mit gebrochenem Genick in einem Korridor mit unzähligen Türen »erwachte« und auf ein fernes Licht zugezogen wurde – als plötzlich alle Türen aufsprangen und ihr Geistkörper in eine davon gesogen wurde. Ohne Erinnerung an ihr früheres Leben erwacht sie im Jahre 1618 vor den Toren Prags. Um ihre Körperlichkeit wiederzugewinnen, raubt sie die Lebensenergie der Menschen, wird alsbald als Hexe verhaftet und eingekerkert. Ein Inquisitor soll mehr über sie in Erfahrung bringen.

Doch nicht die junge Frau ist das wahre Böse in Prag. Ein Wesen, das die Menschen wohl »Satan« nennen, streckt seine Klauen nach dem Land aus. Mit Ränke verleitet es die Menschen zum »Prager Fenstersturz«, der zum Auslöser für den Dreißigjährigen Krieg werden soll. In den Wirren der Geschehnisse flieht Justus, der Eleve des Inquisitors, zusammen mit einer Freundin und der jungen Frau, die eine seltsame Macht auf ihn ausübt. Zum »Dank« saugt sie auch ihm und dem Mädchen das Leben aus...

Jenseits des Tores im Monte Carnago erwarten Lilith und Landru ihre ganz persönlichen Alpträume; eine Welt, in der ihre schlimmsten Ängste Gestalt annehmen. Trotzdem gibt es eine Gemeinsamkeit: eine »Oase« der Normalität, die einen Übergang in die Vergangenheit der Erde ermöglicht; nicht körperlich, nur geistig! Lilith folgt Landru durch diesen Schlund der Zeiten – und wird im Bayreuther Fürstentum des Jahres 1635 im Körper der jungen Zigeunerin Kathlen wiedergeboren, deren Sippschaft gerade dem Feuer überantwortet wird. Dank ihrer vampirischen Fähigkeiten kann sie vom Scheiterhaufen fliehen.

Auch Landru findet sich in einem fremden Körper – dem des Vampirs ArCon – wieder, in derselben Zeit, aber vor den Toren von Paris. Dort wird er Zeuge, wie eine fremde, unendlich verderbliche Macht, die in Paris weilt, die dortige Vampirsippe abschlachtet. Er trifft auf eine Wanderschau von Freaks, der sich eine Frau angeschlossen hat, die Landru aus der Zukunft kennt. Zuletzt sah er sie dort als Tote mit gebrochenem Genick im Korridor der Zeiten in Uruk: Beth MacKinsey!

Doch Beth hat jede Erinnerung an ihr früheres Leben verloren. Landru hilft ihr dabei, es wiederzuerlangen; schon im eigenen Interesse. Vielleicht gelingt es ihnen beiden als Verbündete, den Weg in die Gegenwart zurückzufinden. Doch Beth ist auf der Suche nach dem leibhaftigen Satan, den sie in Paris vermutet und der ihr das Kind geraubt hat...!

DIE LOGE DER NACHT

 

 

 

Heidelberg, September 1622

Vater und Mutter stierten den zitternd in seinem Versteck kauernden Knaben an. Aus weit aufgerissenen Augen, die in feuchte Netze eingesponnen lagen, als würden die Alten um ihren Jungen trauern.

Dabei war es der Junge, der allen Grund zum Trauern hatte. Denn es waren keine Tränen, die über ihre starren Gesichter liefen, und die dunklen Rinnsale hatten ihren Ursprung auch nicht in den Augen seiner Eltern. Die blutigen Ströme sickerten, schon zäh werdend, aus den Klüften, die ihre Schädel über die Stirn bis hin zur Nasenwurzel spalteten.

 

Der grausige Anblick der erschlagenen Eltern ließ den Knaben bis ins Mark frieren. Sein magerer Leib bebte wie im Fieber. Hinter seinen fest aufeinandergepressten Lippen staute sich eine wahre Flut von Lauten, die dem Grauen, das mit eisigen Klauen in ihm wütete, Ventil sein wollten.

Aber nicht allein, weil das Bild mit keiner Sekunde an Entsetzen verlor, sondern nur gewann und sich immer tiefer in seine Seele brannte, wünschte der Junge sich, Vater und Mutter hätten nicht zu ihm hingestarrt im buchstäblich allerletzten Augenblick ihres Lebens. Denn die gemeinsame Richtung ihrer Blicke deutete wie ein Wegweiser zu seinem Versteck hin. 

Der brutale Mörder musste nur noch darauf aufmerksam werden, und schon würde er wissen, dass er noch nicht alles Leben in dem kleinen Haus hingeschlachtet hatte.

Noch aber war der marodierende Soldat abgelenkt, dieweil er seinen Säbel – mit widerwärtiger Sorgfalt – an den einfachen Kleidern der Toten von deren Blut säuberte.

Mutter, Vater!, pochte es im Takt seines rasenden Herzens zwischen den Schläfen des Knaben, der zitternd hinter der spaltbreit offenstehenden Tür zur Schusterwerkstatt des Vaters hockte und nicht fähig war, sich von der Stelle zu rühren, um sein Heil in der Flucht zu suchen. Seht nicht länger her zu mir! Wendet euren Blick ab, ich fleh' euch an! Ich bitt' euch so sehr – tut's! 

Und es geschah.

Der Herzschlag des Jungen schien vor Schreck für einen Moment auszusetzen, nur um dann um so heftiger wieder einzusetzen, als musste sein Herz den verlorenen Schlag wettmachen. Fest kniff er die Augen zu, nicht sehr lange, und als er sie wieder öffnete, erkannte er, dass sie ihn nicht genarrt hatten.

Gerade eben kamen die zerschlagenen Köpfe seiner Eltern wieder zur Ruhe! Nachdem sie, als wäre da noch ein allerletzter Lebensfunke in ihnen gewesen und hätte ihnen die Kraft für die Bewegung gegeben, die Gesichter von ihrem Sohn abgewandt hatten!

Aber auf so schlichte – und beruhigende – Weise ließ das Ungeheuerliche sich nicht erklären! 

Säbelhiebe von der Art, wie der Knabe sie hatte mitansehen müssen, ließen nicht das geringste bisschen Leben über; und unter Wunden, wie sie seinen Eltern geschlagen worden waren, glomm nicht der mindeste Funke mehr.

Der Junge kannte den Grund dafür, weshalb es hatte geschehen können. Doch gerade dieses Wissen war es, das ihn erschreckte: Denn er hatte nichts anderes getan, als es zu wollen. Er hatte es sich gewünschtmit aller Macht... 

Er schauderte unter dem eisigen Hauch, mit dem sich diese »Macht« zurückzog in die verborgenen Winkel seiner Seele, aus denen sie emporgestiegen war.

Aus meiner SEELE?! Gerade noch konnte der Junge ein entsetztes Keuchen unterdrücken. Nein, etwas derart Fremdes (Dunkles. Finsteres!) durfte nicht in seiner Seele wohnen, die dereinst in die Hände des Herrn befohlen sein sollte! Niemals würde Gott etwas solchermaßen Besudeltes in sein ewiges Reich aufnehmen...! 

Der Gedanke brach ab, als der fröstelnde Schauer, der den Jungen überlief, plötzlich zu flüssigem Eis wurde. Denn was er hatte verhindern wollen, schien er statt dessen erst heraufbeschworen zu haben. Das Gefühl, wie im ärgsten Winter zu frieren, wuchs noch und griff selbst auf seine Augäpfel über. Sie schmerzten mit einem Mal, als wären sie von Raureif überkrustet. Dennoch brachte der Junge kein noch so flüchtiges Blinzeln zustande, mit dem das kalte Brennen vielleicht zu lindern gewesen wäre. Er konnte einfach nichts anderes tun, als wie gebannt durch den Türspalt zu starren und den Mörder seiner Eltern zu beobachten.

Als die Toten ihre Köpfe zur anderen Seite hingedreht hatten, hielt der Zottelbärtige inne. Wie das steinerne Denkmal eines Soldaten, der seine Klinge putzte, stand er da. Sekundenlang und vielleicht überlegend, ob die Bewegung der Leichen davon herrühren konnte, dass er sich an ihren Kleidern zu schaffen gemacht hatte.

Dann – und der Junge war sicher, dass eine geradezu niederträchtige und übelwollende Schicksalsmacht ihre Hände im Spiel hatte! – wandte der Soldat den Blick in jene Richtung, in die das tote Schusterpaar gerade noch gestarrt hatte. Die Augen leuchteten in dem schmutzstarrenden Gesicht beinahe flammend hell, schienen zu glühen im Feuer des Wahnsinns, das die Kriegsgräuel über die Jahre in dem Soldaten geschürt haben mussten.

Der Knabe fühlte sich von diesem unseligen Licht fast körperlich berührt. Als hätte ihn die Hand des Mörders selbst schon gepackt.

 

 

Der Soldat musste ihn einfach sehen! Allein das Weiß seiner weit geöffneten Augen musste den Jungen verraten, selbst wenn seine Gestalt im Schatten jenseits des Türspalts nicht zu sehen gewesen wäre. Und überdies – ein Kerl vom Schlage dieses Mordgesellen musste die Angst eines jeden anderen riechen können, wie es Tieren zu eigen war... 

Womit er nun letztendlich auf sich aufmerksam gemacht hatte, erfuhr der Junge nie – nur, dass er es irgendwie getan hatte. Ihm blieb aber auch keine Gelegenheit mehr, darüber nachzusinnen. 

Drei Dinge folgten so rasch aufeinander, dass es dem Knaben vorkam, als geschähen sie zugleich.

Da war zum einen die Stimme des Mörders.

»Ei, wen haben wir denn da?«

Zum anderen wuchs der Schatten des anderen wie aus dem Boden steigend vor dem Buben auf und fiel finster drohend über ihn!

Und schließlich fuhr der Säbel wie ein stählerner Blitz auf ihn herab. Allenfalls zwei oder drei Fingerbreiten vor seinem Gesicht kam die dunkel verkrustete Spitze zur Ruhe.

Doch schon im nächsten Moment flog die Klinge nach obenhin weg!

So schien es dem Jungen zumindest, als ihm das grob gezimmerte Türblatt gegen den Kopf schlug, weil der Soldat hart dagegen getreten hatte. Der Bub fiel hintenüber, das Gesicht glühend vor Schmerz. Blutrote Nebel verschleierten ihm die Sicht, und zumindest dafür verspürte er etwas wie vage Dankbarkeit. Jede Sekunde, die er den Mörder seiner Eltern nicht ansehen musste, schien ihm in seiner panischen Angst wie ein Geschenk des Barmherzigen.

Angst...?

Sich umständlich auf Hände und Knie hochrappelnd, lauschte der Junge in sich, versuchte zu ergründen, was da im einzelnen in ihm fraß und tobte. Natürlich war Angst das alles beherrschende Gefühl. Aber darunter fand er noch etwas anderes. Etwas, das er sich selbst kaum erklären konnte, und doch war es unleugbar da und unverkennbar.

Zorn. Von nie gekannter Art. Er schien ihm wie das Künden eines nahenden Gewitters – das sich tief in seinem Innersten zusammenbraute. Es brodelte höher, langsam, aber stetig. Und mit jedem Stückchen, das es weiter heraufkochte, schien es an Macht zu gewinnen...

»Hab' ich dich übersehen, du Laus!«

Die geifernde Stimme des Soldaten lenkte den Jungen ab von dem, was von irgendwo jenseits seines hämmernden Herzens hervorkam.

Polternde Schritte ließen den Dielenboden der Schusterwerkstatt dröhnen und erbeben. Das Zittern pflanzte sich durch die Hände und Arme des Jungen fort, doch ehe es seinen ganzen Leib erfasste, fühlte er sich von Neuem herumgewirbelt. Ein schwerer Stiefeltritt erwischte ihn an den Rippen und trieb ihn bis unter die Werkbank des Vaters.

»Ein neues Paar Stiefel käme mir gerade recht«, hörte er den Soldaten brummen. Dumpfe Laute waren ihm Zeichen dafür, dass der andere in den Regalen wühlte, wo der Vater das geflickte oder neu gemachte Schuhwerk aufreihte. Allein das Geräusch und der Gedanke, was es bedeutete, nährten den eigentümlichen Zorn des Knaben weiter, so sehr, dass er Angst und Schmerzen fast übertünchte.

Sehen konnte der Junge nichts. Wieder hatte er sich den Kopf gestoßen, dunkle Nebel wogten scheint's überall um ihn her, rote Schlieren von seinem eigenen Blut mengten sich dazwischen. Als er sich mit der Hand über das schmerzende Gesicht fuhr, wischte er die klebrige Wärme wenigstens zu einem Teil fort, und sein Blick klärte sich ein wenig.

Trotzdem war ihm vor Schwindel, als wäre jedes Stück in der Werkstatt zu eigenem Leben erwacht. Selbst Boden, Decke und Wände bewegten und wölbten sich auf unmögliche Weise. Und der Soldat in der abgerissenen Uniform erschien dem Jungen als unförmige Kreatur, deren Leib sich fortwährend blähte und ihre Gestalt veränderte.

dass der andere jetzt im Durchwühlen der Regale innehielt und sich ihm zuwandte, erkannte er dennoch. Wie in ruckhaften Sprüngen schien er näherzukommen, und mit jedem dieser Sprünge wuchs seine Statur ein ganzes Stück, bis er wie ein Riese vor dem Knaben aufragte. Der zwang einen Abglanz jener seltsamen Wut in seinen Blick – oder wenigstens doch etwas wie Trotz, der seine Furcht kaschierte.

»Für die Wahl neuer Schuhe ist später Zeit«, grollte der schmutzige Hüne, mit einer wegwerfenden Geste zu den Regalreihen weisend. »Erst werd' ich mich um dich... Was glotzt du so blöde, verdammter Lümmel?«

»Dafür, dass'd meine Leut' erschlagen hast, wünscht' ich...«, zischte der Junge, so fest und energisch, dass er vor Schreck nicht weitersprach.

Der Soldat lachte widerwärtig.

»Wünsch dir ruhig was«, sagte er dann. »Vielleicht geht er ja in Erfüllung, dein letzter Wunsch.«

»Der Teufel soll dich holen«, erwiderte der Bub ohne Zittern. »In der tiefsten Höll' soll er dich braten, bis zum Hals rauf soll er dich ins ärgste Fegfeuer stellen! Und brennende Kienspäne soll er dir in die Augen stechen, du elender Mörder!«

»Fromme Wünsche, die du hast, Kleiner«, grollte der Hüne. »Aber in Erfüllung werden's nicht gehen. Eher schon schick' ich jetzt dich zum Leibhaftigen runter.«

Ein mattes Flirren fuhr durch die Luft, als der Soldat den Waffenarm hob.

»Grüß ihn recht schön von mir«, lachte er. »Und sag ihm, dass ich mir noch Zeit lassen werd', eh' ich ihn aufsuch'.«

Der Blick des Knaben hing wie hingeklebt an der Klinge des hochgerissenen Säbels. Nur ganz am Grund seiner weit geöffneten Augen flackerte es wie von vager Angst. Überloht wurde es jedoch von einem ganz eigenen Glanz, hart und dunkel, fast wie von Metall, auf dem sich die Glut des Schmiedefeuers spiegelte.

Die Gedanken des Jungen suchten und fanden eigene Wege und formulierten einen Wunsch, der ihm aus tiefstem Herzen kam.

Der Säbel, mit dem er Mutter und Vater erschlagen hatte, sollte dem Mörder selbst den Tod bringen! Tief hineinfahren sollte er ihm in die Brust und ihm Herz und Seele aufspießen, auf dass der Teufel sie daran braten möge wie eine Sau am Spieß.

Nichts wünschte sich der Knabe mehr.

Und er tat es – mit aller Macht... 

Wie im Reflex kniff er die Augen zu, als die Klinge blitzend niederfuhr!

 

 

Der Junge fragte sich, ob er das feuchte Splittern seines eigenen Schädelknochens noch hören würde, ob er den furchtbaren Schmerz noch spüren würde – oder ob der Tod schneller sein würde als jede Wahrnehmung.

Und es blieb ihm Zeit, um darüber nachzusinnen, viel Zeit – zu viel Zeit! 

Der Säbel hätte ihn zehnmal treffen müssen in all dieser Zeit, in der er mit geschlossenen Augen dasaß und sein Ende erwartete. Längst hätten ihn die Klinge und die mörderische Gewalt, die sie führte, hinstrecken müssen. Oder –

war es schon geschehen? Und, so fragte sich der Junge, hatte er am Ende schon die Antwort auf seine Frage erhalten? War alles viel zu schnell gegangen, als dass er noch Schmerz oder irgendetwas hätte spüren können? 

War so – der Tod? Erkannte man als Sterbender keinen Unterschied zwischen ihm und dem Leben, überwand man die Schwelle zum Jenseits, ohne es zu merken? Nun, ging es dem Knaben durch den Sinn, wenn es so war, dann brauchte kein Mensch den Tod zu fürchten, weil er kaum mehr war als ein bloßer Schritt hinüber in ein anderes Leben. 

Ob es auch ein besseres war, dieses Leben nach dem Tode? Ob er wohl seine Eltern wiedersehen würde, die vor ihm ins Jenseits eingegangen waren? Die Fragen nahmen kein Ende im Kopf des Knaben. Die Antwort würde er nur finden, wenn er die Augen aufschlug.

Just als er es tat, irritierte ihn ein Geräusch – wie von splitterndem Holz.

Und dann sah der Junge –

dass er noch lebte! Und dass sich daran wohl nichts ändern würde – nicht in allernächster Zeit zumindest. 

Denn der Marodeur war mit anderem beschäftigt, als einem kleinen Jungen den Schädel zu spalten.

Wieder und wieder stieß er die Spitze seines Säbels ins Holz des Dielenbodens; Splitter um Splitter brach er damit heraus. Sein Gesicht war wie von Wahn verzerrt, aber hinter dieser Maske fand der Knabe einen tieferen, den wahren Ausdruck in den Zügen des Soldaten: eine fast komisch anmutende Mischung aus ungläubigem Staunen und an Panik grenzender Angst. Als könnte er zum einen nicht begreifen, was er da überhaupt tat oder warum er es tat; und zum anderen, als würde es ihn zutiefst entsetzen. 

Auch der Junge selbst verstand es nicht recht. Im ersten Moment jedenfalls. Dann aber keimte eine Ahnung in ihm, und genährt von dem Wissen, was er vorhin schon »bewirkt« hatte, verdichtete sich diese Ahnung zur Gewissheit.