ADRIAN DOYLE

&

TIMOTHY STAHL

 

 

BLUTVOLK, Band 19:

Die Spur des Tieres

 

 

 

Roman

 

 

 

Apex-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Das Buch 

Die Autoren 

 

Was bisher geschah... 

 

DIE SPUR DES TIERES 

 

Vorschau auf BLUTVOLK, Band 20: DIE VERDAMMNIS  

von ADRIAN DOYLE und TIMOTHY STAHL 

 

Glossar 

 

Das Buch

 

1635. Das Jahr des Tieres.

Das Ende der Welt stand dicht bevor. Dreigestaltig schickte Satan sich an, seine Herrschaft über die Menschen, über eine von Kriegen zerstörte und von der Pest verseuchten Erde zu übernehmen. Die Zusammenkunft seiner drei Inkarnationen sollte die neue, finstere Zeit einläuten.

Doch die Vereinigung... misslang! Dank einer Frau, halb Mensch, halb Vampir, die sich gemeinsam mit dem Geheimbund der Illuminati dem Verderben entgegenstellte: Lilith Eden.

Satan floh, weidwund wie ein verletztes Tier und getrieben von unirdischer Wut. Aber längst noch nicht besiegt! Denn wie soll man das Böse an sich bezwingen?

Seinen Jägern stand der schlimmste Gang noch bevor...

 

BLUTVOLK – die Vampir-Horror-Serie von Adrian Doyle und Timothy Stahl: jetzt exklusiv als E-Books im Apex-Verlag.

Die Autoren

 

 

Manfred Weinland, Jahrgang 1960.

Adrian Doyle ist das Pseudonym des deutschen Schriftstellers, Übersetzers und Lektors Manfred Weinland.

Weinland veröffentlichte seit 1977 rund 300 Titel in den Genres Horror, Science Fiction, Fantasy, Krimi und anderen. Seine diesbezügliche Laufbahn begann er bereits im Alter von 14 Jahren mit Veröffentlichungen in diversen Fanzines. Seine erste semi-professionelle Veröffentlichung war eine SF-Story in der von Perry-Rhodan-Autor William Voltz herausgegebenen Anthologie Das zweite Ich.

Über die Roman-Agentur Grasmück fing er Ende der 1970er Jahre an, bei verschiedenen Heftroman-Reihen und -Serien der Verlage Zauberkreis, Bastei und Pabel-Moewig mitzuwirken. Neben Romanen für Perry-Rhodan-Taschenbuch und Jerry Cotton schrieb er u. a. für Gespenster-Krimi, Damona King, Vampir-Horror-Roman, Dämonen-Land, Dino-Land, Mitternachts-Roman, Irrlicht, Professor Zamorra, Maddrax, Mission Mars und 2012.

Für den Bastei-Verlag hat er außerdem zwei umfangreiche Serien entwickelt, diese als Exposé-Autor betreut und über weite Strecken auch allein verfasst: Bad Earth und Vampira.

Weinland arbeitet außerdem als Übersetzer und Lektor, u. a. für diverse deutschsprachige Romane zu Star Wars sowie für Roman-Adaptionen von Computerspielen.

Aktuell schreibt er – neben Maddrax – auch an der bei Bastei-Lübbe erscheinenden Serie Professor Zamorra mit.

 

 

 

Timothy Stahl, Jahrgang 1964.

Timothy Stahl ist ein deutschsprachiger Schriftsteller und Übersetzer. Geboren in den USA, wuchs er in Deutschland auf, wo er hauptberuflich als Redakteur für Tageszeitungen sowie als Chefredakteur eines Wochenmagazins und einer Szene-Zeitschrift für junge Leser tätig war.

In den 1980ern erfolgten seine ersten Veröffentlichungen im semi-professionellen Bereich, thematisch alle im fantastischen Genre angesiedelt, das es ihm bis heute sehr angetan hat. 1990 erschien seine erste professionelle – sprich: bezahlte - Arbeit in der Reihe Gaslicht. Es folgten in den weiteren Jahren viele Romane für Heftserien und -reihen, darunter Jerry Cotton, Trucker-King, Mitternachts-Roman, Perry Rhodan, Maddrax, Horror-Factory, Jack Slade, Cotton Reloaded, Professor Zamorra, John Sinclair u. a.

Besonders gern blickt er zurück auf die Mitarbeit an der legendären Serie Vampira, die später im Hardcover-Format unter dem Titel Das Volk der Nacht fortgesetzt wurde, und seine eigene sechsbändige Mystery-Serie Wölfe, mit der er 2003 zu den Gewinnern im crossmedialen Autorenwettbewerb des Bastei-Verlags gehörte.

In die Vereinigten Staaten kehrte er 1999 zurück, seitdem ist das Schreiben von Spannungsromanen sein Hauptberuf; außerdem ist er in vielen Bereichen ein gefragter Übersetzer. Mit seiner Frau und seinen beiden Söhnen lebt er in Las Vegas, Nevada.

  Was bisher geschah...

 

 

Das Geschlecht der Vampire steht vor seinem Untergang, als sich Lilith, Urmutter aller Blutsauger, mit Gott versöhnt. Er »impft« den Lilienkelch, mit dem allein neue Vampire aus Menschenkindern entstehen können, mit einer Seuche, die alle Sippenoberhäupter rund um den Globus infiziert. Landru, Kelchhüter und einer der ältesten Vampire, setzt unwissentlich die Seuche frei. Sie wird von den Oberhäupter auf ihre Sippen übertragen. Die infizierten Vampire – bis auf die Anführer selbst – werden von einem unbändigen Durst nach Blut befallen und altern rapide. Lilith Eden, Tochter einer Vampirin und eines Menschen, erhält von Gott den Auftrag, die letzten überlebenden Vampire zu vernichten.

Aber auch das Böse reagiert. In einem Kloster in Maine, USA, gebiert die junge Nonne Mariah ein Kind, das den todgeweihten Vampiren alle Kraft und Erfahrung raubt und dabei rasch zum Knaben heranwächst.

Sowohl die Seuche als auch die Geburt des Knaben namens Gabriel erschüttern das Weltgefüge auf einer spirituellen Ebene. Para-sensible Menschen träumen von unerklärlichen Dingen und möglichen Zukünften. Die »Illuminati«, ein Geheimbund in Diensten des Vatikans, rekrutiert diese Träumer.

Als das Kind die Kraft in Lilith erkennt, bringt es sie in seine Gewalt und seine Träume. Doch Raphael Baldacci, ein Gesandter von Illuminati, rettet sie, indem er sein Leben für sie opfert. Baldacci ist der Sohn Salvats, der Illuminati vorsteht. Die Ziele des Ordens sind eng an ein Tor in einem unzugänglichen Kloster nahe Rom gebunden. Gabriel wird auf das Tor aufmerksam. Er erkundet die Lage und ruft gleichzeitig Landru herbei, dessen Kraft er sich einverleiben will, bevor er das Tor öffnet.

Im Kloster befinden sich die Para-Träumer. Von ihnen erfährt Salvat vom Sterben der Vampire, von der Geburt des Kindes – und dass das Tor bald geöffnet wird! Auch Lilith Eden kommt in den Träumen vor, was sie zum Kloster hinführt. Dort ist mittlerweile auch Landru angelangt, der in dem Knaben den Messias der Vampire sieht, von ihm aber getäuscht und seiner Kräfte beraubt wird. Mit der Magie des Vampirs betritt das Kind das Kloster und öffnet das Tor. Doch Salvat ist gerüstet und kann es wieder schließen. Für zwei Personen allerdings zu spät: Landru und Lilith werden durch das Tor gesogen.

Eine ähnliche Erfahrung machte auch der Geist von Beth McKinsey, die von Lilith im Korridor der Zeit unter dem Einfluss des Lilienkelchs getötet wurde. Als Gott den Fluch von der Ur-Lilith nahm, »erwachte« Beth und wurde auf ein fernes Licht zugezogen – als plötzlich alle Türen aufsprangen und ihr Geistkörper in eine davon gesogen wurde. Ohne Erinnerung an ihr früheres Leben erwacht Beth im Jahre 1618 vor den Toren Prags. Um ihre Körperlichkeit wiederzugewinnen, raubt sie die Lebensenergie der Menschen, wird alsbald als Hexe verhaftet und eingekerkert. Ein Inquisitor soll mehr über sie in Erfahrung bringen. Doch nicht Beth ist das wahre Böse in Prag. Satan streckt seine Klauen nach dem Land aus. Mit Ränke verleitet er die Menschen zum »Prager Fenstersturz«, der zum Auslöser für den Dreißigjährigen Krieg wird. In den Wirren der Geschehnisse befreit Justus, der Eleve des Inquisitors, die junge Frau, die eine seltsame Macht auf ihn ausübt. Zum »Dank« saugt sie auch ihm das Leben aus...

Jenseits des Tores im Monte Cargano erwarten Lilith und Landru ihre ganz persönlichen Alpträume; eine Welt, in der ihre schlimmsten Ängste Gestalt annehmen. Trotzdem gibt es eine Gemeinsamkeit: eine »Oase« der Normalität, die einen Übergang in die Vergangenheit der Erde ermöglicht; nicht körperlich, nur geistig! Lilith folgt Landru durch diesen Schlund der Zeiten – und wird im Bayreuther Fürstentum des Jahres 1635 im Körper der jungen Zigeunerin Kathalena wiedergeboren.

Auch Landru findet sich in einem fremden Körper – dem des Vampirs Racoon – wieder, in derselben Zeit, aber vor den Toren von Paris. Dort wird er Zeuge, wie eine fremde, unendlich verderbliche Macht, die in Paris weilt, die dortige Vampirsippe abschlachtet. Er trifft auf eine Wanderschau von Freaks, der sich eine Frau angeschlossen hat, die Landru aus der Zukunft kennt. Zuletzt sah er sie dort als Tote mit gebrochenem Genick im Korridor der Zeit in Uruk: Beth MacKinsey!

Doch Beth hat jede Erinnerung an ihr früheres Leben verloren. Landru hilft ihr dabei, sie wiederzuerlangen; schon im eigenen Interesse. Vielleicht gelingt es ihnen gemeinsam, den Weg in die Gegenwart zurückzufinden. Doch Beth ist auf der Suche nach dem leibhaftigen Satan, den sie in Paris vermutet und der ihr das Kind geraubt hat! Seine Spur weist nach Heidelberg. Dort bereitet eine »Loge der Nacht« – Menschen, die in den Kriegswirren einen Pakt mit Satan schlossen – seine Ankunft vor. Allerdings werden drei Manifestationen erwartet, die sich hier zu einer einzigen vereinen sollen.

In Regensburg stößt Lilith in Lenas Körper auf eine Bruderschaft, die sie bereits aus der Gegenwart kennt: die Illuminati – und deren Anführer Salvat, der ebenfalls in dieser Zeit weilt! Warum, kann Lilith noch nicht ergründen. Sie schließt sich den Mönchen an, als diese nach Heidelberg ziehen. Dort also werden ihre Wege sich treffen: von Beth McKinsey und deren Sohn, Lilith und Salvat – und der drei Manifestationen Satans, der hier zu neuer Macht gelangen will. Allein Landru erlebt das Zusammentreffen nicht mehr. Als Beth auf den Vater ihres Kindes trifft, tötet dieser den mächtigen Vampir fast beiläufig...

DIE SPUR DES TIERES

 

 

 

  Heidelberg im Herbst des Jahres 1635

 

Über den Häusern rund um die Heiliggeistkirche lastete die Nacht in ganz eigener Weise: Sie schluckte nicht nur alles Licht, sondern fraß schier jeden Laut und selbst jede Regung. Zu einem Ort vollkommener Stille war das Viertel verkommen.

Männer, seit dreizehn Jahren zu einer unseligen Loge verschworen, hatten diese Stille gesät.

Wie tot lag alles da. Denn die Schläfer in den Häusern hatten ihr Atmen in den Kokons der Spinnen eingestellt. Kein Bürgerherz schlug mehr dort, wo die Saat aufgegangen war.

Alles wartete. Auf drei, die eins werden sollten in dieser barbarischen Nacht...

 

Der Schlaf

ist das Bild des Todes

Cicero

 

Scheintotartige Stille und Starre beherrschte das ganze östliche Viertel der Stadt – nicht nur die Häuser, die im täglichen Himmelslauf der Sonne vom kalten Schatten der Heiliggeistkirche berührt wurden.

Unter dem Dach des Apothekers Gmelin regte sich schon seit Tagen und Nächten nicht mehr auch nur das Geringste; nicht einmal der leiseste Atemzug rührte die von verdorbenen Dämpfen zähe Luft.

Bis zur heutigen Nacht.

Bis – jetzt! 

Ein Sturmwind, eisig und mit widernatürlicher Gewalt vom nahen Gotteshaus her fauchend, drang in das Haus, nicht durch Ritzen im Mauerwerk, sondern durch Stein und Holz selbst. Er währte nur für die Dauer eines Lidschlags, und umgehend hielt Grabesstille wieder Einzug.

Aber jene, die es anging, hatten das Signal vernommen – und reagierten.

Ruhe und Reglosigkeit hielten noch Sekunden an.

Dann hob ein Geräusch wie heimliches Wispern an. Vereinzelt erst, allmählich lauter werdend, ohne indes wirklich laut zu sein; hätte ein Mensch geatmet oder sich auch nur bewegt, selbst ohne etwas zu berühren, die Geräusche wären nicht mehr zu vernehmen gewesen. 

So aber erfüllte seidiges Rascheln die Schlafstube, worin der Apotheker und sein Eheweib nebst ihrer Tochter seit Nächten so tief und ungerührt schliefen, dass es beinahe schon dem Tode gleichkam.

Die Bewegung, die das Rascheln verursachte, entstand unter grauweißem, wie festgebackenen Gespinst. Menschengroße Kokons, drei an der Zahl, die tage- und nächtelang reglos dagelegen hatten, rührten sich mit einem Mal. Nicht so, dass es einem flüchtigen Blick aufgefallen wäre; aber nachdem alles lange wie unter einem lähmenden Bann erstarrt gewesen war, geriet selbst solch geringe Bewegung zur Sinnfälligkeit.

Fahle Dinge, kleiner als eine Kinderfaust, krochen unter den Hüllen aus Abertausenden miteinander verwobener Spinnfäden einher, allesamt den Kopfenden der Kokons zu. Dort angelangt, wuchs das Krabbeln sich zu einem Wimmeln und schließlich zu brodelnder Bewegung aus, die das Gespinst zu sprengen drohte – und es schließlich auch tat.

Dürre Glieder sprossen von innen durch die seidigen Häute, weiteten die kleinen Löcher zu Rissen. Sie drückten und zerrten an den klebrigen Fetzen, bis die Gesichter darunter endlich freilagen.

Die Gesichter des Apothekers Gmelin, seines Weibes und seiner Tochter Kristine.

Gesichter, die selbst jetzt noch schreckensstarr waren. Als wären die Hirne jenseits der geronnenen Grimassen Stund' um Stund' heimgesucht und gepeinigt worden von Alpträumen, die in der tiefsten Hölle ihren Ursprung hatten.

Spinnenbeine stakten über die gefrorenen Züge der drei Menschen und brachten die Illusion zuckender Bewegung hinein. Die Tiere, ein halbes Dutzend auf jedem Gesicht, richteten sich in Positur und spulten unter Zuhilfenahme des hinteren Gliederpaars borstendicke Fäden aus ihren Spinnwarzen. Dann verankerten sie die Enden dieser Fäden –

jenseits der Lippen der Schlafenden. 

unter deren Augendeckeln. 

und tief in den Nasenlöchern. 

Anschließend krochen die Spinnen von den Kokons, hinaus aus der Stube, die Treppe hinab und endlich ganz und gar aus dem Haus des Apothekers, die Fäden stetig abspulend.

Draußen auf der Straße schlossen sie sich anderen ihrer Art an, die nach gleichem Werk aus weiteren Häusern der Umgegend gekrabbelt waren. Einer Flut kleiner Chitinpanzer gleich wälzten sie sich dahin, in so großer Zahl, dass die Geräusche ihrer dürren Beine auf dem Pflaster als unruhiges Ticken die Nacht über diesem Teil der Stadt erfüllte. Doch gab es in den Häusern ringsum niemanden mehr, der es noch zu hören vermocht hätte.

Spinnfäden zogen sich durchs Dunkel wie haarfeine Risse, hinter denen silbriges Licht glitzerte. Denn jeder einzelne Faden glomm, als fließe etwas in ihm. Etwas Lebendiges. Oder Leben selbst...

Und sie alle verliefen schnurgerade, im Schlepp des Spinnenheeres, auf die Heiliggeistkirche zu.

 

 

Die Kirche war nicht mehr dem geweiht, dem zu Ehren sie einst erbaut worden war. Alles von christlicher Symbolik war dem Blick entzogen. Riesige Tücher, löchrig wie von Motten zerfressen, verhüllten sämtliche Insignien, Kreuze, Heiligenbilder und selbst den Altar, in dessen Schatten Lilith Eden am Boden kauerte, unfähig etwas anderes zu tun, als nur zu starren, stumm vor – Entsetzen...?

Auch; aber es war nicht allein Entsetzen, das die Eiseskälte in ihren Gliedern und ihrem Geist nährte und ihr Tun und Denken lähmte. Zumindest zum gleichen Teil rührte der Frost, der alles unter ihrer Haut ummantelte, von einem nie zuvor erfahrenen Gefühl her, das eine schaurige Abart von – Wiedersehensfreude sein musste. 

»Das kann nicht sein...«, kam es beinahe tonlos über Liliths Lippen, »... es ist... unmöglich...«

Und es DARF nicht sein!, brüllte ein Gedanke in ihr, stumm und doch so laut, dass es schmerzte. 

Aber der Schmerz hatte noch andere Quellen, aus denen er hundertfach stärker floss und die in jeder Sekunde, die Lilith den Blick nicht abwenden konnte von dieser »Unmöglichkeit«, neu gespeist wurden. Als sollte der Schmerz daraus nicht mehr versiegen.

Vielleicht würde er nie versiegen. 

Denn Lilith hatte nie wirklich verwunden, was sie ihr angetan hatte. 

Ihr – Beth MacKinsey. 

Beth, von Kollegen, Freunden und auch Feinden oft »Macbeth« genannt, war Reporterin des Sydney Morning Herald gewesen, als Lilith sie damals (in der Zukunft) kennengelernt hatte. Schließlich waren sie zum vielleicht seltsamsten Liebespaar der Gegenwart geworden – allein deshalb schon, weil eine amouröse Beziehung zwischen einem Menschen und einem Vampir zu jeder Zeit etwas höchst Seltenes gewesen war. 

Freud und Leid hatten sie in der Folge geteilt.

Mehr Leid denn Freud, wie Lilith im Nachhinein bitter bekennen musste. 

Das Leid hatte zuletzt im Tod Beth MacKinseys gegipfelt.

Und Lilith Eden selbst hatte die Liebes- und Lebensgefährtin getötet!

Obwohl es geschehen war, als Lilith nach dem Trunk aus dem Lilienkelch alles Menschliche eingebüßt hatte und nicht mehr sie selbst gewesen war, hatte sie sich die Untat nie verzeihen können. Nie hatte sie Beth' Anblick vergessen, wie sie mit gebrochenem Hals im Korridor der Zeit bei Uruk gelegen hatte. Wohl hatte Lilith das vielleicht furchtbarste Bild ihres Lebens bisweilen verdrängen können, aber immer wieder war es in ihr aufgestiegen, wie ausgespien vom Unterbewusstsein, als wollte selbst dieser Teil ihres Seins sich nicht mit solcher Schuld besudeln.

Wie froh hätte Lilith nun sein müssen – jetzt...

... da Beth MacKinsey vor ihr stand!

Lebend und unversehrt!

Wenn auch – verändert... Transparent schien ihre Haut, fast gläsern, und etwas Unbeschreibliches umwehte sie, nicht zu sehen, aber spürbar – spürbar gefräßig, gierig...

Nein, Lilith empfand keine wirkliche Freude ob dieser ungeheuerlichen Begegnung mit Beth. Wenn auch nur ein Funke davon in ihr war, so erstickte er im Chaos all jener Emotionen und Fragen, die in Lilith wirbelten wie von einem Orkan erfasst.

Wie kam es, dass Beth lebte? Wie konnte sie hier leben – in dieser längst vergangenen Zeit, in die es Lilith verschlagen hatte? Wie war sie in diese Kirche zu Heidelberg gelangt? Wer waren die drei unheimlichen Fremden, in deren Gesellschaft Beth aufgetaucht war – wie von einem jenseitigen Sturm hergetragen und aus dem Nichts hier hingespien? 

Lilith fand nicht auf eine einzige der Fragen, die sich in dieser Aufzählung noch lange nicht erschöpften, die Antwort. Dafür allerdings entdeckte sie tief in sich nun doch einen vagen Hauch von Freude – oder wenigstens Dankbarkeit. Zum allerersten Mal empfand sie es nämlich nicht als Fluch, in einen fremden Leib hineingeboren worden zu sein, nachdem sie der Hölle entkommen und in die Vergangenheit geraten war. Denn in dieser Larve – im Körper des Mädchens Lena, deren Ich Lilith verdrängt hatte – durfte sie sich sicher fühlen. Beth konnte nicht erkennen, auf wen sie da tatsächlich getroffen war. 

Und zumindest darüber war Lilith froh. Denn sie war nicht erpicht darauf zu erfahren, wie eine Tote reagierte, die unversehens wieder ihrer Mörderin gegenüberstand – und womöglich Gelegenheit erhielt, den eigenen Tod zu rächen...

Aber so sehr Lilith sich von all diesen Fragen und Gefühlen auch erschlagen fühlte, fand sie doch kaum Zeit, sich damit zu befassen oder auch nur halbwegs Ordnung in das Durcheinander zu bringen.

Denn die Dinge begannen sich bereits von Neuem zu überschlagen.

Wieder fing es mit einer Frage an, die augenblicklich weitere nach sich zog.

Wie ging es an, dass Beth MacKinsey, aus Überzeugung der gleichgeschlechtlichen Liebe zugetan –

einen Sohn haben konnte? 

Und wie um alles in der Welt konnte sie, die doch noch keine dreißig Jahre zählte, die Mutter eines –

alten, siechenden Mannes sein...? 

 

 

»Seid gegrüßt – Mutter.«

Zäh sickerten die Worte des gebrechlichen Alten in Lydias Bewusstsein.

Lydia...

Noch immer hatte sie sich nicht gänzlich von diesem Namen lösen können. Jahrelang hatte sie ihn geführt, wohl wissend, dass es nicht ihr wirklicher war. Erst seit kurzem – kurz im Vergleich zu den langen Jahren, die sie nun schon diese andere Existenz führte und lebte – wusste sie, wer sie tatsächlich war, woher sie kam und wie es zu diesem zweiten Leben (wenn es denn ein Leben war mit all den Dingen, die es zur Hölle machten)  hatte kommen können. 

Das Wissen um ihr früheres Leben half Beth MacKinsey jedoch nicht im Mindesten, dieses andere Leben wieder zu führen, oder auch nur wieder zu jener Beth MacKinsey zu werden, die sie einst gewesen war – oder einst sein würde, in der Zukunft, weit über 300 Jahre entfernt... 

In diesem Leben hier musste sie für immer ein Ungeheuer bleiben, vor dem alle die Flucht ergreifen würden, wenn sie nur wüssten, wer ihnen da gegenüberstand – oder wozu diese »Frau ohne Haut« imstande war. Dieser Fluch würde für alle Zeit währen, im wörtlichsten Sinn. Denn Beth' Zeit würde nie enden. Sie hatte Zeit wahrhaft im Überfluss, konnte aus aller Zeit der Welt schöpfen – nein, musste sie sich nehmen, weil sie dazu verdammt war, es zu tun.