Lauren Wilkinson

American Spy

Thriller

Aus dem Amerikanischen von
Jenny Merling, Antje Althans,
Anne Emmert und Katrin Harlass

Tropen

Impressum

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Speicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

 

 

Tropen

www.tropen.de

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel
»American Spy« im Verlag Random House, New York

© 2018 by Lauren Wilkinson

All rights reserved.

Für die deutsche Ausgabe

© 2020 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung

Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Cover: Zero-Media.net, München

unter Verwendung der Daten des Originalverlags

© Caroline Teagle Johnson, basierend auf einem Bild von
© Hayden Verry/plainpicture
Datenkonvertierung: Dörlemann Satz, Lemförde

Printausgabe: ISBN 978-3-608-50464-4

E-Book: ISBN 978-3-608-11637-3

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Für meine Mutter Linda Perry

Mein Sohn, wenn ich gestorben bin, möchte ich, dass du den guten Kampf weiterführst. Ich hab’s dir nie gesagt, aber unser Leben ist ein Krieg, und seit ich in der Periode der Rekonstruktion mein Gewehr zurückgegeben hab, war ich mein Lebtag ein Verräter, ein Spion in Feindesland. Lebe mit dem Kopf im Rachen des Löwen. Ich will, dass du sie mit Jasagen überwältigst, dass du sie mit Grinsen untergräbst, dass du ihnen recht gibst auf Tod und Verderben, dass du dich von ihnen verschlingen lässt, bis sie speien oder bersten.

RALPH ELLISON, Der unsichtbare Mann

Teil Eins

1

Connecticut, 1992

Ich öffnete den Safe unter meinem Schreibtisch, schnappte mir meine alte Dienstwaffe und schlich lautlos und elegant zur Schlafzimmertür – bis ich auf einen Legostein trat und den Rest des Weges humpeln musste. Vor der Tür ging ich in die Hocke.

Es vergingen ein paar Sekunden, gerade so viele, dass ich mir schon fast wieder lächerlich vorkam. Es war bestimmt nur der Wind gewesen. So war es am Ende doch immer.

In dem dunklen Zimmer herrschte Stille, der einzige Lichtschimmer war der Mondschein. Unser Schäferhundmischling Poochini war bei euch mit im Zimmer. Er schlug an, ein einzelnes Bellen, eine Warnung. Ich hörte Reifen auf Asphalt, ein Auto fuhr auf der Boston Post Road vorbei, die direkt auf der anderen Seite des kleinen Wäldchens hinter unserem Haus verlief. Dann war es wieder still.

Ich hatte an diesem Abend lange an einer Übersetzung gesessen, es war nach zwei, als ich endlich ins Bett kam. Ich konnte nicht einschlafen, und wie ich so dalag und an die Decke starrte, meinte ich, auf dem Gang eine Diele knarren zu hören. Ich war ohne nachzudenken aufgesprungen und hatte meine Waffe geholt.

Euer Zimmer war gegenüber von meinem. Ich stellte mir vor, wie ihr friedlich in euren Betten lagt, und sagte mir, dass ich übertrieb. Wir waren doch hier sicher.

Und dann stand auf einmal der Mann bei mir im Schlafzimmer und ich sah mit klopfendem Herzen zu, wie er auf mein Bett zuging. Ich sprang ihn von hinten an und riss ihn zu Boden. Seine Pistole knallte auf die Dielen und rutschte ins Dunkel. Er versuchte wieder aufzustehen, aber ich setzte mich auf ihn und hielt ihn fest. Sein schlanker, muskulöser Körper bäumte sich unter mir auf. Er schubste mich von sich herunter, sodass ich mit dem Rücken gegen den Nachtschrank prallte und die kleine Lampe darauf zu Boden fiel. Meine Pistole war jetzt auch verschwunden. Ich versuchte aufzustehen, aber er packte mich an den Haaren und zerrte mich wieder runter.

Er setzte sich mir auf den Brustkorb und tastete nach meinem Hals. Dabei griff er mir aus Versehen in den Mund und ich biss zu, so hart ich konnte. Er stieß einen Fluch aus, das erste Wort, das überhaupt zwischen uns fiel. Ich kratzte ihn blindlings im Gesicht, an den Armen, wo ich nur konnte, und versuchte unter ihm hervorzukriechen. Er griff wieder nach meinem Hals und drückte zu. Ich tastete hinter mir den Boden ab, in der Hoffnung, die Nachttischlampe zu erwischen, stattdessen hatte ich plötzlich eine fremde 9mm in der Hand. Ich hielt sie dem Mann an die Schläfe und drückte ab.

Der Schuss hallte laut durch das stille Haus. Der Mann sackte in sich zusammen, sein Gewicht presste mich auf die Dielen und drückte mir die Luft ab. Ich hörte, wie Poochini ins Zimmer gerannt kam, und dann eure Schritte im Flur. Ich schob den Toten unter Aufbietung aller Kräfte von mir herunter, schaltete das Licht an und schloss die Tür ab, damit ihr nicht reinkommen konntet. Ich sah auf die Leiche hinunter. Mein Atem ging schwer.

»Maman?«, rief einer von euch aus dem Flur.

»Ich komm gleich«, brachte ich mühsam heraus. Ich musste husten. Meine Stimme war ganz rau und brüchig von dem festen Griff des Mannes um meinen Hals, und meine Sinne waren adrenalingeschärft. Ich hatte das Gefühl, besser sehen zu können als je zuvor und auch besser riechen zu können, der beißende Geruch von seinem Blut und seinem Schweiß nahm mir fast den Atem. Ich betrachtete sein Gesicht. Viel war nicht mehr davon übrig, aber ich war mir trotzdem recht sicher, dass ich ihn nicht kannte.

Poochini sah mir zu, wie ich die Taschen des Toten nach einem Ausweis durchsuchte. Ich fand nichts, aber das war egal. Ich wusste auch so, wer ihn auf mich angesetzt hatte.

»Bin gleich bei euch«, rief ich euch beiden zu, während ich nach meiner Pistole suchte. Ich fand sie, verstaute sie wieder im Safe und nahm die des Mannes an mich. Als ich auf den Flur ging, trottete Poochini mir hinterher und hinterließ überall blutige Pfotenabdrücke. Ich zog die Tür hinter mir zu.

William, du hast in das grelle Licht geblinzelt. Tommy, du hast durch einen Türspalt aus eurem Zimmer geschaut, halb verdeckt vom Türrahmen. Ich bemerkte, dass das Telefon schon eine ganze Weile klingelte.

»Blut«, hast du, William, gesagt und auf mein Gesicht gezeigt.

»Ist nicht schlimm«, beruhigte ich dich, »tut nicht weh.«

Ich lief den Flur hinunter, durch das Wohnzimmer zur Haustür, und trat hinaus. Ich spähte in die Dunkelheit, sah aber niemanden, auch keinen unbekannten Wagen. Dann ging ich wieder hinein.

Ihr wart mir hinterhergekommen. Tommy, du hast geweint. Ich wollte dich auf den Arm nehmen, aber meine Sachen waren ja voller Blut.

»Ist doch alles in Ordnung«, versuchte ich weiter, euch zu beruhigen, während ich gefolgt von Poochini eine Runde durchs Wohnzimmer drehte. Wie war der Mann bloß hier reingekommen?

Ich ging ins Bad und sah, dass er hier durchs Fenster eingestiegen war. Ich betrachtete erst die Scherben, dann mich selbst im Spiegel am Medizinschränkchen. Ich hatte Blut im Gesicht, am Hals und am T-Shirt.

Der Mann hatte mich so stark gewürgt, dass mir mehrere Blutgefäße in den Wangen geplatzt waren. Ich drehte den Wasserhahn auf. Während ich mir das Gesicht wusch, klingelte erneut das Telefon. Ohne darüber nachzudenken nahm ich im Wohnzimmer ab. Meine Nachbarin Irena war dran. Sie wohnte direkt nebenan, nah genug, um den Schuss zu hören.

»Marie! Endlich! Gott sei Dank geht’s dir gut.«

Vor lauter Panik war ihr polnischer Akzent besonders stark. Irena war etwa so alt wie meine Mutter. Ich ging manchmal auf einen Kaffee zu ihr rüber, dann saßen wir am Küchentisch und tratschten. Wir hatten beide Geheimnisse, waren beide Außenseiterinnen, und das verband uns.

Wir waren beide eher verschwiegen, was unser früheres Leben anging, aber schon nach den wenigen Malen, als Irena doch ihre Vergangenheit erwähnt hatte, war klar geworden: Sie hatte einiges durchgemacht. Es gab sicher nicht viele Rentnerinnen in dieser verschlafenen kleinen Stadt, die mitten in der Nacht einen Pistolenschuss so zweifelsfrei erkennen würden.

Ich sagte ihr, es sei alles in Ordnung, legte jedoch abrupt auf, als ich Sirenen hörte. Irena hatte anscheinend die Polizei gerufen. Ich scheuchte euch zwei zurück ins Kinderzimmer, ihr solltet dort mit Poochini warten.

Es klingelte an der Tür. »Marie Mitchell?«, rief ein Polizist laut, klopfte einmal und trat dann die Tür ein. Ich konnte gerade noch eure Zimmertür zuziehen, da hörte ich schon Stiefelpaare durchs Wohnzimmer trampeln. Drei Polizisten verstellten mir den Weg. Alle drei hatten ihre Waffe gezogen. Ich hielt ebenfalls noch immer die Pistole in meiner Rechten und hob die Hände.

Der eine kam auf mich zu. »Die Waffe runter!«, bellte er. »Sofort!«

Ich legte die Pistole auf den Boden. »Sir, meine Söhne sind im Haus.«

Ihr habt beide vor Angst geschrien.

»Irgendwelche weiteren Waffen?«, fragte er.

»Hinter der Tür da. Sie sind noch ganz klein, erst vier. Bitte …«

»Mund halten! Beantworten Sie nur die Frage! Haben Sie irgendwelche weiteren Waffen an sich?«

»Nein, Sir.«

Der Polizist drückte mich schmerzhaft gegen die Wand und durchsuchte mich mit groben Handgriffen, aber ich wehrte mich nicht. Er war doppelt so breit wie ich, doch wenn er mich erschossen hätte, würde trotzdem hinterher im Bericht stehen, er habe aus Notwehr gehandelt. Also gab ich mich passiv und folgsam.

»Was ist hier überhaupt passiert?«

Ich sagte so ruhig wie möglich: »Da stand plötzlich ein Mann bei mir im Zimmer, Sir. Er wollte mich umbringen. Ich wohne hier.«

»Wer ist dieser Mann?«

»Keine Ahnung, wie er heißt, Sir, aber er ist auf jeden Fall tot. Mein Vater ist Polizist«, fügte ich hinzu. »Seine Polizeimarke ist in meiner Handtasche, kann ich Ihnen zeigen.« Ich hatte immer eine Kopie davon in dem kleinen Etui mit Führerschein und Fahrzeugpapieren dabei. Wenn ich jemals von der Polizei angehalten werden sollte, könnte ich die Marke unauffällig aufblitzen lassen.

Der Polizist sah seine Kollegen an. »Sie ist sauber.«

Sie verstauten ihre Pistolen wieder im Halfter. Ich fragte, ob ich die Marke holen sollte. Polizist Nummer eins schüttelte den Kopf. Langsam entspannten sich die drei.

»Wo ist die Leiche? Hier drin?« Er hatte die Hand auf der Klinke der Schlafzimmertür. Ich nickte hastig. Er ging hinein.

»Kann ich kurz zu meinen Söhnen?«, fragte ich die zwei anderen. Einer nickte.

Du, Tommy, hast dich sofort an mich geschmiegt. »Maman, ich hab Angst!«

»Ich weiß.« Mir war das Blut jetzt egal, ich hockte mich hin und umarmte euch beide. Ich hielt euch lange fest und gab euch einen Kuss. Dann packte ich schnell ein paar Sachen in einen Rucksack und schob euch und den Hund raus auf den Flur. Beim Anblick der Polizisten seid ihr zusammengezuckt. Tommy, dich musste ich sogar auf den Arm nehmen, weil du wie erstarrt warst.

»Aber gleich wiederkommen, ja?«, rief mir einer der Polizisten beim Rausgehen hinterher.

Irena öffnete mir die Tür und zog mich trotz meiner blutigen Kleidung erst einmal fest an sich. Sie war die Einzige hier in der Straße, die ich wirklich mochte.

»Ich muss ins Krankenhaus.«

Ich muss benommen geklungen haben, denn sie drückte mich noch einmal und sagte: »Die beiden können hierbleiben, solange du willst.«

Bevor ich ging, sah ich mich noch schnell bei Irena um, prüfte alle Zimmer auf Einbruchmöglichkeiten hin. Alle, auch Poochini, folgten mir dabei schweigend. Ihr wart dort weniger sicher, als ich es mir gewünscht hätte, aber ich hatte in dem Moment keine andere Wahl.

Als euch beiden klarwurde, dass ich gehen würde, fingt ihr an zu weinen. Ich löste so sanft wie möglich meine Waden aus der Umklammerung eurer kleinen Hände, was schmerzhafter war als die Verletzungen, die mir der Mann zugefügt hatte, und versprach, so schnell wie möglich zurückzukommen. Das meinte ich absolut ernst.

Mittlerweile waren zwei Rettungssanitäter bei uns zu Hause angekommen. Der eine untersuchte mich kurz und bestätigte mir dann, was ich schon wusste: Meine Lippe musste genäht werden. Ich sagte, dass ich nachher selbst ins Krankenhaus fahren würde, sobald die Polizisten mich vernommen hatten. Das mussten sie, das war mir klar.

Der, vor dem ich am meisten Angst hatte, tat auf einmal wahnsinnig freundlich. Seine Falschheit machte mich wütend. Er fragte, ob ich irgendetwas bräuchte. Das war natürlich nur eine Masche, er wollte austesten, ob ich seine Fragen beantworten würde.

»Fragen Sie einfach, was Sie wissen wollen«, sagte ich.

»Okay, mal ganz von vorne. Was ist hier eigentlich passiert?«

»Ich hab geschlafen. So gegen drei hab ich dann ein Geräusch auf dem Flur gehört und …«

»Sie haben geschlafen?«

»Ja, ich war gerade dabei einzuschlafen, als ich das Geräusch hörte.«

»Aha.« Der Polizist musterte mich prüfend.

Ich wurde rot. Klang ich in meinem Bemühen, so wahrheitsgetreu wie möglich zu antworten, vielleicht gerade, als würde ich lügen? Euer Großvater war Berufspolizist, was mir eine gewisse Angst vor Autoritäten eingebläut hat, die mir selbst meine Jahre als FBI-Agentin nicht austreiben konnten.

Die Vernehmung ging weiter. Zwei Gerichtsmediziner kamen dazu. Ich wartete, bis wieder alle weg waren, und fuhr dann wegen meiner Lippe ins Krankenhaus. Als ich endlich wieder zu Hause war, wurde es schon hell. Ich ging zu Irena. Ihr wart unter einem Haufen Decken auf der Ausziehcouch begraben. Tommy, dich übersieht man leicht, wenn du schläfst. Dein Bruder streckt sich im Schlaf aus wie ein kleiner Krake. Aber du rollst dich immer zu einer kompakten Kugel zusammen.

Poochini kam angelaufen. Ich kraulte ihm die Ohren. »War alles okay?«, fragte ich Irena im Flüsterton.

Sie schüttelte den Kopf. »Die zwei konnten ewig nicht einschlafen.«

Ich hob vorsichtig einen Deckenzipfel hoch. Ich wollte euch nicht wecken, aber ich musste euch einfach einen Kuss geben. Ihr habt beide weitergeschlafen. Ich wünschte Irena eine gute Nacht, als sie das Zimmer verließ. Dann setzte ich mich auf die Sofalehne und sah euch beim Schlafen zu. Ich selbst war viel zu aufgekratzt von dem ganzen Adrenalin, um auch nur ein Auge zuzumachen.

Martinique, Zwei Tage später

Der Mann, den ich erschossen hatte, war ein Einbrecher gewesen. Ich fand, mit meiner Aussage hatte ich meine Schuldigkeit getan. Für den Fall, dass die Polizisten das anders sahen, reisten wir mit gefälschten Pässen aus den USA aus. Die Papiere hatte Mr Ali, ein Freund meines Vaters, vor ein paar Jahren für den Notfall für mich angefertigt.

Ich hoffe, dass ihr als Erwachsene nie Grund habt, so paranoid zu sein wie ich. Der Mitarbeiter am Jumbo-Car-Mietwagenschalter begrüßte mich freundlich und sah dann von seinem Empfangstresen auf. Beim Anblick meiner genähten Lippe und des Blutergusses auf meiner Wange rutschte ihm schlagartig das Lächeln vom Gesicht.

Ich nahm kurz die Sonnenbrille ab, damit er mein Gesicht mit dem Foto abgleichen konnte. Der Name auf dem Führerschein stimmte mit dem im Pass überein: Monica Williams. Er sprach mich mit dem Namen an, als er mir beides zurückgab, und ich sah erschrocken zu euch beiden hinunter. Euer Französisch war gut genug, um ihn zu verstehen, aber ihr habt euch bei dem fremden Namen anscheinend nichts gedacht.

Der Mitarbeiter stellte mir ohne Aufpreis ein größeres Auto zur Verfügung. Ihr habt es euch gleich mit Poochini auf dem Rücksitz des schicken roten Peugeot gemütlich gemacht. Ich verfrachtete unser Gepäck in den Kofferraum und setzte mich ans Steuer.

Der Flughafen von Martinique befindet sich im Industrieviertel Le Lamentin. Wir fuhren den Highway hinunter, links und rechts sausten Fabriken vorbei, und ich erzählte euch vom Tag eurer Geburt. Damals fuhren wir dieselbe Straße entlang, ich zeigte euch aus dem Fenster die Stelle, an der meine Mutter und ich rechts hatten halten müssen, weil ihrem uralten Truck das Benzin ausgegangen war. Am Ende mussten wir die restlichen zehn Meilen zum Krankenhaus per Anhalter fahren. Und alles nur, weil die Lastwagenfahrer der Erdölraffinerie auf der Insel gerade streikten und keine Tankstellen belieferten. Streik – es ist schon ein sehr französisches Land. Sie nennen es nicht umsonst Übersee-Department.

Auf dieser Straße erlebte ich die erste schlimme Wehe. Es tat so unglaublich, so unfassbar weh, dass ich am liebsten ein Lesezeichen an diese Stelle meines Lebens gesteckt hätte und später darauf zurückgekommen wäre, wenn ich ein besserer Mensch wäre.

Man könnte Wehenschmerzen als unbeschreiblich oder überirdisch bezeichnen, und das stimmt natürlich auch irgendwie. Das Problem ist bloß, dass diese Wörter viel zu positiv klingen. Es war kein Schmerz, der meinen Charakter festigte. Das Gefühl, vom Hals abwärts nur noch aus heißer Glut zu bestehen, führte durchaus nicht zu einem tieferen Verständnis meiner selbst. Versteht mich nicht falsch, ich bin sehr froh, euch zu haben, und der größte Teil der Schwangerschaft war auch wirklich in Ordnung. Aber die letzten Meter haben sich dann doch ganz schön gezogen.

Martinique ist ein wunderschönes Land. Während wir mit dem Peugeot durch die Städte und Dörfer fuhren, steile Abhänge hinunter, um scharfe Kurven, dann wieder über Serpentinen einen Hügel hinauf, kam ich mir vor wie in einem Film. Obwohl das vielleicht mehr mit meinem Geisteszustand zu tun hatte als mit der herrlichen Landschaft; ich hatte die letzten paar Tage nur überstanden, indem ich mich innerlich komplett von allem abgeschottet hatte.

Ihr Jungs wart müde von der Reise und deshalb still. Poochini hingegen hielt glücklich den Kopf aus dem Fenster, bellte und hechelte und war so aufgeregt wegen der vielen neuen Gerüche und Eindrücke, dass ich Sorge hatte, er könne vor lauter Übermut aus dem fahrenden Auto springen. Er war einer dieser Hunde, die regelmäßig einen Rappel kriegen und abhauen. Ich hätte zu gern gewusst, was in ihm vorging, um ihm das abzugewöhnen. Ich hatte für meinen Geschmack mittlerweile wirklich oft genug nachts im Bademantel die Straße rauf und runter laufen und nach ihm rufen müssen.

Agathes Hof lag in Sainte-Anne, einer Gemeinde ganz im Süden des Landes. Als wir uns einem Kreisverkehr näherten, sah ich am Straßenrand einen jungen Tramper stehen und hielt an. Er sprach mich auf Kreolisch an, ich erwiderte auf Französisch, er solle einsteigen. Auto-stop war hier nichts Ungewöhnliches und Martinique der einzige Ort auf der Welt, wo ich tatsächlich einen Anhalter mitgenommen hätte. Ich stand in der Schuld des Fremden, der mich damals ins Krankenhaus gefahren hatte, und wollte seine gute Tat mit einer eigenen vergelten.

Nachdem ich den jungen Mann an einem Kreisverkehr abgesetzt hatte, der näher an der Stadt war, fuhren wir weiter Richtung Süden. Als ich endlich in der Ferne das Haus meiner Mutter ausmachen konnte, entspannte sich schlagartig mein verkrampfter Kiefer. Mir war meine starke Anspannung gar nicht bewusst gewesen, ich bemerkte sie erst, als sie sich löste. Wir waren so gut wie in Sicherheit.

Die Hauptstraße verlief quer über das Grundstück, das ringsum von Stacheldraht eingefasst war. Weiße Kühe tupften die braune, trockene Weide, die dennoch wunderschön war. Das Haus lag oben auf einem Hügel, einer der Gründe, weshalb ich hierhergekommen war. Durch die weite Sicht hätte ich einen strategischen Vorsprung, falls man mich hier suchen würde.

Ich nahm die letzte enge Kurve und steuerte das Auto die von Aloe vera gesäumte Einfahrt hinauf. Der Motor des Peugeot jaulte selbst im ersten Gang herzerweichend. Ich parkte neben dem alten Truck meiner Mutter, wir stiegen aus und gingen auf das Haus zu. Die Tür war nicht abgeschlossen.

Tröstlicherweise war das Wohnzimmer noch genau so, wie ich es in Erinnerung hatte. Überall tropische Pflanzen und Rattan. An der gegenüberliegenden Wand braune Läden vor den bodentiefen Fenstern, daneben die Tür, die zur Küche führte. Eure Großmutter war dort drin und summte ein Lied im Radio mit. Bacon-Duft. Pfannengeklapper auf dem Herd.

»Agathe?«, rief ich.

Sie kam ins Wohnzimmer und wischte sich die Hände an der Schürze ab. Ich umarmte sie fest. Mit besorgtem Blick musterte sie die Blutergüsse in meinem Gesicht und betastete vorsichtig meine Wange.

»Ich weiß, sieht schlimm aus«, sagte ich auf Französisch. »Ich hab ja versucht, dich drauf vorzubereiten.«

Sie nickte. »Du bist mein Kind, natürlich tut’s mir weh, dich so zu sehen. Trotz Vorwarnung.«

Ich hatte ein schlechtes Gewissen, sie mit der Realität zu konfrontieren. Ich hätte mich am liebsten irgendwo versteckt und die Last allein getragen. Ich wollte sie so gern davon fernhalten, genau wie euch, und es setzte mir unheimlich zu, dass ich das nicht konnte.

»Sagt mal Guten Tag«, forderte ich euch auf.

»Ich bin eure Oma«, stellte sie sich vor. Sie benutzte das Wort mémé. Sie beugte sich zu euch herunter und bekam von jedem einen gehorsamen Kuss auf die Wange. Tommy, du warst wie allen Fremden gegenüber sehr schüchtern. Ihr konntet euch wohl nicht mehr an sie erinnern.

»Sie sprechen doch noch Französisch, oder?« Agathe richtete sich wieder auf. »Verstehen sie mich?«

Ich nickte. »Die sind nur beide hundemüde, besonders William. Dem haben im Flugzeug die Ohren wehgetan, er konnte nicht schlafen.«

»Bin ich nicht«, hast du auf Französisch widersprochen. »Bin überhaupt nicht müde.«

»Und du?«, fragte Agathe mich.

»Mir geht’s gut. Glaube ich.« Ich fühlte mich immer noch komplett leer.

Dann fragte sie, ob ihr Hunger hättet, und nahm euch mit in die Küche, um euch Frühstück zu machen. Ich setzte mich aufs Sofa und atmete erst mal tief durch. Ich war bei meiner Mama, zweitausend Meilen von Connecticut entfernt, und fühlte mich endlich sicher. Urplötzlich nahm ich die Erschöpfung wahr. Ich konnte die Augen nicht mehr offen halten und rutschte zur Seite.

Als ich aufwachte, war es dunkel. Ich sprang sofort auf, panisch, dass ich so unaufmerksam gewesen war. Da hörte ich euch draußen auf der Veranda.

Eure Großmutter erzählte euch gerade eine Gutenachtgeschichte. Poochinis Schwanz fegte über den Beton. Ihr wart beide schon im Schlafanzug und hattet euch neben Agathe auf dem Rattansofa zusammengekuschelt.

»Maman!«, riefst du, Tommy.

Ich sah auf die Uhr. Ich hatte zwölf Stunden geschlafen! »Wieso habt ihr mich denn nicht geweckt?«

»Ich frag mich eher, wie du so lange schlafen konntest. Die beiden sind hier heute Nachmittag über Tisch und Bänke gegangen, sag ich dir. Und den Riesenstreit hast du auch verschlafen. Ging eigentlich um nichts, aber es gab natürlich trotzdem Tränen und Geschrei, das volle Programm.«

Ich setzte mich neben Poochini auf den Boden. »Dann hattet ihr also einen schönen Tag.«

»Du warst jedenfalls nicht wachzukriegen. Hast den Schlaf anscheinend bitter nötig gehabt.« Zufrieden fügte meine Mutter hinzu: »Sprechen gut Französisch, die beiden.«

»Zu Hause sprechen wir immer Französisch«, hast du, William, ihr erklärt.

»Ja, ich versuche immer drauf zu achten, dass sie es nicht verlernen«, sagte ich.

»Und, funktioniert das?«

»Na ja, so halb.«

»Maman, was sind Sterne?« Die Frage kam von dir, Tommy.

Ich sah hoch zum Himmel. Ich glaube, ich hatte zuvor noch nie so viele Sterne gesehen wie an dem Abend. Hier sieht man nachts mehr, als ich mir als Kind in New York überhaupt hätte vorstellen können, und ich freute mich, dass ihr ein bisschen mehr über die Welt erfahren konntet als ich in eurem Alter.

Ich setzte zu einer Erklärung an – große Kugeln aus Gas und Hitze und Licht, die Sonne sei auch einer, sie kämen uns nur so klein vor, weil sie so weit weg seien. Als ich fertig war, saht ihr aus, als würdet ihr jetzt gar nichts mehr verstehen.

»Mémé hat gesagt, also, sie sagt, Daddy ist ein Stern. Also jetzt, weil er tot ist.« Das hast du auf deine typisch sachliche Art gesagt, Tommy. »Welcher Stern ist er denn?«

Ich hatte mit Fragen zu eurem Vater gerechnet, seitdem ihr sprechen könnt, aber nicht mit dieser. Ich warf meiner Mutter einen genervten Blick zu. Ihr Jungs wart kaum einen halben Tag hier, und schon hatte sie euch ihren spirituellen Humbug in den Kopf gesetzt.

Sie lächelte entschuldigend. »Sie wollten eben wissen, was mit uns nach dem Tod passiert. Ist doch klar, dass sie jetzt auf so was kommen.«

»Ist der böse Mann auch ein Stern?« Tommy fand den Erklärungsansatz meiner Mutter offensichtlich sehr viel leichter verdaulich als meinen.

»Weiß ich nicht«, sagte ich und sah demonstrativ zu Agathe. »Was meinst du denn, Mémé?«

»Nein«, antwortete sie. »Wenn man böse ist, wird man kein Stern. Dann kommt man zurück auf die Erde und bekommt eine zweite Chance, lieb zu sein.«

»Wo ist denn dieses Fotoalbum, das ich dir gegeben hab?«, fragte ich.

Es war in ihrem Zimmer. Ich holte es und ging zurück auf die Veranda.

»Ich zeig euch jetzt mal ein Foto von eurem Daddy, als er noch kein Stern war«, schloss ich mich widerwillig dem Narrativ meiner Mutter an. Ich zog das Foto von meiner Schwester und dem Soldaten in Uniform aus dem Album. William, du bist zu schnell für mich. Blitzschnell bist du vom Sofa gerutscht und hast es mir aus der Hand geschnappt. Du hast es ins Licht der Lampe gehalten und genauestens inspiziert.

»Vorsichtig!«, schimpfte dein Bruder und versuchte sofort, dir das Bild wieder wegzunehmen. Ich nahm es an mich und scheuchte euch zurück auf das Sofa. Nachdem ihr versprochen hattet, lieb zu sein, hockte ich mich vor euch hin und hielt das Foto so, dass ihr es beide sehen konntet. »Das ist euer Daddy mit Tante Helene.«

»Ist die auch ein Stern?«, fragte William.

»Ja«, erwiderte Agathe.

»Wenn Daddy ein Stern ist, warum …« William streckte nachdenklich die Zungenspitze heraus. »Warum kann er nicht einfach wiederkommen?«

»Du meinst, warum kann man nicht wieder lebendig werden, nachdem man gestorben ist?«

Nicken.

»Gute Frage«, gab ich zu.

»Warum ist er denn gestorben?«, wollte William wissen.

»Auch eine gute Frage.«

Was für Fragen und wie viele ihr stellt, verblüfft mich immer wieder. Ebenso, wie viel ihr zwei überhaupt redet. Vor euch beiden war mir gar nicht bewusst gewesen, wie still mein Leben eigentlich war.

Während ich über eine Antwort nachdachte, hast du, Tommy, mir auf einmal die Wange gestreichelt.

»Maman?« Dein liebes kleines Gesicht hatte einen strengen Ausdruck. »Nicht traurig sein.«

Deine Forderung war so ernsthaft, dass ich lächeln musste. Es erinnerte mich wieder einmal daran, wie sehr du deinem Vater ähnelst. Du denkst, du könntest mich und was ich fühle lediglich kraft deines Willens ändern. Dieses Bedürfnis ist die Essenz dessen, was dein Vater unter Liebe verstanden hat. Und William, du hast genauso viel Energie wie er. Du bist genauso flink wie er, genauso ungeduldig, genauso großzügig. Ich habe oft darüber nachgedacht, was ihr wohl für Menschen werden würdet. Ich habe gehofft, euch beibringen zu können, eure Energie und euren starken Willen in die richtigen Bahnen zu lenken, damit ihr genauso außergewöhnlich würdet, wie euer Vater es war.

»Na gut. Für dich«, sagte ich und gab dir einen Kuss auf die Wange.

Das war gestern Abend. Später bist du, Tommy, schreiend aus einem Albtraum erwacht und hast deinen armen Bruder damit zu Tode erschreckt. Ich habe dir ein Glas Wasser gebracht und den Rücken gestreichelt, und dann habe ich mich am Fußende eures Betts zusammengekauert, bis ihr beide wieder eingeschlafen wart.

Jetzt ist es früh am Morgen. Draußen ist es noch dunkel und im Haus ist es still. Agathe schläft in dem Zimmer, das früher meinem Onkel gehört hat. Sie hat darauf bestanden, dass ich ihres nehme, was viel größer ist und genau gegenüber von eurem. Die Möbel hier drin sind alle so riesig. Auf dem ausladenden Schminktisch steht das einzige Andenken aus unserem Haus in Queens, ein Foto, das mein Vater während seiner Phase als leidenschaftlicher Hobbyfotograf geknipst hat.

Es ist von Weihnachten 1962. Ich wollte unbedingt, dass unser Airedale Terrier Bunny eine Weihnachtsmannmütze trägt, deshalb versucht Helene auf dem Bild (erfolglos) dafür zu sorgen, dass er sie lange genug aufbehält. Bunny ist nur ein brauner verschwommener Fleck und sie guckt ihn genervt an. Ich dagegen lächle.

Helene war immer ein bisschen wie eine Mutter zu mir, immer mehr auf mein Glück bedacht als auf ihr eigenes. Das ist mein Lieblingsfoto von uns.

Gestern Abend auf der Veranda habe ich gesagt, euer Daddy wäre im Krieg gestorben, sein Flugzeug wäre abgeschossen worden. Das habe ich auch Agathe erzählt: Euer Vater war ein US-amerikanischer Soldat, der im Krieg gefallen ist, und seine Familie wollte nichts mit uns zu tun haben. Ich wusste, dass meine Mutter mir das nicht abnahm, ich hätte es ja auch niemandem geglaubt. In jeder Lüge, die ich ihr über euren Vater erzählt habe, schwang unausgesprochen immer die Herausforderung mit, mir doch auf den Kopf zuzusagen, dass sie mir nicht glaubte. Das hat sie jedoch nie getan.

Ich habe das Foto, das ich euch gezeigt habe, in einer Kiste mit Sachen von meiner Schwester gefunden, die Pop in ihrem Zimmer untergestellt hatte. Sie steht darauf im Garten hinter ihrem Haus in North Carolina neben einem klapprigen Grill und hält eine Grillzange in der Hand. Der Mann auf dem Foto hat ein Bier in der Hand und schaut lächelnd auf das, was da auf dem Rost liegt. Er sieht gut aus. Ich weiß lediglich seinen Namen. Ray.

Ich bin verlogen. Wie kann ich eurer Großmutter Vorwürfe machen, dass sie euch Märchen erzählt, wenn ich genau dasselbe mache? Ich habe mir den Sessel meiner Mutter an den Schminktisch herangezogen, sitze nun hier und versuche so viel von unserer Geschichte aufzuschreiben, wie ich nur kann, bevor ihr aufwacht. Ich kann euch vielleicht nicht erklären, wieso man nicht mehr lebendig wird, wenn man einmal tot ist, aber ich kann euch zumindest erklären, warum euer Vater gestorben ist. Ich kann euch erzählen, wer er wirklich war und wie viel er mir bedeutet hat. Ich kann euch erzählen, wer den Mann geschickt hat, der bei uns eingebrochen ist, und warum.

Ich schreibe das alles hier auf, um euch ehrliche Antworten auf die Fragen zu geben, die ihr euch wahrscheinlich im Laufe eures Lebens stellen werdet. Ich schreibe das alles hier auf, falls ich dann nicht mehr da bin.

2

New York, 1987

Ich habe von 1983 bis 1987 für das FBI gearbeitet. Während dieser Zeit wurde ich zweimal von der CIA als zeitlich befristete Auftragnehmerin angestellt, so nennen sie Spione. Dadurch habe ich euren Vater kennengelernt.

Nach meiner Ausbildung in Quantico wurde ich der Außenstelle Indianapolis zugeteilt. Dort musste ich wie alle FBI-Neulinge zwei Jahre als sogenannte First-Office-Agentin ableisten, bevor ich mich in eine andere Stadt versetzen lassen konnte. Ich gab meine Heimatstadt New York als erste Wahl an, und zu meiner Überraschung klappte es damit auch tatsächlich. Ich war davon ausgegangen, dass dort alle hinwollten, aber wie sich herausstellte, gab es sogar zu wenig Leute in New York. Die meisten wurden von den teuren Lebenshaltungskosten und den Gerüchten abgeschreckt, dass Agenten dort beim Beschatten regelmäßig ausgeraubt würden.

Unsere Außenstelle war die größte des FBI, allein meine Abteilung umfasste damals mehr als tausendzweihundert Leute. Ich gehörte zur Nachrichtenabteilung, wobei das eine unzutreffende Bezeichnung ist, die das FBI mittlerweile auch geändert hat. Unsere Abteilung beschäftigte sich mit Spionageabwehr, es war also unsere Aufgabe, Spionage zu bekämpfen. Nicht etwa, sie zu betreiben. Ich persönlich fand den Namen aber auch irreführend, weil die werten Kollegen in der Abteilung mir nicht gerade den Eindruck machten, sie würden die Nachrichten auch nur lesen.

Überall um mich herum nur selbstgefällige Chauvinisten, die sich konservativster Werte rühmten. Um überhaupt klarzukommen, behauptete ich, ich würde mich nicht für Politik interessieren. Was sich geradezu lächerlich anfühlte, aber sie schluckten es. Nur sehr wenige dieser Männer verstanden, was es bedeutete, bei der Frage, ob man sich für Politik interessierte, gar keine Wahl zu haben. Im Gegensatz zu mir hatten sie ja nicht ihr Leben lang erfahren müssen, wie ihre schiere Existenz ständig für politische Zwecke missbraucht wurde.

Die New Yorker Kriminalabteilung kam zwar in Funk und Fernsehen besser weg als wir, dafür bekam die Spionageabteilung in den Achtzigern sehr viel mehr Geld. Man versuchte die vom Kalten Krieg zermürbte Öffentlichkeit unter anderem damit zu beruhigen, dass sehr viel finanzielle Unterstützung in die Spionageabwehr floss. Unsere Außenstelle und die in D.C. teilten sich dabei den Löwenanteil des Geldes – wir verwalteten immerhin auch die zwei Regionen des Landes, die die mit Abstand höchste Dichte an mutmaßlichen KGB-Agenten aufwiesen.

Ich begann meine Tätigkeit in der New Yorker Außenstelle im Jahr 1985, das die Zeitungen als »Jahr der Spionage« bezeichneten. Die Öffentlichkeit war über die Festnahme von insgesamt acht wichtigen Spionen informiert worden. Jedes Mal gab es danach in den Abendnachrichten Interviews mit Leuten aus irgendwelchen Kuhdörfern, die erzählten, was sie für Vorkehrungen treffen und wie sie von nun an jeden Menschen verdächtigen würden, der anders war. Was natürlich alles völliger Blödsinn war, was hätte der KGB denn davon, die wöchentliche Bibelstunde irgendwo in Montana zu infiltrieren? Die Angst genau davor war jedoch so allgegenwärtig, dass sie das Leben der Menschen bestimmte. Es war beeindruckend. Und ganz schön beängstigend.

Ich will damit auf keinen Fall behaupten, ich wäre gegen dieses ganze Spionagefieber immun gewesen. Besonders gebannt verfolgte ich den Fall um Sharon Scranage, weil sie die einzige schwarze Frau unter den acht Verhafteten war, und weil zum ersten Mal jemand aus den USA bei der Spionage für einen afrikanischen Geheimdienst erwischt worden war. Der Fall ließ erahnen, dass die CIA-Geheimoperationen in Westafrika viel umfassender waren, als mir bewusst gewesen war. Scranage arbeitete als Stenotypistin für ein CIA-Büro in Ghana und wurde Opfer einer sogenannten Honigfalle. Das muss man sich mal vorstellen! Eine völlig verrückte Geschichte, wie aus einem Film, nur leider eben zu hundert Prozent wahr. Scranage hatte ihrem Freund Michael Soussoudis die Namen einer ganzen Handvoll CIA-Angestellter und Informanten verraten. Soussoudis stellte sich jedoch nicht nur als Mitarbeiter des ghanaischen Geheimdienstes heraus, sondern war auch noch mit dem Staatsoberhaupt Jerry Rawlings verwandt, der ihn aus Angst vor einem von der CIA organisierten Staatsstreich überhaupt erst der Operation zugeteilt hatte. Grundlos kann man Rawlings’ Verfolgungswahn rückblickend also nicht nennen.

Meine Außenstelle befand sich im Jacob Javits Federal Building in einem besonders traurigen Teil von Lower Manhattan in der Nähe der Brooklyn Bridge, um die Ecke vom Tweed Courthouse. Als Kind hatte ich einmal etwas über dieses Gerichtsgebäude gelesen, das ich nie wieder vergessen habe: »Boss« Tweed hatte das Haus im neunzehnten Jahrhundert als Vorwand erbauen lassen, um Millionen an Steuergeldern zu unterschlagen. Als man ihn schließlich deshalb anklagte, fand die Verhandlung in dem nach ihm benannten Gerichtsgebäude statt. Was für eine herrliche Ironie des Schicksals – ein Gebäude der städtischen Regierung benannt nach einem der korruptesten Mitglieder seiner Geschichte.

In New York prasselten eh ständig von allen Seiten Schwindel und Betrugsfälle aus Politik und Wirtschaft auf einen ein, es steckte der Stadt buchstäblich in den architektonischen Knochen. New Yorker hatten im Allgemeinen keine Angst davor, dass Fremde – also KGB-Agenten – in die Stadt ziehen und das Vertrauen ihrer Bürger und Bürgerinnen missbrauchen könnten. Man konnte schließlich bereits selbst auf eine beeindruckende Zahl Einheimischer zurückblicken, die genau das getan hatten.

Meine Abteilung befand sich im sechsundzwanzigsten Stock. Es war ein Großraumbüro mit schokoladenbraunen Schreibtischen, zwischen denen Männer in weißen Hemden und schwarzen Krawatten umherwieselten. Mr Ali, der Freund meines Vaters, war einer der wenigen mit einem eigenen Büro. Genauso wie mein Chef Rick Gold, der Assistant Special Agent in Charge, kurz: ASAC. Er war ein stämmiger, stiernackiger Mann, der aussah wie ein ehemaliger Highschool-Ringer, der sich hatte gehen lassen. Ich konnte ihn nicht leiden.

Während meines ersten Abteilungsmeetings hatte er mich mitten im Briefing Kaffee holen geschickt. Alle lachten. »Kann ich gern machen, Sir«, hatte ich so unbeteiligt wie möglich erwidert. »Aber stellen Sie sich darauf ein, dass in der Tasse dann nicht nur Kaffee ist.«

Einen Augenblick lang herrschte Schweigen, dann lachte Gold los und die anderen stimmten ein. Mein Ausbilder rief ihm zu: »Pass bloß auf, dass dein Kaffee demnächst nicht gelb ist, Ricky!«

Ich lachte mit, um zu zeigen, dass ich zwar eine Frau war, aber trotzdem Spaß verstand. Lustig war das alles jedoch kein bisschen, und das ist nicht bloß meine Meinung, sondern Tatsache. Der Witz meines Ausbilders ergab überhaupt keinen Sinn, und Golds Aufforderung war einfach nur peinlich und klischeehaft.

Mit meinem ASAC in Indianapolis war ich sehr gut ausgekommen. In New York setzte Gold mit seinem Verhalten leider den Maßstab für die gesamte Abteilung; er machte keinen Hehl aus seinem mangelnden Respekt für mich und ermunterte meine Kollegen dadurch, es ihm gleichzutun: Ich wurde vorsätzlich von wichtigen Besprechungen ausgeschlossen – mit der Begründung, Männer seien eben besser im Planen. Und ich wurde bestimmten Überwachungsteams nicht zugeteilt, weil sich die anderen Agenten mit mir als Rückendeckung »nicht sicher genug fühlten«.

Ich erkämpfte mir zwar einen Platz in mehreren Überwachungsoperationen, zum Großteil bestand meine Arbeit jedoch aus Informantenrekrutierung und Unmengen Papierkram. Das FBI wird im Inneren von einer unglaublichen Bürokratie beherrscht.

Dank Gold als Chef ging es mit meiner Karriere nicht so voran, wie ich es mir gewünscht hätte. Mich wegversetzen zu lassen kam aber auch nicht infrage für mich, dafür gewann ich viel zu gerne. Also wartete ich ab. Früher oder später würde ich es Gold schon zeigen, da war ich mir sicher.

Es war später Vormittag, aber ich war noch zu Hause. Ich war mit einer Informantin im Pan Pan verabredet, einem Diner in der Nähe meiner Wohnung, und wollte danach ins Büro.

Das Pan Pan lag an der Kreuzung 135th Street und Lenox Avenue, nur ein paar Blocks nördlich von meiner Wohnung. Ich mochte es dort, die warme Herzlichkeit der Kellnerinnen und das Essen verliehen dem Lokal einen angenehmen Südstaatencharme.

Ich betrat das Diner und setzte mich an einen freien Tisch. Während ich auf meine übliche Bestellung wartete, eine Tasse Kaffee und einen großen Fruchtcocktail, sah ich aus dem Fenster. Es war ein warmer, bedeckter Tag, sah nach Regen aus. Noch keine Spur von meiner Informantin.

Manch einer wäre bestimmt überrascht, wie oft ich mich mit meinen Informanten einfach in einem Diner traf. Meistens wirkten (und waren) unsere Unterhaltungen aber ziemlich langweilig, und das hatte sich als ebenso gute Sicherheitsvorkehrung herausgestellt wie ein Treffen unter vier Augen.

In meinen zwei Jahren in der New Yorker Außenstelle hatte ich bereits eine beträchtliche Anzahl Informanten und ein paar »lose Kontakte« rekrutiert, Leute, die nicht offiziell als bezahlte Spitzel in den Akten auftauchten, mit denen ich mich aber in unregelmäßigen Abständen traf. Aisha war die einzige Frau. Soweit ich weiß, war sie sogar insgesamt die einzige Frau; die anderen Agenten meiner Abteilung heuerten immer nur Männer an.

Aisha war meine Lieblingsinformantin. Sie gehörte der Patrice Lumumba Coalition an, einer panafrikanischen Bewegung aus Harlem mit etwa tausend Mitgliedern. Die PLC organisierte zwar meistens lediglich Proteste gegen die Apartheid, wir hatten sie aber aus zwei Gründen trotzdem auf dem Radar. Erstens hatte sie Verbindungen zur Kommunistischen Partei der USA. Die CPUSA erhielt damals jährlich drei Millionen Dollar als finanzielle Unterstützung von der UDSSR, und wir überwachten jede noch so kleine Gruppe, unter deren Mitgliedern sich Kommunisten befanden.

Zweitens war der Leiter der PLC, Aishas Onkel, früher Mitglied bei den Black Panthers gewesen. Er hatte sogar kurz auch mit der Black Liberation Army zu tun gehabt, einer gewalttätigen Untergrund-Splittergruppe der Panthers, die in den Siebzigern aktiv gewesen war. Vor ihrer Auflösung durch das FBI hatte die BLA als inländisches Terrornetzwerk agiert und zeichnete für Diebstähle in Höhe von mehreren Millionen Dollar sowie den Mord an mindestens zwölf Polizisten verantwortlich.

Endlich kam Aisha. In der einen Hand trug sie ihre Handtasche und einen riesigen Regenschirm, in der anderen einen zusammengeklappten Buggy. Außerdem hatte sie ihren zweijährigen Sohn Marlon dabei. Sie setzte sich auf den festgeschraubten Hocker neben mich. Ich begrüßte Marlon, der sich aber sofort wegdrehte und das Gesicht an Aishas aknevernarbten Hals drückte.

»Der ist müde«, sagte sie entschuldigend.

Aisha sah viel jünger als zwanzig aus. Das Kopftuch, das zerknitterte weiße T-Shirt und die Jeans wirkten in aller Eile übergeworfen. Ich sah auf die Uhr über der Edelstahltheke. »Wir waren vor zwanzig Minuten verabredet.«

Sie nickte und sagte, dass es ihr leidtat. Ich schluckte meinen Ärger runter, weil ich bei diesem Treffen keine schlechte Stimmung wollte – es würde unser letztes sein, das hatte ich ihr schon angekündigt.