Tetiana Trofusha

COMING HOME

Deutsch & Englisch | German & English

 

 

AndroSF 117

 


Tetiana Trofusha

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AndroSF 117

 

 

Neuausgabe der | Reissue of the story »Coming Home«

aus | from Marianne Labisch (Hrsg.): INSPIRATION

Die digitalen Welten des Andreas Schwietzke

Außer der Reihe 25, p.machinery, Murnau, Juli/July 2018

ISBN 978 3 95765 137 2, 978 3 95765 138 9

 

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

 

Bibliographic Information of the German National Library

The German National Library lists this publication in the German National Bibliography; detailed bibliographic data are available on the Internet at http://dnb.d-nb.de.

 

© dieser Ausgabe | of this issue: Februar(y) 2020

p.machinery Michael Haitel

 

Titelbild | cover picture: Andreas Schwietzke

Layout & Umschlaggestaltung | cover design: global:epropaganda

Lektorat | Editing: Marianne Labisch

Korrektorat | Proofreading: Michael Haitel

Übersetzung ins Englische | Translation from German: Ilona Schmidt

Herstellung | Production: global:epropaganda

Verlag | Publisher: p.machinery Michael Haitel

Norderweg 31, 25887 Winnert

www.pmachinery.de

für den | for the Science Fiction Club Deutschland e. V., www.sfcd.eu

 

ISBN of the print issue: 978 3 95765 184 6

ISBN of this e-book: 978 3 95765 903 3

 

Dieses Buch gibt es als Print und als E-Book auch in deutscher und englischer Sprache als eigenständige Veröffentlichung.

This book is available as print and as e-book also in German and English as an independent publication.

 


Deutsche Ausgabe

 


1

 

 

Vorsichtig schob Ji den Suppenlöffel wenige Millimeter nach links. Erst jetzt lag er exakt zwischen dem Vorspeise- und Hauptgangmesser. Sie seufzte erleichtert. Gut, dass sie noch einmal drüber geschaut hatte. Heute durfte nichts schief gehen. Absolut nichts.

In Gedanken ging sie noch einmal das Menü durch: Rucola-Feigen-Salat, Hühnersuppe, Zitronensorbet, Entenbrust in Ahornsirup und gebackene Birnen mit Vanilleeis. Keine Wiederholung der Nahrungsmittel, ihrer Farbe und der Zubereitungsart.

Doch. Ihr Herz begann zu rasen. Sowohl Entenbrust als auch die Birnen kamen aus dem Ofen. Und das auch noch bei zwei aufeinanderfolgenden Gerichten! Sie krallte sich an Adans Stuhllehne fest.

Ganz ruhig. Sie hatte sich extra für gebackene Birnen entschieden, weil es seine Lieblingsspeise war. Daher würde es ihn nicht stören.

Es sei denn, sie hätte eine Zutat vergessen. Das würde er merken. Zimt. Hatte sie Zimt zu den Birnen gegeben? Sie beschwor die Erinnerungen, sah sich nach Nelken und Kardamom greifen. Aber nicht nach Zimt. Bitte nicht.

Sie hatte Zimt verwendet, bestimmt. Schließlich bereitete sie Adan oft gebackene Birnen zu, reine Routinesache.

Oder hatte sie den Zimt wirklich vergessen?

Ihre Augen füllten sich mit Tränen. Oh, nein, er durfte sie nicht aufgelöst vorfinden.

Sie stürzte zum Wandspiegel im Eingangsbereich. Ihre Absätze schlugen auf den Marmorboden ein, vergegenwärtigen ihr die Stille in der Wohnung. Die Musik! Abrupt stoppte sie, wirbelte herum, machte einen Schritt Richtung Wohnzimmer und hielt inne. Das konnte sie später machen. Jetzt galt es, das Make-up zu retten.

Sie trat von rechts an den Spiegel heran, um der Haustür möglichst fernzubleiben, und beugte sich vor. Der goldbraune Lidstrich schmiegte sich makellos an ihre Augen. Sie atmete aus. Eine Sorge weniger.

Und endlich fiel es ihr ein: Sie hatte Zimt über die Nachspeise gestreut! Unwillkürlich lächelte sie.

Sie ging zurück und aktivierte das Bedienelement an dem Wandvorsprung zwischen Wohnzimmer und Eingangsbereich. Die digitale Uhr auf dem silbernen Bildschirm zeigte sieben vor acht. Die Zeit würde ausreichen, um letzte Korrekturen vorzunehmen.

Sie rief die Musiksammlung auf und entschied sich für ein unaufdringliches Klavierstück, das sie leise stellte. Keinesfalls sollte Adan dagegen anschreien müssen.

Sie wechselte zur Beleuchtung, schaltete das Deckenlicht aus und tippte auf das stilisierte Bild eines Feuers. Das System entzündete die Holzscheite im gläsernen Kamin in der Wand gegenüber seinem Platz am Tisch. Die Flammen tauchten das Zimmer in warme Farben.

Fünf Minuten.

Sie betrachtete den absolut symmetrisch gedeckten Tisch. Das Licht der brennenden Kerzen brach sich im Tafelsilber. Und als Blickfang zwischen den beiden Kandelabern, in der Mitte des Tisches: die roten Rosen mit Schleierkraut und Palmblättern verziert.

Sie sahen fantastisch aus. Es war die richtige Entscheidung gewesen, sie zu bestellen.

Ein mulmiges Gefühl breitete sich in ihrer Magengegend aus. Irgendetwas fehlte, ein entscheidendes Detail. Das konnte nicht sein. Sie hatte doch an alles gedacht. Ihr Blick huschte über das Zimmer auf der Suche nach der Unstimmigkeit, blieb an der Glasfront heften: Hunderte Wolkenkratzer zeichneten sich mit ihren leuchtenden Fenstern vom schwarzen Himmel ab. Natürlich, der Mond! Er war heute Abend nicht aufgegangen. Erleichtert schloss sie die Augen, zum Glück ließ sich das ändern.

Sie drückte auf Fenstersimulation und wählte aus der Liste Mond aus. In der Mitte der Glasfront erschien ein faustgroßer Mond. Sie legte zwei Finger auf das Bedienelement und schob sie so lange auseinander, bis der virtuelle Himmelskörper die zehnfache Größe annahm. Dann positionierte sie ihn hinter die Wolkenkratzer am linken Fensterrand. So würde Adan sowohl das Feuer als auch den Mond in seinem Sichtfeld haben.

Sie lächelte. Jetzt war es perfekt. Er würde es lieben. Dieses Mal hatte sie alles richtig gemacht.

Drei Minuten.

Sie stellte sich in den Eingangsbereich auf ihre gewohnte Position: Die Spitzen ihrer Pumps berührten die Kante der fünfzehnten Marmorplatte von der Haustür aus. Jede Platte maß dreißig Zentimeter. Vier Meter fünfzig trennten sie vom Hausflur.

Sollte sie es riskieren? So kurz vor seinem Nachhausekommen? Nur ein paar Zentimeter. Das war machbar. Schließlich hatte sie schon drei Platten geschafft. Und wenn es nicht klappte, würde sie abbrechen.

Sie ging nach vorne zur zwölften Platte. Das funktionierte inzwischen beinah problemlos. Also schön. Sie atmete tief durch und befahl ihrem rechten Fuß vorzurücken. Langsam, ganz langsam glitt er über die Kante. Drei Meter neunundfünfzig. Achtundfünfzig. Siebenundfünfzig. Sie begann zu zittern. Sechsundfünfzig. Fünfundfünfzig.

Stechender Schmerz brachte sie aus der Konzentration. Sie blickte hinunter. Ihre Nägel bohrten sich in ihren Unterarm. Ruckartig zog sie die Hand weg. Zurück blieben sichelförmige Kerben auf der Haut. Das durfte Adan auf gar keinen Fall sehen. Sonst würde er denken, es hätte wieder angefangen. Und er hatte schon genug Sorgen wegen der Lieferprobleme. Hektisch rieb sie die Haut. Sie färbte sich rot, die Verletzung verschwand nicht. Oh, nein. Was sollte sie jetzt tun?

Aus dem Hausflur drangen Schritte. Reflexartig versteckte sie den Arm hinter ihrem Rücken und sprang hinter die fünfzehnte Platte. Noch durfte Adan nichts von ihren Experimenten erfahren. Sie wollte ihn überraschen, wenn es so weit war.

Sie streckte die Brust vor, hob den Kopf an und zwang sich zu einem Lächeln.

Die Tür schob sich in die Wand. Und da stand er. Adan. Gut aussehend und unwiderstehlich wie am Tag ihrer ersten Begegnung. Sofort fiel es ihr leichter, die Fröhliche zu spielen.

Er betrachtete sie von oben bis unten. »Dreh dich.«

Sie gehorchte. Der Rock ihres Cocktailkleides flatterte hoch und offenbarte ihren Po. Sie befürchtete, einer der Nachbarn könnte sie sehen, doch keiner kam vorbei.

Adan lächelte. »Wow.«

Errötend senkte sie den Blick. Es gefiel ihm! Am liebsten wäre sie vor Freude gehüpft, beherrschte sich jedoch. Er mochte nicht, wenn sie sich kindisch benahm. Und sie war lernfähig.

Er trat herein. Hinter ihm schloss sich die Haustür. Er stellte seine Aktentasche auf die erste Platte und schnupperte im Näherkommen. »Rieche ich da gebratene Birnen?«

»Ja.«

»Mmh.« Er legte eine Hand um ihre Taille und schenkte ihr einen Kuss. Sie genoss seine zarten Lippen, seine Nähe, seine Wärme. Unwillkürlich schmiegte sie sich an ihn.

Er löste sich von ihr. Hatte sie etwas falsch gemacht? War sie zu aufdringlich gewesen? Sie verdrängte die Fragen, sie würde das Gespräch nicht auf sich lenken. »Wie war dein Tag?«

»Lang.« Wieder einmal. Wenn sie ihm doch mehr helfen könnte, als nur einen perfekten Abend für ihn zu zaubern.

Er wartete ihre Antwort nicht ab, ging ins Bad zwischen dem Schlafraum und dem Nebenzimmer. Sie sah ihm nach, seufzte.

Das Wasser begann, zu rauschen. Ihr Stichwort. Sie eilte in die Küche zum Herd, berührte den Suppentopf. Noch angenehm warm, gut.

Von der Anrichte nahm sie die beiden Porzellanteller mit der Vorspeise und positionierte sie auf ihrer Hand und ihrem Unterarm. Bis jetzt war ihr ein einziges Mal das Geschirr heruntergefallen. Das würde auch so bleiben.

Sie lief zurück ins Wohnzimmer. Bei Adans Anblick verlangsamte sie ihre Schritte. Mit dem Rücken zu ihr gedreht, breitete er beinahe mechanisch die Stoffserviette auf seinem Schoß aus, studierte dabei sein Tablet. Wieder würde er den Abend durcharbeiten. Sie schluckte die Enttäuschung hinunter und stellte zuerst seinen und dann ihren Teller ab. Er sah auf, inspizierte den Rucola-Feigen-Salat. Ohne Adan aus den Augen zu lassen, setzte sie sich ihm gegenüber, wagte kaum, zu atmen. Hoffentlich würde es ihm schmecken.

Er legte das Messer in die Rechte und die Gabel in die Linke. Spießte eine mit Parmesan bestreute Feige auf. Führte sie zum Mund. Schob sie hinein. Er kostete sie, langsam und nachdenklich.

»Hm, das ist gut.«

Ihr gesamter Körper entspannte sich. »Danke.« Ein Lächeln umspielte ihre Lippen.

Er erwiderte es und widmete sich dem Essen. »Wir hatten heute eine Krisensitzung, vier oder fünf Stunden lang, ich weiß es gar nicht mehr.« Er strengte sich sichtlich an, die Beherrschung nicht zu verlieren. Sie konnte es nachvollziehen. Vier oder fünf Stunden, das musste furchtbar sein. Sie sah ihn mitfühlend an und begann ebenfalls zu essen.

»Kupfer, Chrom, Mangan. Wir haben so gut wie nichts mehr davon und unsere verdamm…« Er hielt inne. »Und unsere Lieferanten wollen die Verträge kündigen.«

Das war eine Katastrophe. »Warum?«

»Wenn ich das nur verstehen würde.« Er schüttelte den Kopf. »Übermorgen treffen wir uns mit ihnen, vielleicht kommt dabei etwas heraus. Sonst müssen wir die Produktion einstellen.«

Sie wünschte, sie könnte ihm mit einem guten Rat beistehen, aber sie verstand nichts von seinen Geschäften. »Du wirst eine Lösung finden, so wie immer.« Daran zweifelte sie nicht. Aufmunternd lächelte sie ihm zu und tätschelte seinen warmen Handrücken.

»Ja, vielleicht.« Er klickte sich durch Dokumente voll Statistiken und Tabellen, brütete über ihnen, stach eine Feigenhälfte nach der anderen auf.

Sie traute sich nicht, ihn zu stören. Ihr Blick fiel auf die schönen Rosen. Er hatte das Ambiente nicht einmal bemerkt. Alles in ihr zog sich zusammen. Wirklich? Seine Firma stand auf dem Spiel und er sollte darüber sprechen, wie hübsch es hier war? Beschämt sah sie nach unten, nippte an ihrer Limonade.

Er legte das Besteck diagonal auf den Teller. Auf den leeren Teller. Es hatte ihm wirklich geschmeckt.

Sie sprang auf, sammelte das benutzte Geschirr ein und eilte in die Küche. Mit den Fingern schnappte sie nach der letzten Feigenhälfte auf ihrem Teller und warf sie sich in den Mund, bevor sie alles in die Spülmaschine räumte. Dieses Mal lief es perfekt.

Summend füllte sie drei vorbereitete Schalen mit der Hühnersuppe, setzte auf eine von ihnen einen Deckel und stellte sie in den Kühlschrank. Das würde sie morgen essen.

Sie streute Schnittlauch über die beiden verbliebenen Schalen, brachte sie zum Tisch und setzte sich.

Den Blick auf das Tablet gerichtet, langte er nach dem Löffel. Er tauchte ihn in die Suppe, steckte ihn in den Mund und erstarrte.

Sie sog die Luft ein. Schmeckte es ihm so gut? Oder so schlecht?

Langsam, ohne auch nur einen Gesichtsmuskel zu bewegen, zog er den Löffel aus dem Mund, platzierte ihn auf der weißen Tischdecke. Ein öliger Fleck breitete sich aus. Adan streckte den Rücken durch und legte die Stoffserviette links neben dem Teller ab.

Das Essen war beendet.

Ihre Augen füllten sich mit Tränen. Krampfhaft suchte sie nach dem Fehler. Hatte sie die Suppe kalt aufgetragen?

»Sie ist ungesalzen«, erklärte er.

Sie schüttelte den Kopf. »Nein.« Sie hatte sie doch abgeschmeckt. Sie griff nach dem Löffel. »Das kann nicht …«

Er schlug auf den Tisch, das Tafelsilber klirrte. Sie zuckte zusammen, ließ den Löffel fallen, drückte sich gegen die Stuhllehne und wich seinem Blick aus.

»Denkst du, ich lüge dich an?«

»Nein, nein, natürlich nicht.« Sie konnte es nur nicht fassen. Salz! Wie dumm musste man sein, um Salz zu vergessen? Die Grundzutat beinah jeden Gerichts. Und dann auch noch mit so etwas seinen Abend zu ruinieren. Nach dem anstrengenden Tag! Sie schluchzte auf. »Es tut mir leid.« Warum musste sie ausgerechnet heute etwas Neues ausprobieren?

Er seufzte. »Ich verstehe dich nicht, Ji. Alles, alles, was ich von dir verlange, ist die Wohnung sauber zu halten, mir ein Abendessen zuzubereiten und mir dabei Gesellschaft zu leisten. Das ist alles.«

»Es tut mir leid. Das wird nicht wieder vorkommen. Ich verspreche es dir.« Nächstes Mal würde sie alles doppelt, nein, dreifach durchgehen.

Er faltete die Hände, die Fingerspitzen berührten seine Nase. »Ich bin enttäuscht, Ji. Ich gehe um sechs Uhr morgens aus dem Haus und kehre erst um acht nach Hause zurück. Jeden Tag außer Sonntag. Und ich arbeite und arbeite. Und was tust du?«

Das war keine rhetorische Frage, er wollte eine Antwort. Sie befeuchtete die Lippen. »Ich sitze zu Hause.« Aber dafür konnte sie doch nichts. Beinah wäre es ihr herausgerutscht. Am liebsten hätte sie sich geohrfeigt.

Seufzend fuhr er sich durchs Haar. »Ich möchte, dass du ins Nebenzimmer gehst …«

Sie erschauderte, hob den Blick. Bitte nicht.

»… und erst wieder rauskommst, wenn ich weg bin.«

Sie hatte es verdient, sie wusste es, dennoch sträubte sich alles in ihr, im Nebenzimmer zu schlafen. Nur hatte sie keine Wahl. Gehorsam nickte sie. »Ja, Adan. Gute Nacht.«

Er starrte sie an.

Mit verschwommener Sicht stand sie auf, trottete auf das Nebenzimmer zu und strich über das Bedienelement an der Wand. Das System öffnete ihr die Tür. Ji zwang sich, hineinzugehen.

Bevor die Tür sich hinter ihr schloss, sah sie aus dem Seitenwinkel Adan die Suppenschale von sich wegstoßen.

 


2

 

 

Ächzend presste Ji die Oberschenkel zusammen, zog die Knie an und begann, zu schaukeln. Warum hatte sie bloß die Limonade getrunken?

Wenn sie sich ganz leise hinausschlich … Nein! Adan hatte die Anweisung unmissverständlich formuliert und sie würde ihn kein weiteres Mal enttäuschen.

Bereits jetzt fiel ihr nicht ein, wie sie den gestrigen Fehler wiedergutmachen konnte. Außer einem luxuriösen Abendessen und ihrem Körper hatte sie ihm nichts zu bieten. Warum verließ er sie nicht?

Tränen sammelten sich in den Winkeln ihrer schmerzenden Augen. Sie drückte sich tiefer in das Kissen hinein und sehnte sich nach Schlaf. Einfach, um zu vergessen, die Gewissensbisse, den aufkeimenden Hunger, den unerträglichen Druck auf der Blase. Ihr Körper weigerte sich. Wie war sie früher, bevor sie Adan kennengelernt hatte, eingeschlafen? Es kam ihr unwirklich vor. Selbst in seinem Bett, während seiner unzähligen Geschäftsreisen, kriegte sie kein Auge zu. Und im Nebenzimmer glichen die Nächte einer Folter.

Adan wusste es. Er hatte gewusst, dass sie Zeit haben würde, nachzudenken. Und das hatte sie. Immer und immer wieder war sie die Erinnerungen an die Zubereitung durchgegangen und hatte keine Erklärung für ihr Versagen gefunden. Irgendwann hatte ihr zermürbtes Gehirn ihr sogar vorgegaukelt, sie hätte Salz hinzugefügt.

Ihr Bauch verkrampfte sich. Sie stöhnte vor Schmerz auf, bohrte die Finger in das Kissen. Wie lange noch?

Sie schlug die Decke zurück und ging zum Bedienelement. 04:07. Knapp eine Stunde, bis sein Wecker klingeln würde, noch eine, bis er wegging. Das würde sie definitiv nicht schaffen. Sie wippte mit den Knien. Sie wollte sich nicht einnässen. Aber was sollte sie machen?

Noch nie hatte sie sich Adan widersetzt, kein einziges Mal. Wie würde er reagieren, wenn sie ohne seine Erlaubnis das Nebenzimmer verließ? Er würde es verstehen, bestimmt. Es war ein Notfall. Bei einem Feuer würde er auch nicht von ihr erwarten, dass sie im Nebenzimmer blieb. Nur brannte es nicht. Und ein bisschen Urin würde sie nicht umbringen.

Nein. Adan hatte sie stets mit Respekt behandelt, er würde sie niemals erniedrigen.

Sie streckte die Hand nach dem Bedienelement aus. Kurz bevor sie den Bildschirm berührte, zog sie die Hand weg. Es brachte nichts, sich selbst zu belügen. Sie fürchtete sich vor den Folgen. Es könnte ihr letzter Fehler sein. Und was sollte sie tun, wenn Adan sie verließ? Sie hing absolut von ihm ab.

Ihr Verstand drängte sie zum Umkehren, während ihre Blase die Vernunft ignorierte. Gleich würde ihr alles die Beine hinunterlaufen. Sie musste auf die Toilette. Jetzt gleich. Mist.

Mit einer Streichbewegung wies sie das System an, die Tür zu öffnen. Schabend schob sie sich in die Wand. Zu laut, viel zu laut! Hitze wallte in Ji auf. Ihr Blick huschte über das Wohnzimmer. Es lag verlassen im ersten Grau des Morgens. Adan war im Schlafraum. Zitternd stieß sie die Luft aus, ihre Brust bebte.

Ji steckte den Kopf nach rechts um die Ecke. Durch den Türschlitz seines Zimmers fiel kein Licht. Er schlief noch. Gut. Mit pochendem Herzen tastete sie sich voran, achtete darauf, bei jedem Schritt den Fuß abzurollen, behielt dabei den Türschlitz im Auge, jederzeit bereit, sofort umzukehren.

Sie sperrte die Tür zum Bad auf. Das schleifende Geräusch raubte ihr den Atem. Es musste Adan einfach aufwecken. Sie lauschte angespannt. Nichts rührte sich. Sie seufzte und ging hinein. Die Deckenleuchte schaltete sich automatisch an. Hinter ihr rastete die Tür ein.

Beim Anblick des WCs sackte sie innerlich zusammen. Warum hatte sie nicht daran gedacht? Die Spülung veranstaltete unglaublichen Krach. Adan würde sie hören und …

Nein! Wenn er sie verließ, weil sie die Toilette aufsuchte, dann war er genauso ein … ein … ein schlechter Mensch wie all die anderen Männer zuvor in ihrem Leben. Sie stampfte auf den Sitz zu.

Es sei denn, sie benutzte die Dusche. Schließlich musste sie keinen Konflikt provozieren, richtig?

Abrupt blieb sie stehen und sah zum Abfluss durch die Glaswand. Sie stierte ihn an, biss sich auf die Unterlippe. Die Blase drängte sie, eine Entscheidung zu treffen. Verdammt! Sie trat hinein, schob ihr Höschen hinunter, hockte sich hin und zielte genau auf den Ablaufdeckel. Das Rauschen setzte ein. Ein Seufzer entwich ihrer Kehle und ihre Lider flatterten.

Die letzten Tropfen fielen auf den schwarzen Stein und flossen die Senke hinunter in den Abfluss.

Mit Toilettenpapier wischte sie die Dusche trocken und versteckte die feuchten Blätter hinter einem Schränkchen. Sie würde sie später wegwerfen. Im Moment galt es, hier zu verschwinden.

Sie verzichtete auf Händewaschen, um Lärm zu vermeiden, öffnete die Tür und blickte vorsichtig nach rechts. Durch den Türschlitz fiel noch immer kein Licht.

Ein Räuspern.

Sie wirbelte herum, drückte sich gegen den Türrahmen. Nein, bitte nicht.

Adan sah sie mit hocherhobenen Brauen an.

 


3

 

 

»Was machst du hier?«, fragte Adan ruhig und dennoch bestimmt.

Ji starrte ihn mit weit aufgerissenen Augen an. Die Kante des Türrahmens bohrte sich in ihren Rücken, aber sie rührte sich nicht, fürchtete, ihn mit einer falschen Bewegung zu provozieren. Er hatte sie noch nie geschlagen, nicht einmal geohrfeigt. Und es wäre ihr lieber, es blieb dabei.

Sie öffnete den Mund, brachte nur ein Keuchen hervor.

»Ja?« Er klang ungeduldig.

»Ich …« Sie befeuchtete sich die Lippen. »Ich musste auf die Toilette. Ganz dringend.« Ihre Stimme versagte.

Er legte den Kopf schief und musterte sie eingehend. Ein Zittern erfasste sie. Er glaubte ihr nicht. »Es war ein Notfall, Adan, wirklich. Du weißt doch, ich würde mich dir niemals widersetzen.« Schützend schlang sie die Arme um ihren Oberkörper.

Er kniff die Augen zu Schlitzen zusammen. »Du warst also auf der Toilette?«

»Ja.«

»Warum habe ich dann die Spülung nicht gehört?«

Sie erschauderte. Die Spülung. Die verdammte Spülung. Sie konnte ihm nicht die Wahrheit sagen. Er kontrollierte regelmäßig jede Oberfläche auf Staubpartikel. Wenn er vom Urin in der Dusche erfuhr, würde er sie definitiv schlagen. Oder schlimmer: Sie verlassen. »Ich habe Verstopfung.« Ihr Puls dröhnte ihr in den Ohren. Lüge, Lüge, Lüge.

Er betrachtete sie, als würde er sie durchschauen. Ihre Kehle verengte sich.

Er seufzte erschöpft. »Okay, dafür habe ich gerade echt keine Nerven. Machst du mir bitte Frühstück, wenn du schon mal wach bist? Dann kann ich wenigstens arbeiten.«

Sie japste erleichtert. Er war nicht sauer. Jetzt durfte sie keinesfalls einen Fehler begehen. »Natürlich, möchtest du etwas Bestimmtes?«

»Nein, Ji. Einfach einen doppelten Espresso und irgendwas dazu. Bitte.« Er massierte sich die Schläfen.

»Kommt sofort.« Sie eilte Richtung Küche. Auf der Höhe des Esstisches blieb sie stehen. Er war abgeräumt. Gestern, nach seinem langen Tag hatte Adan ihre Arbeit erledigt. Sie verdiente ihn nicht. Sie sah zurück, um sich zu entschuldigen, aber er war bereits im Bad verschwunden. Das Wasser in der Dusche setzte ein. Armer Adan.

Mit eingezogenen Schultern betrat sie die Küche und schaltete die Espressomaschine zum Aufheizen an. Aus dem Kühlschrank nahm sie körnigen Frischkäse heraus, den sie in eine Schale gab. Sie dekorierte ihn mit Himbeeren, ließ spiralförmig Honig darüber laufen und wandte sich der Minze auf dem Fensterbrett zu. Die Blätter hingen schlaff hinunter. Sie biss die Zähne zusammen. Trotz genügend Sonne und täglicher Pflege welkten die Kräuter wenige Tage nach dem Kauf. Was machte sie falsch? Sie verdrängte die Frage. Im Moment spielte es keine Rolle, Adan wollte frühstücken.

Sie fand einen letzten saftig grünen Stängel, brach ihn ab und steckte ihn zwischen zwei Himbeeren. Fertig. Es sah perfekt aus, genauso wie Adan es mochte. Am liebsten hätte sie es selbst gegessen.

Sie griff nach einem weiteren Teller, um sich eine Portion zuzubereiten, und verharrte. Nein, sie hatte noch Suppe, diese blöde Suppe, mit der alles angefangen hatte. Hätte sie sich bloß nicht vom Newsletter dazu verleiten lassen. Mit diesem Klassiker verführen Sie Ihren Liebsten. Pah!

Sie würde die Suppe ungesalzen essen. Das wäre fair. Sie holte sie aus dem Kühlschrank und schob sie in die Mikrowelle.

Im Wohnzimmer scharrte ein Stuhl. Sofort platzierte sie eine Tasse unter den Auslauf, wärmte sie vor und schüttete Bohnen in die Mühle. Auf der Verpackung naschte eine glücklich dreinblickende Schleichkatze rote Kaffeekirschen. Von wild lebenden Fleckenmusangs versprach der Hersteller. Adan hatte die Plantage besichtigt, um die Angabe zu prüfen. Er hasste Tierquälerei.

Sie drückte zweimal auf Espresso und die Maschine mahlte die Bohnen. Einen Augenblick später floss der Kaffee, erfüllte die Luft mit seinem widerlichen Geruch. Sie rümpfte die Nase. Warum gab Adan ein Vermögen für dieses Getränk aus? Zum Glück erwartete er nicht, dass sie es trank.

Sie stellte sein Frühstück auf eine silberne Servierplatte und brachte sie hinaus. Er saß mit nacktem Rücken zu ihr gedreht. Die aufgehende Sonne zauberte einen roten Schimmer auf seine feuchte Haut. Sie berührte ihn.

Er zuckte mit der Schulter zurück. »Nicht jetzt.« Er beugte sich noch tiefer über sein Tablet.