ADRIAN DOYLE

&

TIMOTHY STAHL

 

 

BLUTVOLK, Band 26:

Die Wölfin

 

 

 

Roman

 

 

 

Apex-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Das Buch 

Die Autoren 

 

Was bisher geschah... 

 

DIE WÖLFIN 

 

Vorschau auf BLUTVOLK, Band 27: EIN HÜTER ERWACHT 

von ADRIAN DOYLE und TIMOTHY STAHL 

 

Glossar 

 

Das Buch

 

Sie ist eine Frau mit einem tödlichen Geheimnis. Sie trägt einen Fluch in sich: Zu jedem vollen Mond wandelt sich die Schöne in eine von Raubtierinstinkten beseelte Bestie!

Und sie sucht eine andere Bestie. Ihren Geliebten. Landru.

Nona ahnt, dass sie sterben wird, falls sie ihm jemals wieder gegenübersteht. Denn einst trank sie sein Blut aus dem Lilienkelch. Die Seuche, die Landru nun in sich trägt – befällt sie nicht nur Vampire? Vernichtet sie alle Kinder des Kelchs?

Für Lilith ist Nona eine ebenso tödliche Gefahr. Denn Lilith und Landru haben ihre Persönlichkeit verloren, erinnern sich nicht an ihr früheres Leben. Was wird geschehen, wenn Nona ihrem Todfeind die Erinnerung zurückbringt?

 

BLUTVOLK – die Vampir-Horror-Serie von Adrian Doyle und Timothy Stahl: jetzt exklusiv als E-Books im Apex-Verlag.

Die Autoren

 

 

Manfred Weinland, Jahrgang 1960.

Adrian Doyle ist das Pseudonym des deutschen Schriftstellers, Übersetzers und Lektors Manfred Weinland.

Weinland veröffentlichte seit 1977 rund 300 Titel in den Genres Horror, Science Fiction, Fantasy, Krimi und anderen. Seine diesbezügliche Laufbahn begann er bereits im Alter von 14 Jahren mit Veröffentlichungen in diversen Fanzines. Seine erste semi-professionelle Veröffentlichung war eine SF-Story in der von Perry-Rhodan-Autor William Voltz herausgegebenen Anthologie Das zweite Ich.

Über die Roman-Agentur Grasmück fing er Ende der 1970er Jahre an, bei verschiedenen Heftroman-Reihen und -Serien der Verlage Zauberkreis, Bastei und Pabel-Moewig mitzuwirken. Neben Romanen für Perry-Rhodan-Taschenbuch und Jerry Cotton schrieb er u. a. für Gespenster-Krimi, Damona King, Vampir-Horror-Roman, Dämonen-Land, Dino-Land, Mitternachts-Roman, Irrlicht, Professor Zamorra, Maddrax, Mission Mars und 2012.

Für den Bastei-Verlag hat er außerdem zwei umfangreiche Serien entwickelt, diese als Exposé-Autor betreut und über weite Strecken auch allein verfasst: Bad Earth und Vampira.

Weinland arbeitet außerdem als Übersetzer und Lektor, u. a. für diverse deutschsprachige Romane zu Star Wars sowie für Roman-Adaptionen von Computerspielen.

Aktuell schreibt er – neben Maddrax – auch an der bei Bastei-Lübbe erscheinenden Serie Professor Zamorra mit.

 

 

 

Timothy Stahl, Jahrgang 1964.

Timothy Stahl ist ein deutschsprachiger Schriftsteller und Übersetzer. Geboren in den USA, wuchs er in Deutschland auf, wo er hauptberuflich als Redakteur für Tageszeitungen sowie als Chefredakteur eines Wochenmagazins und einer Szene-Zeitschrift für junge Leser tätig war.

In den 1980ern erfolgten seine ersten Veröffentlichungen im semi-professionellen Bereich, thematisch alle im fantastischen Genre angesiedelt, das es ihm bis heute sehr angetan hat. 1990 erschien seine erste professionelle – sprich: bezahlte - Arbeit in der Reihe Gaslicht. Es folgten in den weiteren Jahren viele Romane für Heftserien und -reihen, darunter Jerry Cotton, Trucker-King, Mitternachts-Roman, Perry Rhodan, Maddrax, Horror-Factory, Jack Slade, Cotton Reloaded, Professor Zamorra, John Sinclair u. a.

Besonders gern blickt er zurück auf die Mitarbeit an der legendären Serie Vampira, die später im Hardcover-Format unter dem Titel Das Volk der Nacht fortgesetzt wurde, und seine eigene sechsbändige Mystery-Serie Wölfe, mit der er 2003 zu den Gewinnern im crossmedialen Autorenwettbewerb des Bastei-Verlags gehörte.

In die Vereinigten Staaten kehrte er 1999 zurück, seitdem ist das Schreiben von Spannungsromanen sein Hauptberuf; außerdem ist er in vielen Bereichen ein gefragter Übersetzer. Mit seiner Frau und seinen beiden Söhnen lebt er in Las Vegas, Nevada.

  Was bisher geschah...

 

 

Lilith Eden, Tochter eines Menschen und einer Vampirin, wird von der Urmutter aller Vampire benutzt, um deren Versöhnung mit Gott in die Wege zu leiten. Nachdem sie ihre Aufgabe erfüllt hat und der Fluch von der Ur-Lilith genommen wurde, sendet Gott eine Seuche auf die Erde, die alle Sippenoberhäupter infiziert und von ihnen auf die Vampire und Dienerkreaturen überspringt. Sie sterben, als sie ihren Blutdurst nicht mehr löschen können. Lilith erhält den Auftrag, die verbleibenden Oberhäupter zu töten.

Als sich durch das Sterben der Vampire das Gleichgewicht zwischen Gut und Böse auf der Erde verschiebt, wird Gabriel geboren, eine Inkarnation Satans. Erst ist sich der Knabe, der rasch heranwächst, seiner Identität nicht bewusst, doch schließlich erkennt er seine Aufgabe: ein Tor zur Hölle zu öffnen, das von der Bruderschaft der Illuminati vor den Toren Roms im Kloster Monte Cargano bewacht wird. Letztlich scheitert das Vorhaben – nicht zuletzt durch Lilith Eden, die gemeinsam mit ihrem ärgsten Feind Landru durch das Tor in die Hölle – eine Dimension, die durch den Fall des Engels Luzifer entstand – gerissen wird.

Bei ihrer Flucht aus den Gefilden der Hölle werden Liliths und Landrus Persönlichkeit gelöscht. Während Salvat, Führer der Illuminati und in Wahrheit der Erzengel Michael, in einer verzweifelten Aktion durch die Entfesselung magischer Energien den Klosterberg sprengt und das Tor somit versiegelt, können die beiden in ein nahes Dorf entkommen. Sie wissen nichts mehr über ihr früheres Leben; nicht einmal, dass sie Vampire sind!

Auch Gabriel übersteht die Explosion. Er zieht sich mit Hidden Moon, einem indianischen Vampir, der einige Zeit Liliths Begleiter war, zurück. Hidden Moon konnte durch den Kontakt mit seinem Totemtier – einem Adler – das Gute in sich bewahren. Als Lilith den Adler tötete, ging diese Fähigkeit auf sie über. Ohne Lilith verfiel Hidden Moon dem Bösen.

Über Landrus Tarnidentität Hector Landers finden dieser und Lilith erste Spuren. Die seinen weisen nach Paris, die ihren nach Sydney. So trennen sich die beiden. In Frankreich wird Landru mit seiner dunklen Vergangenheit konfrontiert und erfährt als erster die Wahrheit über sich, als ein Geschäftsmann, dessen Sohn er einst zum Vampir machte, sich rächen will. In Australien findet Lilith den Ort ihrer Geburt, wird aber von der dortigen Macht verstoßen, als sie diese nicht mehr erkennt. Schließlich greift Moskowitz sie auf, ein früherer Kollege von Liliths Freundin Beth MacKinsay. Von ihm hofft Lilith mehr über sich zu erfahren – doch Moskowitz weiß nichts von ihrer wahren Identität. Auch nicht, dass sie Beth unter dem Einfluss des Lilienkelchs, des Unheiligtums der Vampire, vor Monaten getötet hat...

DIE WÖLFIN

 

 

 

 

 

Die eigentliche Antwort

ist immer der Tod.

Günter Eich

 

Vergangenheit, Juli 1996

Himalaja, Grenzgebiet zwischen Nepal und Indien

Wieder stand eine Nacht bevor, in der das Scherbengericht sein Urteil fällen würde. Rani, der die Scherben an die Urteilsfinder zu überbringen hatte, überblickte die Häuser von einem höher gelegenen Felsvorsprung aus.

Yakshamalla.

Eines von sieben Dörfern, die dem KULT dienten.

Wie gramgebeugte Pilger strömten die Bewohner der ärmlichen Behausungen zum Zentrum des Dorfes, während die Sonne glutrot hinter den Schroffen der Gebirgszüge versank.

Die Schatten wuchsen. Sie beraubten die Welt ihrer Farbe und die Menschen ihrer Hoffnung.

Rani konnte die Angst förmlich riechen, und es berührte ihn auch im zweiten Jahr seines Amtes immer noch schmerzlich, dass ein Junge wie er, ein Junge von gerade einmal zwölf Jahren, als einziger in Yakshamalla keine Furcht vor dem Urteil der Scherben haben musste.

Der Bote war tabu.

Die Namen der Boten durfte von keinem Bewohner der Dörfer in die Tonscherbe geritzt werden, die zum Ende eines jeden Monats in die Obelisken, die sich wie gewaltige Dorne aus schwarzglänzendem Stein in jedem der Dörfer erhoben, geworfen wurden.

Sieben Dörfer, sieben Todesboten.

Und sieben Opfer, die es Monat für Monat traf.

Entsprechend fruchtbar waren die Menschen, die hier lebten – mussten es sein. Früh wurden sie miteinander vermählt. Früh gebaren sie Kinder, die nicht selten als Waisen heranwuchsen, um die sich die Gemeinschaft kümmerte.

Bis auch ihre Namen in genügend hoher Zahl auf den Scherben erschienen...

Der KULT war gnadenlos. Und die Bewohner der Dörfer in vielerlei Hinsicht auch. Das Böse, das ihnen widerfuhr, gaben sie weiter. Jeder durfte sich, sobald er des Schreibens mächtig war, am Gerichtstag beteiligen, durfte den Namen eines ihm missliebigen Mitmenschen aus seiner Umgebung in die tönerne Tafel ritzen, die im Schlund des Obelisken verschwand.

Die am häufigsten benannte Person war auserwählt. Und verdammt, zu verschwinden. 

Niemand wusste im Voraus, wen es treffen würde, aber am Morgen nach der Wahl fehlte jeweils ein Bewohner in jedem der sieben Dörfer.

Was den Männern, Frauen und Kindern widerfuhr, wusste ebenfalls niemand, zumindest nicht verlässlich. Keiner der Verschwundenen war jemals wiedergekehrt – weder tot noch lebendig. Grund genug, das Schlimmste zu befürchten.

Und das zu Recht, dachte Rani düster, der wohl als einziger hier in Yakshamalla etwas mehr über diese Dinge wusste. Mehr, als er manchmal ertragen zu können meinte.

Schon sein Vater war der hiesige Todesbote gewesen, und nach dessen plötzlichem Ableben hatte die Erbfolge Rani bestimmt, das hohe Amt im zarten Alter von zehn Jahren zu übernehmen.

Damals waren die Dinge in Fluss geraten. Fremde waren in den fast unzugänglichen Regionen des Siebentausenders erschienen, an dessen Flanken sich die sieben Dörfer in schwindelerregender Höhe schmiegten.

Unheimliche Fremde.

Ein Mann, der Yakshamalla heimgesucht und seine Opfer ausgeblutet wie Schlachtvieh hinterlassen hatte – und eine wunderschöne Frau, die schönste, die Rani überhaupt jemals gesehen hatte...1  

»Rani?«

Er schrak leicht zusammen. Als er sich umdrehte, bemerkte er Sugriva, die sich geschickt dem Rand des Felsens näherte, wo er sich niedergelassen hatte.

»Ich wusste, dass ich dich hier finden würde...« Sie hatte eine überaus verhaltene Stimme, die zu ihrer zierlichen Figur passte. Sugriva war zwei Jahre älter als Rani, und in diesem Sommer hatten sie entdeckt, dass sie etwas füreinander empfanden.

Sehr viel sogar.

Es war den Todesboten nicht untersagt, Beziehungen mit Mädchen oder Frauen einzugehen. Aber es war auch nicht unproblematisch.

Sugriva war strahlend schön wie Laxmi, die Gattin Vishnus, und wurde von vielen Männern des Dorfes begehrt.

»Hast du schon gewählt?« fragte Rani zur Begrüßung. »Ich habe dich nicht gesehen.«

Sugriva nahm neben ihm Platz. So nah, dass er die Wärme ihres Körpers durch sein und ihr Gewand hindurch spüren konnte.

»Ich ging sehr früh und...«

»Und?« Ihr Ton ließ Rani Böses ahnen.

»Ich gab eine leere Scherbe ab.«

Er sog den Atem ein. »Du musst verrückt sein!«

»Im Gegenteil. Ich war noch nie bei so klarem Verstand!«

Er rückte ein wenig von ihr ab. »Das bezweifle ich. Sie werden erkennen, von wem die leere Tafel stammt. Und dann werden Sie dich furchtbar für deinen Frevel strafen!« 

»Wer sind 'sie'?«

»Sei still!«

»Hast du schon daran gedacht, von hier fortzulaufen? Wir könnten gemeinsam fliehen...«

»Es gibt kein Entkommen. Sie würden uns überall finden und zur Verantwortung ziehen. Du hast keine Ahnung, welche Macht Sie besitzen.« 

Sugriva zuckte die Schultern. Ihre kleinen Brüste, die Rani schon im Schatten des Auwaldes hatte liebkosen dürfen, zeichneten sich unter der weiten, festen Kleidung, die nur den Liebreiz ihres Gesichts aussparte, nicht ab.

»Dann erzähl es mir«, forderte sie. »Ich bin neugierig. Und, wer weiß, vielleicht ist dies die letzte Gelegenheit, etwas über 'sie' zu erfahren, bevor...«

Er blickte fragend, als sie mitten im Satz abbrach. »Bevor?«

»... ich 'ihnen' gegenüberstehe.«

Seine Hände ballten sich zu Fäusten, und Blutgeschmack füllte seinen Mund, so fest hatte er sich auf die Unterlippe gebissen. »Mit so etwas scherzt man nicht!«

Ihr Lächeln glitt ab ins Bizarre. »Ich scherze auch nicht, Rani. Im Gegenteil.« Ihre Augen waren mit einem Mal glashart – Glas, in dem sich feine Sprünge bildeten, und im nächsten Moment quollen erste Tränen daraus hervor.

Betroffen erkannte Rani, dass sie ihm schon die ganze Zeit etwas vormachte. So stark und rebellisch, wie sie sich gab, war sie nicht annähernd. In diesem Moment kam sie ihm wie ein kleiner Vogel vor, der aus seinem Nest gefallen war – verletzt und ohne Hoffnung, je wieder in die verlorene Geborgenheit zurückkehren zu können.

Er schlang den Arm um sie und drückte sie an sich. Aufschluchzend presste sie das Gesicht gegen seine Wange.

»Erzähl. Was ist passiert? Hat dich etwa jemand...?«

»Bei Shiva, nein – nicht, was du denkst!«

»Dann hat es mit heute Nacht zu tun?«

Sie nickte.

Im ersten Moment wusste er nicht, was er sagen sollte. Ihm fiel kein tröstliches Wort ein. Denn ihre Angst war allzu berechtigt.

Wie oft hatte er es in sternklaren Nächten zur Sprache gebracht, aber nie hatte Sugriva sich eine Blöße gegeben, wenn es um die tödliche Gefahr ging, die ihre Liebe und Zukunft bedrohte. Er hatte sie für eine heillose Romantikerin gehalten – und sie dafür noch um so mehr geliebt. Er, der mit zwölf Jahren reifer war – auch sein musste – als mancher Mann mit zwanzig. Das Leben hatte ihn ebenso gestählt wie dessen dunkler Widersacher – der Tod. 

Er strich dem Mädchen mit dem von kunstvollen Kämmen zusammengehaltenen schwarzen Haar zart über das Gesicht.

Unten im Dorf schrumpfte die Menschenschlange, die sich auf den Obelisken zubewegte. Diejenigen, die ihre Tafeln eingeworfen hatten, zerstreuten sich rasch, kehrten in ihre Hütten zurück, wo sie auch die ganze Nacht im Schoße der Familie oder ganz allein für sich verbringen würden. Es machte kaum einen Unterschied. Selbst in Gesellschaft blieb jeder mit seinen Gedanken und der Furcht allein, diesmal könnte er von den Scherben berufen werden. 

Berufen wofür?

Den Göttern im Tempel zu dienen?

Sie als Opfergabe gnädig zu stimmen? 

Nicht einmal die Frage, welche Götter dort oben hausten im Heiligen Bezirk, der über den sieben Dörfern thronte, war schlüssig geklärt – und das, obwohl der KULT seit unendlich vielen Generationen seine Fessel des Terrors um die Menschen schlang.

Niemand konnte sich dem entziehen – Ranis Reaktion auf Sugrivas Ansinnen waren durchaus keine leeren Worte gewesen. Immer wieder hatten in Yakshamalla, Birethanti und den anderen fünf Dörfern Männer und Frauen versucht, dem Schicksal, das sie seit Menschengedenken verfolgte, zu entrinnen. Sie alle waren verschwunden und – im Gegensatz zu den Erwählten des Scherbengerichts – irgendwann wieder aufgetaucht: Grauenhaft verstümmelt, zur Mahnung an die übrige Bevölkerung, hatten sie irgendwann morgens auf dem Platz neben dem Obelisken gelegen. Enthäutet, aber immer noch so gut erkennbar, dass es keine Zweifel an ihrer Identität gegeben hatte.

Nein, dem KULT konnte man nur die Stirn bieten, wenn man bereit war, sich mit seinem Tod abzufinden – aber dann konnte man ebenso gut auf sein Glück vertrauen, von den Scherben nicht verurteilt zu werden. 

Zumal Rani ernsthaft zweifelte, dass die Menschen, die den Ausbruch aus ihrer Gemeinschaft versuchten, dies nur mit dem Tod bezahlen mussten. Er fürchtete vielmehr, auch ihre Seelen könnten von denen, die über den Tempel wachten, verheert und zerstört werden. 

Dabei hatte es damals, vor zwei Jahren, Anlass zur Hoffnung gegeben, der KULT sei zerschlagen worden. Eben von jener fremden Schönheit, die damals Ranis Leben gerettet hatte – einer jungen Frau, Lilith mit Namen.

Lilith...

Er hatte sie nie wiedergesehen. Und der KULT hatte weiter fortbestanden. Genauso streng, genauso grausam wie seit Anbeginn der Überlieferungen...

Rani verdrängte die Gedanken an verpasste Chancen. Er brauchte sich nur Sugrivas Nähe bewusst zu werden, um ins ernüchternde Jetzt zurückzufinden. Und sich zu erinnern, was ihm Sugriva eröffnet hatte.

Eine leere Tafel...

Rani spürte einen Stich im Herzen. »Sie dulden keine Verhöhnung... Ich begreife dich nicht. Wenn du mich wirklich liebst, warum setzt du dann alles aufs Spiel?« 

Sie hatte aufgehört zu weinen. Ihr Gesicht löste sich von seinem. Und als er es sah, erschrak er vor der Grimasse noch mehr als vor dem Blick ihrer Augen.

»Ich habe sie belauscht«, flüsterte er.

Er verstand nicht. »Wen hast du belauscht?«

»Goprum, Marathe und ein paar andere... Du weißt schon, sie sind immer zusammen, und ich hatte schon lange den Verdacht, dass sie etwas aushecken. Deshalb bin ich ihnen nachgeschlichen, als sie sich heute Morgen am Bachlauf trafen..«

Sugriva schwieg kurz und schürzte ihre Lippen. Rani überkam das Verlangen, sie zu küssen. Ihre Zunge mit der seinen zu berühren...

... aber er bezähmte sich. Die Situation war zu ernst.

»Goprum...«, murmelte er und verzog selbst das Gesicht, weil er wusste, dass der drei Jahre ältere Junge Sugriva seit einiger Zeit nachstellte. Zudringlich war er jedoch nie geworden.

»Worüber haben sie geredet?« fragte er. »Ich verstehe nicht, was das eine mit dem anderen –«

»Zuerst haben sie darüber geredet, wie sie sich gegenseitig gebrüstet, wie schlau sie es schon eine ganze Zeitlang anstellen, dass die Scherben sie verschonen müssen 

Rani horchte auf.

»Und wie?«

Sugrivas Züge entspannten sich ein wenig. Rani konnte regelrecht spüren, welche Anstrengung es sie kostete, ihre Fassung zurückzugewinnen.

»Hast du nie darüber nachgedacht, wie leicht es ist, die Scherben zu missbrauchen?« fragte sie nach einer kurzen Pause.

»Du meinst, ich...?«

»Ich rede nicht von dir«, beruhigte sie ihn, »auch wenn du natürlich in der Lage wärst, dein Amt zu missbrauchen, wenn du das wolltest. Aber ich weiß, das würdest du nie tun... Nein, ich spreche immer noch von Goprum und seinen Mitverschwörern. Ich ahnte nicht, wie viele sich von ihm beeinflussen lassen, weil sie ihn mögen – oder fürchten. Letztlich läuft es auf dasselbe hinaus.«

»Du redest von Verschwörung. Willst du etwa andeuten, dass...?«

alle