Mark Twain


Tom Sawyer als Detektiv

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Klassiker als ebook herausgegeben bei RUTHeBooks, 2016


ISBN: 978-3-95923-119-0


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Elftes Kapitel



Der nächste Monat war für uns alle sehr traurig. Die arme Benny nahm sich zusammen, so gut sie konnte; auch Tom und ich trugen unser möglichstes zur allgemeinen Aufheiterung bei, aber das half wenig. Wir besuchten die alten Leute jeden Tag, was furchtbar trübselig war. Onkel Silas hatte meist schlaflose Nächte, oder er wandelte im Schlaf; sein Aussehen war erbärmlich, auch nahm er körperlich und geistig so sehr ab, dass wir alle fürchteten, er würde vor Kummer krank werden und sterben.

Wenn wir ihm Mut zusprachen, schüttelte er nur den Kopf und meinte, wir wüßten nicht, welche Last es wäre, einen Mord auf der Seele zu tragen, sonst würden wir anders reden. Wie oft wir ihm auch wiederholten, dass es kein Mord, sondern fahrlässiger Totschlag wäre, er ließ sich nicht davon abbringen. Ja, als der Tag der Verhandlung näher rückte, war er ganz bereit einzugestehen, er habe den Mann mit Vorbedacht getötet. Das verschlimmerte die Sache natürlich hundertfach; Tante Sally und Benny verzehrten sich fast vor Angst. Doch nahmen wir Onkel das Versprechen ab, dass er im Beisein anderer keine Silbe von dem Mord sagen wolle, und das war wenigstens ein Trost.

Den ganzen Monat über zerbrach sich Tom den Kopf, um einen Ausweg zu finden. Viele Nächte musste ich mit ihm aufbleiben und Pläne schmieden, aber wir arbeiteten uns nur unnütz ab, es führte alles zu nichts. Ich war zuletzt so mutlos und niedergeschlagen, dass ich Tom riet, es aufzugeben; doch er war anderer Meinung und ließ nicht nach, sich mit immer neuen Entwürfen das Hirn zu zermartern.

So kam Mitte Oktober der Tag der Gerichtsverhandlung. Wir waren alle da und der Saal natürlich gedrängt voll. Der arme alte Onkel Silas sah selbst fast aus wie ein Toter, so hohläugig, abgezehrt und jämmerlich. Benny und Tante Sally saßen ihm rechts und links zur Seite, tief verschleiert und gramerfüllt. Aber Tom saß bei unserm Verteidiger und redete in alles mit herein; der Anwalt ließ ihn gewähren, und der Richter auch. Manchmal hielt er's für besser, dem Verteidiger die Sache ganz aus der Hand zu nehmen, denn der war nur ein Winkeladvokat und verstand so gut wie gar nichts.

Die Vereidigung der Geschworenen war vorüber, und der öffentliche Ankläger hielt seine Rede. Er sagte so schreckliche Dinge von Onkel Silas, dass Tante Sally und Benny zu weinen anfingen. Was er über den Mord berichtete, nahm uns fast den Atem, es war so ganz anders als Onkels Erzählung. Er sagte, er werde beweisen, dass zwei zuverlässige Zeugen gesehen hätten, wie Onkel Silas den Jupiter Dunlap umgebracht habe. Es sei mit Vorbedacht geschehen denn er habe gerufen, er wolle ihn kaltmachen, während er mit dem Knüppel zuschlug, dann habe er Jupiter ins Gebüsch geschleppt, der sei aber schon ganz tot gewesen. Später sei Onkel Silas wiedergekommen und habe die Leiche ins Tabakfeld geschafft, was zwei Männer bezeugen könnten. In der Nacht habe er sie dann begraben und sei auch dabei von jemand beobachtet worden.

Ich sagte mir, der arme alte Onkel müsse uns belogen haben, weil er sich darauf verließ, dass ihn niemand gesehen hätte und er Tante Sally und Benny nicht das Herz brechen wollte. Daran hatte er ganz recht getan; jeder, der nur das geringste Gefühl im Leibe hatte, würde auch gelogen haben, um den beiden, die doch gar nichts dafür konnten, Kummer und Herzeleid zu ersparen. Unser Verteidiger machte ein bedenkliches Gesicht, und auch Tom war einen Augenblick wie auf den Mund geschlagen, doch nahm er sich rasch wieder zusammen und tat ganz zuversichtlich, aber es war ihm schlecht dabei zumute, das weiß ich. Unter den Zuhörern entstand eine furchtbare Aufregung während der Rede.

Als der Ankläger fertig war. setzte er sich, und die Zeugen wurden aufgerufen. Zuerst kamen mehrere, um zu beweisen, dass Onkel Silas dem Ermordeten feindlich gesinnt gewesen war. Sie sagten, sie hätten ihn öfters Drohungen gegen Jupiter ausstoßen hören; es sei zuletzt so schlimm geworden, dass alle Welt darüber gesprochen habe. Der Ermordete, dem um sein Leben bangte, habe mehrmals geäußert, Onkel Silas würde ihn gewiß noch einmal umbringen.

Das Kreuzverhör, das Tom und unser Verteidiger mit diesen Zeugen anstellten, nützte nichts; sie beharrten bei ihrer Aussage.

Zunächst betrat Lem Beebe den Zeugenstand. Das rief mir den Tag unserer Ankunft ins Gedächtnis, wie Lem mit Jim Lane an uns vorbeigegangen war und gesagt hatte, er wollte sich einen Hund von Jupiter Dunlap borgen. Alles zog wieder an meiner Erinnerung vorüber: Bill und Hans Withers, die von einem Neger redeten, der Onkel Silas Korn gestohlen hatte, und unser Geist, der aus dem Ahornwäldchen kam und uns so erschreckte. Der saß jetzt leibhaftig vor mir und nahm als Taubstummer und Fremder obendrein einen besonderen Stuhl innerhalb der Schranken ein; da konnte er gemütlich die Beine übereinanderschlagen, während die übrigen Zuhörer so zusammengepfercht waren, dass sie kaum Platz zum Atemholen hatten.

Lem Beebe leistete den Eid und begann: "Am zweiten September gegen Sonnenuntergang ging ich mit Jim Lane am Zaun des Angeklagten vorbei. Da hörten wir lautes Reden und Schreien, ganz in unserer Nähe, nur das Haselgebüsch war dazwischen. Wir erkannten die Stimme des Angeklagten, welche rief: ,Ich hab' dir's oft gesagt, ich bringe dich noch um!' Dann sahen wir einen Knüppel, der hoch emporgehoben wurde und wieder hinter dem Gebüsch verschwand; wir hörten einen dumpfen Schlag und gleich darauf ein Ächzen. Nun krochen wir leise näher, und als wir durch den Zaun guckten, sahen wir Jupiter Dunlap tot am Boden liegen, und neben ihm stand der Angeklagte mit dem Knüppel in der Hand. Er schleppte die Leiche fort, um sie zu verbergen; wir aber duckten uns damit wir nicht gesehen würden, und machten, dass wir wegkamen."

Es war schrecklich. Den Zuhörern erstarrte fast das Blut in den Adern, und im ganzen Saal herrschte lautlose Stille. Erst als der Zeuge fertig war, hörte man die Leute seufzen und stöhnen, und sie sahen einander mit entsetzten Mienen an.

Am meisten musste ich mich aber über Tom verwundern. Bei den ersten Zeugen hatte er aufgepaßt wie ein Schweißhund, und sobald einer mit seiner Aussage zu Ende war, fuhr er drauflos und tat alles. was er konnte, um ihn auf Unwahrheiten zu ertappen und sein Zeugnis zu entkräften. Auch jetzt, als Lem anfing und nichts davon sagte, dass er mit Jupiter gesprochen hatte und sich seinen Hund borgen wollte, glühte Tom vor Eifer, und ich merkte, wie er nur darauf lauerte, Lem ins Kreuzverhör zu nehmen. Dann dachte ich, würden wir beide als Zeugen auftreten und erzählen, was wir aus Lems eigenem Mund gehört hatten. Ich sah wieder zu Tom hin, aber der war auf einmal wie ausgewechselt. Er hörte gar nicht mehr auf das, was Lem sagte, sondern saß ganz in sich versunken da, als schweiften seine Gedanken in weiter, weiter Ferne. Als Lem fertig war, stieß unser Verteidiger Tom mit dem Ellenbogen an; einen Augenblick sah er verwirrt auf und meinte: "Nehmen Sie den Zeugen ins Verhör, wenn Sie wollen; aber mich lassen Sie in Ruhe, ich muss nachdenken."

Na, da hörte doch alles auf; es ging über meine Begriffe. Ich sah auch, wie Benny und ihre Mutter den Schleier zurückschoben und mit angstvoller Miene nach Tom hinschauten, um seinem Blick zu begegnen, aber sie bemühten sich vergebens, er starrte immer nur auf einen Fleck. Der Winkeladvokat nahm zwar den Zeugen vor, brachte aber nichts heraus und verdarb die Geschichte noch vollends.

Dann wurde Jim Lane aufgerufen; er erzählte den Vorgang genau ebenso. Tom aber gab gar nicht acht; er saß noch immer in tiefen Gedanken da und merkte nicht, was um ihn her vorging. Der Verteidiger musste wieder ganz allein fragen, und auch das Ergebnis war das gleiche. Nun schaute der öffentliche Ankläger sehr befriedigt drein, aber der Richter machte ein verdrießliches Gesicht, denn Tom versah fast die Stelle eines richtigen Advokaten. In Arkansas durfte der Angeklagte nämlich nach dem Gesetz wen er wollte zum Beistand seines Verteidigers wählen. Tom hatte Onkel Silas überredet, ihm den Fall anzuvertrauen, und nun tat er nichts zur Sache, was dem Richter natürlich unangenehm war.

Schließlich fragte der Verteidiger Lem und Jim: "Warum habt ihr nicht gleich angezeigt, was ihr gesehen hattet?"

"Wir fürchteten, selbst in die Sache verwickelt zu werden", lautete die Antwort. "Als wir aber hörten, dass nach dem Leichnam gesucht wurde, sind wir gleich zu Brace Dunlap gegangen und haben ihm alles erzählt."

"Wann war das>"

"Samstag Abend, den 9. September."

Hier ließ sich der Richter vernehmen:

"Sheriff", sagte er, verhaften Sie diese beiden Zeugen als Hehler des Mordes."

"Herr Richter'`, rief der Ankläger in großer Erregung, "ich erhebe Einspruch gegen dieses außergewöhnliche ..."

"Setzen Sie sich", erwiderte der Richter und legte sein Dolchmesser vor sich auf den Tisch. "Ich bitte, dass Sie dem Gerichtshof die schuldige Achtung erweisen."

Der nächste Zeuge war Bill Withers.

Nach seiner Vereidigung sagte er aus: "Ich kam am Samstag den 2. September, gegen Sonnenuntergang mit meinem Bruder Hans am Feld des Gefangenen vorbei, da sahen wir einen Mann, der eine schwere Last auf dem Rücken trug. Wir konnten ihn nur undeutlich sehen, aber es schien, als schleppe er einen Menschen, dessen Glieder so schlaff herabhingen, dass wir meinten, er müsse wohl betrunken sein. Nach dem Gang des Mannes zu urteilen, war es Pastor Silas, und wir dachten, er hätte vielleicht den Trunkenbold Sam Cooper, den er schon lange zu bessern versucht, im Straßengraben gefunden und schaffte ihn nun nach Hause."

Den Leuten grauste, als sie sich vorstellten, wie der alte Onkel Silas den Ermordeten in seine Tabakpflanzung geschleppt hatte, wo der Hund hernach die Leiche aufwühlte. Viel Mitgefühl war aber nicht in den Gesichtern zu lesen, und einer sagte zu seinem Nachbar: ,Schauderhaft, den Toten so herumzutragen und dann im Boden zu verscharren wie das erste beste Tier und so was kann ein Pastor tun!"

Auch diesen Zeugen musste der Verteidiger allein vernehmen Tom war wie blind und taub, er rührte sich nicht.

Nach Bill kam Hans Withers und wiederholte alles, was sein Bruder gesagt hatte.

Dann wurde Brace Dunlap aufgerufen. Der sah so kummervoll aus, als ob ihm das Weinen nahe wäre. Im Saal entstand eine große Bewegung; alle horchten auf, um ja kein Wort zu verlieren; die Weiber flüsterten: "Der arme Mensch!" und viele sah man sich die Augen trocknen.

Brace Dunlap leistete den Eid, dann sagte er: