cover.jpg

img1.jpg

 

Nr. 2822

 

Hinter der Zehrzone

 

Atlan auf der Raumstation ANNDRIM – im Orbit um eine ungewöhnliche Welt

 

Michael Marcus Thurner

 

 

 

Pabel-Moewig Verlag KG, Rastatt

img2.jpg

 

Auf der Erde schreibt man das Jahr 1518 Neuer Galaktischer Zeitrechnung (NGZ). Die Menschen haben Teile der Milchstraße besiedelt, Tausende Welten zählen zur Liga Freier Terraner. Es herrscht weitestgehend Frieden zwischen den Sternen.

Doch wirklich frei sind die Menschen nicht. Die Galaxis steht unter der Herrschaft des Atopischen Tribunals. Seine Gesandten behaupten, nur sie könnten den Frieden in der Milchstraße sichern.

Wollen Perry Rhodan und seine Gefährten gegen diese Macht vorgehen, müssen sie herausfinden, woher die Richter kommen. Ihr Ursprung liegt in den Jenzeitigen Landen, in einer Region des Universums, über die bislang niemand etwas weiß.

Dorthin unterwegs ist der unsterbliche Arkonide Atlan mit einem ehemaligen Richterschiff, der ATLANC. Es ist eine überaus seltsame Reise, und sie endet vorläufig HINTER DER ZEHRZONE ...

Die Hauptpersonen des Romans

 

 

Die Brüder Ziellos – Sie suchen nach den Geheimnissen der Mädchen und einer Station.

Lua Virtanen – Die Geniferin mahnt zu Augenmaß und nutzt ihren Augenaufschlag.

Atlan – Der Arkonide spielt ein gefährliches Spiel.

Wcsam – Er glänzt auf seinem Gebiet.

Der Konfigurator – Er ist Feuer und Flamme für seine Aufgabe.

1.

Atlan

 

Entscheidungen standen an. Er ahnte – nein, er wusste! –, dass seine Zeit an Bord der ATLANC zu Ende ging, wenn sich die Umstände nicht bald verbesserten.

Jeder Atemzug musste erkämpft werden, jeder Gedanke bedeutete Qual. Doch er musste weitermachen. Von ihm allein hing es ab, ob die ATLANC ihren Weg durch dieses unverständliche Nichts der Synchronie fortsetzen konnte. Von seinem Wissen, seinem unbestechlichen Verstand, seinen besonderen Gaben.

Wie alt war er? Wann hatte er das letzte Mal den Geburtstag gefeiert? Zu seinem vierundzwanzigtausendsten Ehrentag?

Atlan schüttelte den Kopf, es schmerzte.

Er war nie sonderlich sentimental gewesen, und er würde in diesem Moment keinesfalls damit beginnen. Er musste sich dieser einen Tatsache stellen: Er hielt nicht mehr allzu lange durch.

Atlan hatte einen deftigen Fluch auf den Lippen, beließ es aber angesichts seines miserablen körperlichen Zustands dabei, bloß daran zu denken. Er musste mit seinen Kräften haushalten. Er scheute selbst den geringsten Energieverlust.

2.

Vogel Ziellos

 

Ich erwache von meinem eigenen Schnabelklappern. Wie so oft. Und ich habe wie üblich einen unbändigen Appetit auf rosafleischige Würmer. Er vergeht rasch wieder, und Ekel stellt sich ein. Ich hasse Würmer. Doch einer der vielen Erbteile in mir bewirkt diese sonderbare Lust, stets dann, wenn ich aus dem Schlaf gerissen werde.

Ein Singulären-Therapeut prophezeite mir vor einigen Monaten, dass diese sonderbaren Anwandlungen im Laufe der Pubertät nachlassen und voraussichtlich vollends vergehen werden. Als ich ihn fragte, ob seine Diagnose auf Erfahrungen mit anderen Vogelähnlichen beruhte, hielt er rasch den Rüssel, der alte Knacker.

Ja, den Rüssel. Ihm hing so ein runzliges Ding bis weit übers Kinn hinab, und ich fragte ihn, wie das denn so mit dem Küssen sei. Das nahm er noch mit einer gewissen Gelassenheit hin. Doch als ich wissen wollte, ob seine Frau besonderen Gefallen an seinem Gesichtsteil hätte, warf er mich hochkant aus dem Behandlungszimmer. Versteht keinen Spaß, dieser Doktor Rüssel.

»Und, hast du ausgeklappert? Steh endlich auf, Faulpelz!«, sagt eine wohlbekannte Stimme. Shukard, mein Bruder, der einen viel leichteren Schlaf als ich hat.

Ich öffne die Augen einen Spaltbreit und starre in ein blöde grinsendes Gesicht. Shukard steht über mich gebeugt, in der Hand eine abgefallene Flaumfeder, und kitzelt mich damit am Hals.

»Muss das sein? Lass mich in Ruhe, du Depp.« Ich schlage seinen Arm zur Seite und drehe mich weg von ihm. Ich bin schrecklich müde, wie so oft in letzter Zeit.

»Glaubst du, ich wecke dich bloß aus Jux und Tollerei?«

Ich höre, wie er um mich herumtrippelt und sich vor mir niederlässt. Ich halte die Augen geschlossen – und fühle dennoch, dass er da ist, ganz nahe, und mich anstarrt.

»Leck mich, Bruderherz!« Ich horche auf meine innere Uhr. Sie funktioniert ausgezeichnet. »Wir haben noch längst nicht Dienst, und wenn du mir von deinem Liebeskummer erzählen möchtest, warte gefälligst, bis ich ausgeschlafen bin.«

Ich bemühe mich, meinen Drillingsbruder zu ignorieren. Ich versenke mich in einen meiner Lieblingsträume. Er bringt das Gefühl unendlicher Weite mit sich. Ich denke an Land, das unter mir vorüberzieht, während ich dahinschwebe, Thermik spüre, Luftgerüche wahrnehme, Pollen fühle, die sich in meinem Federkleid verfangen, meinen Instinkten gehorche, nach Beute Ausschau halte.

»Du hast ihn nicht gehört?«, dringt ein weiteres Mal die ungemein störende Stimme dieses ungemein störenden Kerls in meine Traumwelt vor.

Ich schiebe den Gedanken ans Fliegen beiseite und ziehe einen anderen heran. Er handelt davon, wie ich Beute reiße und meinen Schnabel tief in ihrem Fleisch versenke, um an weißen, fahlen Eingeweiden zu zupfen. Oh ja – es tut gut, mit einem derartigen Gedanken im Kopf dem Bruder Guten Morgen zu sagen.

»Ich kenne den Blick«, sagt Shukard, »und ich weiß, was er bedeutet. Vergiss es. Ich drücke dich mit drei Fingern zu Boden, Schwächling.« Er grinst, wird aber gleich wieder ernst. »Ich wurde vom ANC geweckt. Es hat an mein Herz geklopft. Ich dachte, du hättest es ebenfalls gespürt?«

Das ANC. Das ... nun, das Schiffsgehirn der ATLANC. Steuermann, Hirte, Wächter, gute Seele. Es gibt Tausende Begriffe für dieses Gebilde, das für unser Wohlergehen an Bord des Schiffes sorgt – und das gleichzeitig das Schiff ist.

»Hat dir das ANC wehgetan?«, frage ich und richte mich nun doch auf. Dem Ast meines Schlafstammes weiche ich instinktiv aus, wie immer.

»Nein. Der Stupser an meinem Herz war sachte, aber bestimmt. Das ANC verlangt, dass ich in die Zentrale komme.«

»Ich begleite dich.« Ich strecke mich durch – und bereue die Bewegungen im nächsten Moment. Alles tut mir weh. So, als hätte ich einen Muskelkater, von den Fingern bis zu den Zehenspitzen.

»Es wird immer schlimmer, nicht wahr?« Shukard sieht mich besorgt an. Er tut nur so, als würde es ihm besser gehen als mir. Auch er leidet unter der Auszehrung.

»Es geht schon«¸ lüge ich, streife mein Schlafgewand ab und sehe zu, wie es in Kleinteile zerfällt, die gleich darauf von einer der vielen mobilen Saug- und Wiederverwertungseinheiten inhaliert werden.

Die Bordkombi liegt bereit, ich schlüpfe so rasch es geht hinein. Das Bücken, das Recken und das Strecken bescheren mir weitere Schmerzen, doch ich bemühe mich, so unbeeindruckt wie möglich zu wirken.

»Dein Pyzhurg sieht gut aus«, sagt Shukard und legt eine Hand leicht auf das Holz meines Schlafbaumes. »Du bist in den letzten Tagen ein schönes Stück weitergekommen.«

»Nein«, erwidere ich. Ich fühle Trockenheit im Schnabel, die alles Wasser an Bord nicht beseitigen könnte. »Ich muss immer wieder neu ansetzen. Nacharbeiten. Schleifen. Selbst Neuverholzungen waren notwendig, um falsch behauene Stellen aufzufüllen. Ohne progenitorische Wiederherstellung wäre der Schlafbaum längst abgeknickt.«

Der Schnabel tut mir gehörig weh von den Arbeiten, die ich seit dem Abschluss meiner Ausbildung zum Junggenifer ins Holz des Schlafbaums investiert habe. Ich lasse meine Finger über jenen unteren Teil des Pyzhurg gleiten, mit dem ich einigermaßen zufrieden bin. Die Rundungen fühlen sich gut an. Die kleinen, wie Intarsien in Rautenform gesetzten Wölbungen geben mir das Gefühl, gute Arbeit geleistet zu haben. Doch die oberen beiden Drittel des Pyzhurg verschließen sich mir nach wie vor. Ich bin mit ihnen noch lange nicht im Einklang.

»Ist er dir denn wirklich so wichtig?«

»Ja«, antworte ich. »Mein onryonischer Erbanteil macht sich in letzter Zeit wieder stärker bemerkbar.«

»Wollen wir hoffen, dass dir kein drittes Auge wächst. Du bist jetzt schon hässlich für drei ...« Shukard verstummt und blickt betreten zu Boden.

Wir vermeiden die Zahl Drei, so gut es geht. Wir waren Drillinge. Doch der Bruder ist vor etwa eineinhalb Jahren gestorben. Er geht uns immer noch schmerzhaft ab, und ich beginne allmählich zu glauben, dass sich diese Lücke in unseren Herzen niemals vollends schließen wird. Anassiou ... wie sehr ich ihn vermisse.

Manchmal meine ich, ihn zu spüren und ihn um mich zu wissen. Der Rüsselarzt hat von seelischem Phantomschmerz gesprochen und Shukard und mir weiterreichende therapeutische Behandlungseinheiten empfohlen. Weil wir unsere Trauerarbeit noch nicht abgeschlossen hätten. Weil wir immer noch an Anassiou hingen.

Was wusste der schon! Wir gehörten zusammen! Nur zu dritt waren wir ... ganz.

»Du denkst an ihn, nicht wahr?«

»So wie du, Shukard.«

»Er war ein aufgeblasener Wichtigtuer, aber ich habe ihn geliebt.«

»Du bist ja auch ein aufgeblasener Wichtigtuer.«

Er grinst, ich grinse. Doch diese Neckereien und Spiegelfechtereien hinterlassen stets einen schalen Beigeschmack. Wir leiden, und wir bemühen uns, dieses Leid hinter blöden Scherzen zu verstecken.

Ich hacke zweimal gegen den Schlafbaum, dort, wo ein Span hervorsteht. Dieser Teil des Pyzhurg soll einmal das Kernstück meiner Arbeit werden. Der Schnabel schmerzt. Ich darf ihn nicht zu oft einsetzen.

Schiffskommandant Atlan hat mir mal von Spachten erzählt – oder heißen sie Spechte? –, die wie ich Löcher in Baumstämme hacken, allerdings mit dem Ziel, tierische Nahrung unter der Rinde zu finden. Sie sind perfekt an diese Arbeit angepasst. Das Gehirn liegt oberhalb des Schnabels, Knochen und Schnabelmuskeln fungieren als Stoßdämpfer, mit Hilfe von Muskelanspannung absorbiert der Vogel einen Großteil der Energie, das Zerebrum liegt eng an der Schädeldecke und treibt nicht in vergleichbar viel Gehirnflüssigkeit wie beim Menschen.

Was für faszinierende Tiere diese Spachte sind! Die Aufprallgeschwindigkeit ihrer Schnäbel liegt bei 25 Stundenkilometer, und sie schließen bei jedem Hieb die Augen. Andernfalls würden sie ihnen aus den Höhlen fallen.

Ich bin ein Singulärer. Ich habe genetische Eigenschaften, die wie Speisezutaten in einen Kochtopf gemischt und verrührt wurden, ohne dass der Koch das Rezept kannte.

Vieles passt bei mir nicht zusammen. Ich bin auf meine Art einzigartig – und ich kann mich nicht fortpflanzen.

»Glaubst du wirklich, dass dich dieses Ding eines Tages im Schlaf beschützen wird?«

Ich zucke zusammen, als Shukard mich aus meinen Gedanken reißt. Auch diese übertriebene Sensibilität ist eine Folge der Auszehrung, an der wir leiden. »Es ist so überliefert«, antworte ich. »Die Onryonen hatten während ihrer Ruhephasen stets einen Pyzhurg bei sich.«

Warum fragt Shukard diese Dinge? Er weiß sie alle. Sie wurden über die Jahrhunderte hinweg an Bord der ATLANC tradiert.

Angeblich trage ich neben meinem vogelähnlichen Habitus auch die Gene von Onryonen in mir. Der Onryonen-Anteil umfasst vierzehn Prozent meines Genguts. Aber niemand konnte mir bislang verraten, worin dieser Erbanteil denn eigentlich im Detail besteht.

Mir fehlt das Emot. Meine Sinne ähneln weitgehend denen eines Terraners, meine Haut mutet ebenfalls wie die eines Menschen an. Abgesehen vom Federflaum ...

»Komm endlich!«, sagt Shukard. Seine Augen zucken nervös, er greift sich an die Brust.

»Macht sich das ANC schon wieder bemerkbar?«, frage ich besorgt. Mein Bruder zuckt mit den Achseln und verlässt vor mir die gemeinsame Wohneinheit. Der MENT-Genius unseres geräumigen Appartements wünscht uns einen »guten und sinnreichen Arbeitstag«. Ich schaue auf die Uhr. Ich hatte bloß vier Stunden Schlaf und fühle mich vom MENT-Genius verhöhnt.

»Der frühe Vogel fängt den Wurm«, murmelt Shukard und zieht seinen Kopf ein. Ich erwische ihn dennoch mit der flachen Hand, mein geliebtes Bruderherz nimmt den Schlag mit einem Kichern hin.

 

*

 

Lua erwartet uns in der Kommandozentrale der ATLANC. Sie sitzt in der Geniferengrube und ist noch nicht an ihren Arbeitsplatz angeschlossen. Niemand ist in der derzeit transparenten Kommandosphäre zu sehen.

Lua Virtanen. Das Mädchen, das einst in Anassiou verschossen gewesen war. Sie gilt neben uns beiden als begabteste Junggeniferin. Sie hat ein besonderes Feingefühl im Umgang mit dem ANC. Eine Tatsache, die sie uns so oft wie möglich unter die Nase reibt.

Sie murmelt einen Gruß in unsere Richtung und greift dann zu ihrer Tasse. Dunkelrote Flüssigkeit schwappt darin, von weißem Schaum überzogen. Das Zeug heißt Coyo. Es wird in letzter Zeit in manchen Schiffssektoren immer beliebter. Es schmeckt bitter und hinterlässt ein kühlendes Gefühl im Magen – und es hilft ein wenig gegen die bleierne Müdigkeit, unter der wir allesamt leiden.

Ich mag es nicht. Es verträgt sich nur schlecht mit meinem Metabolismus und erzeugt das, was Shukard in seiner blöden Art Flatterlenzen nennt. Das Coyo macht, dass ich Blähungen bekomme und sich mir gleichzeitig die Gefiederhaare am ganzen Körper aufstellen.

»Ausgerechnet die Ziellos-Brüder«, sagt Lua. »Dabei hatte ich mich schon auf einen ruhigen Dienst eingestellt.« Sie nimmt einen Schluck vom Getränk und lächelt uns an.

»Das ANC hat mich gerufen«, sagt Shukard.

»Das kann nur ein Irrtum sein. Warum sollte sich das ANC mit Anfängern wie euch abgeben? Wahrscheinlich hattest du bloß einen kleinen Herzinfarkt. Schon mal daran gedacht?«

»Dieser Witz hat einen meterlangen Bart«, sagt Shukard.

»Du musst es wissen«, entgegnet Lua. »Du kennst dich ja bestens aus mit Bärten. Nur zu schade, dass dir selbst noch keiner wächst.«

Shukard wird rot am Hals, als das Mädchen ihn keck anlächelt. Ein sicheres Zeichen dafür, dass er hochgradig nervös ist.

Ich mag Lua. Sie passt gut zu uns, auch wenn sie manchmal mit ihrer Besserwisserei nervt. Aber sie verträgt Spaß – und kann ebenso gut austeilen wie wir.

Aus dem sonderbaren Gör, das aus dem Ringwulst-Teil der ATLANC und damit aus dem Bereich der Markleute stammt, ist mittlerweile ein hübsches Mädchen geworden, das an jenen Stellen gut entwickelt ist, die entwickelt sein sollten.

Die Ereignisse rings um den Tod Anassious haben uns einander näher- gebracht. Sie ist mir, na ja, wie eine Schwester. Shukard sieht das anders als ich. Er mag es noch so sehr leugnen – aber er steht ein wenig auf Lua. Nicht so sehr wie Quintus Schattenriss, aber doch auch.

Mein Bruder, der sonst so geschickt und bestimmend und schlau ist, versagt auf ganzer Länge darin, Lua seine Zuneigung zu zeigen. Er bringt es nicht mal fertig, sie auf ein Getränk im Halobakt einzuladen, unserer bevorzugten Schiffskneipe.

Ich unterdrücke ein Grinsen, ein wohliges Gefühl macht sich in mir breit. Shukards schwachsinnige Schwärmerei für Lua eröffnet mir ungeahnte Möglichkeiten, meinem Bruderherz bei Gelegenheit eins reinzuwürgen. Aber vorerst bleibe ich ruhig. Ich behalte diesen Pfeil in meinem Köcher und werde ihn erst dann abfeuern, wenn mir Shukard allzu blöde mit seinen Vogel-Witzchen kommt.

»Wo ist denn der Alte?«, fragt Shukard. »Faulenzt er wieder mal in seinem Wohnbereich und lässt uns Geniferen die ganze Arbeit tun?« Er wendet sich von der Grube ab, gießt sich ebenfalls einen Becher randvoll mit Coyo und trinkt einen Schluck.

»Der Alte ist wie fast immer auf seinem Posten«, hören wir eine Stimme, die uns zusammenzucken lässt.

Atlan. Er sitzt auf seinem Stuhl im Mittelpunkt der Kommandantensphäre, hinter der zentralen Achse. Wie konnten wir ihn bloß übersehen?

Ganz einfach, sage ich mir. Ein Hutzelgreis wie dieser da fällt niemandem auf.

 

*

 

Alt, verbraucht und runzlig ist er geworden, der angeblich unsterbliche Arkonide.

Seine Wangen sind eingefallen, die Augen glänzen fiebrig. Er schafft es kaum, das Zittern seiner Hände zu unterdrücken, und wenn man ihn so dasitzen sieht, würde man niemals glauben, dass Atlan beinahe 1,90 Meter misst.

Ich versuche, mich an die frühere Ausgabe dieses Mannes zu erinnern, wie ich ihn von Holos kenne. An die Zeit, da er stolz umherspazierte und kraft seiner Ausstrahlung das Geschehen an Bord beeinflusste. Diese Tage sind vorbei, seit ich zurückdenken kann. Es ist gut, dass Atlan kaum noch öffentliche Auftritte hinlegt. Denn wer würde einer hinfälligen Gestalt wie dieser das heimatliche Schiff anvertrauen?

»Sehe ich wirklich so schlecht aus?«, fragt er in meine Richtung. Er versucht ein Grinsen, es misslingt.

Ich möchte lügen – und lasse es bleiben. Atlan weiß so gut wie ich, wie er auf andere Besatzungsmitglieder wirkt. »Du siehst müde aus«, sage ich. »Müder noch als vor vier Tagen, als ich das letzte Mal Dienst hatte.«

»Die Zehrzone«, nuschelt er mit gesenktem Kopf in seinen weißen Dreitagebart. »Sie raubt uns all unsere Kräfte.«

Er steht vor uns, unten, an der Geniferen-Grube, so zittrig, dass ich versucht bin, zu ihm hinzueilen und ihn zu stützen. Doch nachdem er zweimal kräftig durchgeatmet hat, strafft er seinen Körper und geht vorsichtig einige Schritte.

»Ich brauche ein wenig Schlaf«, sagt Atlan leise, zwischen mehreren hastig ausgestoßenen Atemzügen. »Das ANC hat dich, Shukard, deshalb hergerufen. Übernimm gemeinsam mit Lua die Steuerung des Schiffs, bis ich mich erholt habe. Du, Vogel, kannst dich ebenfalls nützlich machen. Fein, dass du mitgekommen bist und deinem Bruder zur Hand gehst. Die nächsten Stunden werden nicht leicht für euch. Arbeitet an eurer Synchronisation. Redet miteinander, denkt miteinander. Jeder sollte bis ins kleinste Detail vom jeweils Anderen wissen, wie er die Geniferenarbeit wahrnimmt.«

Atlan verstummt.

»Natürlich, Kommandant«, sagt Lua, dienstbeflissen wie immer. »Verlass dich auf uns.«

Ich durchschaue sie. Sie verbirgt ihre Trauer und ihre Betroffenheit über den miserablen körperlichen Zustand Atlans hinter Floskeln. Sie verehrt den Arkoniden. Vielleicht sieht sie ihn als Vater. Mehr als den Mann, der in Wirklichkeit ihr Papa war.

»Also schön.« Atlan ringt sich ein Lächeln ab. »Ich möchte nicht gestört werden. Außer ...«

»... außer, wir erreichen Andrabasch und damit das Ende der Zehrzone«, ergänzt Lua den Satz.

»Richtig.«

Der Unsterbliche dreht sich um und humpelt zu einem Aufzugstuhl, der ihn in die Kommandosphäre bringen wird. Er stützt sich dabei auf einen krummen Stock, der wie von Zauberhand aufgetaucht ist. Ich sehe ihn das erste Mal. Gewiss ist er aus tt-Progenitoren gefertigt.

Warum lässt sich der Arkonide nicht von Antigravfeldern abstützen oder von einem Exoskelett helfen?

»Eines noch ...« Atlan wendet sich uns nochmals zu und richtet seine Blicke auf Shukard. »Nach meinem Erholungsschlaf werden wir beide uns bei einer Runde Kampfsport unterhalten, ja?«

Mein Bruder will lächeln, doch es wird bloß eine Grimasse daraus. »Gerne, Kommandant, aber meinst du nicht, dass du dich schonen solltest?«

»Danke für deine Fürsorge, Shukard. Aber du brauchst keine Angst zu haben. Es gibt da eine Reihe von Techniken, Dagor genannt, mit deren Hilfe ich dich selbst mit dem kleinen Finger besiege. In mir steckt allemal ausreichend Kraft, um einem rotzfrechen Jungen wie dir einige blaue Flecken zu verpassen.«

Warum habe ich dennoch das Gefühl, dass er Shukard eine Lektion erteilen wird, die mein Bruder sein Lebtag lang nicht vergessen wird?

3.

Atlan

 

Er fühlte sich so, wie er aussah. Am liebsten hätte er den Stock in die Ecke gestellt und stattdessen auf den lenkbaren Steuerstuhl zurückgegriffen, den ihm das ANC seit einigen Tagen andiente. Die Beine gehorchten ihm kaum, jegliches Gefühl in seinem Leib ging verloren.

So fühlte es sich also an, physisch alt zu werden. Atlan verlor stück- und scheibchenweise die Kontrolle über seinen Körper. Dinge, die ihm früher leicht von der Hand gegangen waren, wurden nun zur Qual. Jede Bewegung verlangte eine bewusste Anstrengung, jeder Handgriff musste mit Bedacht gesetzt werden.

Immerhin: Atlans Extrasinn hatte längst mit seinen Sticheleien aufgehört. Er mahnte ihn bloß dann und wann, mit seinem Energiehaushalt sparsam umzugehen, und zog sich sonst auf kluge Ratschläge zurück.

Warum habe ich Shukard bloß herausgefordert?, dachte Atlan, während er die Fahrt mit dem Steuersessel hoch in sein Privatquartier antrat. Der Junge legt mich mit einer auf den Rücken gebundenen Hand auf die Bretter. Und wenn ich falle, zerbröselt wahrscheinlich die Hälfte meiner morschen Knochen zu Staub.

Atlan erreichte sein Ziel und stieg mühsam vom Sessel. Seine Räumlichkeiten, die er einst von Richter Chuv übernommen hatte, wirkten irgendwie trostlos. Er hatte niemals Wert auf allzu viel Bequemlichkeit gelegt. Doch nun, da sich die Gedanken über sein mögliches Ableben immer häufiger und immer kräftiger in den Vordergrund seines Daseins schoben, vermisste er sie. Und er hatte Sehnsucht nach ... nach ... ja, wonach eigentlich?

Die Erde war mir lange Zeit Heimat, und ich verbinde die schönsten Erinnerungen mit dem blauen Planeten. Aber letztlich war der Aufenthalt auf Terra bloß eine Episode. Besser gesagt: eine Aneinanderreihung von Dutzenden Episoden, die von langen Tiefschlafphasen unterbrochen wurde.