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Hamburger Edition HIS Verlagsges. mbH

Verlag des Hamburger Instituts für Sozialforschung

Mittelweg 36

20148 Hamburg

www.hamburger-edition.de

© der E-Book-Ausgabe 2015 by Hamburger Edition

ISBN 978-3-86854-646-0

 

© 2015 by Hamburger Edition

ISBN 978-3-86854-291-2

Umschlaggestaltung: Wilfried Gandras

Coverabbildung: © Reuter | Marko Djurica

Karten 1 bis 7: © Peter Palm, Berlin

Bildbearbeitung: Frische Grafik, Hamburg

Satz aus der Minion Pro von Dörlemann Satz, Lemförde

Inhalt

Prolog: Davor

I Krieg in Ost-Bosnien

Kriegsziele

Der Krieg im Tal der Drina

Krieg um Srebrenica

Sicherheitszone Srebrenica

II Operation Krivaja 95 – Angriff auf die Sicherheitszone Srebrenica

Der Befehl und seine Vorgeschichte

Donnerstag, 6. Juli 1995

Freitag, 7. Juli

Samstag, 8. Juli

Sonntag, 9. Juli

Montag, 10. Juli

Dienstag, 11. Juli

III Der Völkermord von Srebrenica – Der erste Akt: Vertreibung, Gefangenschaft, Flucht

Mladić’ Entscheidung – Das dritte Treffen im Hotel Fontana

Das Drama in Potočari – Frauen, Kinder, Alte und Kranke bei der UNPROFOR

Deportation – Frauen, Kinder und Alte

Selektion – Männer und Jugendliche

IV Der Völkermord von Srebrenica – Der zweite Akt: Massentötungen

Schauplätze des Völkermordes

Die Region – verschlossen und verriegelt

Vertuschungsaktionen

Zahlenspiele mit Opfern

V Täter – »Ein gemeinsames kriminelles Unternehmen«

»Schuldig«, »nichts gewusst«, »nichts getan« – Drei Mordtechnokraten

»Kommt von ganz oben« – Die Befehlskette

»Serbische Helden« und ihre Feindbilder

VI Schuld und Verantwortung – Srebrenica und der Rest der Welt

Wehrlos – Kein Schutz von Regierung und Armee

Hilflos – Kein Schutz durch DutchBat

Kraftlos – Kein Schutz von den Vereinten Nationen

Kopflos – Kein Schutz durch NATO und Westmächte

Keine Beweise – Serbiens Rolle beim Fall von Srebrenica

VII Der Krieg zieht weiter

Epilog: Danach

Dank

Anhang

Tabellen: Primär- und Sekundärgräber

Abkürzungen

Quellen- und Literaturverzeichnis

Karten

Zum Autor

Matthias Fink

Srebrenica

Chronologie eines Völkermords

oder

Was geschah mit Mirnes Osmanović

Hamburger Edition

Prolog: Davor

Menschen, die zu Opfern gemacht werden, haben zwei Leben – davor und danach.

Das »Leben davor« war für die Familie Osmanović aus dem Dorf Zgunja, Općina1 Srebrenica, ein bescheidenes Leben.2

Die Osmanovićs waren nicht reich, aber auch nicht so arm wie viele Leute rings um sie herum. Jugoslawien wurde Ende der 1980er Jahre von einer schweren Wirtschaftskrise erschüttert, die drohte, Staat und Gesellschaft zu zerreißen.3 Viele Nachbarn standen vor dem Nichts, weil sie ihre Arbeit verloren hatten. Azem und Zuhra Osmanović aber hatten Glück gehabt. Sie hatten ihre Arbeit noch, und das war in diesen unsicheren Zeiten viel wert. Azem, Jahrgang 1959, war Verkäufer in einem Lebensmittelgeschäft und machte eine Fortbildung zum Einzelhandelskaufmann; Zuhra, Jahrgang 1960, arbeitete in der Küche eines Grillrestaurants – ein junges Paar mit zwei gesunden Kindern: Mirnes, der Sohn, Jahrgang 1980, und Mersa, seine Schwester, Jahrgang 1982, gingen in die Schule.

Eine jugoslawische Familie, Bosniaken,4 also bosnische Muslime. Damals hat sich fast niemand dafür interessiert, welcher Volksgruppe man zugehörte. In Titos Staat war es ein Tabu gewesen, nach der Religion eines Menschen zu fragen. In Zgunja, ihrem Dorf, lebten Bosniaken und bosnische Serben Haus an Haus, waren befreundet oder waren sich egal oder konnten sich nicht leiden. Wie das Leben in Zgunja und überall sonst auf der Welt eben so ist. Die Kuma, die Patin von Zuhra Osmanović, war Serbin und lebte gleich nebenan. In Bosnien-Herzegowina ist die Beziehung zwischen der Kuma und dem Patenkind sehr nah, nicht selten so eng wie zwischen Kind und leiblichen Eltern. Dass Nerandža Vujić, die Kuma von Zuhra Osmanović, Serbin war, hatte nie irgendeine Bedeutung gehabt. Selbst als das östliche Bosnien 1991/92 in einer politischen Explosion der Gewalt unterging, waren die beiden so vertraut miteinander wie in den Jahrzehnten zuvor.

Azem und Zuhra Osmanović waren in ihrer kleinen Welt ganz zufrieden, als die 1990er Jahre begannen. Sie besaßen ein Auto, einen kleinen Zastava Fića, die jugoslawische Ausgabe des Fiat 600. Sie hatten sich gerade ein Haus gebaut, im gehörigen Abstand zum Fluss Drina, dessen smaragdgrünes Wasser hinter einem Spalier von Pappeln vorbeirauschte. Am jenseitigen Ufer lag Serbien. Mirnes, der Sohn, war dort im Krankenhaus von Bajina Bašta zur Welt gekommen. Nema problema – kein Problem. Warum auch? Es war das Jahr 1980 gewesen, das Jahr, in dem Tito starb und das gemeinsame Land noch Jugoslawien hieß.

Als im Sommer 1991 erste Bilder vom Krieg in Kroatien im Fernsehen auftauchten, schien das ganz weit weg zu sein. Nicht bei uns, sagten die Leute in Zgunja. Und: Kommt auch nicht zu uns. Doch das Unheil kam auch in Bosnien-Herzegowina näher und näher. Plötzlich fingen im Herbst 1991 Bosniaken und Serben öffentlich zu streiten an. Im Städtchen Skelani, das von Zgunja vier, fünf Kilometer entfernt ist, riefen im April 1992 die örtlichen Serben einen »Serbischen Gemeindebezirk Skelani« (Srpska Opština Skelani) aus. Es gab Schießereien, Tote.

Azem Osmanović drängte, die Gegend zu verlassen. Aber seine Eltern, die nebenan lebten, und die Familien seiner Brüder, die ebenfalls ihre Häuser ganz in der Nähe hatten, wollten nicht fort. Zuhra, seine Frau, sagte, wenn alle bleiben, will sie auch nicht weg. Also packten sie zwar Taschen mit dem Nötigsten, stellten sie aber beiseite, bereit für den Tag, an dem ihnen keine Wahl mehr bleiben würde und sie doch fortgehen müssten.

Anfang Mai 1992 wurde die Lage immer bedrohlicher. Auch die Osmanovićs bekamen nun richtig Angst. Marko, ein Nachbar, Serbe, der bei der Polizei war, sagte zwar noch am 6. Mai, sie sollten sich keine Sorgen machen, es würde nichts passieren. Doch schon zwei Tage danach tauchten in Zgunja Menschen aus dem Nachbardorf Rešagići auf. Sie schienen verwirrt. Als hätten sie den Verstand verloren, kamen sie den Fluss entlang angerannt.

Die »Tschetniks«5 seien gekommen, hätten die Häuser angezündet, und wer nicht rechtzeitig geflohen sei, sei umgebracht worden, schrien sie, und die Leute in Zgunja wussten, was das bedeutet. Im Zweiten Weltkrieg hatten Tschetniks in Ostbosnien Tausende von Bosniaken massakriert. Nun waren mit »Tschetniks« neue serbische Kämpfer gemeint, unter ihnen auch viele Nachbarn aus der näheren Umgebung, die über die Dörfer der Bosniaken an der Drina herfielen. Und demnächst kämen die »Tschetniks« auch hierher nach Zgunja, sagten die Leute aus Rešagići noch und rannten weiter.

Fast alle bosniakischen Bewohner von Zgunja flohen an diesem 8. Mai 1992 in den nahe gelegenen Wald, der sich über die Hügel und Berge entlang des Drina-Tales erstreckt. Die Osmanovićs gehörten zu den ganz wenigen, die noch blieben. Doch am folgenden Tag kam Nerandža Vujić, die Kuma, und warnte: Sie müssten auch unbedingt weg. Die »Tschetniks« würden morgen kommen. Das hatte sie von der Tochter erfahren, die drüben in Serbien lebte.

Am 10. Mai 1992 verließen Azem, Zuhra, Mirnes und Mersa Osmanović ihr Häuschen am Ufer der Drina. Die Flucht führte sie als Erstes in ein Dorf in den Bergen zu Azems Schwester, bei der sie für ein paar Wochen unterkamen. Danach ging es weiter zu Verwandten und Freunden, immer nur für ein paar Tage oder wenige Wochen, bis die Zeit, weiterzuziehen, gekommen war. Im November waren sie wieder bei Azems Schwester. Mirnes war beim Spielen von Granatsplittern an Bein und Arm getroffen worden und brauchte Pflege.

Im Dezember waren die Lebensmittelvorräte fast aufgebraucht. Der Winter stand bevor, der in den Bergen Ost-Bosniens mit viel Schnee und Temperaturen weit unter der Frostgrenze für gewöhnlich sehr hart ausfällt. Azem und Zuhra Osmanović wussten, sie konnten nicht länger bleiben, und beschlossen, sich mit den Kindern auf den Weg nach Srebrenica zu machen, in die Bezirksstadt. Azem hatte dort einen Freund, einen Polizisten. Vielleicht konnten sie ja bei ihm unterkommen.

Der Freund konnte tatsächlich noch etwas Platz für die Osmanović-Familie frei machen, aber nur vorübergehend, denn bald schon kamen Verwandte und suchten bei ihm Zuflucht. Azem und Zuhra Osmanović mussten sich mit den Kindern wieder nach einer neuen Unterkunft umsehen. Wieder hatten sie Glück. Ein Verwandter räumte für sie sein Zimmer im Hotel Domavia in der Stadtmitte von Srebrenica, das die Stadtverwaltung vom Kurhotel – in Srebrenica gibt es mineralische Heilquellen – zur Flüchtlingsunterkunft umfunktioniert hatte.

Das Zimmer im Hotel Domavia sollte für Azem, Zuhra, Mirnes und Mersa Osmanović nun über zwei Jahre zu ihrem Heim werden, was im Dezember 1992 noch keiner ahnen konnte. Niemand hatte damals mit einer so langen Zeit gerechnet. Alle glaubten, bald würde Hilfe von außen kommen und die »Tschetniks« würden sich irgendwann wieder zurückziehen und dann könnte man wieder nach Hause. Ohne diese Hoffnung auf Heimkehr war dieses Leben auch nicht auszuhalten. Die Osmanovićs besaßen kaum Geld. Humanitäre Hilfe von außen kam nicht. Zuhra begann, das bisschen Schmuck, das sie besaß, bei den Bauern in den Dörfern ringsum gegen Lebensmittel einzutauschen – Brot, Mehl, Öl, ein bisschen Gemüse. Ihr Ehering brachte zwei Kilo Mehl.

Ab März 1993 kamen nachts Flugzeuge und warfen Paletten mit Hilfsgütern für die mittlerweile in Srebrenica Eingeschlossenen ab. Immer wenn es dunkel wurde, kletterten alle, die noch einigermaßen gehen konnten, auf die Berghänge, die aus dem Talkessel von Srebrenica steil ansteigen. Azem und Zuhra zogen immer getrennt los, damit wenigstens einer von beiden die Chance hatte, etwas »nach Hause« zu bringen. Man folgte dem tiefen Brummen der Flugzeugmotoren, sah die Paletten mit den Paketen an kleinen Fallschirmen zu Boden schweben und rannte, so schnell man konnte, zu der Stelle, wo man den Aufprall vermutete. Es gab Schlägereien, regelrechte Kämpfe. Azem beobachtete sogar, wie Salko, ein Nachbar, beim Streit um ein Paket niedergestochen wurde und starb.

Mitte März kam schließlich doch ein Konvoi bis nach Srebrenica durch, ein paar weiß gestrichene Jeeps und zwei Lastwagen, auf denen in riesigen Buchstaben UN geschrieben stand. UNPROFOR, United Nations Protection Force, die Friedensmission der Vereinten Nationen im ehemaligen Jugoslawien, hatte mit dem Konvoi zeigen wollen, dass sie sich von den bosnischen Serben nicht daran hindern lassen wollte, Enklaven, wie die von Srebrenica, mit Hilfsgütern zu versorgen. Doch auf den Lastwagen waren gar keine Hilfsgüter. Die beiden Lastwagen sollten nur ein Zeichen setzen. Die internationale Staatengemeinschaft inszenierte eine Demonstration: Srebrenica war nicht abgeschrieben.

Als am Abend der Kommandeur der UN-Truppe, der französische General Philippe Morillon, wieder abfahren wollte, blockierten die Frauen von Srebrenica sein Fahrzeug. Zuhra Osmanović war bei den Hunderten von Frauen dabei, die sich vor den Jeep des UN-Generals Philippe Morillon setzten und ihn so hinderten, sich auch nur einen Meter vorwärtszubewegen. An diesem Abend gingen die Frauen nicht in die Berge, wo die Flugzeuge wieder ihre sonst so ersehnte und umkämpfte Fracht abwarfen. Sie hatten Feuer angezündet, blieben sitzen und wollten nicht mehr weggehen, solange der General nicht irgendetwas tun würde, um ihre Sicherheit zu garantieren.

Flüchtlinge aus der Enklave Čerska, die etwa dreißig, vierzig Kilometer entfernt war und Anfang März von den bosnischen Serben eingenommen worden war, hatten berichtet, wie es bei ihnen abgelaufen war: General Morillon war ebenfalls persönlich erschienen, als die bosnischen Serben sie völlig von der Außenwelt abgeschnitten hatten. Der UNPROFOR-Kommandeur hatte in Čerska auch das Zeichen setzen wollen, dass man das Diktat der bosnischen Serben nicht so einfach hinnehmen wollte. Dann war er wieder abgefahren. Doch kaum war er fort, hatte das Artilleriefeuer wieder angefangen, schlimmer als jemals zuvor. Und alle, buchstäblich alle Bewohner, hatten fliehen müssen. Nicht mal die Toten und Verletzten hatten sie mitnehmen können.

Nach der Blockade-Nacht in Srebrenica ließ sich der UN-General Philippe Morillon eine blaue Fahne mit dem Symbol der Vereinten Nationen bringen, stellte sich damit mitten in der Stadt auf den Balkon des Postamts und versprach der Menge unten, sie alle stünden fortan unter dem Schutz der Vereinten Nationen. Die Menschen jubelten, doch gleichzeitig wurde nicht nur die Familie Osmanović das Gefühl nicht mehr los, an ihrer Situation werde sich grundsätzlich nichts ändern: Sie waren weiter von der Außenwelt abgeschnitten. Sie mussten weiter täglich um das bisschen Essen kämpfen, das sie am Leben hielt. Und nachdem der General mit seiner Mannschaft nach ein paar Tagen abgefahren war, schlugen auch wieder die Granaten ein, von Tag zu Tag immer mehr. Die bosnischen Serben zogen den Belagerungsring um Srebrenica immer enger. Mitte April hatten sie bereits die Stadtgrenze erreicht. Tagelang hatten die vier Osmanovićs im Keller des Hotel Domavia ausgeharrt, während auf die Stadt ein Artilleriefeuer niederging, wie sie es bis dahin noch nicht erlebt hatten.

Die Lage entspannte sich erst, nachdem der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen die Enklave von Srebrenica zu einer Sicherheitszone unter dem Schutz der Vereinten Nationen erklärt hatte. In letzter Sekunde hatte der Rat mit seinem Beschluss Srebrenica vor der Kapitulation bewahrt. Niemand konnte erklären, was Sicherheitszone bedeuten sollte, doch Azem und Zuhra Osmanović und alle Leute um sie herum glaubten fest daran, dass die Welt sie von nun an schützen würde. Schließlich stationierte die Staatengemeinschaft sogar eine Truppe in Srebrenica. Diese fiel allerdings etwas klein aus, und es gab Leute, die behaupteten, sie sei für einen richtigen Kampf gar nicht richtig ausgerüstet. Aber wer wollte das schon glauben? Warum hätte man die Männer mit den blauen Helmen sonst hergeschickt?

Srebrenica, so viel war sicher, war die letzte Station auf ihrem Fluchtweg. Davon waren nicht nur die Osmanovićs überzeugt. Wohin hätten sie denn auch sonst noch gehen sollen? Man wartete nur noch auf den Tag, an dem es heißen würde: Ihr könnt wieder nach Hause.

Soweit es die Verhältnisse zuließen, versuchten die Osmanovićs, so etwas wie ein normales Leben zu führen. Ihre Kinder Mirnes und Mersa gingen zur Schule, falls Schule überhaupt stattfand; Azem und Zuhra waren ständig unterwegs, etwas zu essen aufzutreiben, auch Kleidung, Schuhe, was man eben zum Leben braucht. Seitdem Srebrenica Sicherheitszone war, kamen zwar wieder Konvois mit humanitärer Hilfe, aber unregelmäßig. Immer war von allem zu wenig da. Es gab auch keinen Strom, kein Wasser. Je länger der Zustand andauerte, umso weniger ließ er sich ertragen. Nach drei Jahren Flucht war die Familie Osmanović aus dem Dorf Zgunja an der Drina genauso heruntergekommen wie die meisten der Tausenden Familien in der Enklave: erschöpft, ausgezehrt, verdreckt, verlaust, unterernährt.

Am 6. Juli 1995 schlug im Hotel Domavia im Stockwerk über den Osmanovićs eine Granate ein. Die Armee der bosnischen Serben hatte zu einem Großangriff angesetzt, der entscheidende Schlag, der alles verändern sollte. Wie ihre Nachbarn saßen Azem, Zuhra, Mirnes und Mersa Osmanović von da an praktisch nur noch im Keller. In den Zeiten zuvor hatten sie schon gelernt, wie es sich anhört, wenn Granaten fliegen, ob sie gefährlich nahe kommen oder ob sie vorbeifliegen. Der Ton der Granate gab das Signal, was sie tun mussten: wegrennen oder bleiben.

Fünf Tage lang schlugen in der Stadt Granaten ein, jeden Tag mehr. Dann hieß es, »Tschetniks« würden die Stadt stürmen. Panik brach aus. Azem machte sich auf den Weg, seine Eltern zu suchen. Als er nicht zurückkam, ging Zuhra los, ihn zu suchen. Azem kam zurück, fand aber nur seine Kinder. Sie sollten der Mutter ausrichten, sie solle ihm etwas zu essen machen, denn er würde zusammen mit den Männern von Srebrenica über die Berge fliehen. Dann ging er wieder hinaus, wahrscheinlich um seine Frau zu suchen.

Es war das letzte Mal, dass Azem Osmanović aus Zgunja, Općina Srebrenica, Sohn des Hakija, geboren am 23. November 1959, von den Seinen lebend gesehen wurde.

Zuhra Osmanović suchte vergeblich nach ihrem Mann. In der Stadt herrschte das totale Chaos. Es hieß, die Männer würden sich sammeln, um gemeinsam über die Berge zu dem Territorium durchzubrechen, das die Regierung kontrollierte. Ein Weg von mehr als 70 Kilometern.

Frauen, Kinder und alte Leute sollten zum Stützpunkt der UNPROFOR gehen, der bei der Ortschaft Potočari eingerichtet war. Dort, so hoffte man, würde man vor den Serben sicher sein. Überall rannten Menschen von panischer Angst getrieben ziellos durcheinander, überall wurde geschrien, geweint. Familien verloren einander aus den Augen. Und alles wurde übertönt von den Detonationen der Granaten, die nun ununterbrochen in der Stadt einschlugen.

Zuhra Osmanović sammelte ein paar wenige Habseligkeiten ein, nahm ihre beiden Kinder und machte sich auf den Weg nach Potočari. Zehntausende Menschen brachen gleichzeitig auf. In diesem panischen Getümmel gab es keine Chance, ihren Azem noch ausfindig zu machen. Auch zu ihren Eltern, seinen Eltern, anderen Verwandten hatte sie inzwischen den Kontakt verloren.

Ein riesiger Menschenstrom wälzte sich in Richtung Potočari, ein Industriegelände, rund fünf Kilometer von Srebrenica entfernt. Als Zuhra Osmanović mit den Kindern endlich dort angekommen war, war das Gelände mit dem Hauptquartier der UNO-Soldaten längst abgesperrt. Auch die Fabrikhallen ringsum waren alle bereits von Flüchtlingen besetzt, denn sie gewährten noch einen gewissen Schutz vor der brennenden Sommersonne. Zuhra, Mirnes und Mersa Osmanović fanden nur noch im Depot der Bus-Gesellschaft einen Platz, wo abgewrackte Autobusse wenigstens ein bisschen Schatten boten. Es war der 11. Juli 1995, später Nachmittag.

Etwa 25000 Menschen hatten sich zu der UNPROFOR-Truppe aus den Niederlanden geflüchtet, die dem Ansturm hilflos ausgeliefert war. Es gab nichts zu essen, kaum zu trinken, keine Toiletten. Jeder und jede urinierte und entleerte sich, wo er oder sie ein geeignetes Plätzchen gefunden zu haben glaubte. Es war Hochsommer. Die Temperatur lag bei 35 Grad. Über dem Lager waberte eine Gestankwolke mit den Ausdünstungen von Angstschweiß und Exkrementen der 25000 Flüchtlinge.

Am Tag darauf, dem 12. Juli 1995, tauchten vormittags die ersten bosnisch-serbischen Soldaten auf. Mirnes entdeckte unter ihnen einen Nachbarn aus Zgunja, Milojko Milovanović, der eigentlich Polizist war. Mirnes und Mersa sprachen ihn an. Milojko Milovanović hat aber nicht geholfen, sondern nur Belangloses geredet, etwa dass er sich wunderte, wie groß die Kinder geworden seien in den drei Jahren, seitdem sie aus Zgunja fort waren. Was nun passieren würde und worauf sie achten sollten und was sie tun sollten, davon hat er nichts gesagt. Nachdem Mirnes ihr von Milojko berichtet hatte, machte Zuhra Osmanović sich auf, nach ihm zu suchen. Sie kannte ihn und seine Familie gut. Er sollte ihnen helfen. Doch sie fand ihn nicht mehr.

Bei ihrer Suche nach Milojko Milovanović geriet sie in einen kleinen Menschenauflauf. Ratko Mladić, der oberste Kriegsherr der bosnischen Serben, war gekommen. Zuhra Osmanović drängelte sich ganz nach vorne und fragte ihn, ob es stimme, was alle sagten, dass die jüngeren Männer mitgenommen würden. Alles reine Propaganda, antwortete der General, sie seien völlig sicher. Busse würden kommen und sie zum Regierungsterritorium bringen, und er hat sogar »eure Busse« gesagt, also Busse der bosnischen Regierung.

Zuhra Osmanović hat ihm geglaubt, mehr als den Verwandten, mit denen sie wieder zusammengefunden hatte. Die trauten dem General nicht, glaubten nicht, was sie von seinen Versprechen berichtete. Ein ganz normaler Mensch sei er, hat sie gesagt, vor dem brauche man keine Angst haben. Angst hatte sie vor den »Tschetniks« – Männern in schwarzen und gefleckten Uniformen, mit Stirnbändern oder Piratentüchern um den Kopf gewickelt.

Busse und Lastwagen kamen und transportierten die Menschen nach und nach ab. Zuhra Osmanović hat zwei Nächte und einen ganzen Tag gezögert, zu den Fahrzeugen zu gehen. Sie hat den Versicherungen des Generals dann doch nicht mehr so vertraut, nachdem aus dem Gerücht, die Serben würden alle Männer aussondern, immer mehr Gewissheit geworden war. Ihr Mirnes war erst 14, aber er war groß, für sein Alter sogar sehr groß. Deshalb hatte sie den Aufbruch so lange wie möglich hinausgeschoben.

Erst am frühen Nachmittag des 13. Juli 1995, dem zweiten Tag der Deportation, machte sie sich mit ihren beiden Kindern auf den Weg zu der provisorischen Sperre, die die niederländischen Soldaten eingerichtet hatten. Es blieb ihr nichts anderes mehr übrig. Die meisten Menschen um sie herum waren schon weg.

Die drei passierten die Sperrkette der Soldaten mit den blauen Helmen und liefen auf die Kolonne mit den Bussen und Lastwagen zu, die rechts am Straßenrand standen. Hier waren plötzlich nur noch bosnisch-serbische Soldaten, manche von ihnen mit Hunden. Zuhra Osmanović erkannte sofort, dass Männer von ihren Familien getrennt wurden – junge, alte, ganz alte, es spielte keine Rolle: Frauen und Kinder nach rechts, Männer nach links.

Einer der Soldaten rief Mirnes zu: »Hey, Junge, du kommst mit mir.« Zuhra hielt ihren Sohn fest, sagte, er sei doch verletzt, habe noch immer einen Granatsplitter im Bein. Wie alt er sei, wollte der Soldat wissen. Dreizehn, antwortete Zuhra. Fünfzehn, sagte Mirnes. Er war 14 Jahre und 10 Monate alt. Im September, also in knapp zwei Monaten, hatte er Geburtstag, den fünfzehnten. Der Soldat zog Mirnes von der Mutter weg. Zuhra und ihre Tochter versuchten, ihn festzuhalten. Ein zweiter Soldat kam dazu. Sie solle den Sohn gehen lassen, er werde als Gefangener bald ausgetauscht, erklärte er.

Zuhra Osmanović drehte um und ging zu einem der UNPROFOR-Soldaten zurück. Er solle helfen, schrie sie ihn an, weinte, zeterte. Er schaute sie nur an. Er verstand sie nicht. »Schau doch hin, was sie mit den Männern machen«, schrie sie ihn wieder an. Aber der Soldat reagierte nicht.

Zuhra Osmanović, ihre Tochter Mersa an der Hand, weigerte sich weiterzugehen. Solange ihr Junge nicht zurückgeschickt werde, werde sie sich nicht vom Fleck rühren. »Geh zum Lastwagen, dein Sohn wird ausgetauscht«, versuchte noch einmal einer der Soldaten sie zu beruhigen und schob sie dabei in Richtung der Lkws, auf denen schon Leute saßen, allesamt Vertriebene wie sie. Zuhra Osmanović drehte sich um und sah, wie Mirnes zu einem weißen Haus geführt wurde, das abseits auf einer Wiese stand. Vor dem Haus türmte sich ein riesiger Haufen mit Rucksäcken und Taschen auf. Mirnes musste seine Tasche dort abstellen. Dann wurde er in das weiße Haus geführt.

Es war das letzte Mal, dass Zuhra Osmanović ihren Sohn Mirnes gesehen hat – es war der 13. Juli 1995, früher Nachmittag.

Geblieben sind nur die Erinnerung und ein paar Sekunden auf einem Video aus dem Jahre 1994. Der Film sollte ein Gruß an die Welt draußen sein, an die Verwandten, die irgendwo in Sicherheit waren und die mithilfe der UN das Video aus Srebrenica bekommen sollten. Irgendjemand hatte eine Kamera und eine Kassette aufgetrieben und angefangen zu filmen.

Der Ton ist schlecht, die Bilder verwaschen. Es muss die x-te Kopie sein, die Zuhra Osmanović wie einen Schatz hütet. Er zeigt Menschen, eingeschlossen in der UN-Schutzzone Srebrenica. Amateuraufnahmen: Unruhig schwenkt die Kamera in einem Zimmer hin und her, hält kurz bei einem der Gesichter inne, schwenkt dann wieder weiter. Und für einen Augenblick bleibt sie bei einem Jungen stehen, der an einer Wand lehnt: groß, schmal, soweit man erkennen kann, ein melancholischer Blick: Mirnes Osmanović, Sohn des Azem, geboren am 15. September 1980, zum letzten Mal von Zeugen lebend gesehen am 13. Juli 1995.

Noch zwei Tage zuvor hatte er zusammen mit seiner Mutter und seiner Schwester gehofft, bei dem Stützpunkt der UNPROFOR in Potočari vor den anrückenden »Tschetniks« in Sicherheit zu sein. Aber die niederländischen Blauhelm-Soldaten konnten ihm diesen Schutz nicht bieten. Sie waren selbst vom Wohlwollen der bosnisch-serbischen Führung abhängig. Aber das hatte zu diesem Zeitpunkt noch kaum jemand geahnt.

Etwa zur selben Nachmittagsstunde des 11. Juli, als die drei Osmanovićs an ihrem vorläufig letzten Zufluchtsort untergekommen waren, hatte in der Stadtmitte von Srebrenica der Oberbefehlshaber der bosnisch-serbischen Armee, General Ratko Mladić, vor laufender Fernsehkamera eine Erklärung abgegeben:

»Jetzt sind wir da, am 11. Juli 1995, im serbischen Srebrenica. Am Vorabend eines großen, serbischen Feiertages überreichen wir dem serbischen Volk diese Stadt als Geschenk. Und endlich ist der Augenblick gekommen, nach dem Aufstand gegen die Dahijas an den Türken in dieser Region Rache zu nehmen.«6

Ratko Mladić war ein zynischer Sieger. Fast drei Jahre lang hatte seine Armee die mit Zehntausenden von Flüchtlingen völlig überfüllte Stadt Srebrenica samt näherer Umgebung belagert und ausgehungert. Nun stand der General mit seinem Stab und seinen engsten Vertrauten auf der Hauptstraße der menschenleeren Stadt und triumphierte und schwadronierte etwas von Rache an den Türken und von einem Aufstand, von dem nur historisch Bewanderte wussten, um was es dabei ging: 1804 – der serbische Aufruhr gegen die Terrorherrschaft der Janitscharen, der osmanischen Besatzungstruppe in Serbien.

Liegt die Erklärung für das, was zwischen März 1992 und November 1995 in Bosnien-Herzegowina geschah, tatsächlich in der Geschichte? Wurden alte Rechnungen beglichen? Wofür wollten Ratko Mladić und die Seinen tatsächlich Rache nehmen? Was geschah mit Mirnes Osmanović? Und warum sind in diesen Julitagen des Jahres 1995 er, sein Vater und weitere Tausende Männer und Jugendliche aus Srebrenica zunächst spurlos verschwunden?

Wäre es tatsächlich um einen angeblich nicht auszurottenden, uralten Hass zwischen Serben und Muslimen gegangen, hätte der Serbengeneral gar nicht so weit in die Geschichte zurückgehen müssen. Nur knapp zweieinhalb Jahre zuvor, im Winter 1992/93, hatten die hungernden Bosniaken aus Srebrenica Raubzüge in serbische Dörfer rings um die belagerte Stadt unternommen, um sich Lebensmittel und möglichst auch Waffen zu beschaffen. Bei diesen Überfällen hatten sie weit mehr als tausend Männer, Frauen und Kinder massakriert. Aber im Augenblick des eigenen Triumphes und der totalen Niederlage des Feindes erinnerte der oberste Militär der bosnischen Serben nicht an diese Opfer, was angesichts der teilweise grauenhaften Umstände, unter denen diese Menschen umgekommen waren, noch einigermaßen nachvollziehbar gewesen wäre. Er hätte auch die serbischen Opfer des kroatischen Ustaša-Regimes und ihrer muslimischen Helfershelfer während des Zweiten Weltkrieges in Erinnerung rufen können, als in diesem Raum Ostbosniens besonders brutal gekämpft worden war, und die Erinnerung daran war noch immer sehr lebendig.

Ratko Mladić hatte aber einen Serbenaufstand gegen die osmanische Herrschaft vor fast zweihundert Jahren beschworen. Mit der Stadt Srebrenica und der Region östliches Bosnien hatte dieser überhaupt nichts zu tun, was zeigt: Es ging weder um »alte Rechnungen« – Rache an »traditionellen Feinden« – noch um Ideologie – Sozialisten gegen Faschisten. Nicht um Klassenkampf – Reiche gegen Arme – auch nicht um Religion – Serbisch-Orthodoxe gegen Muslime.

Dieser Krieg war kein Krieg um die Vorherrschaft einer Religion. Die Kriegsherren benutzten aber die Religion und zugleich die Historie als Vehikel für den Kampf für die eigene Sache – den Kampf um das Territorium eines auseinanderbrechenden Staates. Sie verklärten diese Auseinandersetzung um Bauernland und Fabriken, Städte und Dörfer zum Kampf für das eigene Überleben. Die Mythen, hinter denen man die eigenen Ziele zu verstecken suchte, finden sich in der jahrhundertealten Geschichte dieses Raumes. Sie wurden so oft wiederholt, bis die Krieger und ihre Unterstützer tatsächlich glaubten, im ausgehenden 20. Jahrhundert würden die großen Schlachten des 14. oder 17. oder 19. oder 20. Jahrhunderts neu geschlagen. Weil es dabei angeblich ausschließlich um das Überleben der eigenen Volksgemeinschaft ging, schien dafür auch jedes Mittel recht.7

Für die serbische Führung im »alten« Jugoslawien hatte schon sehr früh festgestanden: Sollte es tatsächlich zu einem Auseinanderbrechen des Staates kommen, war Gewalt unvermeidlich. Bereits im Juni 1989, als in Serbien die nationalistische Welle zum 600. Jahrestag der Türkenschlacht auf dem Kosovo Polje (Amselfeld) ihren Höhepunkt erreichte, hatte Borisav Jović, serbischer Vertreter im kollektiven Staatspräsidium, in seinem Tagebuch notiert: »[…] falls Jugoslawien zerbrechen sollte, könnte ein großer Teil der serbischen Bevölkerung sich außerhalb der Grenzen Serbiens wiederfinden, wenn er sich nicht durch den Einsatz von Gewalt für eine andere Lösung entscheiden sollte.«8

Radovan Karadžić und Ratko Mladić, die beiden Männer an der Spitze des Republika Srpska, der »Serbischen Republik«, hatten in den Jahren danach den Kampf um Bosnien-Herzegowina ideologisch aufgebläht zum Kampf um die Rettung der bosnischen Serben vor Vernichtung und als Krieg zur Rettung des Abendlandes vor dem erneut anstürmenden Islam. Tatsächlich wurde Krieg um ein möglichst großes Stück vom Territorium des zerfallenden Staatswesens Jugoslawien geführt. Und was die bosnisch-serbischen Militärs am 11. Juli 1995 in Srebrenica feierten, hatte sich in den drei Kriegsjahren zuvor im Tal der Drina in Städten wie Bijeljina, Zvornik, Višegrad, Foča schon viele Male wiederholt: die Einnahme der Stadt als Triumph über eine andere Volksgruppe, deren Bevölkerung man vertreiben beziehungsweise auslöschen wollte oder musste, um ihr Land in Besitz nehmen zu können.

Die bosnischen Serben führten Krieg in einem Raum, wo es – anders als bei den Nachbarn in Kroatien und Serbien – nie ein dominierendes Staatsvolk gegeben hatte. Bosnien sei »ein dreyerlei nation und glauben«, berichtete der Gesandte des Hauses Habsburg im 16. Jahrhundert seinem Kaiser in Wien.9 Mindestens dreierlei, weil in der Realität neben den drei Hauptvölkern Bosniaken, Serben und Kroaten in Bosnien-Herzegowina noch weit mehr Volksgruppen lebten und leben: Montenegriner, Ungarn, Deutsche, sephardische Juden, Albaner, Roma, Rumänen, Ruthenen, Slowaken. Und dann waren da auch noch jene, die sich bei den Volkszählungen überhaupt keiner Ethnie zurechnen lassen wollten und sich schlicht und einfach als »Jugoslawen« bekannten.

Bei der letzten jugoslawischen Volkszählung im bereits nationalistisch aufgeladenen Jahr 1991 lebten knapp 4,5 Millionen Menschen in Bosnien-Herzegowina, von denen sich 43,7 Prozent als Muslime, 31,3 Prozent als Serben, 17,3 Prozent als Kroaten und immerhin noch 5,5 Prozent als Jugoslawen eingetragen hatten.10

Kroatische wie serbische Nationalisten kümmerte dies wenig. Für sie war Bosnien-Herzegowina ein Staat, geprägt vom »Imperativ der Eigentlichkeit« (Holm Sundhaussen)11: Die Bosniaken waren (und sind) in ihren Augen »eigentlich« Kroaten beziehungsweise Serben, je nach Anspruch, und dementsprechend gehörte (gehört) auch ihr Land zu einem Groß-Kroatien beziehungsweise einem Groß-Serbien. Die verstorbenen Gründungspräsidenten von Kroatien und Serbien, Franjo Tuđman und Slobodan Milošević, beide zutiefst überzeugte Nationalideologen der großkroatischen bzw. der großserbischen Sache, behaupteten in den Propagandaschlachten vor dem Krieg ganz im Sinne ihrer Vorgänger im 19. Jahrhundert, Bosnien sei ein »erdachtes Volk« (izmišljena narod).12

Tatsächlich existiert Bosnien-Herzegowina nicht als Nation im herkömmlichen Sinne. Bosanac, Bosnier, ist, wer die Staatsangehörigkeit von Bosnien-Herzegowina besitzt, kann aber gleichzeitig Bosniake, Serbe, Kroate etc. sein. Bosnien-Herzegowina war und ist immer ein Vielvölkerstaat gewesen und geblieben. Ein Jugoslawien im Kleinen, allerdings mit einer langen, nicht immer romantisch-friedvollen, sondern auch blutigen Geschichte.

»Wer in Sarajevo die Nacht durchwacht, kann die Stimmen der Nacht von Sarajevo hören. Schwer und sicher schlägt die Uhr an der katholischen Kathedrale: zwei nach Mitternacht. Es vergeht mehr als eine Minute (genau 75 Sekunden), und erst dann meldet sich, etwas schwächer, aber mit einem durchdringenden Laut die Stimme der orthodoxen Kirche, die nun auch ihre zwei Stunden schlägt. Etwas später schlägt mit einer heiseren und fernen Stimme die Uhr am Turm der Husrev-Beg-Moschee. Sie schlägt elf Uhr, elf gespenstische türkische Stunden, die nach einer seltsamen Zeitrechnung ferner, fremder Gegenden dieser Welt festgelegt worden sind. Die Juden haben keine Uhr, die schlägt, und Gott allein weiß, wie spät es bei ihnen ist […]«,13 schrieb der bosnisch-kroatische Literaturnobelpreisträger Ivo Andrić in seiner Erzählung »Brief aus dem Jahre 1920«. Die Textstelle wird allseits gerne zitiert, um eine angebliche Idylle in der kulturellen Vielfalt des Vorkrieg-Sarajevo zu beschreiben. Doch bei Andrić geht es überhaupt nicht idyllisch weiter: »So lebt auch noch nachts, wenn alle schlafen, der Unterschied fort, im Zählen der verlorenen Stunden dieser späten Zeit. Und dieser Unterschied, der manchmal sichtbar und offen ist, manchmal unsichtbar und heimtückisch, ist immer dem Hass ähnlich, sehr oft aber mit ihm identisch.«

Der Balkan als Hort von Hass, Rache und Formen grausamster Gewalt ist zugleich Realität und Mythos, jedenfalls ein weit verbreitetes Stereotyp. »Es ist heute schwer, irgendwo Leute zu finden, die so besessen sind von der Geschichte und von den Erzählungen seinerzeitiger Kriegsgräuel wie hier«, sagte Lewis MacKenzie, kanadischer General, Kommandeur der UNPROFOR in Sarajevo in den Jahren 1992–1993. Und weiter: »So viel wird von Verbrechen und Übeltaten gesprochen, dass es schwer ist, zu unterscheiden, was sich auf die Gegenwart und was sich auf die Vergangenheit bezieht.«14 Offenbar hatte der General aus Kanada schon im Sommer 1992, also gut drei Jahre vor der Siegerpose des Ratko Mladić in Srebrenica, aufgehört, das Geschehen um ihn herum zu verstehen.

Für US-Präsident Bill Clinton hob das Ende des Kalten Krieges »den Deckel von dem Hexenkessel, in dem jahrhundertealter Hass brodelte«. Sein Außenminister Warren Christopher stand vor einem »unlösbaren Teufelsproblem, für das man von niemandem eine Lösung erwarten kann«, und Frankreichs Präsident François Mitterand kam zu der Einsicht: »Wir sehen etwas, das die Geschichte geschaffen hat und das der Grund ist, warum diese Völker sich seit Jahrhunderten bekämpfen.«15 Besonders Politiker der Europäischen Gemeinschaft (EG), die zwar »die Stunde der Europäer«16 gekommen sahen, dem Geschehen im ehemaligen Jugoslawien aber mehr oder weniger verständnislos gegenüberstanden, retteten sich mit solcherlei Phrasen in ihr Nichtstun.17

Die Beteiligten in Bosnien-Herzegowina haben selbst den größten Anteil an der beharrlichen Existenz derartiger Vorurteile. »Ko ne se osveti, to ne se posveti«, lautet ein serbisches Sprichwort – »Wer sich nicht rächt, kann nicht heilig werden.«18 Also sprach Ratko Mladić bei der Einnahme von Srebrenica von Rache und befand sich damit ganz im Einklang mit dem serbischen Tschetnik-Führer im Zweiten Weltkrieg, Draža Mihajlović. In beider Weltbild waren die Serben immer zum Kämpfen verpflichtet. Doch mit diesem chauvinistischen Rassisten hätte den in der kommunistischen Jugoslawischen Volksarmee groß gewordenen Ratko Mladić eigentlich nichts verbinden dürfen. Der Royalist Draža Mihajlović hatte als Grundlage seiner Ausrottungspolitik gegen alle Nicht-Serben Rache gepredigt: »Sich nicht rächen heißt so viel wie die Minderwertigkeit der Rasse anzuerkennen. Nur die kollektive und organisierte Rache wird die Wirkung der Rassenrache erzielen. Die Rache ist ein Problem der Ehre der serbischen Rasse […].«19

Unter der Herrschaft des Marschall Tito und des »Bundes der Kommunisten Jugoslawiens« sei dieser »uralte Hass« zwischen den Volksgruppen quasi eingefroren gewesen, wie in einem »Gefrierschrank«, lautet eine weit verbreitete These, mit der die Explosion der Gewalt im ehemaligen Jugoslawien am Ende des vergangenen Jahrhunderts erklärt werden soll. Und mit dem politischen Tauwetter zum Ende der 1980er Jahre seien eben auch die alten Feindschaften wieder aufgetaut und die hätten dann in die Katastrophe geführt.

Ein Denkfehler.20 Die Tragödie von Srebrenica und das Drama in ganz Bosnien-Herzegowina mit dem Ausbruch eines angeblich uralten Völkerhasses zu erklären, hieße, die Geschichte auf den Kopf zu stellen. Man kann die Geschichte nicht vom Ende her erklären, sondern muss herausfinden, wie es so weit kommen konnte und wer dabei welche Ziele verfolgte und welche Mittel dafür einsetzte.21

Die Antwort auf diese Fragen hat ihren Anfang lange Zeit vor dem Juli 1995, als die bosniakische Enklave Srebrenica in Ost-Bosnien von bosnisch-serbischen Truppen gestürmt und besetzt wurde. Die Antwort liegt auch in einer Zeit lange vor den Jahren 1991/1992, als die Sozialistische Föderative Republik Jugoslawien in zwei blutigen Kriegen auseinanderbrach. Die Erklärung der Vorgeschichte des größten Massakers in Europa seit Ende des Zweiten Weltkrieges reicht viel weiter zurück.

Sie beginnt, als die Drina, der Fluss, der von Srebrenica nur gute zehn Kilometer entfernt ist und Bosnien von Serbien trennt, zum ersten Mal offizielle Grenze wurde – 395 nach Christus, als das Römische Reich in Ost- und Westrom aufgeteilt wurde. Die slawischen Vorfahren der späteren Jugoslawen waren noch gar nicht in diesen Raum eingewandert, doch der Fluss blieb weit länger als ein Jahrtausend Trennlinie zwischen Religionen, Völkern, Kulturen. Östlich und westlich der Drina entstanden jene zwei Welten, die zwischen 1992 und 1995 in diesem ungeheuerlichen Gemetzel, genannt: Bosnien-Krieg, aufeinanderprallten. Dies erklärt zwar nicht die Ursachen des Krieges, wohl aber die Instrumentalisierung für rassistischchauvinistische Parolen.

Mit »unbegreiflich«, »unfassbar« werden für gewöhnlich Geschichten beschrieben, die so fremd erscheinen, dass man eigentlich nichts damit zu tun haben möchte. Es scheint gut möglich, dass ein alter Nachbar von Mirnes Osmanović dabei war oder zugeschaut hat, als der vierzehnjährige Junge abgeführt wurde. Macht das die Geschichte noch unbegreiflicher?

Nichts an dem Geschehen von Srebrenica ist unbegreiflich. Es bedeutet nur: Nachbarn fallen über Nachbarn her, vertreiben sie, nehmen sich ihren Besitz, vergewaltigen die Frauen, traumatisieren, töten – fügen ihnen allen seelische und körperliche Schmerzen zu, die nie mehr vergehen. Angesichts des drei Jahre währenden Wütens in diesem Schlachthaus namens Bosnien-Herzegowina fragte sich das internationale Publikum offenbar fassungslos: Wie ist das nur möglich? Die Antwort ist ganz einfach: »Wir mögen es uns nicht vorstellen, aber wir wissen, dass es durch die Geschichte so gewesen ist.«22

Die Gewalt, die sich in diesem Krieg wie in allen Kriegen zuvor Bahn brach und hier, im Falle Srebrenica, ihren Tiefpunkt erreichte, war nichts Neues. Es hatte sie immer schon gegeben. Es ist nicht so, »dass wir nicht seit je gewusst hätten, dass Menschen durch die Jahrhunderte immer wieder in der Lage gewesen sind, Scheußlichkeiten zu begehen, die uns fassungslos machen«.23 Diese so lapidar klingende Einsicht und Selbstverständlichkeit von Jan Philipp Reemtsma macht schaudern, denn natürlich hatte es seit Menschengedenken »so was« nicht nur immer schon gegeben, sondern es ließen (und lassen) sich zu allen Zeiten, das Heute eingeschlossen, auch immer Leute finden, die »so was« machen. »Kriege gibt es aus allen möglichen Ursachen, aber es gibt sie auch, weil es sehr viele Männer gibt, die gerne kämpfen.«24 Und neben der Lust an der Gewalt hilft ihnen dabei noch die Unterwerfung unter Vorgesetzte und Befehle, die Kameraderie in der Truppe, Neid, Belohnung, Alkohol, Indifferenz gegenüber Opfern, vor allem aber: Töten war offiziell erlaubt, sogar erwünscht.

Der »Bosnien-Krieg« der Jahre 1992 bis 1995 erscheint deshalb als besonders grausam, weil er ein Feldzug war, der sich fast ausschließlich gegen die Zivilbevölkerung des Gegners richtete. Das hatte für Radovan Karadžić bereits festgestanden, bevor es überhaupt zu irgendwelchen Schießereien oder gar Kampfhandlungen gekommen war. Am 12. Oktober 1991 beschrieb Radovan Karadžić dem serbischen Schriftsteller Gojko Ðogo am Telefon die Lage und was die Bosniaken erwartete:

»Sie [die Bosniaken, M. F.] müssen wissen, dass es rund um Sarajevo 20000 bewaffnete Serben gibt. Sie werden, […] sie werden verschwinden. Sarajevo wird ein schwarzer Hexenkessel sein, in dem 300000 Muslime sterben werden. Die sind nicht richtig im Kopf. Ich weiß auch nicht. Ich werde ganz offen mit ihnen reden müssen: Leute, zockt nicht rum, in Bosnien-Herzegowina gibt es drei-, vierhunderttausend bewaffnete Serben. Was glaubt ihr denn? Dazu eine Armee und die Ausrüstung und alles. Glaubt ihr wirklich, ihr könnt so einfach gehen wie Kroatien?«25

Sarajevo wurde genauso wie Prijedor, Zvornik, Višegrad, Foča, Goražde und die vielen anderen Schreckensorte tatsächlich für über drei Jahre zum Hexenkessel, und Srebrenica am Ende gar zum Höllenort.

Dieser Krieg war ein Krieg der »ethnischen Säuberungen« – eine Binsenweisheit, denn seit Menschengedenken ist jeder Krieg zugleich auch »ethnische Säuberung«. Den Ursprung des Begriffes vermuten Völkerrechtler aber erst im nationalsozialistischen Deutschland, als »Säuberung« dafür stand, »Deutschland ›judenrein‹ zu machen«.26

Im ehemaligen Jugoslawien ist der Begriff zum ersten Mal schriftlich verbürgt in einer »Anweisung«, Instrukcija, des Anführers der königstreuen Tschetniks, Draža Mihajlović.27 Dieser machte im Dezember 1941 zwei seiner Tschetnik-Kommandeure unmissverständlich klar, was im Kampf gegen die kroatischen Faschisten und die bosnischen Muslime die Ziele der königstreuen Tschetniks waren, neben anderen: »Die Säuberung des Staatsterritoriums von allen nationalen Minderheiten und nichtnationalen Elementen.«28 Mihajlović verwendete den Begriff čišćenje, »Säuberung«, hatte dabei aber genau dasselbe im Sinn wie 50 Jahre später Ratko Mladić, Radovan Karadžić und die Führer serbischer paramilitärischer Einheiten wie Vojislav Šešelj und Željko Ražnjatović: etničko čišćenje, »ethnische Säuberung«.

Es war also »nichts Neues in der Geschichte«, wie auch eine Expertenkommission von Völkerrechtlern befand, die im Auftrag der Vereinten Nationen das Geschehen in Bosnien-Herzegowina untersuchte.29 Neu war in diesem Zusammenhang nur, dass die Täter mit dem Gebrauch des Begriffes »ethnische Säuberung« ohne Hemmungen und öffentlich ein Verbrechen verharmlosten: die Vertreibung einer ethnischen Gruppe aus ihrem Heimatgebiet durch eine andere ethnische Gruppe – ein ungeheuer gewalttätiges Vorgehen, wie es der Sonderberichterstatter der UN-Menschenrechtskommission Tadeusz Mazowiecki in einem seiner ersten Situationsberichte aus dem ehemaligen Jugoslawien beschrieb:

»Bedrohungen, Schikanen und Einschüchterungen; Schüsse oder der Einsatz von Sprengmitteln gegen Häuser, Geschäfte und Gewerbebetriebe; Zerstörung religiöser Andachtsorte und kultureller Einrichtungen; Abtransport oder Umsiedlung mit Zwangsmaßnahmen; Hinrichtung im Schnellverfahren; Gräueltaten wie Folter, Vergewaltigung und Schändung von Leichen mit der Absicht, in der Bevölkerung Terror zu verbreiten.«30

Nach Mazowieckis Definition ist Sinn und Zweck »ethnischer Säuberungen«nicht allein die Vertreibung einer Bevölkerung aus ihrem angestammten Gebiet. Mindestens genauso wichtig ist die »Konfiszierung des Besitzes jener, die man gezwungen hatte fortzugehen, eingeschlossen Wohnhäuser, Bauernland und landwirtschaftliches Gerät. In einigen Gebieten sind Gebäude dem Erdboden gleichgemacht worden, um jede Möglichkeit einer Rückkehr auszuschließen.«31 Auch die Expertenkommission der Vereinten Nationen diagnostizierte dieses Merkmal, das allen Vertreibungen gleich war: Die Bevölkerung musste vor ihrer »freiwilligen« oder erzwungenen Umsiedlung eine Vorbedingung erfüllen. Jeder und jede musste auf seinen/ihren Besitz offiziell und amtlich dokumentiert verzichten und ihn an die neuen Herren überschreiben.32 Wer dem nicht folgte, hatte keine Chance auf Überleben.

Einzig Vertreibung war Ziel der jugoslawischen Auflösungskriege – nicht aus Rassenwahn zur Vernichtung oder Versklavung anderer Völker wie im deutschen Vernichtungskrieg in Ost- und Südosteuropa. Im zerfallenden Jugoslawien ging es – entsprechend der Definition von Tadeusz Mazowiecki – um Besitz, um das Land des Feindes, das fortan ausschließlich der eigenen Volksgemeinschaft gehören sollte, weil es angeblich immer schon Besitz dieser Volksgemeinschaft gewesen sei.

Die Betonung liegt auf »angeblich«, denn es gab in Bosnien-Herzegowina gar keine »reinen« Siedlungsgebiete. Das sah man hinter verschlossenen Türen auch im engsten serbischen Führungszirkel so: »Die Republika Srpska ist in einem Gebiet geschaffen worden, in dem nie zuvor ein serbischer Staat existiert hatte! Das ist eine historische Leistung […]. Es hat entlang der Drina von Zvornik bis Foča nie eine serbische Mehrheit gegeben, doch sie haben sich alles genommen«, erklärte Serbiens Präsident Slobodan Milošević im Dezember 1995 vor einem kleinen Kreis höchster serbischer Politiker und Militärs, nachdem alles vorbei war.33

Die amtlichen Statistiken aus der Vorkriegszeit zeigen ein Land, dessen Bevölkerung in der Tat durch und durch vermischt lebte. Nach der Volkszählung von 1991 siedelten Serben auf 94,5 Prozent des Territoriums, Bosniaken auf 94 Prozent und Kroaten immerhin noch auf 70 Prozent.34 Bosnien-Herzegowina war ein ethnischer Flickenteppich, in dem es zwar viele Dörfer gab, die zu hundert Prozent von einer Volksgruppe bewohnt waren, wo aber das wenige Kilometer entfernte Nachbardorf zu einer anderen Volksgruppe zählen konnte.

»[Die] Trennung von den beiden anderen Volksgruppen« hatte Radovan Karadžić am 12. Mai 1992 als erstes »strategisches Ziel« der Republika Srpska benannt, und zwar als »Trennung von denen, die unsere Feinde sind und die besonders in diesem Jahrhundert jede Gelegenheit genutzt haben uns anzugreifen, und die damit weitermachen würden, wenn wir weiter mit ihnen in einem Staat bleiben würden«, und die Parlamentsabgeordneten der selbst ernannten Republik hatten dies auch so beschlossen.35 Nur wie sollte das gehen angesichts der Bevölkerungsverteilung? Bosnien-Herzegowina konnte gar nicht in einzelne ethnisch bestimmte Regionen aufgeteilt werden. Oder man musste Millionen von Menschen umsiedeln. Oder vertreiben.

Dies erklärt die schier explodierenden Flüchtlingszahlen der ersten Kriegsmonate und lässt den Horror im Hinterland erahnen. Als der US-amerikanische Diplomat Cyrus Vance, Sondergesandter des UN-Generalsekretärs, im April 1992 nach Sarajevo kam, zählte das UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR 184000 Vertriebene in Bosnien-Herzegowina. Vier Tage später, als er wieder nach New York zurückflog, waren es schon 240000.36

Im Juni 1992 nannte UNHCR bereits eine Zahl von knapp 800000 Flüchtlingen.37 Ein halbes Jahr später, im Dezember 1992, waren es 1,4 Millionen Menschen.383940