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Bernard Imhasly

Indien
Ein Länderporträt

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Bernard Imhasly

Indien

Ein Länderporträt

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Ich danke meinen Freunden Ingrid Sievers, Tilmann Waldraff und Clemens Jürgenmeyer für ihre große Hilfe bei der Korrektur der Endfassung.

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet
diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;
detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über
www.dnb.de abrufbar.

2. Auflage als E-Book, August 2016
entspricht der 2., aktualisierten Druckauflage vom Juli 2016
© Christoph Links Verlag GmbH
Schönhauser Allee 36, 10435 Berlin, Tel.: (030) 44 02 32-0
www.christoph-links-verlag.de; mail@christoph-links-verlag.de
Cover: Stephanie Raubach, Berlin. Elefant im Verkehr auf einer Hauptstraße der Stadt Jaipur, © Vick Fisher/Alamy
Karte: Christopher Volle, Freiburg
Lektorat: Günther Wessel, Berlin

eISBN 978-3-86284-305-3

Inhalt

Vorwort

Prolog: Gateway of India

Geschichte: Die Geschichte eines Teichs – und eines Landes

Gesellschaft: Einheit in der Vielfalt

Religion: Das Offene Buch Gottes

Kaste: Schutz und Stigma

Minderheiten: Ein Land voll davon

Politik: Ein neues Hindu-Reich?

Familie: Indische Ehe, im Himmel geschlossen

Wirtschaft: Ein Gigant auf schwachen Füßen

Diaspora: Der Mann im Mond

Umwelt: Waste Side Story

Sport: Bizeps und Bhagavad Gita

Kultur: In der Mythologie verankert

Epilog: India Gate

Anhang

Kleines Glossar

Literaturhinweise

Basisdaten

Karte

Über den Autor

Vorwort

Dieses Buch hätte auch ein anderes sein können, mit demselben Titel und vom selben Autor. Jede Beschreibung eines Gegenstandes ist eine Verkürzung, beruht auf Vereinfachung und Selektion. Wenn dieser Gegenstand Indien heißt, mit seiner Größe und Vielfalt, die sowohl in die Weite der physischen und sozialen Landschaft geht wie in die historische Tiefe, werden Selektion und Verkürzung zum schriftstellerischen Prinzip.

Beim Schreiben bin ich öfter an Wegstellen geraten, an denen ich dachte: Jetzt könntest du auch diese Richtung einschlagen statt der gewählten; jetzt kannst du hier länger verweilen. Die eingeschlagene Straße hätte an die pakistanische Grenze in Rajasthan statt im Panjab führen können. Anstelle einer waffenstarrenden Line of Control wäre eine Wüste ins Bild gekommen, ohne Sperren und Wachtürme, dafür mit Kamelen und Ziegen, die über die Grenze hinweg an Akaziensträuchern knabbern. Es hätte auch Ram Sethu (»Ramas Brücke«) sein können, eine Kette von kleinen Inseln und Sandbänken, die Tamil Nadu mit Sri Lanka verbindet. Deren mythische Brückenfunktion ist noch so lebendig, dass kein Schifffahrtskanal sie durchschneiden darf.

Ähnlich ist es mit der politischen Landschaft oder jener der Massenkultur. In einem anderen Buch hätte mehr über den maoistischen Untergrund der Naxaliten gestanden oder über Bollywood, über Delhis Luftverschmutzung und den Kaschmirkonflikt, nicht zu reden von der Geschichte der Mogulen, den Dschungeln des Terai, heiligen Kühen und buddhistischen Dalitmönchen. Sie hätten nicht mehr Wahrheit über Indien an den Tag gebracht, aber andere Wahrheiten.

Was sich von der Landschaft und Gesellschaft sagen lässt, gilt noch mehr für die Menschen. Von den Brahmanen geht das geflügelte Wort: Schlägst du ihm einen Nagel in den Kopf, ziehst du einen Korkenzieher heraus. Dasselbe lässt sich von Indien behaupten. Eine gute Einführung in das Land muss schlank sein wie ein Stift, und sie muss sich an die verschlungene Spirale eines Korkenziehers wagen. Der Mittelweg ist oft ein Hochseilakt zwischen Klischee und Kasuistik. Er vernachlässigt Wichtiges und verweilt bei geringfügigen Details. Er tut dies mit dem Anspruch, in der Kleinigkeit eine tiefere Gesamttönung einzubringen – und nimmt dabei klaffende Leerstellen in Kauf. Es ist mehr eine Einfühlung als eine Einführung.

Wenn ich an der vorliegenden Darstellung etwas vermisse, dann sind es weniger die großen Themen als die Geschichten von gewöhnlichen Leuten, die manchmal Berge versetzen und Tote erwecken. Erzählungen über einen Mann wie Manjhi zum Beispiel, der eine drei Kilometer lange Schneise in einen Berg grub, 22 Jahre lang, nur mit Spitzhacke, Meißel und Schaufel. Er wollte sein Dorf Gahluar in Bihar mit dem nächsten Krankenhaus verbinden und den Dorfgenossen das Schicksal seiner Frau ersparen. Sie war auf dem Weg dorthin gestorben, weil sich die Straße sechs Fahrstunden lang um den Berg zog.

Oder Lal Bihari Mritak. Mritak heißt »tot«, und als tot galt der 24-jährige Sari-Weber, als er 1976 in sein Dorf Mubarakpur zurückkam und erfuhr, dass es ihn eigentlich nicht mehr gab. Verwandte hatten ihn als verstorben registrieren lassen, um an sein Land zu kommen. Lal Bihari musste 18 Jahre lang kämpfen, bis sein Registereintrag wieder gelöscht wurde. Beim beschwerlichen Weg durch die Bürokratie – sie ignorierte ihn, er war ja tot – begegnete er Tausenden von »Toten«. Um dem Übel beizukommen, gründete er eine Toten-Partei. Das Einzige, was selbst ein »toter« Inder legal tun kann, ist, sich als Wahlkandidat einzutragen.

Zu den Abwesenden zählt auch Shabnam Ramaswamy, eine gute Freundin. Sie leistet in einem kleinen Dorf in Nordbengalen Großes, nicht nur mit der Schule, die sie mitten in die Reisfelder gebaut hat. Sondern auch wegen des Muts, dort zu bleiben, als man sie vertreiben wollte, indem man ihr den Gatten ermordete. Heute wird sie, ihrer Hautfärbung und ihres Muts wegen, als »weiße Kali« verehrt.

Ihnen, und den Vielen, die auf den folgenden Seiten ungenannt bleiben, widme ich dieses Buch.

Bernard Imhasly
Awas/Alibagh, Frühjahr 2016

Prolog: Gateway of India

Der große Triumphbogen an der Südspitze von Mumbai, direkt an der Hafeneinfahrt gelegen, war ein Wahrzeichen für die britische Besetzung Indiens, als er 1911 errichtet wurde. Aber 37 Jahre nach seiner Errichtung und sechs Monate nach der Unabhängigkeit des Landes bestiegen hier am 28. Februar 1948 die letzten Soldaten des Empires ihre Schiffe. Das Gateway to India wurde ein Symbol der Niederlage, das Eingangstor wurde zum Hinterausgang.

Die Sieger änderten sich, der Triumphbogen blieb. Auch die Reiterstatue vor dem Koloss wurde ausgewechselt, und der Blick von Ross und Reiter drehte sich um. Zuvor hatte der Prince of Wales herausfordernd die Stadt und das weite Land dahinter ins Auge genommen. Nun schaut der Reiter, der Lokalheld Shivaji, König der Marathen durch das Tor auf das Meer hinaus. Aus Gateway to India wurde Gateway of India.

Vom Schiff aus wirken weder Tor noch Reiter abweisend. Der große Platz zwischen Reiterbild und Triumphbogen ist heute der meistbesuchte Tummelplatz der Stadt. Besonders die Touristen aus dem nahen Hinterland lassen sich gern mit dem Gateway im Rücken ablichten. Noch lieber wählen sie aber das Taj-Mahal-Hotel gleich nebenan als Kulisse. Aus exakt dieser Perspektive, so werden sie später zuhause erzählen, verfolgten die TV-Kameras im November 2008 drei Tage lang die Belagerung der Terroristen, die sich im prächtigen Gebäude verschanzt hatten.

Gateway und Hotel sind die Orientierungspunkte, wenn sich meine Fähre von Alibagh auf der anderen Seite des Hafens der Stadt nähert. Die Schaukelfahrt ist gemächlich im Vergleich zu dem Verkehr, der sich aus den anderen Himmelsrichtungen jeden Tag in Richtung Stadtzentrum wälzt. Auf dem Boot wird für mich das näherkommende Bauwerk manchmal zur Gelegenheit, in die Rolle eines erstmaligen Indienbesuchers zu schlüpfen, der ahnungslos und unvoreingenommen auf eine Terra incognita zusteuert.

Der Lärm, das Gedränge und der Staub der Stadt, die mich rasch einnebeln, machen mit der gespielten Naivität des ersten Blicks kurzen Prozess. Dennoch ist es eine gute Übung. Sie bewahrt mich davor, von diesem überwältigenden Land geschluckt zu werden oder mich in Abwehrhaltung zu verhärten. Ohne diesen Blick vom Schiff aus würde ich vorschnell zum Anker eines definitiven Urteils greifen – und nicht immer wäre es ein schmeichelhaftes.

Manchmal sind es Freunde, die bei ihrer Ankunft in Indien diesen Blick öffnen. Heute landen sie allerdings nicht mehr mit dem Schiff, und auch das reale Einfallstor ist umgezogen. Es heißt nun Chhatrapati Shivaji International Airport (CSIA) und liegt 30 Kilometer nördlich des alten Stadtzentrums und seiner maritimen Ikone.

Als ich mich vor 30 Jahren in Indien niederließ, lag der Flughafen noch vor den Toren der Stadt. Heute ist er die exakte geografische Mitte von Mumbai. Jenseits des CSIA ist die Stadt inzwischen um weitere 30 Kilometer ins Hinterland gewachsen. Sie ist nun im Stammesgebiet der Warlis angelangt. Diese laufen zwar immer noch barfuß herum, aber sie können bereits auf Wohntürme mit Namen wie »Wuthering Heights« hinübersehen.

Nicht immer ist der erste Blick unvoreingenommen. Vor einigen Jahren holte mich an einem regnerischen Morgen der Freund eines Freundes vom Flughafen ab. Auf der Fahrt in die Stadt erzählte er mir, der Anflug sei instruktiv gewesen, zehn Jahre nach seiner letzten Indienreise: »Ich hätte nie gedacht, dass sich inzwischen so viele Leute einen Swimmingpool leisten können.« Ich sah ihn verständnislos an. »Nun ja«, erklärte er, »die Stadt unter mir war übersät mit diesen königsblauen Schwimmbecken.«

Ich musste lachen, doch dann zeigte mir sein fragendes Gesicht, dass es kein Witz war. Es war Monsunzeit, und auf vielen Slumhütten lagen die typischen blauen Plastikplanen zum Schutz gegen das Regenwasser. Die Farbe ist nicht ein Zeichen des Wohlstands, sondern der Armut, erklärte ich ihm. Die Anflugschneise in Mumbai liegt über eng gedrängten Hüttensiedlungen, die inzwischen die Schutzwälle des Flughafenareals erreicht haben.

So kann man sich über ein Land täuschen, dachte ich mir. Doch war meine Interpretation denn die richtige? Wenn ich später Slums besuchte, hatte ich öfter Gelegenheit, mir diese Frage zu stellen. Hatte mein naiver Bekannter nicht doch Recht gehabt? Die blauen Planen decken jeweils die bestgebauten Hütten ab, die wirklich Ärmsten müssen sich mit alten Zementsäcken vor den Regengüssen schützen.

Im Monsun blitzt das Königsblau zudem auch im Grau der Mittelklasse-Quartiere auf. Und als ich einmal über den Gowalia Tank, ein ehemaliges Wasserreservoir, auf die Hochhäuser des Cumballa Hill blickte, sah ich diese heraldische Farbe Mumbais sogar vom Dach eines Wolkenkratzers flattern. Es war ausgerechnet das 27-stöckige Wohnhaus von Mukesh Ambani, von Indiens reichstem Mann. Groß genug für seine fünfköpfige Familie, stellte ich grimmig fest, aber wohl nicht dicht genug.

Wenn ich während meiner 30 Jahre in Indien etwas gelernt habe, dann die Einsicht, mit Wahrheiten über das Land vorsichtig aufzutreten. Nehmen wir die erwähnten Slums in der Anflugschneise des Flughafens. Kein Zweifel, es sind Elendssiedlungen, die sich in die Poren der Stadt bohren. Doch nur die Wenigsten nehmen die riesige Waldfläche dahinter wahr. Sie ist völlig unberührt.

Es ist der Sanjay Gandhi National Park. Ein Wildpark im Wohngebiet einer der am dichtesten besiedelten Megastädte der Welt? Ist auch dies, wie die königsblauen Swimmingpools, eine optische Täuschung? Es ist keine. Mit einer Fläche von 100 Quadratkilometern, größer als der Rest des Stadtgebiets, kann er zudem kaum als Zoo abgehakt werden.

Der Nationalpark ist auch nicht umzäunt. Beinahe jede Woche kommt es an den Nahtstellen zwischen Wohnquartieren und Wildreservat zu einem fatalen Zwischenfall: Ein Leopard fällt einen Menschen an, der am Waldrand seine Notdurft verrichtet; oder er verirrt sich in eine unterirdische Parkgarage oder wird angezogen von einem stinkenden Abfallhaufen und schlägt zu, wenn Menschen auftauchen.

Nachrichten dieses Inhalts werden gelesen wie solche über Verkehrsunfälle. Niemandem käme es in den Sinn, von den Behörden eine Umsiedlung des Wildtierbestands in abgelegene Regionen oder in einen Zoo zu verlangen. Wie kommt es, frage ich mich dann, dass eine Stadt, die nicht mehr ein noch aus weiß mit ihren Migranten, ihrem Abfall und Verkehr, die Existenz eines riesigen Wildparks nie in Frage stellt? Ebenso wenig wie das Recht von Ureinwohnern, weiterhin in ihren Dörfern in diesem Waldgebiet zu leben, während gewöhnliche Städter dort nicht einmal ein Zelt aufstellen dürfen.

Auch in Mumbai gibt es einen Zoo. Wer ihn besucht, ist empört, wie grausam indifferent die Inder gegenüber Wildtieren sind – dreckige Käfige, enge Gehege, krank aussehende Tiere. Es ist ein Land, so könnte der fremde Besucher folgern, das Angst hat vor dem »Wilden«, es ein- und absperrt. Mumbais städtischer Nationalpark beweist das Gegenteil. Inder lassen Wildtiere in ihrem Anderssein leben. Und sie gestehen ihnen großen Lebensraum zu, auch wenn er ihren eigenen, denkbar knappen deutlich übersteigt.

Expect the Unexpected: Das ist eine gute Losung für die Auseinandersetzung mit Indien, sei es als Bewohner, Besucher oder als professioneller Beobachter. Mir hat sie über die Jahre geholfen, mich gegen Enttäuschungen zu wappnen und an Überraschungen zu erfreuen. Vorurteile werden durchgeschüttelt, Klischees bewahrheiten sich, eherne Wahrheiten purzeln vom Sockel.

In gewissem Sinn war sie auch der Talisman, der mich auf dieser Reise des Schreibens begleitet hat. Beim Kapitelaufbau folgt das Buch noch naheliegenden Eckpunkten – Kaste, Religion, Familie, Politik, Armut, Kultur. Doch in den Ritzen der »großen« Befunde setzen sich oft kleine Wahrheiten fest und heben die großen aus den Angeln.

Die Folge ist, wie immer wieder in Indien, dieses typische Gemisch aus Irritation und Faszination, die kognitive Verwirrung und widerwillige Verzauberung. Auch dem Leser und der Leserin wird es nicht erspart bleiben. Und wenn Sie erwarten, dass das Knäuel hier entwirrt wird, kann ich nur sagen: Expect the Unexpected. Die einzige Wahrheit, die Sie erwarten dürfen, ist nicht die eine, sondern die kleine Wahrheit – jene von persönlicher Wahrnehmung, Erfahrung und Einschätzung.

Geschichte: Die Geschichte eines Teichs – und eines Landes

Nur noch der Name Gowalia Tank erinnert daran, dass an dieser Stelle des kleinen schmuddeligen Parks im alten Stadtzentrum von Mumbai einmal ein Trinkwasserbecken lag. Eine der Straßen, die zu ihm führt, trägt den hübschen Namen Laburnum Road. Nicht der Goldregen der Laburnum-Blüten bringt mich öfter in diese Gegend, sondern das etwas versteckt zwischen den Bäumen liegende Haus, in dem Mahatma Gandhi wohnte, wenn er in Bombay war – wie Mumbai bis 1995 hieß. Heute ist der Mani Bhavan ein kleines Gandhi-Museum und ein beliebtes Touristenziel.

Heutige Besucher haben keinen Anlass, die paar Schritte zum Gowalia Tank weiterzugehen. Zur Zeit Gandhis führte er noch Wasser. Er war umsäumt von Kokospalmen und den Wochenendhäusern reicher Bewohner der Stadt – englische Kolonialbeamte, Richter und Anwälte sowie einheimische Geschäftsfamilien. Von dort aus bot sich ein schöner Blick auf den Marine Drive entlang der Chowpatty-Bucht, an dessen Ende schon damals der Rajabai-Turm sichtbar wurde, das Wahrzeichen der Universität Bombay.

Hinter dem Teich lagen die zwei bewaldeten Hügelrippen des Malabar Hill und des Cumballa Hill. Die Parsen hatten einige hundert Meter nördlich des Teichs ihre Türme des Schweigens errichtet. Dort setzten diese Anhänger Zarathustras ihre Toten den Geiern aus, um die sakralen Elemente Feuer und Erde nicht zu verunreinigen.

Auch einige Tempel und Schulen standen damals in der Nähe des Gowalia Tanks, darunter das Sanskrit-College. Dank Schulen wie dieser besaß Bombay Ende des 19. Jahrhunderts eine lokale englischsprechende Elite. Hundert Jahre zuvor war die Stadt noch klar durch koloniale Grenzzäune getrennt gewesen: Im Fort an der Südspitze der Stadt lebten Handelsagenten und Verwaltungsbeamte der East India Company, in der sogenannten Black Town zwischen den Stadtmauern und den beiden Hügelzügen des Malabar- und Cumballa Hill wohnte die einheimische Bevölkerung der Handwerker, Fischer, Bauern und Händler. In Richtung des Landesinneren im Osten entstanden auf frisch aufgeschüttetem Boden Salzpfannen und die ersten Textilfabriken.

Die großen Veränderungen hatten 1813 begonnen, als die Britische Krone das Handelsmonopol der Ostindischen Gesellschaft in Indien aufhob. Sie lud Händlerkasten aus der Küstenregion von Gujarat, darunter die Parsen und Jains, ein, sich in Bombay niederzulassen. Kurz darauf durften die ersten Vertreter der englischen Staatskirche einreisen. Sie verkündeten das Evangelium, doch im Unterschied zu anderen Konquistadoren taten sie es nicht mit dem Schwert, sondern dem Griffel.

In den neu gegründeten Schulen wurde das alleinige Heil Christi verkündet. Aber auch die sozialreformerischen Anliegen des Neuen Testaments kamen zur Sprache und mit ihnen die Idee von Menschenrechten, wie sie die Französische und die Amerikanische Revolution verkündet hatten. Um ihnen Gehör zu verschaffen, lernten die Missionare einheimische Sprachen, sie schrieben Grammatiken und Wörterbücher. Das offizielle Ziel der zivilisatorischen Mission war nun (in den Worten des Kolonialbeamten Thomas Macaulay) die Heranbildung einer lokalen Elite als »Vermittler zwischen uns und den Millionen, über die wir herrschen, eine Klasse von Leuten, indisch in Blut und Hautfarbe, englisch im Geschmack, in ihren Einstellungen, in Moral und Intellekt«.

Die nächste Zäsur erfolgte 1858. Im Jahr zuvor hatte die Kolonialmacht in Nordindien eine Revolte ihrer lokalen Soldaten, der Sepoys, niedergeschlagen. Sie drohte sich zum Flächenbrand auszuweiten, wurde dann aber von den englischen Rotjacken, loyalen Gurkhas und Sikhs brutal beendet. Den Mogulkaiser schickte man ins burmesische Exil. Das strategisch günstig in der zentralen Gangesebene gelegene Königreich Avadh wurde formell annektiert.

Der Schock der sogenannten Sepoy Mutiny war für die Kolonialmacht auch der Anlass zu einem Strategiewechsel. Die Zeit war reif, das Pachtverhältnis mit der East India Company aufzulösen, das diese seit ihrer Gründung im Jahr 1600 über ihren südasiatischen Besitz ausgeübt hatte. Indien wurde formell eine Kronkolonie.

Damit stellte sich auch die Frage nach dem rechtlichen Status der Untertanen. In einer in ganz Indien verlesenen Proklamation versprach Königin Victoria 1858 ihren Untertanen, deren lokale Religionen und Bräuche zu respektieren. Sie sollten gleichzeitig in den »Genuss des gleichen und unparteiischen Schutzes des Rechts« kommen, das auch ihren Untertanen in England zustand. Auch der Staatsdienst sollte ihnen offenstehen, »so far as may be«.

Diese Redewendung deutet die Meinungsverschiedenheiten zwischen Konservativen und Liberalen im Westminster-Parlament an. Sie spiegelten sich auch in dessen größter Kolonie wider. Zahlreiche Kolonialbeamte waren gegen eine Gleichberechtigung der Einheimischen. Noch mehr galt dies für die Plantagenbesitzer, die Tee, Opium und Indigo anpflanzten und ihren Pächtern eine Art Zwangsarbeit auferlegten. Liberal gesinnte Beamte dagegen waren mit Macaulay der Ansicht, dass die britische Herrschaft langfristig gestärkt würde, wenn sie die einheimische Elite von den Früchten ihrer Herrschaft kosten ließe.

Die Vizekönige, die London alle paar Jahre nach Indien schickte, reflektierten diese Meinungsverschiedenheiten. Als der liberale Lord Ripon 1882 Vizekönig wurde, erließ er ein Gesetz, nach dem auch indische Richter über Engländer zu Gericht sitzen durften. Der Entrüstungssturm, der sich daraufhin gegen ihn erhob, zwang Ripon, den Entwurf zurückzuziehen. Doch die Proteste hielten an und führten 1884 zu seinem Rücktritt.

Dieses Ereignis brachte den Stein für die Gründung der ersten politischen Bewegung in Indien ins Rollen. Auf der letzten Zugfahrt von seiner Sommerresidenz in Simla nach Kalkutta und von dort nach Bombay wurde Ripon an zahlreichen Bahnhöfen mit Ehrungen lokaler Komitees begrüßt. In Bombay erhielt er 154 Abschiedsempfänge, und eine große Menschenmenge begleitete ihn zum Gateway.

Ein Freund Ripons, der ehemalige Kolonialbeamte Allan Octavian Hume, wollte es nicht dabei bewenden lassen. Hume war Schotte und der Sohn eines radikalliberalen Unterhausmitglieds. Nach seiner Pensionierung vom Dienst bei der Ostindischen Gesellschaft verbrachte er seinen Lebensabend in Indien zunächst mit dem Sammeln von Vogeleiern (seine Kollektion von 82 000 Vögeln und Eiern befindet sich heute im Victoria and Albert-Museum in London). Die Erfahrung des Sepoy-Aufstands hatte ihn aber aufgerüttelt. Hume vertrat die Meinung, dass Indien innerhalb des Kolonialreichs eine weitgehende Autonomie anstreben müsse.

Für Hume war die Zeit reif, dafür die lokale indische Elite von Lehrern, Anwälten und Journalisten, von erfolgreichen Geschäftsleuten und Magistratspersonen einzubinden. Der Abschied von Vizekönig Ripon wurde überraschend zum »beginning of national life«, wie es die Zeitung The Hindu in Madras formulierte. Als Florence Nightingale in London durch ihren Freund Hume davon hörte, schrieb sie ihm zurück: »We are watching the birth of a new Nationality in the oldest Civilization in the world.«

Mit der Unterstützung des Parsen Dadabhai Naoroji – des ersten britischen Unterhaus-Abgeordneten asiatischer Herkunft – mobilisierte Hume eine Gruppe von Persönlichkeiten aus den großen Städten des Landes. Sie sollten eine Zusammenkunft, einen Kongress, in die Wege leiten, der ein Programm ausarbeiten würde, das Versprechen Königin Victorias umzusetzen. Sie nannten es Swaraj, »Selbstbestimmung« im Schoß der Monarchie. Erst 30 Jahre später sollte ein anderer Mann, Mohandas K. Gandhi, die Bedeutung des Worts dramatisch erweitern – »Unabhängigkeit« von der Monarchie.

Der Kongress sollte im Dezember 1885 in Pune stattfinden. Kurz zuvor brach aber in der Stadt eine Choleraepidemie aus. Die Organisatoren wichen auf Bombay aus und mussten dort kurzfristig einen Tagungsort finden. Der Vorsteher des Sanskrit-College am Gowalia Tank erbot sich, die 72 Delegierten aus allen großen Städten Indiens in den letzten drei Dezembertagen zu beherbergen. Der erste Indian National Congress wurde zur Gründungsversammlung der Kongresspartei, unter deren Führung Indien 60 Jahre später die Unabhängigkeit erringen würde.

Vorläufig allerdings war es lediglich die erste einer jährlichen Zusammenkunft in jeweils anderen Städten, mit Hume als Generalsekretär. Ein langer Weg stand bevor, trotz des moderaten Forderungskatalogs, den die Delegierten verabschiedeten. Indern sollten »die Rechte von britischen Untertanen als britische Untertanen« eingeräumt werden. Sie sollten den Zugang zu englischen Universitäten erhalten und damit zum Staatsdienst.

Das koloniale Establishment sprach dem »Verein« das Recht ab, für alle Landsleute zu sprechen. Die Delegierten seien nichts als eine »mikroskopische Minderheit«, meinte Vizekönig Lord Dufferin abschätzig. Und der Kolonialbeamte John Strachey sagte: »Die wichtigste Einsicht über Indien ist diese: Es gibt keinen, und es gab nie einen ›Inder‹, und auch kein Land namens Indien, das im europäischen Verständnis irgendeine Form von Einheit gehabt hätte, sei sie geografisch, politisch, sozial oder religiös.« Jahrzehnte später sollte Winston Churchill diese Ansicht noch pointierter ausdrücken: »Indien ist eine geografische Fiktion, wie der Äquator.«

Strachey hatte recht. Die Sindhis, Panjabis, Bengalis, Madrasis, Gujaratis, Marathen, Parsis, Marwaris, Hindus und Muslime, die sich am Gowalia Tank versammelt hatten, repräsentierten in erster Linie ihren Berufsstand, ihre Klasse und ihre ethnische Herkunft, aber keine indische Nation. In einem Buch über Mumbai von 1863 sprach der Autor Govind Narayan wiederholt von seiner Nation. Aber er meinte dabei nicht Indien, sondern die Marathi sprechende Region um Bombay.

Ein Beobachter der Kolonialregierung bei der Tagung stellte in seinem Geheimbericht fest, unter den 72 Delegierten hätten sich nur zwei Muslime befunden, beide aus Bombay. Das waren herzlich wenige Repräsentanten für einen Subkontinent, der sich damals von Burma bis an die afghanische Grenze erstreckte, mit einem muslimischen Bevölkerungsanteil von 35 Prozent.

Hume war sich dieser mangelnden Repräsentativität bewusst. Er kannte die Praxis der Kolonialverwaltung, ethnische Divergenzen gegeneinander auszuspielen, namentlich jene zwischen Hindus und Muslimen. Er wies den Vorwurf zurück, der neue Verein grenze die Muslime aus. Die muslimkritische Einstellung der Hinduelite kommt »von den (britischen) Beamten, die an der pestilenzgeschwängerten Doktrin von ›Teile und Herrsche‹ festhalten«. Es war eine Politik, der die Kolonialmacht mit dem Wachsen der nationalen Bewegung bald gänzlich folgen sollte.

Auch die große Mehrheit der Hindu-Delegierten war weit davon entfernt, ihre Religionsgemeinschaft repräsentativ zu vertreten. Nicht einmal die Hindu-Etikette war klar definiert. So wie der Begriff einer »indischen Nation« erst allmählich Gestalt annahm, so schwammig war auch der Begriff Hindu. Selbst zu Beginn des 20. Jahrhunderts galten alle Bewohner Indiens noch als Hindus, so dass man auch von »mohammedanischen Hindus« sprach. In der ersten Volkszählung von 1872 wurden die Brahmanen getrennt von den Hindoos geführt, genauso wie die Outcastes – ein Indiz, wie zahlreich die Bruchlinien innerhalb einer Mehrheit waren, die sich noch gar nicht als solche erkannte.

Bei der Gründungsversammlung waren neben den Muslimen auch diese Hindoos schwach vertreten. Die Brahmanen bildeten die erdrückende Mehrheit. Weder ihnen noch Hume wäre es ein-gefallen, Vertreter der untersten Kaste der Shudras und erst recht der Outcastes einzuladen. Deren sozialer Status und die ihnen zugeschriebene, als entwürdigend angesehene Arbeit – alles, was mit toter Materie zu tun hatte – stigmatisierte sie und machte sie sozial unsichtbar.

Die Ideen von Demokratie und Menschenrechten, von den Kolonialherren quasi gegen ihren Willen ins Land geschleust, zeigten aber auch in diesen Schichten erste Wirkung. In Pune hatte ein Shudra namens Jyotiba Phule begonnen, die starre Kastenhierarchie herauszufordern. Statt wie seine Vorfahren der quasi angeborenen Kastentätigkeit als Gärtner nachzugehen (Phule bedeutet »Blume«), hatte er es geschafft, eine Schule zu besuchen. Dort hatte er auch sein Erweckungserlebnis gehabt. Beim Trauerzug für einen verstorbenen Schulkameraden – einen Brahmanen – brachten die Priester die Prozession plötzlich zum Stillstand. Sie hatten erfahren, dass sich ein Shudra im Geleit befand. Phule musste unter aller Augen die Prozession verlassen.

Er schwor, sein Leben dem Kampf gegen das Kastenunwesen zu widmen. Er wusste, dass die Allmacht dieser sozialen Architektur darin lag, dass sie auch von Shudras und kastenlosen Dalits – den Unterdrückten – als natur- oder gottgegeben hingenommen wurde. Schulbildung war daher der einzige Weg, diese Kasten aufzuklären. Phule arrangierte Eheschließungen von Witwen und heiratete selbst eine Witwe, ein unerhörter Tabubruch, denn nur Jahre zuvor waren Witwen mitunter noch verbrannt worden.

Mit seiner Frau Savitri unterrichtete er in Pune Kinder von Dalits und Shudras, sie gründeten dort die erste Mädchenschule Indiens. Dennoch blieb Phule »unsichtbar« für die Begründer der Kongresspartei, und niemand dachte daran, ihn zum Gowalia-Teich einzuladen. Hätte er eine Einladung erhalten, hätte er sie wohl zurückgewiesen. Für ihn war klar, dass die 72 Kongressteilnehmer unter der »Bevölkerung« nicht die Masse der Armen und Niedrigkastigen verstanden, sondern die soziale und ökonomische Elite.

Phule ging noch weiter. Wie viele Dalit-Führer nach ihm sah er im Kolonialregime mehr soziale Sicherheit und Raum für Emanzipation. Ohne die Menschenrechtsgarantien der europäischen Aufklärung würden in einem freien Indien die alten Kastenvorurteile weiterleben. Der Kongress habe kein Recht, sich »national« zu nennen, sagte er in seiner Kritik an der Zusammenkunft in Bombay, solange Bauern, Dalits und Mitglieder aller Religionen nicht vertreten seien. Dennoch hatte er sich einen Namen gemacht. Drei Jahre nach dem ersten Kongress wurde Phule von einer Versammlung von Nichtbrahmanen in Bombay mit dem Titel Mahatma (»Große Seele«) geehrt.

Es war aber ein anderer Mahatma, der Phules Forderung aufnehmen und durchsetzen sollte. Ihm sollte es schließlich gelingen, die Anlehnung der Kastenlosen und der Muslime an das Kolonialregime zu lockern. Es dauerte genau 30 Jahre, bis dies geschah. Die Wende wurde bei einer Gartenparty im Januar 1915 eingeläutet, nur einige hundert Meter vom Gowalia Tank entfernt. Mohandas Gandhi war soeben aus Südafrika nach Bombay zurückgekehrt und war von den einheimischen Bewohnern wie ein Held empfangen worden. Sein Einsatz für die indische Gemeinschaft in Transvaal und vor allem seine Philosophie der Gewaltlosigkeit hatten ihn auch zuhause berühmt gemacht.

Eine große Menschenmenge hatte sich eingefunden, als sein Schiff in der Nähe des Gateway anlegte. In den Tagen darauf folgten zahlreiche Einladungen für ihn und seine Frau Kasturba. Die Kongresspartei hieß ihn im Haus eines Industriellen am Malabar Hill willkommen. Die Gäste hatten sich festlich angezogen. Nur Gandhi kam, zur Konsternation seiner Gastgeber, im groben Tuch eines Gujarati-Bauern. »Er sieht aus wie mein Schneider«, soll ein Parse seinem Nachbarn zugeflüstert haben.

Auch Gandhis Dankesworte kamen auf Gujarati statt auf Englisch. Dabei sprach er aus, was seine Kleider- und Sprachwahl bereits erahnen ließen. Er habe dem Kongresspräsidenten versprochen, sich ein Jahr lang einem politischen Schweigegebot zu unterziehen. Er werde kreuz und quer durch Indien reisen, um sich über die Lage der großen Masse armer Menschen in den Dörfern zu informieren.

Gandhis »Pilgerreise« wurde nicht nur zu einer Wahrnehmung wirtschaftlicher Not und Armut. Sie wurde auch zu einer ersten Heerschau für den unvermeidlichen Kampf gegen die Fremdherrschaft. Er erkannte, dass nur eine breite Volksbewegung unter Einschluss der Armen und der Frauen, der Muslime und der Dalits eine Chance hatte, aus einem elitären Reformklub eine nationale politische Kraft zu machen. Dies galt gerade für Jyotiba Phules Befürchtung, dass eine Unabhängigkeit ohne soziale und wirtschaftliche Emanzipation in die »innere Kolonialherrschaft« einer städtischen Elite münden würde.

Damit begann Gandhis langer Kampf um die Herausbildung einer indischen Nation, die über alle sozialen, ethnischen und religiösen Gräben hinweg allen Bewohnern des Subkontinents eine gemeinsame Identität geben könnte. Es sollte sie noch lange nicht geben, wie der Historiker Rajmohan Gandhi – ein Enkel des Mahatma – in seinem Buch Revenge and Reconciliation schrieb: »Bis tief ins 20. Jahrhundert hatten die meisten Inder Mühe zu entscheiden, ob sie in erster Linie Inder waren oder einer Region, Religion oder Kaste angehörten.«

Gandhi machte in den folgenden Jahrzehnten öfter in Bombay halt und wohnte im Mani Bhavan, dem Haus eines befreundeten Gujarati-Goldschmieds. Aber es dauerte fast weitere 30 Jahre, bis er erstmals in die Halle am Gowalia Tank trat. Das Datum war die erste Augustwoche 1942. Der symbolträchtige Ort war für diese außerordentliche Parteiversammlung gewählt worden, um ein weiteres historisches Moment zu markieren – die Endphase im Kampf um die Unabhängigkeit.

Großbritannien stand damals mit dem Rücken zur Wand. In Europa war das nationalsozialistische Deutschland eine existenzbedrohende Gefahr, nachdem es große Teile von Kontinentaleuropa bereits überrannt hatte. Und in Asien begannen die Japaner von Südostasien aus den Vormarsch gegen Indien. Vor dem Kriegseintritt der USA war Indien die wichtigste Versorgungsbasis Englands. London vertraute darauf, dass Gandhi der britischen Krone nicht in den Rücken fallen würde, hatte er doch schon im Ersten Weltkrieg eigenhändig indische Rekruten für die Monarchie angeworben.

Aber die Kolonialherren hatten diesen Schulterschluss mit dem Mutterland nach dem Sieg von 1918 nicht honoriert. Im Gegenteil, Großbritannien hatte den Kampf gegen die Kongresspartei verschärft. Diesmal wollte sich Gandhi nicht mehr für billig verkaufen lassen. In seiner Rede am 7. August 1942 nutzte er die äußerst kritische Lage der Weltmacht, um den Entscheidungskampf zu lancieren – mit dem Ruf »Do or die!«.

Die Aufforderung war nicht etwa an die Engländer gerichtet, nämlich zu handeln (das heißt abzuziehen) oder zu sterben. Im Gegenteil, der große Stratege des gewaltfreien Kampfs gab sie seinen eigenen Kampfgenossen mit auf den Weg: »Leiste gewaltlosen Widerstand, auch wenn du dafür sterben musst.« Gandhi wollte endgültig beweisen, dass der Mut, Gewalt zu ertragen (statt sie auszuüben), auch die nötige moralische Energie freisetzt, um den Gegner zum Einlenken zu bewegen.

»Ich bin nicht der Erste Minister des Königs geworden«, rief Churchill daraufhin aus, »um den Vorsitz über die Liquidierung des Britischen Weltreichs zu führen.« Doch fünf Jahre später war Indien frei. Ein halbes Jahr danach war Gandhi tot. Sein Mörder, der Brahmane Nathuram Godse, warf Gandhi vor, die Teilung des Landes in zwei Staaten – Indien und Pakistan – auf dem Gewissen zu haben. Es war eine tragische Fehleinschätzung, hatte Gandhi doch alles getan, um die Teilung Indiens zu verhindern. Angesichts der blutigen Ausschreitungen überall im Land hatte er seinen Mitstreiter Jawaharlal Nehru angefleht, das Premierministeramt dem Führer der Muslimliga, Mohammed Ali Jinnah, zu überlassen – ohne Erfolg.

Der Name Gandhi blieb dem Land erhalten, nicht nur als »Vater der Nation«, sondern auch dank des zufälligen Umstands, dass Nehrus Tochter Indira einen Parsen namens Gandhi geheiratet hatte. Dies erlaubte der Nehru-Familie, nicht nur aus dem eigenen Stammbaum, sondern auch aus dem Namen der »Großen Seele« politisches Kapital zu schlagen.

Indira Gandhis Sohn – und Nehrus Enkel – Rajiv sollte dann den Gowalia Tank noch einmal aus der historischen Versenkung holen. Inzwischen waren die zahlreichen traditionellen Wasserbecken der Stadt immer mehr dem Siedlungsdruck gewichen, zugeschüttet und überbaut worden. Auch der Gowalia Tank war ausgetrocknet, ein kleiner Stadtpark mit Kinderschaukeln und Sitzbänken war entstanden. Die alten Bungalows waren gesichtslosen Wohnblöcken gewichen, nur die Halle des ehemaligen Sanskrit-College stand noch.

Der Anlass war die Hundertjahrfeier der Gründung der Kongresspartei im Jahr 1985. Rajivs Mutter war ein Jahr zuvor von ihren Sikh-Leibwächtern im Garten ihrer Residenz in Neu Delhi ermordet worden. Sein Bruder, der ambitiöse Sanjay Gandhi, war zwei Jahre zuvor beim Absturz seines Sportflugzeugs ums Leben gekommen, keine 300 Meter vom Ort des Attentats auf seine Mutter entfernt.

Plötzlich war der Indian-Airlines-Pilot Rajiv Gandhi der neue König. Der Mann, der aus seiner Verachtung für Politik nie einen Hehl gemacht hatte, stellte sich aus Staatsräson und dynastischer Familienpflicht der Partei zur Verfügung. Der Sympathiebonus für die ermordete Mutter, so deren Kalkül, und der traditionelle Respekt gegenüber der Institution der Familie würde ihr einen Wahlsieg bescheren. Die Parlamentswahl von 1984, wenige Monate nach Indiras Tod, endete mit einem Erdrutschsieg für die Kongresspartei.

Ein Jahr später bot die Jahrhundertfeier dem jugendlichen Sieger die Chance, dieses politische Kapital in die Zukunft des Landes zu investieren. Bei seiner Ankunft in Bombay stattete der Premierminister der historischen Halle am früheren Wasserbecken einen Besuch ab. Der Raum war allerdings viel zu klein, um die 50 000 Teilnehmer aufzunehmen. So wurde das Cricketstadion kurzfristig in Indira Nagar (»Indirastadt«) umgetauft. Dort wandte sich Gandhi an die Partei, deren Bestand inzwischen auf zehn Millionen Mitglieder angewachsen war. Die Jahrhundertfeier sollte die Partei für weitere hundert Jahre als einzige staatstragende Kraft des Landes positionieren.

Rajiv Gandhi hatte keine Zeit für Selbstbeweihräucherung. Kaum waren die rhetorischen Verbeugungen an die offiziellen Schutzpatrone gemacht, begann – eine Philippika. Der Maßstab der Politik eines armen Landes wie Indien sei der Talisman, den Mahatma Gandhi seinen Freiheitskämpfern mit auf den Weg gegeben hatte: »Wann immer du im Zweifel bist oder deiner Selbstbezogenheit überdrüssig, mache folgenden Test: Stell dir das Gesicht des ärmsten und schwächsten Menschen vor, das du gesehen hast, und frage dich: Wird deine nächste Handlung irgendeinen Nutzen für ihn haben? Wird sie ihm die Kontrolle über sein Leben und Schicksal zurückgeben? […] Du wirst sehen – Zweifel und Eigennutz werden wegschmelzen.«

Statt diesen Talisman hochzuhalten, fuhr Rajiv fort, »hat der Kongress den Kontakt mit den Massen verloren, er hat die lebensspendende Energie eingebüßt, die aus ihnen strömt. Die Organisation ist ausgetrocknet, geschrumpft und kraftlos geworden.« Der Idee Indiens sei ein Alltag gefolgt, »in dem wir uns als Hindus, Muslime oder Christen sehen, als Keraler, Marathen, Bengalen. Schlimmer noch, wir denken von uns als Brahmanen, Thakurs, Jats, Yadavas. Und wir vergießen Blut, um unsere engen Wände von Religion, Sprache, Kaste und Region dichtzuhalten.«

Die großen Institutionen der Demokratie hätten ihre Vitalität eingebüßt: »Wir sind stolz auf unsere unabhängige Justiz. Doch Tausende warten jahrzehntelang auf Gerechtigkeit.« Unter den Unternehmern finden sich »Bataillone von Steuerhinterziehern und Rechtsbrechern«; in den Schulen stünden Lehrer, die selten lehrten, und Schüler, die nichts lernten, und die Staatsverwaltung sei nicht mehr das stählerne Gerüst eines dynamischen Gemeinwesens, sondern »ein Gehege, das sich in die Landschaft frisst«.

Wie stand es mit der Kongresspartei? Sie werde von »Maklern von Macht und Einfluss« beherrscht; sie habe eine Massenbewegung in eine feudale Oligarchie verwandelt. Korruption werde nicht nur geduldet, sie sei das Gütezeichen für Führungskompetenz. »Auf jeder Ebene tritt unser privates Ego das allgemeine Gut mit Füßen.« Und die Armen würden betrogen; von einer Rupie staatlichen Armutsgelds landeten gerade mal zwölf Paisas in ihrer Hand.