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Datenkonvertierung E-Book: HGV Hanseatische Gesellschaft für
Verlagsservice, München

 

 

 

 

 

»I have a dream.«

Martin Luther King

»Du musst deinen Traum finden,
dann wird der Weg leicht.«

Hermann Hesse

Den Ötztaler Radmarathon gibt es wirklich.
Er findet jedes Jahr im August statt.
Die Geschichte basiert auf einem persönlichen Erlebnis,
aber die einzelnen Personen, ihre Namen und Handlungen
sind ohne Ausnahme nur geträumt. Sollte dennoch jemand meinen,
sich wiederzuerkennen, liegt es wohl daran,
dass alle Radfahrer sich irgendwie gleich sind.

Inhalt

Wunschtraum

Vor dem Einschlafen

Die Nacht

Morgengrauen

Start

Kilometer 3

Kilometer 15

Kilometer 24

Kilometer 32

Kilometer 51

Kilometer 63

Kilometer 75

Kilometer 80

Kilometer 87

Kilometer 96

Kilometer 106

Kilometer 127

Kilometer 138

Kilometer 145

Kilometer 151

Kilometer 160

Kilometer 181

Kilometer 192

Kilometer 201

Kilometer 209

Kilometer 212

Kilometer 219

Letzter Kilometer

Ziel

Aus der Traum

Erste Stimmen nach dem Rennen

 

 

 

 

 

In Erinnerung an
Katja Hernold

 

(2012 beim Amadé Radmarathon tödlich verunglückt)

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Wunschtraum

Alles, was vorher war, ist jetzt vergessen. Was zählt, ist nur noch dieser Moment. Niemand ist mehr vor mir. In diesem Augenblick weiß ich, dass es geschafft ist. Ich lasse den Rennlenker los, ziehe den Reißverschluss meines Trikots zu und werfe beide Arme hoch.

Freudestrahlend überquere ich als Erster die Ziellinie. Das Blitzlichtgewitter der Fotografen, hell wie die ersten Sonnenstrahlen eines herrlichen Sommertages, empfängt mich. Das Signal der Zeitmessanlage ist unangenehm laut und es hört einfach nicht auf zu piepsen. Es nervt. Also drücke ich auf die Schlummertaste meines Weckers. Doch zu spät. Es nützt nichts mehr. Dieser Sieg zählt nicht. Anstatt zur Siegerehrung gehe ich jetzt ins Badezimmer. Meine Rennteilnahme war mal wieder vergeblich.

Obwohl ich erst ein einziges Mal tatsächlich gewinnen konnte, und das auch nur, weil mein ärgster Rivale einen Platten bekam, werde ich weiterhin unbeirrt Radrennen fahren. Oder vielleicht ja eben gerade deswegen.

»Ich habe einen Traum.« Mit diesem Slogan wirbt der legendäre Ötztaler Radmarathon seit vielen Jahren. Es gibt sogar ein interessantes Buch zum Thema, das diesen Titel trägt. Das Rennen führt von der Ötztaler Gletscherwelt über das Tiroler Mittelgebirge und durch die Weinberge Südtirols zurück zu den Ötztaler Gletschern. Wegen der selektiven Streckenführung und der vier zu absolvierenden Pässe zählt der Ötztaler Radmarathon zu den härtesten Marathons der Alpen. Seit 1982 wird das Rennen jedes Jahr am letzten Sonntag im August ausgetragen. Ein paar Radsportler aus Innsbruck fuhren damals aus einer Bierlaune heraus diese Runde zum ersten Mal. Daraufhin initiierten sie den Radmarathon. Dieses Rennen mit den vier Anstiegen Kühtaisattel, Brennerpass, Jaufenpass und Timmelsjoch über 238 Kilometer und insgesamt 5500 Höhenmeter gehört zum Grand Slam des Radsports: Tour de France (Gelbes Trikot), Giro d’Italia (Rosa Trikot), Vuelta a España (Rotes Trikot) und eben der Ötztaler (Finisher-Trikot).

Bei der ersten Austragung gab es 115 Teilnehmer. Heute kommen die Fahrer aus 33 verschiedenen Ländern, sogar aus Nordfinnland, Südkorea und Ostafrika. Radsportbegeisterte aus aller Welt wollen sich dieser Herausforderung stellen. Inzwischen sind es jedes Jahr 4000, und mehr als doppelt so viele bemühen sich um einen der limitierten Startplätze. Ein Losverfahren entscheidet, ob sich der Traum von der Ötztaler-Teilnahme erfüllt oder nicht.

Für 95 Prozent der Teilnehmer steht das Durchkommen natürlich außer Zweifel. Die Frage ist nur: in welcher Zeit? Aber gewinnen kann man den Ötztaler leider nicht. Das hat weniger mit den neuerdings durchgeführten Dopingkontrollen zu tun als vielmehr mit der unglaublichen Leistungsstärke der besten Teilnehmer, die den Sieg unter sich ausmachen. Gegen diese professionellen Fahrer haben alle anderen keine Chance. Doch es gibt trotzdem eine Möglichkeit, sich den Traum vom Sieg beim großen Ötztaler Radmarathon zu erfüllen. Indem man nämlich ungeachtet all der anderen Starter nur gegen seine eigenen Rivalen antritt.

Von den 10 000 Fahrern, die sich anmelden, dürfen also 4000 an den Start gehen. Von denen sprechen ungefähr 2000 Deutsch. Unter den Deutschsprachigen wiederum können 1000 längere Texte lesen, aber nur 200 lesen vermutlich Bücher, und vielleicht 50 werden sogar dieses Buch lesen. Denen und allen anderen Lesern wünsche ich nun viel Vergnügen. Beim Traum vom Ötztaler Radmarathon.

Vor dem Einschlafen

Am frühen Vorabend des Renntages treffe ich in Sölden an der Pension Fiegl ein. Die anderen sind schon da. Die anderen, das sind meine Radfreunde, die bei diesem Rennen meine Gegner sein werden. Na ja, es sind nicht wirklich alles meine Freunde. Osenberg ist eher nur ein Bekannter. Aber er hat sich uns für die Teilnahme am Ötztaler Radmarathon angeschlossen.

Jetzt steht er an seinem Auto, hat seinen Montageständer ausgeladen und versucht gerade, sein Rennrad daran zu befestigen. Eberhard kommt aus dem Haus und begrüßt mich. Eberhard ist ein wirklicher Freund, mein bester. Er will sich heute noch kurz einrollen. Einmal bis Längenfeld und zurück. Ich soll doch mitkommen. Klar komme ich mit, ich muss mich nur schnell umziehen. Nach der langen Autofahrt habe ich nämlich das ganz dringende Bedürfnis, mich ein bisschen zu bewegen.

Ich teile das Zimmer mit meinem Vereinskollegen Marc. Als Erstes fällt mir das Asthmaspray auf seinem Nachttisch auf. Hoffentlich schnarcht er heute Nacht nicht. Ich sage ihm, dass wir eine kleine Runde fahren wollen. Er hat aber kein Interesse, denn er ist bereits mit Thomas, mit dem er in Fahrgemeinschaft angereist war, zu einem Bummel in den Ort verabredet. »Startunterlagen abholen, Cappuccino trinken, Frauen gucken«, sagt er. Meine Startnummer kann ich noch später holen, jetzt will ich erst mal mit Eberhard aufs Rad.

Osenberg steht noch immer an seinem Auto und schraubt an seinem Rad rum. Er trägt Trikot und Radhose in Knallrot, kombiniert mit weißen Armlingen. Und weißen Beinlingen! Osenberg sieht ein bisschen aus wie der Knabe von der Prinzenrolle. Das sage ich ihm aber nicht, auch nicht, dass er meiner Meinung nach zu viel Bauchspeck hat. Im Innenraum von Osenbergs Auto befindet sich noch ein zweites Rad. Das gehört Uwe. Uwe hat sich in der Pension Fiegl aufs Ohr gelegt und schläft schon einmal etwas vor. Die Nacht wird für uns alle kurz genug werden.

Eberhards Zimmergenosse ist mein ehemaliger Vereinskollege Heinrich, der sich schon heute Mittag in Richtung Timmelsjoch »vorbelastet« hat. Deshalb brechen wir nun zu zweit auf. Die kühle, frische Bergluft einzusaugen tut richtig gut. Davon bekommt man gleich mal schnelle Beine. Am Ortsausgang treffen wir einen weiteren Mann aus unserer Truppe. Cerny ist mit seinem Wohnmobil hier. Ganz entspannt sitzt er mit nacktem Oberkörper vor seinem Wagen in der Sonne und dunkelt seine Surferbräune nach. Er sagt, dass er im Urlaub sei und den Aufenthalt im Ötztal jetzt genießen wolle. Er möchte seinen Liegestuhl nicht verlassen, um sich mit uns einzufahren.

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So rolle ich jetzt also nur mit Eberhard talwärts. Viele andere Radsportler kommen uns in ihren bunten Trikots entgegen. Manche Trikotfarben kennen wir, von anderen Vereinsnamen dagegen haben wir noch nie etwas gehört. Wer kennt schon Team Lexxi? Oder den Radsportclub TV Essen-Kettwig?

Beim lockeren Fahren reden wir ein bisschen über unsere bisherigen Teilnahmen an diesem Rennen. Wir tauschen zum hundertsten Mal Erfahrungen aus und lachen über verschiedene Anekdoten. Trotzdem lässt sich kaum verbergen: Wir sind wegen morgen angespannt.

Eberhard erzählt mir, dass ihm neulich auf einer seiner üblichen Trainingsfahrten Osenberg entgegengekommen sei. Mit Zeitfahrhelm auf dem Kopf! Dass Osenberg den Helm außerdem verkehrt aufgesetzt und dabei ausgesehen habe wie ein Kakadu, glaube ich Eberhard jedoch nicht, weil er immer noch laut lacht.

Seinen Traum aus der letzten Nacht erzählt Eberhard mir auch: Weil Osenberg sich für die schweren Anstiege des Ötztalers noch Steigeisen kaufen wollte, hing er an der Außenfassade eines Shoppingcenters. Mit den Pedalplatten seiner Radschuhe hatte er sich in einer Regenrinne verhakt und musste von der Berufsfeuerwehr freigeschnitten werden. Manche Gaffer hielten ihn in seinem Aufzug zwar für einen Karnevalsprinzen, aber der örtlichen Presse diktierte er in die Notizblöcke, dass er sich momentan im Höhentrainingslager befinde, um diesen Sommer endlich mal beim Ötztaler (nicht als Letzter) ins Ziel zu kommen.

Während er noch oben an der Hauswand hing, fielen ihm außer Geldmünzen und getrockneten Aprikosen einige geronnene Blutbeutel aus der Trikottasche. Wie bei einer medizinischen Kontrolle später festgestellt wurde, handelte es sich dabei lediglich um einige alte Verbände und Heftpflaster von seiner eitrigen Zehenentzündung im letzten Oktober. Er hatte damals einen Bus mit seinem Fuß stoppen wollen … Ach, der Traum war ja noch lange nicht zu Ende. Aber so weit möchte Eberhard jetzt nicht mehr ausholen.

Soll ich erzählen, dass mich letzte Nacht im Traum beim Radfahren ein Hund gebissen hat, der aussah wie Osenberg?

Jetzt wird aufgrund des Gefälles unser Tempo zu hoch und der Fahrtwind zu laut, sodass wir die Unterhaltung einstellen und hintereinander fahren. Außerdem ist vor uns ein Fahrer in Sichtweite gekommen, den wir nun einholen müssen, ob wir wollen oder nicht. Das ist ein ganz natürlicher Reflex. Darüber muss ich mit Eberhard auch gar nicht sprechen. Wir beschleunigen noch ein bisschen und wechseln uns vorn ab, bis wir ihn eingeholt haben. Beim überholen achten wir darauf, dass unsere Geschwindigkeit deutlich höher ist als seine. Nicht, dass er sich am Ende noch an uns dranhängt. Dann würden wir ja gar nicht mehr ruhig fahren können. Aber nach dieser Aktion ist es für uns nun schwierig, das Tempo wieder zu drosseln. Man käme sich plötzlich so langsam vor. Doch wir sind routiniert genug, uns wieder am Pulsmesser zu orientieren. Bald sind wir in Längenfeld, unserem Zielort, angekommen. Aber Eberhard macht keine Anstalten, zu drehen. Muss ich nun sagen, dass es Zeit zur Umkehr ist? Oder zeige ich Schwäche, wenn ich als Erster sage, dass wir zurückfahren sollen? Wir haben schon 15 Kilometer auf der Uhr stehen, und außerdem führt der Rückweg tendenziell bergauf. Locker und flach ist es im gesamten Ötztal eigentlich fast nirgends. Es bringt doch nichts, heute die Sau rauszulassen, wenn morgen der härteste Radtag des Jahres ansteht.

Also fasse ich mir ein Herz und spreche meinen Wunsch, umzukehren, laut aus. »Was?« Eberhard versteht mich nicht, der Fahrtwind ist zu laut. Er hat gerade die Serpentinen in Richtung Gries oberhalb von uns entdeckt und hält diese steile Strecke für optimal, um »zur Vorbereitung« ein paar Minuten im Entwicklungsbereich zu fahren. »Damit der Körper heute schon mal weiß, was morgen für ihn Sache ist«, meint Eberhard.

Na gut, denke ich, dann fahren wir da eben auch noch rauf. Lust habe ich ja schon, aber was ist, wenn mir die heute verschossenen Körner morgen fehlen? Eberhard tritt einen dicken Gang und nimmt den Schwung aus den flachen Kurven mit in die bis zu zehn Prozent steilen Rampen. Ich muss in den Wiegetritt gehen, um an ihm dranzubleiben. Fünf, sechs Kurven fahren wir in einem Tempo hoch, als wären wir live im Fernsehen zu sehen. Vielleicht fährt Eberhard noch im Entwicklungsbereich, ich erreiche langsam, aber sicher meinen Maximalpuls. Es ist ja immer wieder spannend, ob zuerst die Beine schmerzen oder ob das Schlappmachen damit beginnt, dass man einfach keine Luft mehr bekommt. Natürlich würde ich Eberhard gern mal mit einer kurzen Attacke einschüchtern, damit er morgen Respekt vor mir hat und es nicht wagt, mich anzugreifen. Aber meine Sorge vor dem morgigen Tag ist größer. Wie weit will er denn jetzt überhaupt noch hochfahren? Und wie lang ist diese steile Sackgasse eigentlich? Ich kann ihm nicht folgen. Ich will ihm auch nicht mehr folgen. Ich lasse mich zurückfallen. Sofort fühle ich mich schlecht. So als ob ich das morgige Rennen genau in diesem Moment verloren hätte.

Ich halte an. Ich gucke runter ins Tal. Die Sonne steht bereits schräg und scheint mir warm ins Gesicht. Schön hier, denke ich. Wo bleibt denn Eberhard? Will er die Straße bis ganz ans Ende fahren? Langsam rolle ich wieder bergab. Wenn er nicht kommt, fahre ich allein zurück. Ich stoppe noch mal für eine Pinkelpause. Als ich damit fertig bin, sehe ich ihn in der Serpentine über mir runterkommen. Schnell steige ich wieder auf, damit Eberhard nicht anhalten muss. Er sagt mir, wie schön es weiter oben gewesen wäre und dass ich etwas verpasst hätte. Ja, was denn? Ich lasse ihn nun vorfahren und mich in seinem Windschatten nach Sölden zurückziehen. In den Steigungen muss ich ganz schön beißen, um nicht ein weiteres Mal zurückzufallen. Ist meine Form so schlecht? Oder fahren wir einfach zu schnell? Darüber werde ich in den nächsten Stunden noch mal nachdenken müssen.

Als wir an der Pension Fiegl ankommen, ist Osenberg immer noch an seinem Rad zugange. Inzwischen sägt er an seinem Carbonlenker rum. Ich sage nichts dazu.

Ebenfalls eingetroffen ist nun auch Arnold. Eigentlich wollte ich ja mit meinem Freund Florian zum Ötztaler, aber er hat kurzfristig abgesagt und sein Ticket an diesen Arnold abgegeben, mit dem sich nun Thomas, ebenfalls ein Ötztaler-Neuling, für diese Nacht das Zimmer teilen muss. Thomas, Marc und Heinrich haben sich ihre Startnummern bereits geholt. Cerny hatte seine Nummer auch schon am Lenker, als wir ihn vorhin trafen. Zusammen mit Eberhard und Arnold gehe ich nach dem Duschen zur Anmeldung, um unsere Unterlagen abzuholen. Osenberg ist weiterhin mit seinem Rad beschäftigt, und Uwe schläft noch.

Auf dem Weg durch das Dorf sehe ich mir die Touristen an und denke, was für ein langweiliges Leben sie doch führen. Diese Leute wissen die Berge hier doch gar nicht richtig zu nutzen. Eberhard und Arnold führen ein Gespräch, in dem es in erster Linie darauf ankommt, abgeklärt und cool zu wirken. Wir kennen Arnold nicht und wissen ihn nicht einzuschätzen. Vor allem haben wir keine Ahnung, wie stark er auf dem Rad ist. Zur Auflockerung mache ich ein paar Sprüche, über die ich selber am meisten lache. Nach der Nummer in den Serpentinen vorhin habe ich vorerst nicht mehr viel zu verlieren.

Vor der Festhalle haben einige Aussteller ihre Zelte aufgebaut. Der Renner sind an diesem Abend Regenjacken und Überschuhe, denn für den nächsten Tag ist Niederschlag vorhergesagt. Ohne viel Gedränge erhalten wir gegen Vorzeigen unserer Bestätigungs-E-Mail unsere Beutel mit Startnummer und Werbegeschenken. Das Finisher-Trikot gibt es erst, wenn man die Runde auch wirklich absolviert hat. Ich frage Arnold, ob er lange Handschuhe dabeihabe? Hat er nicht. Also empfehle ich ihm, sich noch schnell welche an einem der Stände zu kaufen. Die Handschuhe wird er morgen auf den ersten Kilometern dringend brauchen.

Als wir zurück in der Pension Fiegl sind, empfängt uns ein merkwürdiger Geruch. Osenberg ist es nicht. Der macht draußen ohne Pause an seinem Rad rum. Gerade ist er mit dem Sattel beschäftigt. Der Geruch kommt aus dem Inneren des Hauses. Ich habe zwar den dringenden Verdacht, dass irgendein übel riechendes Mittel aus Marcs Apotheke ausgelaufen ist, aber auf Nachfrage erfahren wir, dass die Jagdfreunde des Hausherrn zwei Murmeltiere geschossen haben, die es heute zum Abendessen geben soll. Unter diesen Umständen wollen wir uns lieber eine Pizzeria suchen, um dort unsere Kohlehydrate aufzunehmen. Also ziehe ich mit Eberhard, Heinrich, Thomas, Marc und Arnold los. Osenberg ist noch nicht fertig mit dem Präparieren seines Rads, Uwe schläft noch, und Cerny will sich lieber im Wohnmobil sein eigenes Süppchen kochen. Wir alle wissen, dass es am letzten Abend eigentlich zu spät ist, um seine Glykogenspeicher aufzufüllen, und dass man besser nur Obst essen sollte, aber wir hauen uns mit riesigen Nudeltellern die Bäuche voll. Das soll die endgültige Absicherung sein, damit wir morgen unterwegs keine Unterzuckerung erleiden, den gefürchteten Hungerast.

Erst diesen Frühsommer bin ich das letzte Mal in einen solchen Zustand gekommen. Auf einer normalen Trainingsrunde hatte ich mich mal wieder zu sehr verausgabt und musste, wenige Kilometer bevor ich zu Hause war, noch in ein Erdbeerfeld einfallen, um mich zu stärken. Dabei hatte ich noch Glück. War doch Ottavio Bottecchia, Sieger der Tour de France von 1924, im Sommer des Jahres 1927 von einem Bauern mit einem Stein erschlagen worden, weil er bei einer Trainingsausfahrt auf dessen Feld ein paar Trauben gestohlen hatte.

Über Osenberg wird gern die Geschichte erzählt, wie er mal einen Kirschbaum komplett geplündert hat. Dabei hat er sich angeblich zentnerweise Kirschen in seine Trikottaschen gestopft. Aber das halte ich, wie viele Stories über Osenberg, für maßlos übertrieben.

Unsere Stimmung wird etwas gelöster. Eberhard trinkt sogar ein Bier. Und jetzt fängt er auch noch eine unglückselige Ritzeldiskussion an. Er werde mit einem 27er fahren, weil alles andere totaler Quatsch sei. Arnold ist sofort verunsichert. Er hat ein 25er gewählt und überlegt jetzt, ob er wechseln soll. Heinrich fährt ein 25er. Er hat aber auch die vermeintlich besten Beine von uns. Jetzt überlegt Arnold, ob er etwa schlechtere Beine habe. Thomas ist zum ersten Mal am Start und hat sich vorab von Eberhard schon über ein 27er Ritzel belehren lassen, während Marc meiner Empfehlung gefolgt ist und wie ich ein 29er als leichteste Übersetzung gewählt hat. Natürlich geraten jetzt alle in Aufregung, weil jeder Nachteile für sich befürchtet. Als ich sage, dass Osenberg zuletzt ein 23er montiert hatte, flippen die anderen fast aus. Und es ist ja nicht einmal klar, ob Osenberg heute Nacht nicht noch eine Kompaktkurbel an sein Rad schrauben wird. Schutzbleche hat er jedenfalls schon dran. Großes Gelächter.

Je später der Abend, desto schöner die Anekdoten. Aber ich habe nichts dabei, um mitzuschreiben. Zum Beispiel die Antwort auf die Frage, wie viele Liegestütze Osenberg machen kann? Alle! Oder die Behauptung, dass er sogar mit einem geschlossenen Taschenmesser Brot schneiden kann.

Die Nacht

Nachdem wir unsere Rennräder sicher im Heizungskeller der Pension Fiegl verstaut haben, gehen wir in unsere Zimmer. Bei Osenberg und Uwe ist es schon still. Wer mit wem das Doppelbett teilt, hat nichts mit möglichen Koalitionen während des Rennens zu tun. Eberhard hofft aber wohl, über Nacht auf magische Weise von Heinrichs Stärke profitieren zu können. Mein Zimmergenosse Marc ist mir sehr sympathisch. Wenn er nicht schnarchen würde, wäre er mir ein angenehmer Partner für die Nacht.

Mit Sicherheitsnadeln befestige ich meine Startnummer hinten auf dem Trikot. Ich muss dabei aufpassen, dass ich mir den Zugriff in die Rückentaschen nicht unmöglich mache. Marc erzählt mir, dass ihm Thomas während der Autofahrt seine Befürchtung gestanden hat, die lange Distanz mit den vielen Höhenmetern nicht durchstehen zu können. Ich frage nicht, was Marc ihm geraten hat. Aber ich weiß, dass Marc beim letzten Mal selber gründlich eingegangen ist. Doch als mein Zimmergenosse kurz darauf in Unterhose von der Toilette zurückkommt, sehe ich seine braunen Beine und weiß, dass es dieses Jahr anders sein wird. Marc erzählt, dass er beruflich viel in Barcelona zu tun hatte und dort genügend Zeit fand, im hügeligen Hinterland mit dem Rennrad zu trainieren. Während bei uns so manche Trainingseinheit buchstäblich ins Wasser fiel.

Es wird Zeit, zu schlafen. Um fünf Uhr wollen wir schon beim Frühstück sein. Aus dem Zimmer von Eberhard und Heinrich hören wir deutlich Gekicher. Und woanders wird gesägt. Das muss Osenberg sein. Hat er sein Rad mit auf dem Zimmer?

Wir sagen Gute Nacht und bemühen uns nun, den anderen nicht durch permanentes Herumwälzen zu stören. Ich kann mal wieder nicht einschlafen. Erstens, weil wir sowieso gleich wieder aufstehen müssen. Und zweitens, weil mich der Zwang, sofort einschlafen zu müssen, eben genau daran hindert. Hätte ich doch wie Uwe vorgeschlafen. Ich drehe mich vorsichtig in eine neue Position. Anstatt an Belanglosigkeiten zu denken, sinniere ich über mein Abreißenlassen in den Serpentinen oberhalb von Längenfeld nach. Werde ich morgen gegen Eberhard keine Chance haben? Ist meine Form schlecht? Dafür brauche ich ja wohl keine weitere Bestätigung mehr. Im Grunde kann ich gleich auf den Start verzichten. Dieser Gedanke beruhigt mich. Vielleicht kann ich nun, nachdem ich mich entschlossen habe, nicht zu starten, in Ruhe einschlafen. Marc neben mir atmet bereits ruhig und gleichmäßig. Ist er wirklich so stark, wie seine Beine aussehen? Was ist mit Thomas? Also, diesem Arnold möchte ich es ja schon sehr gern zeigen. Ach, wie ich Uwe um seinen Schlaf beneide.

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Ich trage eine viel zu weite Winterhose ohne Sitzeinlage. Mein Lenker ist lose. Es geht in Serpentinen eine Sackgasse hinauf. Was für ein beschissenes Rennen?! Ich bin schon längst abgehängt. Warum warten die anderen nicht? Ich rufe nach ihnen. Sie hören mich nicht. Jetzt schreie ich, so laut ich kann. Aber kein Mucks kommt heraus.

Ich fasse mir an den Hals. Nicht, dass ich über Nacht noch Halsschmerzen bekomme. Ich atme ruhig durch die Nase. Sie ist schön frei. Das ganze Zimmer riecht nach Marcs ätherischen Ölen. Ich versuche, in einer anderen Position einzuschlafen. Wie spät ist es eigentlich schon?

Die anderen stehen alle schon an der Startlinie. Erste Reihe. Aber ich suche immer noch einen Parkplatz. Es ist nichts mehr frei. Ein Ordner winkt mich nach links. Ein nächster Ordner zeigt nach rechts. Irgendwie komme ich doch noch aus dem Auto heraus. Nur um festzustellen, dass mir sowohl Helm als auch Schuhe fehlen. Da macht es ja auch nichts, dass ich obendrein mein Rennrad vergessen habe.

Auf dem Gang klappt eine Tür. Da kann wohl einer nicht schlafen. Ich muss grinsen. Derjenige da draußen wird morgen ein leichtes Opfer für mich sein. Also werde ich doch starten? Ich überlege mir eine neue Strategie. Nicht zu schnell losfahren. Cerny hat mir geraten, ich solle einfach immer nur am Hinterrad des Vordermanns bleiben. Das würde ausreichen, um zu gewinnen. Was meint er damit? Ihm reicht es wohl aus, nicht abgehängt zu werden?

Mit Cerny bin ich schon viele Trainingskilometer gefahren. Von ihm kann ich noch viel lernen. Er hat von uns allen mit Sicherheit die größte Erfahrung. Aber jetzt liegt er in seinem Wohnmobil und bekommt den Lärm von der Hauptstraße mit. Schon kurz nach Mitternacht werden die ersten Teilnehmer, die nicht im Ötztal übernachtet haben, mit ihren Autos in Sölden eintreffen und für ordentlichen Radau sorgen.

Der Startschuss fällt. Ich komme gut weg. Den ersten Anstieg schaffe ich ganz leicht. Osenberg ist noch vor mir. In der Abfahrt kann ich ihn locker überholen. Am nächsten Berg liege ich bereits in Führung. Der Parcours ist die reinste Achterbahnfahrt. Sieht so aus, als könnte ich das Rennen tatsächlich gewinnen. Doch dann muss ich feststellen, dass ich mich verfahren habe. Es gab einfach keine Streckenausschilderung. Ich muss zurück an den Start. Noch mal von vorn. Hinter allen anderen her, die nun so gut wie uneinholbar sind.

Scheiße! Im Minutentakt drehe ich mich vorsichtig von links nach rechts und vom Rücken auf den Bauch. Marc hat wohl Schlaftabletten genommen, dass er nichts merkt? Mir fällt ein Traum ein, den ich vor ein paar Wochen hatte: Eberhard ist am Start des Ötztaler Radmarathons. Ich stehe in Zivilklamotten daneben und muss ihm bei der Abfahrt zusehen. Beim Aufwachen aus einem anderen Traum musste ich enttäuscht feststellen, dass noch kein Meter hinter mir lag, obwohl ich doch im Schlaf bereits die halbe Strecke qualvoll absolviert hatte. In der Vorbereitungszeit wurde ich nicht selten von Albträumen geplagt, in denen ich den Start verpasste, unzureichendes Material dabeihatte oder nicht von der Stelle kam. Auf diese Weise musste ich den Ötztaler sogar mehrmals im Jahr fahren. Langsam werde ich ärgerlich. Wenn das so weitergeht, kriege ich heute überhaupt keinen Schlaf mehr. Soll ich einfach aufstehen? Diese verdammten Ötztaler-Halluzinationen!

Am Timmelsjoch befinde ich mich in einer Spitzengruppe zusammen mit Contador, Cipollini, Eberhard, Armstrong, Osenberg und Cerny. Schon bald stürzt Armstrong, weil er mit einem italienischen Zuschauer namens Simeoni in Streit gerät. Auf der Hälfte des Anstiegs verwandelt sich mein Rennrad in eine Jutetasche mit Alnatura-Aufdruck. Dennoch komme ich ganz gut vorwärts, weil ich erstaunlich bequem darin sitze. Eberhard sitzt auf meiner Zahnärztin und fährt ein starkes Rennen. Dann führt die Rennstrecke durch die Pension Fiegl. Die Gänge sind klaustrophobisch eng und auf den Treppen fehlen viele Stufen. Ich verliere den Kontakt zu den anderen, als Osenberg mit seinem E-Bike attackiert. Am Ortsschild von Sölden gewinnt Eberhard den Sprint Royal knapp vor Cipollini und Cerny, die beide platte Reifen haben.

Mir wird gerade klar, dass ich selber das Rennen hätte gewinnen können, wenn ich mich nicht im Heizungskeller hoffnungslos in einer Murmeltierherde festgefahren hätte. Mein Gott, lieber würde ich die Strecke des Ötztalers zweimal fahren, als diese eine Nacht vor dem Rennen hinter mich bringen zu müssen. Lange kann sie zum Glück nicht mehr dauern. Draußen setzt heftiger Regen ein. Auch das noch! Aber die gleichmäßig prasselnden Tropfen trommeln mich schließlich doch noch in den Schlaf.

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Morgengrauen

Peng! Ein lauter Knall. Osenberg ist als Erster aufgestanden und hat damit begonnen, seine Reifen mit dem Standkompressor aufzupumpen. Ein Schlauch ist dabei geplatzt. Jetzt sind alle wach. Marc hätte sich seine zwei Wecker nicht zu stellen brauchen. Ich frage mich, ob ich überhaupt geschlafen habe.