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Originalausgabe

© 2018 Hirnkost KG

Lahnstraße 25

12055 Berlin

prverlag@hirnkost.de

www.jugendkulturen-verlag.de

Alle Rechte vorbehalten

April 2018

Vertrieb für den Buchhandel: Runge Verlagsauslieferung (msr@rungeva.de)

Auslieferung Schweiz: Kaktus (www.kaktus.net)

E-Books, Privatkunden und Mailorder: shop.hirnkost.de

Dieses Buch entstand im Zusammenhang mit einem von Prof. Dr. Kurt Möller geleiteten zweisemestrigen Lehrforschungsprojekt an der Fakultät Soziale Arbeit, Gesundheit und Pflege der Hochschule Esslingen.

Die Autor*innen: Lidia Aristov, Sarah Baisch, Sarah Deppisch, Anja Heusel, Leonore Mair, Tobias Metz, Kurt Möller, Nadine Natterer, Eva Neuffer, Franziska Platzer, Katrin Rafensteiner, Michael Schneider, Tanja Schnier, Marie Scoob, Nadezhda Sill, Josua Stoll, Hülya Taze, Ulrike Thumm, Maike Watzlawik, Eva Wölfle, Julia Schäfer, Anna Lowe

Covergestaltung: Claudia Weber

Layout: Linda Kutzki

Lektorat: Gabriele Vogel

ISBN

PRINT: 978-3-945398-77-7

PDF: 978-3-945398-78-4

EPUB: 978-3-945398-79-1

Dieses Buch gibt es auch als E-Book – bei allen Anbietern und für alle Formate.

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Inhalt

Mal vorneweg …

Kaum jemals satt werden – Hunger nach SINN

1 fromm & frei

„Aber dann gab es diesen einen Tag, also dieses eine bestimmte Ereignis, was dann bei mir ausgelöst hat, mehr in Richtung Glauben zu gehen. Ich nenn es mal ’ne Erfahrung mit Gott.“

„Seit ich Gott kenne, egal was wegfallen würde aus meinem Leben, ich würde niemals in ein Loch fallen.“

„Hier bin ich, und ich trage Kopftuch, aber ich bin ein normaler Mensch.“

„die tiefsten Tiefen sind bei vielen Menschen irgendwie leer.“

„Für mich ist mein Glaube in dem Sinne wahr, dass er mir Sinn gibt, dass er mir Halt gibt und ich mich orientieren kann, manchmal.“

2 laut & bunt

„Wenn’s dann sein muss, diss ich den Bürgermeister.“

„schocken und ’n bisschen Anarchie reinzubringen, anders zu sein, nicht Schema F durchzuspielen …“

„Ich glaub daran, dass jeder Mensch irgend ’ne Leidenschaft in sich hat und die auch irgendwann findet.“

„Sinn macht es, wenn es ein Paradox gibt, wenn es Reibepunkte gibt, eben nicht die absolute Freiheit, die total eben ist.“

„Versackt nicht einfach in ’nem normalen Job und vorm Fernseher! Das Ende ist erst, wenn man stirbt.“

3 nah & näher

„Der Wendepunkt war die Schwangerschaft … Das war der Aufwachschuss: Wach jetzt auf, tu mal was!“

„in der Zeit damals habe ich mich sehr erwachsen gefühlt, nicht wie 18, sondern viel, viel älter ...“

„Mich gibt es so, wie ich bin. Alles andere ist einfach kein Ich.“

„Wenn einer ein kleines Fellstück entdeckt hat, aber dann erzählt: ‚Ich hab drei Biber auf einmal gesehen!‘, dann ist der kein richtiger Freund.“

4 hin & weg

„Jeder sollte unbedingt allein reisen. Dann wär die Menschheit eine bessere, ganz klar!“

„generell einfach weg von diesem ganzen Stress, von der Zivilisation ...“

„Ich habe gar nichts mehr in Syrien. Alles zerstört. Warum soll ich sagen, da ist meine Heimat?“

5 auf & ab

„Eigentlich bleibt nur die Hoffnung, dass ich noch mal irgendwie drumrumkomm.“

„Ich habe mir mein Leben selbst so gestaltet, dass ich sagen kann: Es macht Sinn.“

„... so wie Ikarus, Flügel an den Armen und einfach weg.“

„Die Situation kommt, haut mich um, und ich muss es immer wieder schaffen, aufzustehen. Es ist ein Dauerkampf.“

„Man möchte halt etwas erreichen, was umsetzen und die Welt verändern.“

„Sinn ins Leben bringt der Lebenswille, der einen antreibt.“

„Ich möchte noch ein paar Sachen mit dem Motorrad erfahren … vielleicht nach Kuba, nach Amerika …“

6 schön & sportlich

„’ne Frau, die Bodybuilding macht, ist einfach nicht die Regel.“

„Die gleichen Chancen wie ein Mensch, der nichts hat, hat man eben nicht …“

„Motorradrennsport … meine Leidenschaft und meine Verwirklichung.“

7 für & gegen

„Ich fände es erstrebenswert, wenn alle Menschen mehr ihren eigenen Stil leben würden.“

„Es ist reiner Zufall, dass ich in Deutschland geboren bin. Ich hätte genauso gut in Gambia oder in Äthiopien oder in Eritrea geboren werden können.“

„hald blöd für d Menschheit, wenn koiner ema andere hilft.“

„auf die Demo der Revolutionären gehen … und einfach Präsenz zeigen …: Wir sind da! Die Jugend ist nicht nur dumm und kauft bei Primark!“

„jede kleinste Sache, die man macht, kann eine Veränderung bewirken.“

Making-of …

Mal vorneweg …

Die Frage nach dem Sinn des Lebens …

… naja, offensichtlich stellst du sie dir noch. Sonst hättest du ja nicht dieses Buch aufgeschlagen und angefangen, diese Zeilen zu lesen. Aber sag mal: Wenn wir uns schon duzen, können wir ja auch mal ’n bisschen intimer miteinander reden: Findest du es nicht etwas spät, diese Frage erst jetzt zu verfolgen? Ach so, du stellst sie dir heute zum wiederholten Male! Immer wieder taucht sie in deinem Leben auf. Und du kommst auf keine wirklich befriedigende Antwort. Oder mal auf die eine, mal auf die andere. Und deshalb hirnst du mehr oder weniger andauernd darüber. Sollen wir ehrlich sein? Das macht es nicht besser! Du bist nämlich viel zu spät dran. Viel zu spät.

Denn das Problem ist doch längst gelöst. Und du solltest das wissen! Oder bist du nie per Anhalter durch die Galaxis getrampt? Nie? Wirklich nie? Echt? Na, dann lass dir erklären: Die Antwort lautet … Nun denn, es hört sich vielleicht etwas komisch an, aber die Antwort heißt … Sitzt du auch gerade gut, hast geistlichen Beistand – oder kannst wenigstens weich fallen? Ja? Dann gut. Die Antwort lautet – aber nicht lachen jetzt … Die Antwort ist: Zweiundvierzig. Schlicht und einfach 42.

Du hast es zwar nicht gewusst, aber immer schon geahnt? Weil sechs mal sieben 42 ist? Und sieben ja als magische Zahl gilt? Und sechs eine schöne Ziffer ist? Und außerdem die Quersumme aus 42, nämlich vier plus zwei? Sollen wir dir mal was sagen? Ganz offen und ehrlich? Du bist alles andere als ein Intelligenzbolzen! Du hast keinen blassen Schimmer! Denn die 42 wurzelt viel tiefgründiger. Der komplexeste Computer der Welt hat sie errechnet und ausgespuckt. Vor fünfundsiebzigtausend Generationen wurde er schon programmiert und nun mühevoll wieder restauriert und in Gang gebracht. Er hat sogar einen Namen: DeepThought. Merkst du was? DeepThought – du kannst doch englisch? Frei übersetzt: Tiefschürfender Gedanke. Wenn er schon so heißt, wie könnte er da irren?

Aber werden wir mal in unserer Argumentation noch seriöser und so richtig wissenschaftlich! Was machen Wissenschaftler? Richtig: Sie forschen rum und zitieren andauernd irgendwelche Geistesgrößen. Also zitieren wir mal. Und das selbstverständlich aus dem epochalen Werk umfänglicher Sinndeutung schlechthin – und zwar die Kernaussage überhaupt: „‚Was ist der Sinn meines Lebens?‘ […] Die Spannung war unerträglich […] Die Antwort auf die Große Frage nach dem Leben, dem Universum und allem??? ‚Zweiundvierzig‘, sagte DeepThought mit unsagbarer Erhabenheit und Ruhe.“1

Alles paletti? Kommst du bei derart frei schwebenden intellektuellen Höhenflügen mit? Ja? Auch wenn es hier nur Auszüge sind? Wie schön! Gratulation!

Bloß: Einen Haken hat die Sache schon noch: DeepThought, die Rechenmaschine, fragt uns, ob wir überhaupt sicher sind, dass wir die richtigen Fragen stellen:

„‚Es war eine sauschwere Aufgabe‘, sagte DeepThought mit sanfter Stimme. ‚Zweiundvierzig!‘, kreischte Luunquoal los. ‚Ist das alles, nach siebeneinhalb Millionen Jahren Denkarbeit?‘ ‚Ich hab’s sehr gründlich nachgeprüft‘, sagte der Computer, ‚und das ist ganz bestimmt die Antwort. Das Problem ist, glaub ich, wenn ich mal ganz ehrlich zu euch sein darf, dass ihr wohl selber nie richtig gewusst habt, wie die Frage lautet.‘“2

Puuh, muss man mal ’n Weilchen drüber nachdenken, nicht wahr? Keine leichte Hirnkost, oder? Doch keine Bange: Hilfe naht! Bevor du dich nämlich jetzt in deinen jämmerlichen Gedankengespinsten komplett verhedderst, stehen wir dir unterstützend zur Seite. Schließlich sind wir die Gruppe 42 – und unser Name ist Programm! Wir wissen Bescheid. Denn die einzig richtige Frage stellen wir! Schau dir mal den Untertitel dieses Buches auf seinem Cover an. Er bringt zum Ausdruck, wonach wir fragen: Wofür es sich zu leben lohnt …

Diese Frage – und, um ehrlich zu sein, noch ein paar mehr – haben wir Expert_innen gestellt. Wahren Expert_innen. Nämlich (jungen) Menschen wie du und ich. Normalos also. Das heißt: So ganz „normal“ sind sie vielleicht nicht – zumindest nicht, wenn „normal“ mittelmäßig und langweilig bedeutet. Bei manchen von ihnen läuft das Leben in eher ruhigen Bahnen, manche sind aber auch ganz schön von ihm durchgeschüttelt worden – und werden es zum Teil noch. Aber sieh selbst! Gönn dir eine Schnuppertour durchs Buch! Und wenn du heute noch kein gutes Werk getan hast: Kaufe es! Noch besser wäre: Du liest es dann auch. Wir freuen uns drüber.

Wir – das ist eine Gruppe Studierende der Sozialen Arbeit an der Hochschule Esslingen und ihr Prof. Über ein Jahr hinweg sind wir ausgeschwärmt ins wahre Leben – raus aus den Elfenbeintürmen der Uni. Wir haben unendlich viele Gespräche geführt mit jungen Menschen. Genauer: mit jungen Leuten, die auf Sinnsuche sind und/oder ihren Lebenssinn schon gefunden haben. Selten auf gepflasterten, geraden Pfaden, oft auf ebenso kurvigen wie steinigen Umwegen. Diesen Gesprächspartner_innen gilt unser aufrichtiger, heißer Dank. Wie es die Vorsehung – oder ist es doch der Zufall? – so will: Es sind in der Summe genau 42 Interviews. Nun gut: Ungefähr wenigstens; einige mussten wir aus Platzgründen schweren Herzens streichen. Doch im Grunde sind sie in diesem Buch enthalten – bloß eben nicht sichtbar. Was sonst würde wirklich ultimativen Sinn ergeben?

Aber mach dir selbst ein Bild! Vielleicht erkennst du ja einen Teil von dir in der einen oder anderen Person wieder, die hier zur Sprache kommt – wenigstens einen Teil von deinen persönlichen Fragen und womöglich Antworten, die du noch auf die Große Frage suchst ...

Esslingen, im Februar 2018

Gruppe 42

1 Douglas Adams: Per Anhalter durch die Galaxis. Roman. Ullstein, Frankfurt a. M./Berlin 1993: 158. 2 Ebd.: 159.

Kaum jemals satt werden – Hunger nach SINN

Kurt Möller

SINN – ein menschliches Grundbedürfnis

„Das, was ich tue, macht Sinn.“ „Was ich denke, macht Sinn.“ „Mein Leben insgesamt macht Sinn.“ Wollen wir nicht alle mit einem tiefen Brustton der Überzeugung solche Sätze sagen können? Wahrscheinlich heißt die Antwort fast ausnahmslos: „ja!“ Warum eigentlich? Weil der Wunsch, Sinn empfinden zu können, zu den Grundbedürfnissen des Menschen gehört. Menschen wollen eben nicht nur irgendwie über die Runden kommen. Sie wollen nicht nur genügend zu essen und zu trinken, ein Dach überm Kopf, möglichst gesund und sicher sein, schlafen etc. – kurzum: elementare vitale Grundbedürfnisse als befriedigt verspüren. Sie wollen auch ihr eigenes Leben gestalten, sich dabei authentisch und unverwechselbar fühlen, Kompetenz und Selbstwirksamkeit verspüren, nicht isoliert sein, sondern anerkannt, wertgeschätzt und geliebt werden, ihr Leben genießen, ja möglichst auch so etwas wie Glück erleben können. Sie wollen all dies – und vielleicht auch noch mehr: dafür sorgen, dass es auch anderen gut geht, politisch mitmischen, sich von Gott getragen wissen oder was auch immer. Erfahren, dass es sich zu leben lohnt, weil sich Bedürfnisse wie diese realisieren lassen – irgendwo darin muss sich wohl der Sinn von menschlicher Sinnsuche auffinden lassen.

„Was ich auch anstelle: Hat alles keinen Sinn.“ „Was ich mir so denke – nichts als Blödsinn.“ „Alles in allem: Mein Leben hat keinen Sinn.“ Möchten wir nicht in jedem Fall vermeiden, solche Selbstbeschreibungen von uns abgeben zu müssen? Vermutlich doch. Selbst wenn die meisten von uns ehrlicherweise einräumen: „Nicht alles, was ich mache, ist supersinnvoll“, „da ist auch ’ne Menge Unsinn in meinem Kopf“ und „es gibt auch Momente und Phasen in meinem Leben, wo mir der Lebenssinn abhandenkommt“ – in der Gesamtbilanzierung unseres bisherigen Lebens möchten wir in ihm Sinn erblicken. Sind „Blödsinn“ und „Unsinn“ (machen) durchaus noch als Beschreibung netter Episoden akzeptiert, so ist Sinnlosigkeit auf Dauer nicht auszuhalten (auch wenn sogenannte ‚sinnlose’ Tätigkeiten einen gewissen Entspannungseffekt bieten mögen – und eben darüber Sinn erlangen). Sinn ist also eindeutig positiv konnotiert. Und auch wenn jetzt jemand anmerken sollte, nicht Sinn, sondern Lustgewinn, Genuss und Freude sei sein/ihr zentrales Lebensmotto, dann wird ja damit kein Gegenentwurf zu einem möglichst sinnvollen Leben präsentiert. Vielmehr wird Sinn dann in spezifischer Weise interpretiert: als Priorisierung hedonistischen Strebens, als Erleben von Glücksgefühlen. Es bleibt dabei: Irgendwo drin Sinn sehen zu wollen, ist ein Grundbedürfnis des Menschen.

Spätestens jetzt stellt sich freilich die Frage: Was ist „Sinn“ denn eigentlich, wie lässt sich Sinn definieren, und wie ist er von Begriffen wie „Glück“ oder auch weiteren, zum Teil synonym gebrauchten Termini wie „Bedeutung“, „Zweck“, „Funktion“ u. a. m. abgrenzbar (zu weiteren Synonymen und Abgrenzungen vgl. auch Bohnsack 2016)? Und: Steckt nicht auch Sinn in natürlichen Gegebenheiten, menschengemachten Sachverhalten und vielleicht auch gottgewollten Existenzbedingungen der Menschheit, ohne dass wir deren Sinn begreifen (können)? Mit anderen Worten: Gibt es so etwas wie einen objektiven Sinn, obwohl wir ihn subjektiv nicht sehen? Gibt es ihn etwa in Krieg, Krankheit oder Tod eines geliebten Menschen?

SINN – begriffliche Sortierungen

Das vorliegende Buch ist nicht zufällig „… MACHT SINN!“ betitelt. Bewusst angezielt ist die Doppeldeutigkeit, die in diesem Titel steckt: Einerseits ist Sinn eine Macht, mit dem die Individuen konfrontiert sind, andererseits ist Sinn etwas, das von jeder einzelnen Person hergestellt wird und nicht per se außerhalb ihrer selbst existiert.

Blenden wir zunächst auf die erstgenannte Bedeutung: Sinn stellt insofern eine Macht dar, als er das Resultat von Setzungen ist, die den Anspruch erheben, Bewertungen vornehmen und dabei mit jeweiligen Sinndefinitionen Positives von existenzieller Tragweite beschreiben zu können. Genauer: Die Stiftung von Sinn und das Ergebnis dieser Stiftung, also der hergestellte Sinn selber, gelten als etwas Gutes: Wenn eine Handlungsweise, ein Denkmodell oder eine Struktur als sinnhaft dargestellt wird und sich mit dieser Sinnzuweisung gesellschaftlich entsprechend durchsetzt, kann dem allenfalls aus Minderheiten- oder Außenseiterpositionen Unsinnigkeit zugesprochen werden – wobei solche Widerständigkeit nur in funktionierenden Demokratien ohne existenzielle Selbstschädigung möglich ist. So hat etwa die Kirche über die Jahrhunderte hinweg lange Zeit ihre Vorstellungen von Sinn ungehindert durchsetzen können. Sie hat z. B. erreicht, dass Hexenverbrennungen oder Kreuzzügen Sinn attestiert wurde und bspw. Epidemien wie die Pest als gerechte Strafe Gottes erscheinen sollten. In ähnlicher Weise konnte es in Feudalzeiten den Herrschenden gelingen, das Königtum als gottgewollt und Folter als angemessen, Ungehorsam und Aufbegehren von Untertanen dagegen als strafwürdig darzustellen. Manche Diktatoren und Despoten schaffen es auch heute noch, ihre Herrschaftsform als sinnhaft und bspw. Expansionskriege oder die Todesstrafe als unerlässlich zu erklären und dabei Gefolgschaft zu finden. Noch alltagsnäher: In unserer Gesellschaft wird „Shopping“ faktisch als sinnvolle Freizeitbeschäftigung ‚verkauft’ und die Durchkapitalisierung des Fußballs wird zwar von manchen moralisch-ethisch kritisiert, kann ihren ‚Sinn’ aber praktisch durchsetzen, indem sie immer mehr Zuschauer_innen auf der Suche nach Vergnügen in die Stadien und vor die Medien lockt. Um in Weiterführung der Argumentation beim letztgenannten Beispiel zu bleiben: Auch das, was an Regelungen in Hinsicht auf den Profi­fußball getroffen wird, generiert – mehr oder weniger – Sinn: die Regularien beim Kauf und Verkauf von Spielern, die Verträge zum Verkauf von Fernsehrechten, das Angebot von Interview-Trainings für junge Spieler zur mediengerechten Präsentation ihrer Person, die Vereinbarungen zur Sicherung von sportlichen Großveranstaltungen zwischen Vereinsvertretern und Sicherheitsbehörden etc.

Abstrakter: Sinn, genauer: ein bestimmter Sinnbezug, wird zu Macht, wo er sich verobjektiviert: wo er a) in Strukturen gegossen wird (z. B. zur Gründung von Organisationen und zur Abfassung von Verträgen führt), b) dazu beiträgt, bestimmte historische Rahmenbedingungen zu schaffen bzw. festzuschreiben (z. B. feudale oder kapitalistische Verhältnisse), c) bestimmte Handlungsweisen und -kompetenzen bei Akteuren erzwingt (z. B. Interviewfähigkeiten oder Fähigkeiten zum Vertragspoker bei Profisportler_innen), d) ‚stillschweigende’ Basisregeln des Interagierens etabliert (z. B. Shopping als gängiges Gesprächsthema und die unverbindliche Kommunikation über die letzte Shopping-Queen-Sendung im TV als Kontakt erhaltendes Alltagsgespräch) und e) die (Ausbildung der) Handlungsfähigkeiten des Individuums prägt (z. B. die Schnäppchenjagd beim Shopping). Kurzum: Wir leben in einer Umwelt von Sinnsetzungen, die unseren eigenen Sinnkonstruktionen, die wir als Individuen vornehmen, ihren Stempel aufdrückt.

Auf der anderen Seite sind wir nicht gezwungen, ihnen zu folgen. Je stärker sich die Chancen zu individualisiertem Leben durchsetzen, umso mehr Freiräume bestehen, ‚sein eigenes Ding’ zu machen. In diesem Sinne gilt: Sinn wird nicht nur zur Macht. Sinn wird auch ge-macht. Interessant ist in diesem Zusammenhang übrigens eine Verschiebung im Umgang mit dem Sinn-Begriff im deutschsprachigen Raum. Während früher im Deutschen die Formulierung „… macht Sinn“ nicht gebräuchlich war und an ihrer Stelle Ausdrücke wie „hat Sinn“ oder „ergibt Sinn“ standen, ist im Zuge der Bedeutungszunahme angelsächsischen Sprachgebrauchs das „making sense“ inzwischen analogisierend auch ins Deutsche übernommen worden. Dieser Umstand verweist auf die gewachsene Wahrnehmung der Konstruktion(sleistungen) von Sinn(stiftungen) und damit auf die aktive Seite von Subjekten im Umgang mit Sinnrelevantem. Er macht deutlich, dass die Subjekte das, was sie für sinnvoll halten, jeweils für sich bestimmen: das, was sie an äußeren Zuständen und Entwicklungen, die sie wahrnehmen, für sinnvoll halten, und das, was sie in der ‚Innenbetrachtung‘ an der eigenen Lebensführung als sinnvoll ansehen. Die weiteren Ausführungen wie auch das vorliegende Buch insgesamt fokussieren auf diesen Aspekt der „inneren Selbstschöpfung von Lebenssinn“, der die Kernaufgabe gegenwärtiger Identitätsarbeit kennzeichnet wie kein zweiter (Keupp 2015: 32), ohne die Verobjektivierungsprozesse von Sinn, deren Produkte und deren Macht- und Einflusspotenziale zu ignorieren. Nicht die Frage, ob und wodurch etwas ‚objektiv’ Sinn ergibt, sondern das Anliegen, aufzuzeigen, wie subjektiv Sinn bei jungen Leuten generiert wird, steht hier im Mittelpunkt. Dies macht allerdings weitere Begriffsschärfungen unter Abgrenzung verwandter Termini erforderlich.

„Der Sinn einer Gabel besteht nicht darin, Suppe mit ihr zu essen.“ – Das Verständnis von „Sinn“, das sich in einem Satz wie diesem ausdrückt, verweist offenbar auf die Funktion und den Nutzen, die einem Gegenstand (hier: nicht) zugeschrieben werden, um bestimmte Zwecke mit ihm zu erreichen. In dieser Funktion ist offenbar die „Gegenstandsbedeutung“ (Holzkamp 1973), also die objektive Bedeutung, die in diesen Gegenstand hineingearbeitet worden ist und seinen Einsatz nicht für völlig beliebige Zwecke erlaubt, aufgehoben. „Funktion“, „Zweck“, „Nutzen“ und „objektive Bedeutung“ ist jedoch nicht das, was der in dieser Publikation verfolgte Sinnbegriff ausdrückt. Er ist auch nicht deckungsgleich mit einer Zuweisung subjektiver Bedeutung. Dinge, Sachverhalte, Vorgänge und Personen können von großer subjektiver Bedeutung sein, ohne dass ihnen Sinn zugeschrieben wird. So ist die Kanzlerschaft von Angela Merkel für einen Pegida-Aktivisten vermutlich von großer Bedeutung, in ihr sieht er aber höchstwahrscheinlich alles andere als Sinn. So kann auch eine Arbeit von hoher subjektiver Bedeutung sein, ohne dass mit ihr Sinn verbunden wird (z. B. weil sie nur zum – durchaus als bedeutsam betrachteten – Zwecke des Geldverdienens ausgeführt wird).

„Was ist eigentlich der Sinn ihrer Äußerung?“ „Das willst du wirklich tun? Worin besteht denn da der Sinn?“ – Wer so fragt, ist meist an der Bedeutung des wirklich Gemeinten oder Gewollten interessiert, vielleicht auch an der Absicht, die dahinter gewähnt wird, oder am Motiv, das entschlüsselt werden soll. Wenn in dieser Veröffentlichung von „Sinn“ die Rede ist, ist allerdings Spezifischeres als das gemeint. Es geht um mehr als einzelne Handlungsantriebe, ihre Legitimation und ihr Verständnis.

Sinnkonstruktion wird hier in Anlehnung an Niklas Luhmann (1987) als der Prozess der Auswahl unter Optionen verstanden, die für das Subjekt vom Standpunkt der Aktualität aus am Horizont der Möglichkeiten aufscheinen, und der sich dabei an einem Ensemble von Kriterien ausrichtet, die aus der Perspektive des Subjekts essentielle, ja (zumindest tendenziell) existenzielle Relevanz für soziale Zusammenhänge und individuell-psychische Zustände und Prozesse besitzen. Im Spannungsfeld zwischen objektiven Gegebenheiten und dem Interesse am produktiv-konstruktiven Umgang mit ihnen wird eine Selektion von wahrgenommenen Denk-, Erlebens- und Handlungsoptionen vorgenommen, die von dem erwähnten Kriterienkomplex so gesteuert wird, dass ihr Sinn zugeschrieben werden kann. Sinnsetzungen reduzieren in dieser Weise die Komplexität zeitlicher, räumlicher, sachlicher und sozialer Bezüge, indem sie Bewertungen vornehmen. Die konkreten Bezugnahmen, die die Konstitution von Sinn leiten, können sich von Subjekt zu Subjekt erheblich unterscheiden. Sie hängen vor allem von seinen Erfahrungen, Kompetenzen, Vorlieben und Verfügungsmöglichkeiten ab. Allerdings ist davon auszugehen, dass die Kriterien, an denen entlang solche Bezüge aufgenommen werden und Sinn aufgebaut wird, neben dem basalen Bedürfnis nach Sinn(stiftungs)erfahrung weiteren grundlegenden menschlichen Bedürfnissen folgen.

SINN – KISSeS als Kontext

Sich auf Sinnsuche begeben – kann das jede_r? Oder muss man/frau sich das leisten können? Müssen zunächst physiologische Bedürfnisse, Bedürfnisse nach Sicherheit und sozialer Einbindung, Bedürfnisse nach Selbstwerterleben und Selbstverwirklichung (vgl. Maslow 1977) befriedigt sein, damit ich in der Lage bin, Sinn als einer Art Luxusgut nachzuspüren? Wohl kaum. Nicht nur für den sprichwörtlichen ‚armen Poeten’ gilt: Auch wer darben muss, in unsicheren Lebensbedingungen lebt und einen geringen Selbstwert hat, sucht früher oder später nach Sinn: Sinn in den vorgefundenen materiellen Verhältnissen, Sinn in Werten und Normen, Sinn im eigenen Tun und Unterlassen, Sinn im Handeln der anderen, Sinn in der Interaktion mit ihnen usw. Das Bedürfnis nach Sinnerfahrung ist offenbar eingebettet in eine Reihe anderer Bedürftigkeiten, die menschliches Leben kennzeichnen, ja es durchwirkt geradezu deren Umsetzungen. Das Akronym KISSeS fasst diesen Komplex zusammen (vgl. auch Möller u. a. 2016):

K wie Kontrolle: Allen Menschen ist ein grundlegendes Bedürfnis nach Realitätskontrolle (vgl. Holzkamp-Osterkamp 1975; 1976) prinzipiell eigen. Über die wichtigsten eigenen Lebensbedingungen will man/frau weitestgehend selbst verfügen. Zumindest wird angestrebt, soweit Selbstbestimmung real werden zu lassen, dass über die Bedingungen unvermeidlich erscheinender Abhängigkeiten (mit)bestimmt wird. Dazu gehört basal, sich in der Welt orientieren zu können, vor allem aber auch sich selbst als wirksam und handlungssicher erleben zu können. Das eigene Handeln soll nicht ‚umsonst’ sein und verpuffen; es soll erkennbare Folgen haben und Spuren hinterlassen, es soll die Möglichkeit beinhalten, entlang entwickelter Intentionen zielsicher eigene Lebensvollzüge zu planen und umzusetzen und dafür relevante Umweltfaktoren zu beeinflussen. Die Erwartungen an das jeweilige Level derartigen Kontrollvermögens mögen zwischen einzelnen Personen differieren und zwischenzeitlich bei dem einen oder der anderen vielleicht auch einmal fast völlig heruntergefahren werden (in Phasen von fundamentalen Selbstzweifeln und bei Depressionen z. B.), aber an ihnen wird in der Gesamtbilanzierung von Lebensgestaltungsmöglichkeiten bemessen, inwieweit das Realitätskontrollbedürfnis als befriedigt erlebt wird.

Dabei gilt keineswegs die Devise: Kontrolle um jeden Preis, koste es, was es wolle. Vielmehr regeln ethische Prinzipen und ihnen folgende Werte und Normen, wie viel und was an Kontrolle zugestanden wird, damit Kontrollinteressen nicht ausufern und bspw. zur Schädigung anderer führen. Insofern sind Kontrollerfahrungen etwas, was Sinn vermittelt. Aber auch die Regularien, unter denen sie in gesellschaftlich akzeptabler Weise gemacht werden (dürfen), werden am Kriterium ihrer Sinnhaftigkeit beurteilt.

I wie Integration: Menschen wollen kein Leben als Monade führen. Sie benötigen sozialen Anschluss und soziale Einbindung. Genauer: Sie wollen irgendwo zugehörig sein, anerkannt und persönlich wertgeschätzt werden, an materiellen Gütern und als wichtig erachteten Handlungs- und Kommunikationszusammenhängen teilhaben (können) und sich mit (mindestens) einem Kollektiv – wenigstens bis zu einem gewissen Ausmaß – identifizieren können (z. B. „Wir Europäer“ oder „Wir VfB-Fans“, „Wir aus der … straße“ oder „unsere Familie“). Damit sich diese Aspirationen realisieren können, brauchen sie einen für sie hinreichend erscheinenden Zugang zu Subsystemen der Gesellschaft (z. B. Bildungsinstitutionen, dem Arbeitsmarkt, der Welt des Konsums); sie müssen die Chance haben, ihre individuellen Interessen in Abgleich mit den Interessen des Kollektivs, dem sie sich zurechnen, zu artikulieren und mit weiteren Personenkreisen auszuhandeln und Konflikte zu regulieren, die dabei oder anderenorts entstehen (etwa in Orten und auf Plattformen wie Kirchen, Vereinen, Verbänden und Parteien); nicht zuletzt benötigen sie in ihren kleinen Lebensfeldern, etwa denen der Familien und Freundeskreise, Erfahrungen von Kontakt, affektiv-emotionaler Bindung und realen oder potenziellen Unterstützungsleistungen.

Auch wenn – wie bei der Kon­trolle – diesbezüglich die Erwartungen von Person zu Person unterschiedlich sind und manch eine_r bestimmte Integrationen für die eigene Person gar nicht oder mit geringerer Tiefe als andere anstrebt, gilt: In dem Maße, wie sich entsprechende Erwartungen ausbilden und umsetzen lassen, wird solchen sozialen Zusammenschlüssen und dem eigenen Handeln darin Sinn zugeschrieben.

S wie Sinnlichkeit: Menschen sind bekanntlich weder technische Apparaturen noch rein rationale Wesen, die computeranaloge Entscheidungen treffen. Menschen haben Körper, eine Psyche und eine darauf bezogene Empfindsamkeit. Das körperliche und psychische Wohl spielt deshalb im Leben eine zentrale Rolle. Menschen tendieren daher dazu, Situationen, in die sie geraten, danach zu beurteilen, ob sie sich angenehm anfühlen, und versuchen darüber hinaus auch aktiv, sich angenehme Empfindungen zu verschaffen. Sinnliches Erleben, etwa von Wärme, Genuss und Lust, ist sowohl ein entscheidender Bezugspunkt für die Bewertung von Wahrgenommenem und Erfahrenem als auch ein wesentliches Kriterium der Ausrichtung des eigenen Verhaltens. In der umfänglich individualisierten „Erlebnisgesellschaft“ (Schulze 1992) unserer Tage erhält dieses Faktum einen noch größeren Stellenwert als früher. Entlang der Losung „Erlebe dein Leben!“ sieht man/frau sich aufgefordert, das ganz persönliche, letztlich aber doch auf die Vorinszenierungen der Warenwelt angewiesene und insofern kaum noch eigensinnig-autonome Projekt des schönen Lebens zu realisieren. Es lässt sich der Eindruck gewinnen: In ihm wird die ganze Welt als „Selbstbefriedigungsgerät“ gedeutet (Schulze 1999: 35) und der Mensch zum Endverbraucher seiner selbst.

Einerlei, ob man/frau diese Einschätzung teilt oder nicht: Zumindest dort, wo das schöne Leben nicht nur schlicht reflexionslos genossen wird, sondern zum Projekt wird, wird das Aufsuchen von Erlebensmöglichkeiten positiver Wertigkeit auch mit Sinn besetzt. Selbst wenn der Genuss selbst nicht unbedingt sinnvoll oder sinnfrei erscheint, wenn also bei ihm die unmittelbare Körpererfahrung im Vordergrund steht und er nicht reflektierend mit Kriterien von Sinnhaftigkeit oder Sinnlosigkeit beurteilt wird: Das bewusste Ansteuern von Situationen des Genusserlebens wird als etwas betrachtet, was Sinn macht, um das Projekt umzusetzen.

S wie Sinn: Wenn – wie dargelegt – das Streben nach Sinnerfahrung die Befriedigung(ssuche) von Kontroll-, Integrations- und Sinnlichkeitsbedürfnissen durchzieht, ist das Bedürfnis nach Sinnzuschreibung und -erfahrung dennoch als eigenständiges Bedürfnis aufzufassen. Denn Sinnsetzungen durch das Subjekt erfüllen einen eigenständigen Funktionskreis. Mindestens sechs unterscheidbare Funktionen lassen sich benennen (vgl. auch Kaufmann 1989; Wippermann 1998):

E wie erfahrungsstrukturierende Repräsentationen: Menschen agieren und leben nicht nur in der Sphäre der unmittelbaren, sinnlich zugänglichen Erfahrung. Um sich gedanklich und vielleicht auch emotional mittelbare Weltaspekte vergegenwärtigen und mit ihrer Hilfe aktuelle, abgelaufene oder in Zukunft noch vermutete Erfahrungen strukturierbar machen zu können, entwerfen sie mentale Abbilder der Realität. Das heißt, sie stellen aus rationalen Überlegungen, aber mehr noch mit Hilfe von Vorlagen aus einem kollektiv vorhandenen Ensemble von Bildern, Metaphern und symbolischen Verweisungen, das ihnen intuitiv und assoziativ zugänglich ist (vgl. Moscovici 1988), Konzepte zusammen, mit denen Phänomene in schon bekannte Kategorien eingeordnet, gegebenenfalls neue Rasterungen produziert und Kodizes für den kommunikativen Austausch mit anderen entwickelt und genutzt werden. In dieser Weise entstehen mentale Repräsentationen dessen, was als Realität begriffen wird. Diese Repräsentationen produzieren und reproduzieren in bestimmter Weise Sinn. Sie bilden z. B. die Genderthematik, den Klimawandel oder die Probleme um die Zuwanderung und Integration von Geflüchteten in spezifischer inhaltlicher und symbolischer Konturierung ab und bestimmen, was diesbezüglich Sinn macht oder eben nicht: z. B. die Gender-gap-Schreibweise zu benutzen oder nicht, den Klimawandel auf die CO2-Belastung zurückzuführen bzw. ihn zu negieren oder von „Flüchtlingskrise“ zu sprechen, wenn jene Probleme und Konfliktlagen gemeint sind, die mit der zahlenmäßig großen Zuwanderung von Geflüchteten nach Europa bzw. Deutschland zusammenhängen.

Hier stoßen wir wiederum ganz vehement an das Macht-Problem der Sinnzuschreibung: Wer die Repräsentation zu bestimmen vermag, die im medialen und öffentlichen Diskurs Vorherrschaft behaupten kann, ist darüber auch imstande, Sinnverständnissen seinen Stempel aufzudrücken und vielleicht sogar den Sinn der Kommunikation über sie infrage zu stellen.

S wie Selbst- und Sozialkompetenzen: Kein Mensch will vor sich selbst und vor anderen unfähig erscheinen. Schließlich bauen sich Selbstwert und Anerkennung nicht zuletzt über Handlungsfähigkeit und Kompetenz(nachweise) auf. Auch wenn sich nicht alle jedwede Fähigkeit zutrauen und nicht jede_r mit Verve und in der Breite das Erlernen und die Entwicklung eigener Fertigkeiten und Fähigkeiten jederzeit verfolgt, so werden doch eine Reihe von Selbst- und Sozialkompetenzen als basal erachtet. Ungeachtet dessen, dass darunter nicht immer dasselbe verstanden wird und auch Gewichtungen differieren, gilt dies für ein gewisses Ausmaß an Impulskontrolle, Reflexionsvermögen, Perspektivenwechselfähigkeiten, Verstehenswillen, Empathie, Neugierde und Offenheit, Rollendistanz, Ambiguitäts-, Ambivalenz- und Frustrationstoleranz, Bedürfnisartikulation, Kommunikationsfähigkeit, Konflikt (regulierungs)fähigkeit u. ä. m. Solche Kompetenzen zu entwickeln und zu entfalten, wird im Allgemeinen als sinnvoll, weil individuell persönlichkeitsbildend sowie sozial zuträglich bewertet. Wo dies nicht der Fall ist (z. B. in extremistischen oder kriminell auffälligen Randbereichen der Gesellschaft), wird immerhin anderen Selbst- und Sozialkompetenzen Sinnhaftigkeit zugeschrieben: Kampfbereitschaft, physischer Durchsetzungsfähigkeit, Schmerzresistenz, Gehorsam u. a. m. Dass ihnen dann auch Sinn attribuiert wird, steht damit nicht in Frage.

Fazit und Ausblick

Sinnsuche und der Wunsch nach Sinnerleben sind grundlegende menschliche Bedürfnisse. Eingewoben in das basale Streben nach Realitätskontrolle, Integration, befriedigendem sinnlichem Erleben, mentaler Repräsentation der Realität und Kompetenzentwicklung steuern sie ihre Befriedigung in diversen Vorlieben, Vorstellungswelten und Aktivitäten an, wie die folgenden Interviews mit jungen Leuten zeigen: in der Sphäre der Politik, in Liebe und Freundschaft, in der Hilfe für andere, über religiöse Orientierungen, mittels Sport, durch kulturelle Betätigung, bei der Modellierung und Inszenierung des eigenen Körpers, beim Reisen. In diesen Bereichen sind ihre Aktivitäten mehr als bloße Hobbys oder Leidenschaften. Sie sind für sie von existenzieller Bedeutung. Der Versuch, für sich Sinn zu kreieren, verläuft allerdings fast nie krisenfrei; das verdeutlichen die im Anschluss an diesen Beitrag abgedruckten Gespräche ebenso: Physische Krankheiten, psychische Belastungen und Störungen, der Tod naher Angehöriger, eigene Suchtmittelabhängigkeit, Kriminalität und ihre Sanktionierung u. a. m. bilden zum Teil erhebliche Erschwernisse. Aber – auch darauf verweisen die Interviews –: Sie sind in den Griff zu bekommen – nicht ganz und nicht immer dauerhaft, aber doch so, dass die wichtigste Erfahrung übrigbleibt: Das Leben lohnt sich – mindestens im Hier und Jetzt.

Literatur

Antonovsky, Aaron: Unraveling the Mystery of Health. Jossey Bass, San Francisco 1987.

Bohnsack, Fritz: Sinnvertiefung im Alltag. Zugänge zu einer lebensnahen Spiritualität. Barbara Budrich Verlag, Opladen, Berlin/Toronto 2016.

Holzkamp, Klaus: Sinnliche Erkenntnis. Historischer Ursprung und gesellschaftliche Funktion der Wahrnehmung. Campus, Frankfurt a. M. 1973.

Holzkamp-Osterkamp, Ute: Psychologische Motivationsforschung. Bd. 1 und 2. Campus, Frankfurt a. M. 1975; 1976.

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1 fromm & frei