Cover

 

»Tunnel über der Spree«: Unter diesem von Theodor Fontane entlehnten Motto schenkt uns Hans Christoph Buch neue Literaturgeschichten. Hier präsentiert sich ein herrlich unterhaltsamer und gewitzter Autor, der seine vielbeachteten Erinnerungen an den Literaturbetrieb leichtfüßig fortschreibt. Erzählungen und Essays, Porträts und Vignetten ergänzen einander zu einer Gemäldegalerie, in der H. C. Buch Wegbereiter und Weggefährten Revue passieren lässt: von Günter Grass, Martin Walser, Uwe Johnson, Hans Magnus Enzensberger und Marcel Reich-Ranicki bis zu Wolf Biermann, Peter Schneider, Sarah Haffner, Uwe Kolbe und F. C. Delius. Geschichten über Goethe, Chamisso und Kafka ergänzen den Band. Buch teilt aus, mit Humor und Witz führt er den Leser zurück ins Ost- und Westberlin der 1960er und 1970er Jahre und dokumentiert so eine Schriftstellergeneration in einem kurvenreichen Parcours, der den Werdegang des Autors nachvollzieht.

 

für Joachim Unseld

 

INHALT

WER LACHT HIER, HAT GELACHT?

Eine Reminiszenz

I. WESTOSTBERLIN

Blues für Sarah

Det is allet history! Mosaikstein zu einem Biermann-Porträt

Literatur ist eine Frage des Charakters Brief an Peter Schneider

Wird’s bald besser? Klaus Schlesinger zum Beispiel

Notiz zu Uwe Johnson

II. EIN ZEITALTER WIRD BESICHTIGT

Der Nussknacker. Hommage an Günter Grass

Nachmittag eines Fauns. Zu Gast bei Martin Walser

Hans Magnus Enzensbergers langer Weg nach Westen

Bewegung ist Leben. Erinnerung an Siegfried Unseld

Ich schreibe keine Romane mehr Hausbesuch bei Marcel Reich-Ranicki

III. LITERATURGESCHICHTEN

Unter Palmen

Peter Schlemihls letzte Reise

Bei Betrachtung von Schillers Schädel

Kafka im Park. Eine Kindergeschichte

IV. DICHTER UND IHRE GESELLEN

Der Schriftsteller ist eine private Person Laudatio auf Uwe Kolbe

Meckeliana und Meckeliaden

H. C. Artmann proklamiert den poetischen Akt

Walter Höllerer: Der lag besonders mühelos am Rand

V. BAGATELLEN ZUM MASSAKER

Schriftsteller sind zu größerer Verworfenheit fähig als andere Menschen

Spiel mir das Lied vom Tod Paul Celan und kein Ende

Brauchen wir eine Neuauflage von 1968?

VI. BLICK ZURÜCK NACH VORN

Gert Loschütz: Johannes Schenk baut einen Stuhl

Porträt des Autors als junger Dachs Frühe Briefe von und an Nicolas Born

Frei ist man nur allein. Gedenkblatt für Reinhard Lettau

Gerd-Peter Eigner: Das Mammut

VII. SCHLUSSWORT IN EIGENER SACHE

Wer bin ich, woher komme ich, wohin gehe ich? Meine multiple Identität

Delius und ich. Eine Richtigstellung

Löwe, Ochs und Esel Sechs Thesen zum Romanschreiben

Die Forelle. Danksagung für einen Literaturpreis

Danksagung

 

WER LACHT HIER, HAT GELACHT?

Eine Reminiszenz

Das schallende Gelächter von Walter Höllerer

das wiehernde Gelächter von Hubert Fichte

das bärbeißige Lächeln von Uwe Johnson

die meckernde Lache von Peter Rühmkorf

der grimmige Humor von Peter Weiss

das verschlagene Grinsen von Hermann Piwitt

die Lachkaskaden des Hans Magnus Enzensberger

im Rohr krepierende Lachsalven von Günter Grass

das homerische Gelächter von Johannes Bobrowski

das prustende Gelächter von Günter Kunert

das lautlose Lachen von Friedrich Christian Delius

das ansteckende Lachen von Peter Schneider

das bellende Gelächter von Fritz J. Raddatz

Klaus Wagenbachs gackerndes Gelächter

das grollende Gelächter von Erich Fried

das selbstzufriedene Lächeln von Siegfried Unseld

das fauchende Lachen von H. M. Ledig-Rowohlt

die grundlose Heiterkeit des Peter O. Chotjewitz

die stille Heiterkeit von Renate Höllerer

das heisere Lachen von Nicolas Born

Heiner Müller der pausenlos Witze erzählt

über die Jochen Schädlich nicht lachen kann

das Mona-Lisa-Lächeln der Gisela Elsner

Ingeborg Bachmann der das Lachen im Hals stecken

bleibt auf- und abschwellendes Lachen der Gruppe 47

das aus der geschlossenen Tür des Plenarsaals dringt

dumpf dröhnendes Gelächter auf dem Podium Allen

Ginsberg und Gregory Corso lachen um die Wette

sekundiert von Robert Creeley und Ted Joans ein

Lachkanon in den Artmann nicht einstimmt auch Ernst

Jandl bleibt ernst ersticktes Lachen am Caféhaustisch

lautes Gelächter in der Bar Kichern am kalten Büfett

Lachen im Turmzimmer Gelächter auf dem Bootssteg

des Colloquiums wo Michel Butor eine Angel auswirft

während Alain Robbe-Grillet sich das Lachen verbeißt

 

I. WESTOSTBERLIN

 

Blues für Sarah

Als ich Sarah Haffner im Herbst 1963 erstmals begegnete, war sie dreiundzwanzig, und ich war neunzehn. Die Gruppe 47 tagte im Hotel zur Post in Saulgau, und Sarah war in Begleitung ihres Vaters Sebastian Haffner dort. Ich las eine Erzählung vor über eine archäologische Ausgrabung, die buchstäblich im Sande verläuft, und die Reaktionen waren gemischt: Walter Jens raufte sich die Haare vor Entsetzen, Reich-Ranicki legte seine Stirn in bedenkliche Falten und Ernst Bloch wollte mich mit eisernem Besen auskehren und in den Mülleimer der Geschichte werfen, während Höllerer, Grass und Enzensberger meinen Text lobten. Ich hatte meine Hinrichtung überlebt und war informell aufgenommen in die deutsche Gegenwartsliteratur, deren Koryphäen ich auf einen Schlag kennenlernte: von Hans Werner Richter, dem Herbergsvater der Gruppe, über Uwe Johnson und Peter Weiss, beide eher schweigsam, bis zu Erich Fried und Johannes Bobrowski. Die Tagung endete mit einem Besäufnis, und während Grass und Enzensberger sich über die Einschätzung der SPD stritten, tanzte ich mit Sarah Haffner, nach mir die jüngste Teilnehmerin des Treffens. Damals rauchten viele Schriftsteller Pfeife, und in meiner von Tabakschwaden vernebelten Erinnerung kühlte ich meine heiße Stirn an einem Aquarium, in dem Aale schwammen als Hommage an die Blechtrommel von Günter Grass.

Wir tauschten unsere Anschriften aus, und bald darauf sah ich Sarah Haffner wieder, deren Adresse und Telefonnummer sich fünfzig Jahre lang nicht veränderten: Uhlandstraße 168, Hinterhaus, zweiter Stock, mit Blick auf einen je nachdem kahlen, knospenden oder blühenden Kastanienbaum – Miniermotten gab es noch nicht. Das Wohnzimmer war Treffpunkt der ästhetisch-politischen Diaspora, die sich nach dem Mauerbau in Westberlin versammelte, eine Nachauflage der klassischen Bohème: Hubert Fichte und Peter Bichsel, Hermann Peter Piwitt und Nicolas Born fanden sich bei Sarah Haffner ein, ebenso wie Günter Grass, den auf ihrem Atelierfest ein Maler ins Bein biss, der Lyriker Peter Rühmkorf, Neal Ascherson vom Observer, der ZEIT-Journalist Kai Hermann und die Spiegel-Reporterin Marie-Luise Scherer, damals noch Berliner Morgenpost. Sarah servierte Tee, eine Sitte, die sie aus England mitgebracht hatte, und wir sprachen über Politik, Literatur und Kunst, in dieser Reihenfolge, hörten Platten und tauschten uns über unseren Liebeskummer aus. In meiner Erinnerung war Sarah stets unglücklich verliebt – ich war es auch, so dass es an Gesprächsstoff nie mangelte. Ihr bevorzugter Autor war Christopher Isherwood, dessen Berlin-Trilogie sie immer wieder las, ihre Lieblingsmusiker Bach und die Beatles, und über dem Plattenspieler hing das Gemälde eines Plattenspielers, über dem Bücherregal das Bild eines Bücherregals mit sorgfältig gemalten Buchrücken und neben dem Fenster zum Hof das großformatige Gemälde eines Fensters zum Hof mit einer Schachtel Gitanes auf der Fensterbank – ein Fingerzeig darauf, dass das Bild nicht in Berlin, sondern in Paris entstanden war.

Damit bin ich bei Sarah Haffners Kunstschaffen angelangt, das in einem halben Jahrhundert markante Entwicklungsstadien durchlief, Quantitätsschübe und Qualitätssprünge, obwohl sie sich im Kern ihrer Persönlichkeit wenig veränderte. Schon auf frühen Bildern aus der Studentenzeit, als sie dem Zeitgeist der fünfziger Jahre huldigte, tauchen ihre Lieblingsfarben auf, allen voran das typische Sarah-Haffner-Blau, changierend zwischen Ultramarin und Türkis, das auf Schwimmbadkacheln ebenso zu sehen ist wie auf Lavendelfeldern in der Provence. Gelb blühender Raps, rollende Hügel, schnurgerade Alleen mit kahlen Bäumen, nackte Hausfassaden, triste Hinterhöfe, Nieselregen oder Schneetreiben, Betten oder Sofas mit Liegenden, die aussehen, als habe eine jähe Depression ihnen den Teppich unter den Füßen weggezogen, und einfühlsame Porträts, auf denen die Gesichtszüge der Künstlerin, ihres Sohnes und ihres Bruders wiederkehren: So besehen verbirgt sich hinter fast allem, was Sarah Haffner schreibt, zeichnet oder malt, ein melancholisches Selbstporträt. Aber ich habe mich allzu weit ins verminte Gelände der Kunstkritik vorgewagt.

Im Herbst 1979 besuchte ich zusammen mit Sarah Haffner Armenien, damals noch eine Sowjetrepublik, über die wir nicht viel mehr wussten als Schmunzelwitze von Radio Eriwan: »Im Prinzip ja, aber …« Mit von der Partie war ein evangelischer Friedensfreund, den wir den Entspannungspfarrer nannten, denn statt in der UdSSR verbotener Bibeln hatte er Strumpfhosen im Gepäck, um seine Moskauer Geliebte bei der Stange zu halten – hier passt die dumme Redensart. Der Pfarrer ließ durchblicken, dass er nicht an Gott, sondern an den Sozialismus glaubte, und regte sich auf, als ich ins Gästebuch eines armenischen Klosters »Ihr seid das Salz der Erde« schrieb: Das Bibelzitat sei eine Provokation für unsere atheistischen Gastgeber, meinte der Gottesmann. Damals verlor ich den letzten Respekt für selbsternannte Friedenskämpfer, die mit Diktaturen kungelten und nichts einzuwenden hatten gegen Unterdrückung und Zensur – aber ich muss mir die Polemik verkneifen.

Bei der Ankunft am Flughafen von Eriwan erwartete uns eine Dichterin, die wie der griechische Weinbrand Metaxa hieß und erotische Gedichte schrieb, in denen sie Männern im Sexrausch die Knöpfe vom Hemd biss. Als Kind hatte sie Stalin einen Blumenstrauß überreicht und erzählte, der Diktator habe gut ausgesehen – abgesehen von den Pockennarben in seinem Gesicht, die auf Fotos wegretuschiert wurden –; selbst der Schnauzbart des Generalissimus unterlag der Zensur.

Höhepunkt unserer Reise war ein Besuch in der Moskauer Wohnung des Dichters, Sängers und Romanciers Bulat Okudschawa, der aus Georgien stammte und von Kritikern diffamiert wurde mit dem Argument, als Nichtrusse habe er kein Recht, Bücher über russische Geschichte zu schreiben. Über seinem Arbeitstisch hing kein Foto von Chruschtschow oder Breschnew, der damals noch im Kreml regierte, sondern ein Porträt von John F. Kennedy, und sein beredtes Schweigen strafte das Propagandagerede Lüge, mit dem man uns von morgens bis abends behelligte. Dazu gehörte ein Termin bei der Literaturzeitschrift des Komsomol, deren Arbeit nach offizieller Lesart auf drei Säulen ruhte: 1. Texte alter Meister; 2. Texte junger Autoren; 3. Kritik der alten Meister an den jungen Autoren. Wir hatten Mühe, uns das Lachen zu verbeißen. »Alles schön und gut«, meinte Sarah Haffner, »aber gibt es auch eine Rubrik, in der junge Autoren die alten Meister kritisieren?« Damit traf sie den Nagel auf den Kopf und hatte, ohne es zu wollen, einen Impuls benannt, der als Leitmotiv ihr Leben und Schaffen durchzog: das Aufbegehren gegen jede Art von falscher oder angemaßter Autorität.

Sarah hatte Haare auf den Zähnen, sie war widerborstig und ließ sich weder von Günter Grass noch von ihrem Vater, dem prominenten Publizisten, vorschreiben, was sie denken und sagen sollte. Ihr Verhältnis zu Sebastian Haffner war angespannt, weil er den in jungen Jahren gefassten Entschluss seiner Tochter, Künstlerin zu werden, missbilligte aus Sorge um ihren Lebensunterhalt. Dabei war sie durchaus geschäftstüchtig und hat ihre Bilder auf gut besuchten Vernissagen, die gesellschaftliche Ereignisse waren, nicht unter Wert verkauft. Sarah lebte von der Kunst, die sie studiert und später auch unterrichtet hat, und ihr antiautoritäres Engagement drückte sich aus in Schrei, wenn du kannst, einem Buch über misshandelte Frauen, die damals wie heute nicht nur in prekären Milieus, sondern auch in bürgerlichen Kreisen anzutreffen waren. Aus dem Text wurde eine TV-Dokumentation, und Sarah Haffner war Patin bei der Gründung des ersten Berliner Frauenhauses. In den achtziger Jahren knüpfte sie Kontakte zu oppositionellen Künstlern im Ostteil der Stadt, noch bevor die Prenzlauer-Berg-Szene Mode wurde, und anders als ihre linken Mitstreiter freute sie sich über den Fall der Mauer und die Wiedervereinigung.

Sarah Haffner malte, schrieb Bücher und trainierte in Fitnessstudios, bis sich erste Symptome einer unheilbaren Krankheit zeigten, der sie, ohne zu klagen, mutig widerstand, entsprechend ihrem früh geäußerten Verzicht auf Lebensverlängerung um jeden Preis.

 

Det is allet history!

Mosaikstein zu einem Biermann-Porträt

Es war ein heißer Tag im Sommer 1976, drei oder vier Monate vor der Ausbürgerung des Liedermachers Wolf Biermann durch das Politbüro der SED. In meiner Erinnerung könnte es Kubas Nationalfeiertag, der 26. Juli, gewesen sein: An diesem Tag im Sommer 1953 hatten Fidel Castros Partisanen – der Ausdruck ist irreführend, denn es handelte sich um Jugendliche und Studenten ohne militärisches Know-how – die Moncada-Kaserne in Santiago de Cuba gestürmt. Siebzig Angreifer kamen ums Leben, und Fidel Castro wurde auf der Isla de Pinos inhaftiert, wo er seine Berufung zum Revolutionär entdeckte. Oder es könnte der 31. August gewesen sein, als Tamara Bunke alias Tania la Guerrillera, die Kampfgefährtin Che Guevaras, beim Überschreiten des Rio Grande in einen Hinterhalt geriet und von bolivianischen Soldaten erschossen wurde.

Aber davon wusste ich nichts, während ich in der Chausseestraße 131 in Wolf Biermanns Wohnküche saß, zusammen mit seiner Mutter, wenn mich die Erinnerung nicht trügt. Schräg gegenüber lag die ständige Vertretung der BRD, vor deren videoüberwachtem Portal ein Volkspolizist auf und ab ging, und ein paar Meter weiter parkte ein Wartburg-Kombi, dessen ausgefahrene Antenne die aus dem Küchenfenster dringenden Geräusche auffing. Wolf Biermann stimmte seine Gitarre und summte eine Melodie vor sich hin, die in ein Lied überging, dessen Gesang er immer wieder unterbrach, um den Text umzustellen, zu verbessern oder mit wirkungsvolleren Akkorden zu unterlegen. Der Vorgang konnte lange dauern, denn die Lieder hatten viele Strophen, und der Besucher kam kaum zu Wort, weil Biermann die Küche mit einem Konzertsaal verwechselte – auch umgekehrt ergibt der Vergleich einen Sinn. Er sang seine Stasi-Ballade:

Menschlich fühl ich mich verbunden

Mit den armen Stasi-Hunden

Die bei Schnee und Regengüssen

Mühsam auf mich achten müssen

Die ein Mikrophon einbauten

Um zu hören all die lauten

Lieder, Witze, leisen Flüche

Auf dem Klo und in der Küche

Brüder von der Sicherheit

ihr allein kennt all mein Leid.

Er war gerade beim Refrain angekommen »Die Stasi ist mein Eckermann«, als es klingelte. Vor der Tür stand ein Mann mittleren Alters, der wie ein Frührentner aussah und auch ohne Parteiabzeichen als SED-Funktionär zu erkennen war. Nur die verrutschte Krawatte und seine Alkoholfahne passten nicht ins Bild.

»Hallo Wolf«, sagte der ungebetene Besucher, »ick komme jerade von der Einweihung der Tamara-Bunke-Oberschule janz in der Nähe von dir und möchte wissen, wer diese Tamara Bunke und dieser – wie heißt er doch gleich – dieser Che Guevara, von dem neuerdings so viel jeredet wird, wer det eigentlich war. Ick hab den kubanischen Botschafter jefragt, aber der weiß och nischt Jenauet und sagte nur, det is allet history. So hat der sich ausgedrückt: ›Det is allet history.‹ Und da dachte ich mir, am besten jehste direkt inne Chausseestraße und fragst den Wolf Biermann, der kennt sich in sone Sachen aus!«

Wir waren sprachlos, denn Biermann lebte seit über zehn Jahren in einem unerklärten Krieg mit der alleinseligmachenden Partei, deren Funktionäre sich selten in seine Wohnung verirrten. Sie zogen es vor, ihn aus sicherer Entfernung mit Dreck zu bewerfen und von Zeit zu Zeit zum Verhör einzubestellen: »Die Arbeiterfaust zeigen« oder »andere Saiten aufziehen« hieß das im SED-Jargon. Handelte es sich um einen dreisten Ausspähungsversuch, um eine gezielte Provokation oder um den Alleingang eines Funktionärs, der bei der Einweihung der Tamara-Bunke-Schule zu viel Cuba Libre getrunken hatte? Oder – dafür sprach einiges – war es eine Kombination all dieser Motive? Noch dazu schien der Mann keine niedrige Charge zu sein: Er stellte sich als stellvertretender Bezirksbürgermeister vor, ließ sich schwer atmend am Küchentisch nieder und verlangte Bier – nach Tee stand ihm nicht der Sinn. Auf die Frage, woher er Wolf Biermann kenne, nuschelte er etwas vom Pfingsttreffen der FDJ Mitte der fünziger Jahre, als die Welt noch in Ordnung war. Damals hätten die Schriftsteller noch keine Sperenzien gemacht.

»Wenn du es wirklich wissen willst«, sagte Wolf Biermann, »erkläre ich dir, was es mit Che Guevara auf sich hat.« Er brachte seine Gitarre in Stellung und stimmte das Che-Guevara-Lied an, genauer gesagt: die von ihm verfertigte Übersetzung von Carlos Pueblas Chanson: »Aqui se queda la clara / la entrañable transparencia / de tu querida presencia / comandante Che Guevara.« Zu Deutsch:

Uns bleibt, was gut war und klar war:

Dass man bei dir immer durchsah

Und Liebe, Hass, doch nie Furcht sah,

Kommandante Che Guevara

Und bist kein Bonze geworden

Kein hohes Tier, das nach Geld schielt

Und vom Schreibtisch aus den Held spielt

In feiner Kluft mit alten Orden

Uns bleibt, was gut war und klar war …

»Siehst du«, sagte Biermann lächelnd, »Guevara war kein Sesselfurzer wie du, sondern ein Revolutionär!« Doch der ungebetene Gast ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. »Det sachst du, Wolf, aber det sehen wir anders«, murmelte er und nippte angewidert am Tee, den Biermanns Mutter ihm einschenkte. An diesem Punkt mischte ich mich ins Gespräch und erklärte dem SED-Mann, Fidel Castro und Ernesto Che Guevara seien keine Kommunisten, sondern radikale Demokraten gewesen, die gegen das von den USA ausgehaltene Batista-Regime kämpften; Kubas KP habe den bewaffneten Aufstand nur halbherzig unterstützt. Diese nicht ganz schlüssige Argumentation entsprach meiner damaligen »undogmatischen« Position und wurde von vielen nicht moskauhörigen Linken geteilt. Der Funktionär gab sich einen Ruck und sah mich scharf an. Mein T-Shirt mit dem Aufdruck einer amerikanischen Universität hatte ihn misstrauisch gemacht, und er wollte wissen, ob ich aus Westberlin oder der BRD komme. »Aus Friedenau, wenn Sie es genau wissen wollen, aber zwischen der Bundesrepublik und Westberlin gibt es keinen großen Unterschied!«

»Det sagen Sie, aber det sehen wir anders«, brummte er, ohne seine Aussage zu begründen. Das war auch nicht nötig, denn die Partei, der er angehörte, hatte die Macht, genauer gesagt: die Definitionsmacht über die Sprache, und sie entschied ganz allein, welche Bedeutung Begriffen wie Demokratie und Diktatur, DDR und BRD, Kuba oder Westberlin zukam, und welche nicht. Vielleicht ist das der Grund, warum mir der ständig wiederholte Satz in Erinnerung geblieben ist, mit dem der SED-Mann, ohne sich auf eine Diskussion einzulassen, das Gespräch bestritt, bevor er sich, vom Teetrinken ernüchtert, wieder verzog: »Das sagen Sie, aber das sehen wir anders!«

Die Nachricht von Wolf Biermanns Ausbürgerung am 16. November 1976 erreichte mich in Norwegen, der letzten Station einer Lese- und Vortragsreise durch Skandinavien im Auftrag des Goethe-Instituts. Dort lief mir auf Flughäfen und in Bahnhöfen stets aufs Neue der französische Schriftsteller Claude Simon über den Weg, der vor Kaffeekränzchen seine später mit dem Nobelpreis prämierte Prosa las, während ich Tanzsäle und Turnhallen mit meinen Darbietungen füllte: eine Frage der Sprachbarriere, nicht der literarischen Qualität. Jedes Mal, wenn eine Blondine im Pelzmantel am Steuer eines Mercedes vorfuhr, stieß mich Claude Simon mit dem Ellbogen in die Seite und sagte: »Die ist für dich – mich holt niemand hier ab!«

Ich weiß nicht, ob der lange Arm der DDR-Staatssicherheit bis nach Oslo reichte, aber nicht nur das norwegische Publikum, dem man es hätte nachsehen können, auch die Mitarbeiter des Goethe-Instituts schienen über die Ausbürgerung Biermanns nicht allzu empört zu sein, und ihr Protest gegen Erich Honeckers absolutistische Willkür klang äußerst gedämpft. Nur Claude Simon schlug andere Töne an: »Diesen Leuten ist alles zuzutrauen«, sagte der große Romancier, der im Spanischen Bürgerkrieg und im Zweiten Weltkrieg gekämpft hatte, dies aber, anders als Jean-Paul Sartre, der sich damals drückte, nie an die große Glocke hing. Als Sartre ihn mit dem Totschlagargument kritisierte, ein verhungertes Kind in Biafra wiege schwerer als ein Roman von Claude Simon, konterte er mit dem Satz: »Seit wann werden Babyleichen und Bücher auf der gleichen Waage gewogen?«

»Denen ist alles zuzutrauen«, sagte der Maestro des nouveau roman und sah mich mit seinen an Picasso erinnernden, übergroßen Augen an: »Denen ist alles zuzutrauen, sie schrecken vor nichts zurück!« Und er trug mir Grüße an Wolf Biermann auf, die ich hiermit ausrichte.

 

Literatur ist eine Frage des Charakters

Brief an Peter Schneider

Lieber Peter!

Bewusst begegnet bin ich Dir zum ersten Mal im Sommer 1964 im Literarischen Colloquium, das gerade erst ein neues Domizil am Wannsee bezogen hatte. Wir saßen in Liegestühlen auf der zum Seeufer abfallenden Wiese, und Du machtest scharfsinnige Bemerkungen zu zwei kurz zuvor erschienenen Texten von mir und trafst jedes Mal den Nagel auf den Kopf. In einer Rezension über Robert Walsers Erstlingsroman Jakob von Gunten hatte ich geschrieben, für eine gelungene Formulierung von Robert Walser gäbe ich ganze Bibliotheken der Gegenwartsliteratur her, und Du erklärtest diese Behauptung für überspannt und unsinnig, unabhängig von der Qualität des in Frage stehenden Buchs. Gleichzeitig lobtest Du eine in einer österreichischen Zeitschrift erschienene Kurzgeschichte von mir, die von Zwillingsbrüdern handelte, deren einer, angespornt und gleichzeitig gestört von seinem Bruder, Selbstmord zu begehen versucht – dass Du Dich für Zwillingsforschung interessierst, wusste ich damals noch nicht.

Was mich beeindruckte und darüber hinaus neugierig machte, war die Sicherheit Deines literarischen Urteils, das nichts Apodiktisches an sich hatte, im Gegenteil: Es bereitete Dir sichtliches Vergnügen, die Denkschritte darzulegen, die Dich zu bestimmten Schlussfolgerungen führten. Schreiben war für Dich eine sportliche Betätigung wie Pingpong, Skilaufen oder Tennis – psychische und physische Gymnastik zugleich. Daran hat sich bis heute nichts geändert: Anders als viele Deiner Generationsgenossen hast Du Deine körperliche und geistige Frische bewahrt, und die Lust, die Du beim Formulieren Deiner Gedanken empfindest, teilt sich den Lesern Deiner Romane, Erzählungen und Essays mit. Dabei war und ist lautes Denken in der deutschsprachigen Literatur eher die Ausnahme als die Regel – Lessing und Schiller werden in diesem Zusammenhang gern genannt – und muss weder Verzicht auf Sinnlichkeit bedeuten noch Hang zu philosophischer Abstraktion.

Wenn ich Dein Denkvermögen lobe, so meine ich damit eher logischen Scharfsinn als dialektisches L’art pour l’art, weshalb die 1968er Linke wenig Freude an Dir hatte, denn statt unwiderruflicher Dogmen predigtest Du den radikalen Zweifel an liebgewordenen Überzeugungen, auch wenn diese beglaubigt waren durch damals nicht hinterfragbare Autoritäten wie Mao oder Marx. Dein radikalster Text, die auf den Langen Marsch bezugnehmende Rede an die deutschen Leser und ihre Schriftsteller, trieb Dich nicht in die Arme der damals wie Pilze aus dem Boden schießenden maoistischen Sekten, sondern hat Dich gegen deren Anspruch, die revolutionäre Avantgarde zu sein, auf Dauer immun gemacht. Und Deine zum Kultbuch avancierte Novelle Lenz stellte ebenso einen Abgesang auf die Studentenbewegung dar, deren Verfallssymptome sie thematisierte, wie eine Rechtfertigung des ursprünglichen Impulses der Revolte, den Du gegen dogmatische Besserwisser verteidigt hast, weil Dir die Infragestellung von Autoritäten gerade im deutschen Kontext wichtig war. Der Text der Novelle ist häufig mit Büchners Lenz verglichen worden, mit dem er, bei Licht betrachtet, nur wenig gemein hat; ein Vergleich mit den Leiden des jungen Werther wäre aufschlussreicher, sowohl was Dein Italienbild wie auch was die Utopie des erotischen Begehrens betrifft, das den Rahmen der politisch-sozialen Revolte sprengt: »Wie froh bin ich, dass ich weg bin!« Der oft überlesene Eingangssatz von Goethes Werther hätte Deinem Lenz als Motto voranstehen können.

Hättest Du rechtzeitig Copyrightschutz beantragt, lieber Peter, wärst Du heute mehrfacher Millionär, denn der nach 1989 inflationär gebrauchte Slogan von der »Mauer im Kopf« tauchte zum ersten Mal in Deiner Erzählung Mauerspringer auf. Das 1984 erschienene Buch hatte prophetischen Charakter: Noch vor Martin Walser, dessen patriotische Denkanstöße eher Gefühlsaufwallungen waren, warst Du der Erste, der den Abriss der Mauer forderte, nicht mit nationalistischem Schaum vorm Mund, sondern mit logisch stringenten Argumenten. Berlin vor und nach dem Mauerfall – dieses Dir wohlvertraute Terrain hast Du in den Romanen Paarungen und Eduards Heimkehr erneut abgeschritten. Zusammen mit Deinen zeitgleich entstandenen Essays stellte die Berlin-Trilogie einen Höhepunkt Deines Schaffens dar und löste die Forderung der Feuilletons nach dem großen Roman zur deutschen Wiedervereinigung glaubhaft ein: als Chronik der Hoffnungen und Enttäuschungen, Irrtümer und Illusionen der Wendezeit.

Hier ist nicht der Ort, Dein Gesamtwerk vorzustellen, dessen Facettenreichtum sich der einengenden Festlegung auf Literatur oder Politik entzieht: von Deinem Drama über die Eroberung Mexikos bis zu lakonisch verknappten Kurzgeschichten, in denen Du private Abgründe ausgelotet hast; und vom mit Charlton Heston in der Titelrolle verfilmten Mengele-Buch Vati bis zum Bericht über den jüdischen Musiker Konrad Lattek, der in Berlin versteckt die NS-Zeit überlebte. Ich weiß noch, wie der »Held« dieser Geschichte im Publikum der Berliner Festspiele saß, während wir mit Gerhard Schröder über Dein Buch diskutierten oder vielmehr nicht diskutierten, weil der Bundeskanzler den Text gar nicht oder nur oberflächlich gelesen hatte.

Zum Schluss noch ein Wort in eigener Sache. Vermutlich bist Du es leid, lieber Peter, von einer Art jüngerem Bruder verfolgt zu werden, den Redakteure und Kritiker gelegentlich mit Dir verwechseln, denn mit Deinen vielen Geschwistern bist Du schon gesegnet und gestraft genug. Ich weiß nicht, ob Du die Rolle selbst angestrebt hast oder ob sie Dir von der Umwelt zudiktiert wurde: Aber für Autoren meiner Generation warst Du der Vordenker der Studentenrevolte, der eloquenter als andere deren Anliegen vertrat, und hast »avant la lettre« den kulturrevolutionären Aufbruch von 1968 legitimiert. Auch wenn Dir manches, was Du damals geäußert hast, im Nachhinein fragwürdig erscheint, brauchst Du nichts zu bereuen oder zu widerrufen, weil Du weder mit Terroristen sympathisiertest noch stalinistischen Parteien auf den Leim gingst. In der hysterisierten Atmosphäre des »deutschen« Herbsts 1977 gehörte Mut dazu, der Verschwörungstheorie zu widersprechen, wonach »der Staat« Ulrike Meinhof, Andreas Baader und Gudrun Ensslin ermordet habe. In diesem Sinne war und ist auf Deine Stellungnahmen Verlass, weil sie auf Qualitäten beruhen, die Seltenheitswert haben im öffentlichen Diskurs der BRD: Spontaneität, Neugier und Unerschrockenheit – ein Denkansatz, der auch dann nicht veraltet, wenn die daraus abgeleiteten Schlussfolgerungen revisionsbedürftig sind.

PS

Beim Wiederlesen dieser Zeilen fällt mir auf, wie verzweifelt unpersönlich sie klingen. Weder ist von der Lähmung die Rede, die das rhythmische Klappern Deiner Schreibmaschine im Nebenzimmer hervorrief, während Du in unserer Moabiter Gemeinschaftswohnung den Text Wir haben Fehler gemacht tipptest, eine Agitationsrede, deren Grundstruktur: »Wir dachten, die Dinge seien soundso, doch in Wahrheit waren sie ganz anders« in vielen Deiner Essays wiederkehrt. Auch von der gemeinsamen Chinareise oder von unseren Eskapaden in Hongkong und Bangkok ist hier nicht die Rede, ganz zu schweigen von unseren Abenteuern in Venedig, Madrid und Montreal, wo ich an Deiner Stelle interviewt wurde. Das lag nicht allein daran, dass ich schlecht höre: Als drittes von vier Geschwistern habe ich mich an meinem älteren Bruder orientiert, der für mich die Stelle des Vaters vertrat, und ohne diesen Fixpunkt kommt die Gesellschaft mir vaterlos vor. Damit ist weder der große Bruder aus Orwells Roman 1984 gemeint noch der Präsidentendarsteller im Weißen Haus, sondern jemand, dessen »auffälligste Eigenschaft ist / im Plural zu leben und zu denken«, wie Du nach dem Attentat auf Rudi Dutschke schriebst: »Beim Croquet sagt er zum Beispiel / Schnauze halten, wenn er am Schlag ist / und einer, um ihn durcheinanderzubringen / dazwischenredet. Er muss das sagen / weil er sich tatsächlich stören lässt / Er ist unglücklich, wenn er einen Namen / auch einen beiläufigen, vergessen hat / Da er großes Vertrauen zu den Menschen hat / hat er Selbstvertrauen, auch umgekehrt.« Damit, lieber Peter, hast Du nicht nur Rudi Dutschke, sondern auch Dich selbst charakterisiert. Mach weiter so, denn Literatur ist nicht nur eine Frage des Talents, sondern auch des Charakters! In alter Freundschaft – Dein H. C.