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Auf anderen Straßen

Wolfgang Weniger

AUF
ANDEREN
STRASSEN

Eine Erzählung

Wolfgang Weniger

Wolfgang Weniger wurde in Hannover geboren. Er studierte in den siebziger Jahren in Hamburg Politik und arbeitete danach freiberuflich. Seit 1980 lebt er in Hildesheim. Seine Erzählung, Flüchtige Besucher, wurde 2016 veröffentlicht.

Es gibt Straßen, die sind uns fremd und sie sind anders. Dennoch gehen wir dorthin.
Es ist die Neugier, und diese Neugier ist stärker als unsere Vorsicht.

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Wolfgang Weniger, Hamburg 1976

»Ciao, mach’s gut«, sagten sie und nachdem sie gegangen waren, öffnete ich die Fenster, ließ die kühle Nachtluft ins Zimmer und wartete, bis ich sie sehen konnte. Sie standen auf der Straße, winkten und riefen hoch, aber ich antwortete nicht, weil jeder Laut in der Nacht nach allen Seiten hallte.

Sie hatten sich bei mir breit gemacht und hatten mich gestört, aber als sie schließlich fort waren, vermisste ich ihr Lachen und ihre ausgelassenen Stimmen.

Jetzt war es wieder ruhig, befremdend ruhig.

Ich dachte an Christina, daran, dass sie nicht gekommen war.

Der Besuch von Freunden hat meistens den unvermeidbaren Nachteil zurückgelassener Arbeit. Ich sammelte benutzte Teller, leere Gläser und gefüllte Aschenbecher ein und stellte alles in der Küche ab, dann ging ich zurück, schloss die Fenster und hörte aus dem Radio die leichten und leisen Lieder für die späte Nacht und dachte an den heutigen Abend und an Dinge, wie sie hätten sein können.

Ich setzte mich in den weichen Ledersessel neben dem Schreibtisch und drehte die Tischlampe zu mir her, hob die Zeitung vom Boden auf und begann mit dem mittleren Teil.

Dort standen sie, die weniger wichtigen Ereignisse, die kleineren und dennoch ungewöhnlichen Vorfälle, und die menschlichen Auffälligkeiten vom gestrigen Tag.

Wirkliches Leben spielt sich immer woanders ab. Und ohne mich, dachte ich.

Die Klänge aus dem Radio wurden leiser und vergingen, und als sie ein anderes Lied spielten, wurde ich müde.

Ich las fünf Zeilen des Artikels mehrmals, begriff kein Wort und ließ die Zeitung neben den Sessel fallen.

Ich machte das Licht aus, lehnte mich zurück und fühlte das kalte Leder im Rücken. Der Mond kam langsam hinter den Wolken hervor, schien ins Zimmer und sein Licht glitt weiß über den Fußboden und ich überlegte, wie ich den hellen Schein des Mondes malen würde, wenn ich malen könnte.

Es wurde kühl im Zimmer und ich holte mir im Dunkeln eine Wolldecke, legte sie in den Ledersessel, zog an beiden seitlichen Enden und deckte mich zu.

Christina war nicht gekommen.

Ich war wieder da, ein kurzer Gedanke an Christina hatte gereicht. Ich stand auf, ging zum Fenster und zündete mir eine Zigarette an. Auf der Straße war es still um diese Zeit.

Ein leichter Wind nahm meinen Zigarettenrauch mit nach draußen in die Nachtluft und ich hörte, wie die dunkelgrünen Blätter der hochgewachsenen Bäume leise rauschten.

Das Telefon klingelte. Charly war dran.

»Du hast Nerven. Was is’n?«

»Du musst mir helfen.«

»Vielleicht sogar sofort?«

»Wenn’s geht. Lilli ist nicht hier und der neue Keeper gibt mir keinen Kredit. Er will mich drankriegen, wegen lumpiger hundert Mark.«

»Hundert lumpige Mark? In Einsamkeit wirst du die wohl kaum vertrunken haben.«

»Nein, hab’ ich auch nicht, verdammt, dieses Weib ist weg und nun sitze ich hier wegen angeblicher Zechprellerei.«

»Also gut, es ist das letzte Mal, ich fahre gleich los.«

Ich legte den Hörer auf. Sein Verhalten würde er in der nächsten halben Stunde begründen. Meistens musste dafür professionelle Neugier herhalten.

Charly war Pauschalist bei einer Tageszeitung mit kleiner Auflage und schrieb über nebensächlichen Kleinkram, den niemand sonderlich interessierte. Es gab daher Tage vollkommenen Überdrusses, Tage, an denen er seine früheren Erwartungen durch lang andauernde Barbesuche zu vergessen versuchte.

Als ich nach einer knappen Stunde Lillis Bar betrat, saß er am äußersten Ende der Theke und hatte seinen Kopf mit beiden Händen abgestützt.

Er war erleichtert, als er mich sah.

»Alter Freund.«

»Komm mir nicht damit«, sagte ich und winkte dem Barkeeper.

»Vergessen Sie mal den albernen Vorwurf der Zechprellerei, die Rechnung für den Herrn.«

»Nicht so schnell, einen könnten wir noch nehmen.« Charly war wieder obenauf.

»Na klar, einen können wir noch nehmen, wenn ich schon mal hier bin«, sagte ich und sah an Charly vorbei. Außer Charly und mir saßen noch drei Männer am anderen Ende der Theke. Sie waren angetrunken, puschten sich hoch mit gegenseitigen Beleidigungen und befanden sich in einem Zustand, in dem zum ersten Schwinger nur noch ein letztes falsches Wort fehlte.

»Klapsköppe«, sagte Charly, als er meinen Blick bemerkte und sogleich wusste, was ich dachte.

»Klapsköppe und kaputte Tucken.«

»Tucken? Du meinst die zwei aufgedonnerten Weiber dort drüben am hinteren Tisch, die alles im Blick haben und sich über die unbeholfenen Absichten der Männer lustig machen?«

»Genau die.«

Charly war hager und roch nach Nikotin und Sprit. Zu seiner weiten Leinenhose trug er ein nicht mehr ganz sauberes, hellblaues Hemd und ein anthrazitfarbenes Jackett. Er war unrasiert und sein dunkles, nach hinten gekämmtes Haar wirkte fettig.

Sein Aussehen war ihm meistens egal, bis ihm irgendwann einfiel, sich gründlich zu waschen und zu rasieren und sich ein frisches Hemd anzuziehen. Dieser Aufwand hatte nichts mit neuen Frauenbekanntschaften zu tun. Es war ihm einfach ein Bedürfnis und nicht weiter zu erklären, denn selbst wenn er mit Frauen verabredet war, wechselte er für gewöhnlich nicht mal seine Unterwäsche. Ich wusste das von Susi.

Damals war Charly ein anderer. Er arbeitete für eine größere Zeitung, bis irgendetwas passierte und sie ihn rausschmissen.

»Die Frau des Chefredakteurs?«, hatte ich gefragt.

»Nein, seine siebzehnjährige Tochter, du Idiot.«

Über den wahren Grund sprach er nie, auch wenn er mehr als seinen Pegel hatte.

Obwohl Charly einiges trinken konnte, litt sein Verstand nicht darunter. Er begriff schnell, und eigentlich war er mit seinen Begabungen bei der kleinen Tageszeitung an der falschen Stelle.

Er formulierte stilsicher. Seine Artikel, die er in kürzester Zeit in seine Maschine hämmerte, mussten nicht einmal redigiert werden.

Seine Frau beeindruckte das weniger, sie machte sich eines Tages einfach davon.

»Mit dir komme ich wohl kaum durch den Winter.« Nach seinem Rauswurf hatte sie offensichtlich genug von ihm und packte ihre Koffer. Charly soll kein Wort gesagt und ihr stattdessen zuvorkommend die Tür geöffnet haben. Seine Niedergeschlagenheit hielt sich somit in Grenzen. Die Schwächen seiner Frau waren für ihn einfach zu groß.

Ihm missfiel es selbst, wenn er in der täglichen Auseinandersetzung mit ihr stets die Nerven verlor, weil sie ihn jedes Mal ohne ein plausibles Argument stehen ließ und mit erhobenen Armen aus dem Zimmer lief.

»Was macht denn deine Frau so?«, fragte ich.

»Das weiß ich nicht und diesen Zustand der Ahnungslosigkeit werde ich beibehalten. Diese Frau hat mich noch weniger geliebt als ich sie, da hilft auch der zeitliche Abstand nicht, und verstanden habe ich sie weiß Gott auch nie so richtig.«

»Du verstehst sowieso nichts von Frauen«, sagte ich.

»Meinst du? Da könnte was dran sein, ich habe nur niedere Instinkte.«

»Charly, du bist jetzt weit über vierzig, wenn das man noch klappt bei deiner Trinkerei.«

»Grade dann, meine niederen Instinkte sind stärker als der Suff.«

»Dann pass mal schön auf, so mancher Mann deines Alters bleibt nach solchen Anstrengungen für immer liegen.«

»Na und, lieber kurz und intensiv als lang und dahindämmernd.«

»Soso. Wir bewegen uns gedanklich allmählich in die Nähe von Stammtischen.«

»Und wenn schon, manche Stammtische bieten Furz und Feuerstein.«

»Charly, je später die Nacht, desto schwieriger wird es mit dir. Du musst in die Heia.«

»Trallala, die Nacht ist nicht allein zum Schlafen da.«

»Wünschen die Herren noch etwas?« Der Barkeeper sah auf seine Uhr.

»Hören Sie mal«, sagte Charly, »Sie brauchen gar nicht so demonstrativ auf Ihre Uhr zu gucken, wir haben hier genug Geld gelassen, jetzt werden Sie mal nicht komisch.«

»Ich habe Familie.«

»Daran hätten Sie vorher denken können.«

»Charly, hör auf.«

»Aufhören? Er wollte mir keinen Kredit geben.«

»Hör zu, ich fahr dich jetzt in die Hallerstraße.«

»Wer wohnt da?«

»Komm, mach schon, ist spät genug.«

Ich winkte dem Barkeeper, bezahlte die Rechnung und gab ein großzügiges Trinkgeld. Wir verließen die Bar und gingen durch die menschleere Straße zum Auto. Dann fuhr ich Charly nach Hause.

***

Das Telefon klingelte und weckte mich. Ich stand widerwillig auf, ging und lief dann zum Telefon, aber als ich abnahm, war niemand mehr dran.

Die Sonne schien hell ins Zimmer und als ich die Fenster öffnete, wehte ein angenehm lauer Wind herein. Ich ging rüber in die Küche und kochte mir einen starken Kaffee, nahm zwei trockene Croissants aus der Tüte und tauchte beide nacheinander in den Kaffee.

Der Kaffee duftete, schmeckte aber bitter und dann bildete ich mir ein, nach Kneipe zu riechen, nach Qualm und abgestandenem Bier. Ich schob die Tasse mit dem kalt gewordenen Kaffee beiseite und ging unter die Dusche, seifte mich gründlich ein, ließ mir das Wasser über Kopf und Körper laufen und stellte mir vor, in einem warmen Sommerregen zu stehen.

Nach dem Duschen fühlte ich mich sauber und frisch. Da war nur mein Gewissen. Ich hatte ständig ein schlechtes Gewissen und kam nicht heraus aus der sich wiederholenden Suche nach dem eigenen, richtigen Verhalten.

Dabei hatte ich keinen Grund, mir mein Leben mit täglichen Gegebenheiten zu erschweren. Durch einen glücklichen Umstand war ich an Geld gekommen, an eine größere Summe, die mir mein Leben in mancher Hinsicht erleichterte. Mit einer Leistung von mir aber hatte das alles nichts zu tun, ich hatte an einem besonderen Tag nur das richtige Gespür und unverschämtes Glück.

Die Tatsache, dass ich Geld besaß, machte mich nicht glücklich, aber es beruhigte mich, und ich wollte etwas tun, etwas Sinnvolles tun, um nicht ziellos zu werden.

»Um über Arbeiten nachzudenken, die getan werden müssen, die aber eigentlich unnütz sind und die man dann auch liegen lässt, bedarf es keines Hirns. Nur mit einer Zweckmäßigkeit lässt es sich einigermaßen leben«, hatte Leonhard gesagt.

Leonhard war mein Freund, und er war Geschäftsmann. Sein kleiner Verlag in der Sierichstraße bedeutete ihm fast alles. Von dort leitete er die wichtigsten Entscheidungen für sein Leben ab.

»Du bist mein Freund und leider ein finanzielles Risiko für mich«, sagte Leonhard, als wir uns vor ein paar Tagen gesehen hatten. »Dein einzigartiges Buch ist im Kamin nützlicher als am Kamin.«

Leonhard war aufrichtig und ich vertraute ihm.

In den zwanzig Jahren, die wir uns nun kannten, hatten wir uns zeitweise aus den Augen verloren, aber jedes Mal, wenn wir uns wiedersahen, waren wir uns nicht fremd geworden. »Du kommst auch nur, wenn du was von mir willst«, hätte Leonhard nie gesagt, und es hätte auch nicht gestimmt. Es waren einfach nur die Umstände, die uns ein unterschiedliches Leben führen ließen.

Leonhard lebte allein, ohne einsam zu sein. Allerdings gab er zu, dass Frauenbesuche ihn weniger beeindruckten als seine Bücher.

Das war nicht immer so.

Er hatte damals erfahren müssen, was Schmerz ist, und wie dieser Schmerz innerhalb einiger Augenblicke das eigene Leben zu verändern vermag.

Seine Frau war während einer Operation gestorben. Eigentlich hatte diese Operation aus einem unkomplizierten Eingriff ohne Risiken bestanden, bis irgendjemand aus unerklärlichem Grund die Sauerstoffzufuhr falsch angeschlossen hatte.

Leonhard soll wie von Sinnen gewesen sein. Er brach zusammen, flüchtete aus der Klinik und blieb für mehrere Tage unauffindbar. Als wir ihn wiedersahen, war er kaum wiederzuerkennen, und es war nicht nur seine Magerkeit, die uns erschreckte. Sein tägliches Leben hatte sich auf eine selbstzerstörerische Sinnlosigkeit reduziert. Er war derart verzweifelt, dass er sich jeden Tag erneut zum Weiterleben überwinden musste, und weil wir seinen labilen Zustand kannten und ihn vor sich selbst nicht schützen konnten, befürchteten wir das Schlimmste, eine endgültige Handlung, still und unauffällig, wie es seine Art war.

Wir waren ungemein erleichtert gewesen, als sich Leonhard nach und nach erholte. Sein Äußeres hatte sich kaum verändert, aber innerlich war er mit dem, was geschehen war, ein anderer geworden.

Das Telefon klingelte.

»Ich bin’s, Christina.«

»Schön.«

»Es war mir gestern nicht möglich, es ging nicht.«

»Ist in Ordnung«, sagte ich und legte auf.

Christina war nicht gekommen und ich hatte getan, als wäre es mir gleichgültig. Mit den anderen hatte ich getrunken und geredet und versucht, die Gedanken an Christina zu verdrängen, aber als mir klar wurde, dass sie nicht kommen würde, empfand ich Enttäuschung und war nicht mehr so richtig bei der Sache.

Ich hatte aufgelegt, weil das am einfachsten war, denn keine Worte sind besser als verfehlte Worte, aber nicht an Christina zu denken, das fiel mir schwer. Ich sah sie vor mir, ihre Figur, schlank und weiblich, ihre wohlgeformten Beine, sah ihr schulterlanges, blondes Haar und ich dachte an ihre blauen Augen, die mich so oft schon sentimental gemacht hatten.

Christinas Wesen war mir vertraut, zumindest an den Tagen, an denen keine falsch zu verstehenden Worte zwischen uns fielen, und dennoch gab es etwas in ihrem Wesen, das mir fremd blieb.

Ich fuhr zur Bank und ließ mir einen größeren Betrag auszahlen. Mein restliches Geld hatte ich Charly gegeben und Charly war meistens klamm. Das geliehene Geld würde er mir zurückgeben, irgendwann, wenn er wieder bei Kasse war. Als ich das Geld eingesteckt hatte, fuhr ich in Richtung Innenstadt und fand in einer der Straßen hinter dem Hauptbahnhof eine Stelle, an der ich halten konnte. Es hatte zu regnen begonnen, schwere Wolken verdeckten die Sonne und trübten das Tageslicht ein.

Im Regen ging ich über die Straße zu dem Haus, in dem Klio ihre Wohnung hatte, stieg im schlecht beleuchteten Flur die drei Treppen hoch und griff nach dem Schlüssel in meiner Jackentasche, überlegte kurz und klopfte an die Tür.

Ich hörte Schritte und Klio öffnete mir in ihrem leichten, weißen Morgenmantel.

Sie war hübsch, rothaarig, ein wenig frech und raffiniert.

»Heiliger Georg«, sagte ich, »bist du vormittags schon fotogen.«

»Komm rein, setz dich, ich mach uns einen Kaffee.«

Klio ging nach nebenan und ich nahm ihr eng geschnittenes, kurzes Kleid vom Sessel und setzte mich.

Sie hatte die Vorhänge halb zugezogen, aber im Zimmer war es hell. Auf der Glasplatte des Tisches lag feiner Staub. Ich nahm die Zeitung vom Tisch, blätterte und legte sie wieder aus der Hand, weil es die Zeitung von gestern war.

Klio kam zurück und stellte die Kaffeetassen auf den Tisch und ihr weißer Morgenmantel färbte sich rot im aufleuchtenden Neonlicht der Straßenreklame.

Sie setzte sich vor mir verkehrt auf den Stuhl und stützte ihre Mädchenarme auf der Rückenlehne ab.

Ihr leichter, weißer Morgenmantel öffnete sich und ich sah ihre schlanken, nackten Beine.

»Willst du eine Zigarette?«

»Gerne. Ist der Kaffee stark genug?«

»Wenn wir noch nichts gegessen hätten, nur Zigaretten und Kaffee, dann hätten wir jetzt das typische Nuttenfrühstück«, sagte ich. »Dein Kaffee ist gut.«

»Ich habe noch nichts gegessen.«

»Möchtest du etwas essen? Wir könnten nach unten gehen.«

»Nein, das Nuttenfrühstück reicht mir vollkommen.«

»Es regnet«, sagte ich, als ich sah, wie der Regen gegen die Fensterscheiben trommelte und das Zimmer noch dunkler wurde.

»Regen, immer nur Regen und modrige Luft. Ich muss mal raus aus dem Laden.« Klio rekelte sich. »Mal andere Luft, das wäre zu schön.«

»Andere Luft? Möglicherweise in der Heide, wo wir uns vor ein paar Jahren blamierten.«

»Ist doch schon lange her.«

»Trotzdem, ich weiß noch alles, als wäre es erst gestern gewesen. Wir wollten die Leute dort ein bisschen provozieren. Mit deiner neugierigen kleinen Hand gingst du unter dem Tisch auf Suche, dachtest, in der schummrigen Gaststube würde nur der etwas sehen, der es sehen sollte, aber die Wirtin bekam furchtbar böse Augen und sagte, dass wir hier nicht auf St. Pauli wären.«

»Und daraufhin wurdest du beleidigend, sagtest der Wirtin, dass sie durch das lange Landleben große Ähnlichkeit mit einer gealterten Heidschnucke bekommen hätte.«

»Na, gelogen habe ich nicht und deshalb hätten wir auch sofort bezahlen und schnell verschwinden sollen und als wir nicht sofort gehen wollten, holte sie ihren Mann aus der Küche und der baute sich vor uns auf und hielt ein langes Messer in der Hand. Wir standen selbstverständlich betont langsam auf, setzten noch einen drauf, ließen ihn wie in einem schlechten Film nicht aus den Augen und gingen rückwärts zur Tür. Es war einfach kindisch.«

»Ach ja«, sagte Klio, »wenn man älter wird, ändern sich die Sichtweisen.«

»Wir werden vernünftiger?«

»Vielleicht, vielleicht auch nur vorsichtiger.«

»Na also, wenn das man nichts mit Vernunft zu tun hat.«

»Gib mir doch bitte eine Zigarette.«

Für Klio war die Sache damit erledigt.

Nachdenklich blies sie mir ihren Zigarettenrauch ins Gesicht.

»Wir sind tatsächlich älter geworden. Neulich habe ich ein Foto gesucht und als ich es gefunden hatte, wurde mir klar, wie die Zeit vergeht. Langsam manchmal und manchmal schnell und unbemerkt und doch beständig. Der tägliche Blick in den Spiegel bleibt meistens ohne Folgen, aber Fotos, die zeigen einem, wie alt man geworden ist.«

»Aber Klio, das ist doch kein Anlass zur Resignation. Ich habe keine Lust, an diesem verregneten Tag auch noch über das Älterwerden zu reden.«

»Mein Freund, du kennst dich aus mit Frauen.«

»Wie geht es eigentlich Susi Darling?«

»Mittlerweile geht es ihr wieder besser.«

Susi Darling war Klios Freundin, hatte immer noch Schmerzen, war hinfällig und verwünschte den zeitlichen Zufall. Vor zwei Tagen hatte sie einen Kunden mit nach oben auf ihr Zimmer genommen und gleich, als sich die Tür hinter ihnen geschlossen hatte, musste sich wegen dem, was der Mann wollte und dem,

was Susi verlangte, ein heftiger Streit entstanden sein. Der Kerl verpasste Susi einen kräftigen Schlag aufs Jochbein, hatte sie bewusstlos liegen lassen und war geflüchtet.

»Zieh dir mal was über. Wir sagen Susi Darling kurz guten Tag, fragen, wie es ihr geht, und essen dann in der Bahnhofshalle eine Kleinigkeit.«

»Ich mag im Imbiss nichts essen.«

»Und in der Sierichstraße? In dem kleinen Lokal essen einige bekannte Künstler und einige von ihnen reagieren sogar, wenn sie gegessen haben und gegrüßt werden. Wär’ dir das dort angenehmer?«

»Nein, ich bleibe hier, ich bekomme bald Besuch«, sagte Klio und sah zur Uhr.

»Schön, wenn das so ist.«

»Ich ruf dich an«, sagte Klio. »Und demnächst fahren wir auf jeden Fall in die Heide und trinken Wacholder.«

»Auf bald also.«

Ich stand auf, ging zur Tür und winkte noch einmal, bevor ich die Tür hinter mir schloss.

Auf der Treppe kam mir ein Mann im mittleren Alter entgegen. Er hatte eine Stirnglatze, trug ein kariertes, gelbes Jackett und eine bunte Krawatte. Er wirkte angespannt und sah blass aus, guckte mich kurz an und hatte den Blick, den Männer haben, wenn sie zu käuflichen Frauen gehen.

Auf dem Weg zum Bahnhof ließ der Regen nach und die Sonne kam langsam hinter den Wolken hervor. Ich ging durch den hinteren Eingang und mischte mich unter die Leute. Ich war wachsam. Fremde Menschen in der Menge neigen zu eigenartigen Handlungen.

An einem der Imbisse blieb ich stehen und bestellte mir Schaschlik mit Weißbrot und eine Tasse heißen Kaffee, nahm den Pappbecher mit Schaschlik und den Kaffee entgegen und stellte mich abseits an einen freien Tisch.

Wenn die Schnellbahnen fuhren, kreischten die Schienen.

Ein junger Mann in zerrissener Jeans fragte mich nach ein bisschen Geld und ich langte in meine Hosentasche. Ein paar Geldstücke, eine halbe Schachtel mit Zigaretten, für mich bedeutete das keinen Verlust und er war für den Rest des Tages zufrieden.

Als ich gegessen hatte, beobachtete ich geschminkte Schönheiten, die auf hohen Schuhen an mir vorüberstöckelten, und beobachtete die Rolltreppen, auf der schubweise Reisende mit ihren Koffern und ihren Gepäckstücken von den Bahnsteigen hochkamen, und je länger ich zusah, desto bewusster wurde mir eine wahrscheinliche Häufigkeit in der Gleichartigkeit des Aussehens. Wie viele Menschen auf der Welt mochten mit einer Analogie leben, ohne sich darüber Gedanken zu machen oder davon zu wissen?

Jedenfalls dachte ich, André käme in seinem verbeulten, grauen Anzug die Rolltreppe hoch, mit seinem dunkelblonden, kurz geschnittenen Haar, seinem verschlossenen Gesicht und mit dem leicht nach vorne gebeugten Kopf. Er hatte den Hemdkragen weit geöffnet, so dass man seine helle, haarlose Brust sehen konnte. In der Hand hielt er eine große, schwarze Tasche, die ab und zu über den beschmutzten Boden schleifte.

Andrés Abwesenheiten waren in letzter Zeit häufiger geworden. Dabei hatten die Reiseambitionen nichts damit zu tun, seine Heimat besser kennenzulernen, und auch nichts mit einer verheimlichten Sucht, wenn er in fremden Orten kleinere Kneipen betrat, seinen Magen mit Frikadellen und abgestandenem Bier füllen musste und rein zufällig den Spielautomaten einer bestimmten Serie anpeilte.

Dass er das konnte, hatte er seinen Spähern und ihrer sorgfältigen Suche zu verdanken. Die Gastwirte, die André für einen unauffälligen, erfolglosen Vertreter hielten, der seine Zeit über die Runden bringen wollte, wurden erst misstrauisch, als die Glückssträhne nicht aufhörte und er die Spielautomaten vollkommen geleert hatte. Und weil die Gastwirte das helle Geräusch klappernder Geldstücke nicht mochten und André nicht ein weiteres Mal an die Geräte ließen, wurden seine Reisen von Mal zu Mal länger.

Ich sah nochmals hinüber, sah genauer hin, vergewisserte mich, aber es war nicht André, der mir entgegenkam. André trug für gewöhnlich eine Brille, ging meistens schnell und rempelte gern Leute an, die vor ihm zu langsam waren.

Ich trank meinen Kaffee aus und ging zurück in die Straße, in der ich den Wagen abgestellt hatte. Es regnete nicht mehr und die Sonne schien jetzt heiß und ließ die Feuchtigkeit auf dem Asphalt verdampfen.

Ich fuhr in Richtung Landungsbrücken, stellte den Wagen ab und schlenderte zu den Anlegestellen. Von den Barkassen kamen kehlige Ermunterungsrufe und Männer in kurzen Hosen und halblangen Socken stolperten fluchend auf dem Fallreep und ihre Frauen schimpften und benutzten Worte, die sie sonst nur dachten.

Come, Mister tallyman, tally me banana.

Ich wich einem Pulk von Touristen aus und ging zur Seite, achtete darauf, dass niemand dicht hinter mir stand, und sah lange auf das brackige Elbwasser, das in unregelmäßigen Wellen gegen die Wandung des Pontons schwappte. Blicke aufs Wasser beruhigen. Zwei tote Fische schaukelten mit weißem Bauch nach oben vor mir im Wasser, trieben leicht ab und wurden wieder zurückgeschwemmt.

»Du willst dir doch wohl nicht das Leben nehmen?«

Sven Meiers stand dicht hinter mir. Ich zuckte zusammen.

»Nein, will ich nicht. Du musst nicht in mein Ohr brüllen.«

»Wollen wir einen nehmen?«

Er klopfte mir auf die Schulter. Sven war ernsthaft, aber es gab Tage, an denen war er leichtsinnig und davon überzeugt, dass mysteriöse Prophezeiungen zum täglichen Leben gehörten. An solchen Tagen zeigte er uns, wie mächtig absolute Taubheit sein kann.

Bevor ich antwortete, schob er mich von der Kante weg und ich ließ ihn gewähren, wie er beide Arme in meinen Rücken stemmte und mich immer weiterschob.

Sven Meiers war groß und kräftig und meistens gutmütig. Aus Frauen machte er sich wenig, wenn er aber deren Nähe suchte, dann vor allem wegen eines im Kopf entstandenen leidenschaftlichen Verlangens, das sich bis zur körperlichen Wildheit steigerte. Wenn aber die Wildheit vorüber war, dann war es auch mit dem Interesse wieder vorbei.

Seine langen Haare reichten bis zur Schulter und nahmen ihm etwas vom runden Gesicht.

Er gehörte zu denen, die man leicht unterschätzte. Das lag daran, dass er mit seinen Talenten nichts anfing. Ihm war das alltägliche Wohlbefinden wichtig und weniger das Verlangen nach Besitz und persönlichen Vorteilen.

Wenn jemand danach lebte, was er sagte, dann war es Sven Meiers.

»Natürlich nehmen wir einen«, sagte ich und versuchte, etwas Abstand zu halten, denn er hatte die Angewohnheit, einen während des Gehens unüberlegt in die verkehrte Richtung zu schieben und von Leuten zu erzählen, die man nicht kannte.

»Da geht’s lang«, sagte ich, während Sven ausdauernd erklärte und vor lauter Rederei kaum auf den Weg achtete und im Gegensatz zu mir die kleine, etwas verkommene Kneipe übersehen hatte. Sie lag tatsächlich ein bisschen abseits, unbeachtet von Touristen.

Wir öffneten die Tür und Sven Meiers ging voran, bahnte eine schmale Gasse in dem verqualmten, halbdunklen Raum, vorbei an vollen Tischen und rein in ein Stimmengewirr, in dem die Lautstärke größere Bedeutung hatte als das, was gerade gesagt wurde.

Ziemlich weit hinten, an einem Fenster, setzten wir uns an einen soeben frei gewordenen Tisch. Sven Meiers fragte mich nicht. Er rief laut zur Theke hinüber und bestellte, klopfte mir auf die Schulter und lachte dröhnend.

»Wie geht es dir? Haben uns lange nicht gesehen.«

»Das ist es ja«, sagte ich, »wir haben uns lange nicht gesehen und es hat sich nichts geändert. Tag für Tag nur der gleiche Mist.«

»Den täglichen, gleichen Mist machst du selbst«, sagte Sven Meiers.

»Kann sein, und was machst du?«

»Ich? Danke der Nachfrage, ich beschäftige mich mit relativen Dingen, um nicht völlig zu verblöden.«

»Und, verstehst du alles?«

»Sehr weit bin ich noch nicht. Zurzeit bin ich bei der relativen Geschwindigkeit.«

»Was soll das sein?«

»Du befindest dich in einem fahrenden Zug und bewegst dich schnellen Schrittes nach vorn in ein anderes Abteil«, sagte Sven Meiers.

»Und zu was oder wem soll die relative Geschwindigkeit relativ sein?«

»Natürlich relativ zu dem Trottel, der auf dem Bahnsteig steht und den ganzen Unsinn erstaunt beobachtet.«

»Ich seh schon.«

»Mann Gottes.« Sven Meiers griente.

»Da vorn sitzt einer, der sieht aus wie einer, der Ferkel kastriert«, sagte ich und deutete unauffällig mit dem Daumen nach nebenan.

»Ein richtiger Fickelschneider. Brabbelt und riecht nach Ärger.«

Zwei Tische von uns weg saß ein Kahlkopf. Er hatte seine Jacke über die Stuhllehne gehängt und drückte seinen Bauch gegen die Tischkante, genierte sich nicht, wie er so dasaß, in dem blaugrauen, ärmellosen Unterhemd und mit dem Goldkettchen auf der haarigen Brust.

Er stierte vor sich auf den Tisch und als er sich umdrehte, sahen wir seinen breiten, gebogenen Rücken, der bis zum Stiernacken dicht behaart war.

Er schob sein Glas zur Seite, hatte Bierschaum am Kinn und strich mit der Hand über seine grauen Bartstoppeln. Dann kaute er auf den Lippen herum, sah zu uns herüber, zog an der Zigarette und starrte uns an.

Sven Meiers redete, aber ich hörte ihm nicht zu.

»Es gibt gleich Ärger«, sagte ich und gerade, als ich das sagte, fiel ein glimmender Zigarettenstummel mit kleinen Funken über unseren Tisch und verstreute Aschereste. Dann stand er vor uns. Mit schnellen Bewegungen war er vom Stuhl hochgekommen, hatte sich vor uns aufgebaut, helle Wut in den Augen und seiner Sache sicher.

Er wollte sich schlagen.

»Drei Minuten. Ihr habt drei Minuten.«

»Wieso drei Minuten, was ist mit den drei Minuten?«, fragte ich.

»In drei Minuten seid ihr hier weg, oder ich drehe euch das Messer im Balge rum.«

Er roch nach altem Zwiebelschweiß und hatte weißen Schaum in den Mundwinkeln. Sven Meiers blickte flüchtig zur Seite, erhob sich vom Stuhl, reckte sich langsam und wurde immer größer. Sven überragte alle.

Der Kahlkopf biss sich auf die Lippen, drehte sich halb um sich selbst, griff nach seiner Jacke und ging zur Theke, weit weg von uns.

»Hättest du ihm eine reingehauen?«, fragte ich.

»Warum sollte ich. Diesem cholerischen Suffkopp? Lohnt sich nicht. Ich muss mir nichts beweisen.«

»Da kommt unser Bier.«

»Na endlich, wurde aber auch Zeit. Was macht eigentlich Christina?«

»Weiß nicht.«

Ich nahm einen tiefen Schluck aus meinem Glas.

»Läuft wohl nicht so?«

Sven Meiers sah mich von der Seite an.

»Weißt du, es ist ganz schön schwierig mit dir, weil du Dinge für dich beanspruchst, die du anderen nicht zugestehst.«

»Hier spricht Doktor Plemplem aus dem Radio.«

»Mach dich nicht lächerlich«, sagte Sven.

»Ich beanspruche wirklich keine Dinge, die ich anderen nicht zugestehe. Vielleicht sieht’s ja danach aus, aber letztlich sind die meisten unserer Entscheidungen nur die Bestätigung für eine besondere Situation.«

»Wer spricht gleich aus dem Radio?«

»Ich wollte dir das nur erklären. Meinungen entstehen kurzerhand und wenn du nicht gleich dagegen angehst, wirst du sie nicht mehr los.«

»Die Meinungen anderer Leute sind dir wichtig?«

»Manchmal, ja, manchmal schon.«

»Lass sie am besten sausen. Meinungen sind doch nur kurzlebige persönliche Ansichten mit bestimmten Absichten. Irgendwann habe ich mit dem Geraderücken aufgehört«, sagte Sven Meiers. »Unsere Mitmenschen sind zeitweise niederträchtig, aber meistens auch vergesslich mit dem, was sie über dich früher mal gesagt haben.«

»Du hast es ja gut, bist ein Mensch von heiterer Wesensart, der allein schon durch seine Körpergröße überzeugt.«

»Wen soll ich bloß überzeugen wollen? Überzeug mich lieber und bestell mal die nächste Runde.«

»In Ordnung.« Ich winkte dem Mann hinter der Theke und hielt zwei Finger hoch.

»Wolltest du nicht mal promovieren?«

»Ja, früher, als ich noch jünger war und wissen wollte, was mit mir los ist.«

»Und, hast du nachgedacht, ob es sich lohnt, oder konntest du nicht?«

»Ob ich gekonnt hätte, wurde spätestens dann zweitrangig, als ich den genehmigten Arbeitstitel gelesen hatte. War doch alles schon mal da. Ändere geringfügig die Formulierung eines Themas und die Voraussetzungen für eine neue Dissertation sind gegeben.«

Sven Meiers schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. »Verdammt noch mal, ich habe nachgedacht.«

»Sieh dir besser mal den Verrückten an«, sagte ich und zeigte zur Theke.

Jemand hatte sein leeres Glas auf den Boden geworfen und die Glassplitter waren gegen unsere Hosenbeine und in sämtliche Ecken geflogen.

»Warum schmeißt ihn der Wirt nicht raus?«, fragte ich.

»Woher soll ich das wissen.« Sven blieb unbeeindruckt.

»Und ob ich nachgedacht habe. Höhlenforscher wäre ich gern geworden. Das wäre eine Sache gewesen. Stell dir vor, du steigst in unbekannte Welten und siehst in die Vergangenheit. Aber ich war nicht schmächtig genug und hatte zu große Angst vor der Enge.«

»Ja«, sagte ich, »immer die Angst und die Überwindung der Enge und die vorsichtige Erwartung vor dem, was kommen könnte.«

Ich dachte an früher, daran, als meine Freunde und ich noch Kinder waren und wir ein Loch unter einem Felsen im Wald gefunden hatten. Das Loch war nur etwas größer als unsere Köpfe, aber wir mussten da rein, konnten uns nicht drehen, als wir halb drinnen waren, konnten nicht rückwärts und vor uns war es dunkel und wir bildeten uns ein, kaum atmen zu können, aber wir drängelten immer weiter, ängstlich und doch neugierig, bis wir die Enge überwunden hatten und in der Höhle waren. Dort drinnen war es warm, geräumig und trocken und ohne ein wildes Tier und wir erkannten, dass nur die Enge am Anfang der Höhle uns Angst gemacht hatte.

»Und wie geht es jetzt mit dir weiter?«

»Wie es mit mir weitergeht? Na, es wird weitergehen wie bisher und was in drei Jahren sein wird, das weiß ich nicht. Ich sehe nur ein dunkles Nichts, ohne jegliche Vorstellung, ich sehe nichts mehr nach diesen drei Jahren. Vielleicht aber fehlt mir die Vorstellung, weil ich dann tot bin«, sagte Sven Meiers.

»Hör auf jetzt, du siehst zu schwarz«, sagte ich und sah zur Seite und nach oben.

»Tach, Jungs, gebt ihr mir einen aus?«

Sie war schlank, schwarzhaarig, hatte rot geschminkte Lippen, flache Brüste und trug ein enganliegendes, dunkles Kleid. In der linken Hand hielt sie eine brennende Zigarette.

»Na sicher.« Sven Meiers lächelte freundlich. »Aber aus lauter Dankbarkeit brauchst du dich nicht zu uns setzen.«

Sie legte ihre Hand auf Sven Meiers’ Schulter, grinste ganz unbefangen und zog ihren Mund breit. Ihr fehlte ein seitlicher Zahn.

»Jungs, ihr gefallt mir und ich verrate euch was: Der da vorn, an der Theke, der vorhin in eurer Nähe saß, sagt, dass ihr zwei behämmerte Arschlöcher seid und es wäre schade, dass seine zwei Brüder im Knast sitzen würden. Die hätten euch nämlich sofort die Kehle durchgeschnitten, wie dem, der im Streit mit einem Messer auf sie losgegangen war. So viel dazu, wie gefährlich ihr lebt.«

»Wenn sie doch im Knast sitzen«, sagte Sven Meiers.

»Und dann sagte er noch, dass er sich eure Gesichter genau gemerkt hätte. Übrigens, ich heiße Rike.«

»Schön, Rike, bestell dir vorn an der Theke auf unsere Rechnung was zu trinken.«

»Danke Jungs, ihr seid okay.« Rike drückte ihre Zigarette aus und tippelte nach vorn und ich sah ihr hinterher, auf ihre schlanken Beine, die etwas bläulich geädert waren, sah, wie Rike sich zum Wirt beugte und auf uns deutete.

»Du hättest mehr von ihr haben können als ein paar Tipps«, sagte ich.

»Und wenn ich noch ein paar Schnäpse trinken würde, sie würde dadurch nicht schöner werden. Außerdem ist morgen auch noch ein Tag. Bin heute einfach nicht in Stimmung. Wir sollten lieber noch einen trinken.«

Sven Meiers winkte dem Wirt am Zapfhahn und hielt zwei Finger hoch.

»Wieso enden deine Vorstellungen eigentlich nach den drei Jahren? Du ziehst doch höchstwahrscheinlich in keinen Krieg?«

»Es muss kein Krieg sein, das reale Leben bietet auch so seine Möglichkeiten.«

»Du arbeitest auf etwas hin.«

»Unsinn, es ist nur eine Begrenzung meiner Vorstellung, ich sehe nur ein dunkles Nichts und habe kein Mittel, etwas zu ändern.«

»Deine Unbekümmertheit wäre somit nur vordergründig?«

»Stimmt, zumindest manchmal. Wann beginnt für dich eigentlich ein Tag?«

»Wenn ich aufstehe?«

»Ich dachte, du wärst intelligenter.«

»Also gut, der Tag beginnt mit dem Sonnenaufgang und ist der Moment, wenn die Oberkante der Sonnenscheibe den wahren Horizont überschreitet«, sagte ich.

»Was ist der wahre Horizont?«

»Das weiß ich auch nicht.«

Svens Augen starrten lange auf die gescheuerte Holztischplatte. Er dröhnte nicht mehr und sagte kein Wort.

Wir bekamen unsere gut gekühlten Biere mit viel Schaum und Sven Meiers machte eine Kopfbewegung zum Wirt hin. Wassertropfen liefen an den gespülten Gläsern runter und wurden von den Papiermanschetten aufgesogen.

Langsam trank ich mein Glas aus.