Platon: Gorgias

 

 

Platon

Gorgias

 

 

 

Platon: Gorgias

 

Übersetzt von Julius Deuschle

 

Neuausgabe mit einer Biographie des Autors.

Herausgegeben von Karl-Maria Guth, Berlin 2017.

 

Umschlaggestaltung unter Verwendung des Bildes:

Raffael, Die Schule von Athen (Detail)

 

ISBN 978-3-86199-944-7

 

Dieses Buch ist auch in gedruckter Form erhältlich:

ISBN 978-3-86199-567-8 (Broschiert)

ISBN 978-3-86199-568-5 (Gebunden)

 

Die Sammlung Hofenberg erscheint im Verlag der Contumax GmbH & Co. KG, Berlin.

 

Entstanden etwa zwischen 393 und 388 v. Chr. Erstdruck (in lateinischer Übersetzung durch Marsilio Ficino) in: Opera, Florenz o. J. (ca. 1482/84). Erstdruck des griechischen Originals in: Hapanta ta tu Platônos, herausgegeben von M. Musoros, Venedig 1513. Erste deutsche Übersetzung durch J. G. Schultheß unter dem Titel »Gorgias, ein Gespräch von der Redekunst«, Zürich 1775. Der Text folgt der Übersetzung durch Julius Deuschle von 1859.

 

Der Text dieser Ausgabe folgt:

Platon: Sämtliche Werke. Berlin: Lambert Schneider, [1940].

 

Die Paginierung obiger Ausgabe wird in dieser Neuausgabe wortgenau mitgeführt und macht dieses E-Book auch in wissenschaftlichem Zusammenhang zitierfähig. Das Textende der Vorlagenseite wird hier durch die Seitennummer in eckigen Klammern mit grauer Schrift markiert.

 

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind über http://www.dnb.de abrufbar.

Gorgias

Kallikles · Sokrates · Chairephon · Gorgias · Polos

(Das Gespräch beginnt vor dem Hause des Kallikles und setzt sich in demselben fort)

 

Kallikles: So muß man kommen, wie es heißt, lieber Sokrates, wenn Krieg ist und es zur Schlacht geht!

Sokrates: Sind wir wirklich, wie man sagt, nach dem Feste gekommen und zu spät?

Kallikles: Und das nach einem gar feinen Festschmaus. Denn Gorgias hat uns kurz vorher viel schöne Vorträge zum besten gegeben.

Sokrates: Daran, lieber Kallikles, ist unser Chairephon schuld, da er uns auf dem Markte zu verweilen nötigte.

Chairephon: Es tut nichts, lieber Sokrates. Ich will den Schaden auch wieder heilen. Denn Gorgias ist mein Freund und wird sich wieder hören lassen, nach Gefallen gleich, oder, wenn du lieber willst, ein andermal.

Kallikles: Wie, Chairephon? Wünscht Sokrates den Gorgias zu hören?

Chairephon: Gerade in der Absicht sind wir ja hier.

Kallikles: Nun, wenn's gefällig ist, in mein Haus einzutreten – denn bei mir wohnt Gorgias und wird auch euch gewiß einen Vortrag zum besten geben.

Sokrates: Schön, lieber Kallikles. Doch dürfte er auch sich mit uns zu unterreden bereit sein? Denn ich will ihn danach fragen, worin die Bedeutung seiner Kunst besteht und was er eigentlich von sich verspricht und lehrt. Den anderen Vortrag soll er, wie du sagst, ein andermal halten.

Kallikles: Nichts besser als ihn selbst fragen, lieber Sokrates. Denn auch das war eines seiner Probestücke. Er forderte nämliche eben gerade jeden von den drinnen Anwesenden auf, zu fragen, was ihm beliebe, und auf alle Fragen, sagte er, werde er antworten.

Sokrates: Wahrlich schön. Lieber Chairephon, frage ihn doch!

[303] Chairephon: Was soll ich ihn fragen?

Sokrates: Was er ist.

Chairephon: Wie meinst du das?

Sokrates: Wie wenn er etwa ein Meister im Schuhmachen wäre, so würde er dir doch wohl antworten: ein Schuhmacher. Oder verstehst du nicht, wie ich es meine?

Chairephon: Ich verstehe und will ihn fragen.

(Im Hause.) Sage mir doch, lieber Gorgias, hat unser Kallikles hier recht, daß du auf alle Fragen zu antworten versprichst, die man an dich richtet?

Gorgias: Ganz recht, lieber Chairephon. Denn eben erst habe ich gerade dies versprochen, und ich darf sagen, daß mich seit vielen Jahren noch keiner etwas Neues gefragt hat.

Chairephon: Dann, lieber Gorgias, fällt dir wohl gewiß die Antwort recht leicht?

Gorgias: Du darfst einen Versuch machen, lieber Chairephon.

Polos: Das ist wahrhaftig wahr. Vielleicht ziehst du's aber vor, lieber Chairephon, ihn mit mir zu machen. Denn Gorgias dürfte wohl auch schon ermüdet sein. Denn er hat eben vieles durchgesprochen.

Chairephon: Wie denn, Polos? Glaubst du besser zu antworten als Gorgias?

Polos: Tut das etwas zur Sache, wenn es nur genügend ist für dich?

Chairephon: Nein. Nun, da du denn willst, so antworte!

Polos: Frage!

Chairephon: Ich frage also: Wenn Gorgias die Kunst verstünde, die sein Bruder Herodikos treibt, wie würden wir ihn dann mit Recht nennen? Nicht so wie jenen?

Polos: Gewiß.

Chairephon: Wenn wir ihn also einen Arzt nennten, hätten wir ihn recht bezeichnet?

Polos: Ja.

Chairephon: Wenn er aber die Kunst verstünde, welche Aristophon, der Sohn des Aglaophon, oder dessen Bruder treibt, welcher Name gebührte ihm dann?

Polos: Offenbar der eines Malers.

Chairephon: Nun, da er ja auch eine Kunst versteht, – welche[304] ist das? Und welchen Namen dürfen wir ihm mit Recht beilegen?

Polos: Mein Chairephon, es gibt viele Künste in der Welt, die man aus Erfahrung erfahren gefunden hat. Denn Erfahrung bahnt unserem Leben einen Weg gemäß der Kunst; Unerfahrenheit gibt es dem Zufall preis. Unter allen diesen Künsten nehmen die einen an diesen, andere an jenen, die einen so, die anderen anders teil, an den besten aber die Besten. Dazu gehört auch unser Gorgias hier, und er hat an der schönsten der Künste teil.

Sokrates: Polos scheint, lieber Gorgias, vortrefflich aufs Reden eingeübt zu sein. Indes hält er dem Chairephon sein Versprechen nicht.

Gorgias: Wieso denn, lieber Sokrates?

Sokrates: Er antwortet, dünkt mich, gar nicht auf die Frage.

Gorgias: Nun, wenn du willst, frage du ihn doch!

Sokrates: Nicht doch, wenn dir selbst es gefällig ist zu antworten; vielmehr würde ich lieber dich fragen. Denn aus dem, was Polos gesagt hat, ist mir klar, daß er die sogenannte Redekunst mehr geübt hat als die Kunst der Unterredung.

Polos: Wieso denn, Sokrates?

Sokrates: Weil du, mein Polos, auf die Frage Chairephons, welche Kunst Gorgias verstehe, seine Kunst anpreisest, als ob ihn jemand tadeln wollte; was sie aber ist, hast du nicht beantwortet.

Polos: Habe ich denn nicht gesagt, daß sie die schönste sei?

Sokrates: Jawohl. Aber es fragt dich niemand, wie die Kunst des Gorgias sei, sondern was sie sei und wie man den Gorgias nennen müsse. So wie dir also vorher Chairephon Beispiele vorlegte und du ihm eine treffende und kurzgefaßte Antwort gabst, so gib auch jetzt an, welches die Kunst ist und wie wir den Gorgias nennen sollen. Oder lieber gib du uns selber an, mein Gorgias, wie man dich nennen soll und welche Kunst es ist, die du verstehst?

Gorgias: Die Rhetorik, lieber Sokrates.

Sokrates: Also einen Rhetor soll man dich nennen?

Gorgias: Gut so, lieber Sokrates, wenn du mich ja so nennen willst, wie ich zu heißen mich rühme, wie Homeros sagt.

Sokrates: Freilich will ich das.

[305] Gorgias: Nun, schön.

Sokrates: Hast du denn wohl auch die Fähigkeit, andere dazu auszubilden?

Gorgias: Ich verspreche ja das nicht bloß hier, sondern auch an anderen Orten.

Sokrates: Wärst du nun wohl bereit, lieber Gorgias, sowie wir jetzt mit einander reden, fortzufahren, teils fragend, teils antwortend, aber die Art der langen Reden, mit der auch Polos begann, für ein andermal aufzusparen? Aber laß dann auch das Versprechen nicht unerfüllt, sondern sei so gut, in kurzer Rede die Frage zu beantworten!

Gorgias: Einige Antworten, lieber Sokrates, erfordern notwendig lang ausgedehnte Reden. Indes will ich versuchen, möglichst kurz zu sein. Denn auch das ist eines der Stücke, deren ich mich rühme, daß niemand dasselbe in kürzeren Worten sage als ich.

Sokrates: Gerade dessen bedarf es jetzt, lieber Gorgias. So gib mir denn einen Beweis gerade hiervon, von der kurzen Redeweise, ein andermal aber von der langen!

Gorgias: Das will ich tun, und du sollst sagen, daß du keinen in kürzeren Sätzen hast reden hören.

Sokrates: Nun wohlan! Du behauptest ja, die Rhetorik (Redekunst) zu verstehen und auch einen anderen zum Redner machen zu können, – auf was für Dinge bezieht sich die Rhetorik? Wie die Weberei sich auf das Arbeiten der Kleider bezieht, – nicht wahr?

Gorgias: Ja.

Sokrates: Nicht auch die Musik auf das Schaffen von Melodien?

Gorgias: Ja.

Sokrates: Bei der Hera, lieber Gorgias, deine Antworten machen mir Freude, weil du in so kurzen Worten wie nur möglich antwortest.

Gorgias: Ja, das mache ich, denke ich, ganz recht so.

Sokrates: Allerdings. Wohlan denn, antworte mir so auch in bezug auf die Rhetorik, auf was für Gegenstände sich ihr Wissen bezieht?

Gorgias: Auf Reden.

Sokrates: Was für Reden denn, lieber Gorgias? Etwa auf[306] die, deren Inhalt ist, wie die Kranken leben müssen, um wieder gesund zu werden?

Gorgias: Nein.

Sokrates: Also geht die Rhetorik auch nicht auf alle Reden?

Gorgias: Nein.

Sokrates: Aber sie gibt doch die Fähigkeit zu reden?

Gorgias: Ja.

Sokrates: Nicht auch zu denken über das, worüber sie zu reden befähigt?

Gorgias: Natürlich.

Sokrates: Setzt nun auch die Heilkunde, die wir eben gerade erwähnten, in den Stand, über die Kranken zu denken und zu reden?

Gorgias: Notwendig.

Sokrates: Auch die Heilkunde bezieht sich also, wie es scheint, auf Reden?

Gorgias: Ja.

Sokrates: Nämlich auf die über die Krankheiten?

Gorgias: Allerdings.

Sokrates: Bezieht sich nicht auch die Gymnastik auf Reden, nämlich über das Wohl- und Übelbefinden des Leibes?

Gorgias: Jawohl.

Sokrates: So steht es in der Tat auch, lieber Gorgias, mit den anderen Künsten. Jede hat es mit Reden zu tun, welche sich eben auf diejenigen Objekte beziehen, mit welchen sich jede Kunst beschäftigt.

Gorgias: So scheint es.

Sokrates: Warum nennst du denn nun eigentlich die anderen Künste nicht Rhetoriken, da sie doch auf Reden sich beziehen, wenn du ja unter Rhetorik eben die Kunst verstehst, welche auf Reden geht?

Gorgias: Weil das ganze Wissen der anderen Künste sozusagen auf Handarbeiten und dergleichen Tätigkeiten sich bezieht, die Rhetorik hat aber nichts mit dergleichen Handarbeit zu schaffen, sondern all ihr Tun und Wirken vollzieht sich durch Reden. Deshalb glaube ich die Rhetorik auf Reden beziehen zu müssen, und das, wie ich denke, mit Recht.

Sokrates: Verstehe ich nun, welche Bestimmung du von ihr[307] geben willst? Gleich werde ich es genauer wissen. Nun antworte: Es gibt Künste? Nicht wahr?

Gorgias: Ja.

Sokrates: Unter allen Künsten haben, denke ich, einige meist eine Arbeit vor und bedürfen der Rede nur wenig, einige gar nicht, der Zweck der Kunst könnte vielmehr auch unter Schweigen erreicht werden, wie z.B. Malerei, Bildhauerei und viele andere. Solche Künste meinst du wohl, auf die sich, wie du sagst, die Rhetorik nicht beziehe? Oder nicht?

Gorgias: Du hast es ganz richtig gefaßt, lieber Sokrates.

Sokrates: Es gibt aber auch andere Künste, welche ihr Ziel ganz durch die Rede erreichen und eine Arbeit, sozusagen, entweder gar nicht oder doch sehr wenig nötig machen, z.B. Arithmetik (Zahlenlehre), Rechenkunst, Geometrie, Brettspiel und viele andere Künste; bei einigen von ihnen halten sich Reden und Tun so ziemlich das Gleichgewicht; bei den meisten überwiegen jene, und ihre ganze Tätigkeit und Kraft verwirklicht sich durch Reden. Als eine Kunst von dieser Art scheinst du mir die Rhetorik anzusehen.

Gorgias: Da hast du recht.

Sokrates: Aber dennoch glaube ich nicht, daß du eine von diesen als Rhetorik bezeichnen willst, obgleich du dem Wortlaut nach so gesagt hast, daß die durch Reden sich verwirklichende Kunst Rhetorik sei, und jemand dir entgegnen könnte, wenn er in der Untersuchung Schwierigkeiten machen wollte: »Also die Arithmetik, lieber Gorgias, erklärst du für Rhetorik? Aber ich bin überzeugt, daß du weder die Arithmetik noch die Geometrie für Rhetorik erklären willst.«

Gorgias: Da hast du recht, lieber Sokrates, und meine Meinung hast du richtig erschlossen.

Sokrates: Wohlan, gib mir nun auch deinerseits die Antwort auf meine Frage vollständig! Denn da die Rhetorik eine der Künste ist, welche meist sich der Rede bedienen, da es aber auch andere der Art gibt, so versuche den Gegenstand anzugeben, auf welchen sich die Verwirklichung in der Rede richten muß, wenn sie Rhetorik sein soll. Wie wenn mich z.B. jemand über eine der Künste fragte, die ich eben erst nannte: »Lieber Sokrates, welche Kunst ist die Arithmetik?« – so würde[308] ich ihm sagen, wie du ihm eben, daß sie zu denen gehört, welche durch Reden zur Verwirklichung gelangen; und wenn er mich weiter fragte: »Worauf beziehen sich diese Reden?« so würde ich sagen: »Auf das Gerade und Ungerade und die Größe, die jedes von beiden jedesmal haben mag.« Wenn er nun weiter fragte: »Welche Kunst nennst du Rechenkunst?« so würde ich ihm antworten: »Auch diese gehört zu denen, welche ganz und gar durch Reden sich darstellen«; und wenn er wiederum fragte: »Worauf beziehen sich diese?« so würde ich sagen wie die Antragsteller in den Volksversammlungen: »Im übrigen ist es mit der Rechenkunst wie mit der Arithmetik, denn sie bezieht sich auch auf dasselbe, das Gerade und Ungerade; der Unterschied ist aber der, daß die Rechenkunst betrachtet, wie sich das Gerade und Ungerade nach der Größe zu sich und zu einander verhält.« Und wenn mich jemand nach der Astronomie fragte infolge meiner Behauptung, daß auch sie alles durch Rede zur Darstellung bringt: »Worauf beziehen sich aber, lieber Sokrates, die Reden der Astronomie?« – wenn er so sagte, würde ich antworten: »Auf die Bewegung der Sterne, der Sonne und des Mondes und das Verhältnis ihrer Schnelligkeit zu einander.«

Gorgias: Ganz richtig gibst du das an, mein Sokrates.

Sokrates: Nun wohlan, tue es auch deinerseits, lieber Gorgias! Denn die Rhetorik ist ja offenbar eine von den Künsten, welche alles durch Rede verwirklichen und darstellen.

Gorgias: Jawohl.

Sokrates: Gib nun an, auf was sie sich beziehen: Was ist es unter den Dingen, auf das sich die Reden beziehen, deren sich die Rhetorik bedient?

Gorgias: Es sind die wichtigsten und edelsten menschlichen Verhältnisse, lieber Sokrates.

Sokrates: Aber, lieber Gorgias, auch diese Bestimmung ist zweideutig und noch keineswegs deutlich. Du hast doch, wie ich glaube, bei Trinkgelagen auch schon Leute das Skolion singen hören, worin sie singend aufzählen:

Gesundheit ist das Beste,

Das zweite schön zu werden,

Das dritte, wie der Dichter des Skolion sagt, Reichtum ohne Betrug?[309]

Gorgias: Freilich, doch wozu führst du das an?

Sokrates: Weil auf der Stelle die Meister in den Fächern, welche der Skoliondichter gepriesen hat, vor dich treten könnten, ein Arzt, ein Turnlehrer und ein Handelsmann, und zuerst würde der Arzt sagen: »Lieber Sokrates, Gorgias täuscht dich; denn nicht seine Kunst bezieht sich auf das für die Menschen wichtigste Gut, sondern die meinige.« Wenn ich nun fragte: »Wer bist du denn, der das sagt?« – so sagte er wohl: »Ein Arzt.« – »Was meinst du also? Ist wirklich das Werk deiner Kunst das größte Gut« – »Ei freilich«, würde er erwidern, »lieber Sokrates: die Gesundheit. Gibt es ein größeres Gut für den Menschen als Gesundheit?« – Wenn nun nach diesem der Turnlehrer ebenfalls sagte: »Es sollte mich doch auch selber Wunder nehmen, lieber Sokrates, wenn Gorgias dir ein größeres Gut aus seiner Kunst aufzuweisen hat, als ich aus der meinigen«, so würde ich auch wieder zu ihm sagen: »Wer bist du denn, lieber Mann? und was ist dein Werk?« – »Ein Turnlehrer, und mein Geschäft ist es, die Menschen schön und kräftig zu machen am Leibe.« Nach dem Turnlehrer nähme dann der Handelsmann das Wort, und der würde – das kann ich mir denken – auf alle ändern gar verächtlich niederschauen: »Bedenke es doch nur, lieber Sokrates, ob dir irgend ein Gut größer erscheint als der Reichtum, sei's in Gorgias' Besitz oder bei irgend sonst einem?« Wir würden nun zu ihm sagen: »Wieso? Bist du dessen Meister?«- »Jawohl.« – »Wer bist du?« – »Ein Handelsmann«. – »Wie? Also nach deiner Meinung ist der Reichtum das größte Gut für den Menschen?« werden wir sagen. – »Natürlich«, wird er erklären. – »Indes unser Gorgias hier streitet ja dafür, daß seine Kunst ein größeres Gut erzeuge als die deinige«, würden wir sagen. Offenbar würde er hiernach fragen: »Und was ist denn das für ein Gut? Das mag Gorgias beantworten.« – Wohlan denn, sieh dich, lieber Gorgias, nicht bloß von jenen als gefragt an, sondern auch von mir, und beantworte, was nach deiner Meinung das größte Gut für die Menschen ist, dessen Meister du seist!

Gorgias: Das, was, lieber Sokrates, in Wahrheit das größte Gut ist und zugleich die persönliche Freiheit für die Menschen erwirkt und die Herrschaft über andere jedem in seinem Staate.[310]

Sokrates: Was meinst du denn da?

Gorgias: Die Fähigkeit, durch Worte zu überreden, und zwar vor Gericht die Richter, in der Ratsversammlung die Ratsherren, in der Volksversammlung die Bürger, und überhaupt in jeder beliebigen Versammlung, welche Versammlung von Bürgern es auch nur geben mag. Jedenfalls wird, wenn du in dieser Fähigkeit geübt bist, der Arzt dein Sklave sein und der Turnlehrer auch. Dieser Handelsmann aber, das wird sich offen zeigen, erwirbt für einen anderen und nicht für sich, sondern für dich, der du die Massen zu überreden verstehst.

Sokrates: Jetzt hast du, dünkt mich, lieber Gorgias, am allernächsten aufgezeigt, was du dir unter der Rhetorik denkst, und wenn ich recht verstehe, meinst du, die Rhetorik sei Meisterin in der Überredung, und ihr ganzes Geschäft und Haupttätigkeit gehe darauf hinaus. Oder weißt du sonst noch etwas zu sagen, das die Rhetorik imstande sei, als in der Seele der Hörenden Überzeugung zu wirken?

Gorgias: Keineswegs, lieber Sokrates; sondern mir scheint diese Bestimmung ausreichend. Denn das ist wirklich ihre Hauptaufgabe.

Sokrates: Höre denn, lieber Gorgias: Sei nämlich überzeugt, daß ich, wenn irgend sonst jemand mit anderen sich unterhält in der Absicht, über den Gegenstand aufgeklärt zu werden, auf welchen sich die Unterredung bezieht, daß ich mich selbst zu diesen rechnen zu dürfen glaube; ich denke aber auch dich.

Gorgias: Was willst du damit, lieber Sokrates?

Sokrates: Ich will es dir eben erklären. Was eigentlich die von der Rhetorik zu leistende Überredung ist, von der du sprichst, und auf welche Dinge sich diese Überredung bezieht, das weiß ich nicht genau; indessen vermute ich, was sie nach deiner Ansicht wohl sein und worauf sie sich beziehen mag. Nichtsdestoweniger will ich dich fragen: Was verstehst du eigentlich unter der Überredung, die von der Rhetorik ausgeht, und worauf soll sie sich beziehen? Warum will ich dich denn fragen, wenn ich es doch vermute, und sage es nicht gleich selbst? Nicht um deinetwillen, sondern damit die Untersuchung so fortschreite, wie sie uns am besten über den Gegenstand unserer Unterhaltung aufklären könnte. Überlege dann,[311] ob ich dich wohl mit Recht weiter frage, z.B. wenn ich dich etwa fragte: »Was für ein Maler ist Zeuxis?« und du hättest mir geantwortet, daß er Bilder male, würde ich dich dann nicht mit Recht fragen, was für Bilder er male, oder nicht?

Gorgias: Jawohl.

Sokrates: Nicht eben deshalb, weil es auch andere Maler gibt, welche viele andere Bilder malen?

Gorgias: Ja.

Sokrates: Wenn dagegen sonst niemand als Zeuxis malte, so wäre deine Antwort ganz treffend gewesen?

Gorgias: Ei freilich.

Sokrates: Wohlan denn, sage mir auch in betreff der Rhetorik, ob nach deiner Ansicht die Rhetorik allein Überredung erzeuge oder auch andere Künste? Das ist aber meine Meinung: wenn jemand eine Sache lehrt, überredet er dann in bezug auf den Gegenstand seiner Lehre oder nicht?

Gorgias: Nein gewiß nicht, lieber Sokrates, ganz entschieden überredet er.

Sokrates: Wenn wir nun wieder auf eben dieselben Künste unsere Aufmerksamkeit richten, von denen wir vorhin erst sprachen, lehrt uns nicht die Arithmetik und der Arithmetiker, wie vielfach sich die Verhältnisse der Zahl gliedern?

Gorgias: Jawohl.

Sokrates: Überredet sie nicht auch?

Gorgias: Ja.

Sokrates: Also ist auch die Arithmetik eine Meisterin der Überredung?

Gorgias: So scheint es.

Sokrates: Wenn uns also jemand fragte: »Welcher Überredung, und worauf bezieht sie sich?« – so werden wir ihm wohl antworten, sie gehöre zur Lehre über die Anzahl des Geraden und Ungeraden. So werden wir auch von allen ändern Künsten, welche wir eben erst nannten, nicht bloß die Meisterschaft in der Überredung anzugeben wissen, sondern auch die Art derselben und ihr Objekt.

Gorgias: Ja.

Sokrates: Also ist nicht bloß die Rhetorik eine Meisterin in der Überredung?

Gorgias: Da hast du recht.[312]

Sokrates: Da sie nun nicht allein diese Aufgabe erfüllt, sondern auch andere Künste es tun, so würden wir hiernach, wie über den Maler, mit Recht weiter fragen: was das für eine Überredung ist und auf welche Objekte sie sich bezieht, welche die Kunst der Rhetorik leistet? Oder scheint dir diese weitere Frage nicht berechtigt?

Gorgias: O jawohl.

Sokrates: Antworte denn, mein Gorgias, da auch du so denkst!

Gorgias: Die Überredung also meine ich, welche vor Gericht und anderen Versammlungen stattfindet, wie ich sie auch eben nannte, und darauf bezieht sie sich, was Recht und Unrecht ist.

Sokrates: Ja, das vermutete ich auch, daß du diese Überredung meintest, die sich auf diese Dinge bezöge. Aber – daß du dich nicht wunderst, wenn ich bald nachher eine weitere Frage an dich richte, die auf der Hand zu liegen scheint, und ich frage dich doch noch. Denn, wie gesagt, ich frage, um ordnungsmäßig die Untersuchung zum Ziele zu führen, nicht um deinetwillen; sondern damit wir uns nicht daran gewöhnen, die Gedanken einander unterzuschieben und vorwegzunehmen, sondern damit du die deinen nach deiner Grundansicht vollständig entwickelst, wie es dir gefällt.

Gorgias: Daran tust du, denke ich, ganz recht, mein Sokrates.

Sokrates: Wohlan, laß uns auch dies in Erwägung ziehen: Sprichst du wohl von Erkannthaben?

Gorgias: Jawohl.

Sokrates: Ferner auch von Fürwahrhalten?

Gorgias: Gewiß.

Sokrates: