Der Pesthändler

Heike Stöhr

Der Pesthändler

Historischer Roman

dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

Über Heike Stöhr

Heike Stöhr, 1964 in Leipzig geboren und in Pirna aufgewachsen, studierte Germanistik und Geschichte und arbeitet als Lehrerin in Berlin. Ihre Diplomarbeit zur sächsischen Geschichte führte sie ins Pirnaer Stadtarchiv und direkt auf die Spur ihrer historischen Romane.

 

Von Heike Stöhr sind bei dtv außerdem erschienen:
Die Fallstricke des Teufels
Die Handschrift des Teufels
Die Arglist des Teufels

Über das Buch

Nach sieben Jahren Wanderschaft kehrt der Bader Valentin Arnold nach Pirna zurück. Dort wütet der Schwarze Tod, Lebensmittel sind rar, und viele reiche Bürger haben die Stadt bereits verlassen. Gleich bei seiner Ankunft wird Valentin Zeuge, wie sein Bruder Conrad, Bader wie er, behauptet, der tote Kaufmann Eckel sei ebenfalls ein Opfer der Pest geworden. Eine Fehleinschätzung – das erkennt Valentin sofort, als er die Male am Hals der Leiche sieht. Doch sein Bruder verweigert jedes Gespräch dazu, und als ein zweiter Mord geschieht, gerät Conrad selbst unter Verdacht. Zum Entsetzen seiner Familie wird er verhaftet und in die Fronfeste gebracht. Als sich Conrad weigert zu gestehen, droht ihm die Folter. Aber die anhaltende Seuche verhindert das rasche Eintreffen des Henkers – wertvolle Zeit für Valentin, die Unschuld seines Bruders zu beweisen …

Impressum

Originalausgabe 2021

© 2021 dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

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unter Verwendung von Motiven von

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eBook-Herstellung: Fotosatz Amann, Memmingen (01)

 

eBook ISBN 978-3-423-43842-1 (epub)

ISBN der gedruckten Ausgabe 978-3-423-21955-6

ISBN (epub) 9783423438421

Personen, die meiner Fantasie entsprangen, sind kursiv gesetzt. Alle anderen sind historisch verbürgt. Sie lebten und arbeiteten tatsächlich im 16. Jahrhundert in Pirna, Sachsen und Böhmen. Von manchen sind nur Name und Beruf nachgewiesen, andere hinterließen umfangreiche Zeugnisse ihres Wirkens.

 

IM BADERHAUS

Valentin Arnold: Bader

Conrad Arnold: sein jüngerer Bruder, ebenfalls Bader

die Arnoldin: ihre Mutter

Agnes: eine alte Magd

 

IM HAUSE ECKEL

Thomas Eckel: der ermordete Hausherr

Magdalena Eckel: seine zweite Ehefrau

Justina: Eckels Tochter

Liese: eine aufgeweckte, junge Magd

 

IN DER TÜRMERWOHNUNG ST. MARIEN

Christoph Werner: Türmer und Spielmann

Jörg: sein Sohn

Lene: seine jüngste Tochter

 

Jobst Bolz: Schinder und später auch Totengräber

Fritz und Conz: die Gehilfen des Totengräbers

Nickel: der Schwestersohn von Fritz

 

IN DER FRONFESTE

Meister Henel: Fronbote/Fronmeister

Jorge: Fronknecht

Meister Bolz: Henker aus Dresden, Pirna gehörte zu seinem »Einzugsgebiet«

 

IM RATHAUS

Wenzel Hennigke: erster Bürgermeister

Paul Meißner: zweiter Bürgermeister

Georg Seiler: Richtherr

Brosius Moller: Ratsherr

 

Mathes Meißner: Gerichtsschreiber, Seilers Neffe

 

IM BÖHMISCHEN JOACHIMSTHAL

Georgius Agricola: Stadtarzt, Apotheker und Universalgelehrter

Martin: sein junger Knecht

Barthel Bach: Freund Agricolas, ehemaliger Stadtschreiber von Joachimsthal

Matthes Schmied: Steiger

die Fiedlerin: Bäuerin

Strunz: ihr Bruder, Schreiber des Schichtmeisters

Wenzel Fiedler: ihr jüngster Sohn

Valentin hatte Durst, und in seinem linken Schuh drückte ein Kiesel. Er war auf dem Weg nach Hause, doch jetzt war es an der Zeit für eine kurze Rast. Abseits der Straße entdeckte er eine alte Linde. Im Schatten der ausladenden Krone ließ er sich nieder, holte eine Tonflasche aus seinem Ranzen und entkorkte sie mit den Zähnen. Obwohl das Wasser darin so warm wie Kuhpisse war, trank er es in gierigen Schlucken. Anschließend schüttelte er den Stein aus seinem Schuh. Dabei fiel ihm auf, dass durch das Loch im Strumpf, das am Morgen noch die Größe einer Erbse gehabt hatte, mittlerweile zwei seiner Zehen hervorschauten. Misstrauisch inspizierte er die Schuhsohle, die an manchen Stellen bereits dünn wie Papier geworden war. Aber in seiner Vaterstadt, die er mit Gottes Hilfe noch heute Abend erreichen würde, gab es genug Schuster, die sich seines strapazierten Schuhwerks annehmen konnten. Und das Loch im Strumpf würde er selbst stopfen, so wie er es in den Jahren seiner Wanderschaft stets getan hatte. Valentin lehnte sich an den Baumstamm und gähnte. In der Hitze flirrte die Luft über dem Feld.

Obwohl der Herbstmond bereits begonnen hatte, brannte die Sonne auch an diesem Tag wieder erbarmungslos vom Himmel. Es schien, als wolle der Sommer überhaupt kein Ende nehmen, Land und Leute verdarben unter seiner Glut. Seit Wochen wanderte Valentin nun schon über staubige Landstraßen, doch überall hatte sich ihm ein ähnliches Bild geboten:

Valentin schloss die Augen, aber das Gefühl der Beklommenheit, das er seit ein paar Tagen verspürte, wollte einfach nicht weichen. Mit jeder Meile hatte es zugenommen, und nun lastete es auf seiner Brust wie ein Mühlstein.

Viel Wasser war die Elbe hinabgeflossen, seit er seine Vaterstadt verlassen hatte. Damals war es ihm leichtgefallen zu gehen. Aber während er im Schatten der Linde dem Gesang der Grillen lauschte, weilten seine Gedanken bei Conrad, seinem jüngeren Bruder. Sie waren im Streit auseinandergegangen, und Valentin fragte sich, ob er so lange fortgeblieben war, weil er fürchtete, Conrad könnte ihm noch immer nicht verziehen haben. Doch mittlerweile mehrten sich die Zeichen, dass daheim Schlimmeres auf ihn warten könnte als die Auseinandersetzung mit seiner Vergangenheit.

Valentin öffnete die Augen, als über seinem Kopf lautes Krächzen ertönte. Zwei Raben hockten im Geäst, denen sich soeben ein dritter hinzugesellte. Die Vögel hüpften umher und schlugen mit den Flügeln. Es sah aus, als hätten sie eine Entdeckung gemacht. Valentin erhob sich, und während er den Baum umrundete, verstärkte sich der süßliche Geruch, den er schon seit einer Weile in der Nase gehabt hatte. Wieso hatte er nicht gleich begriffen, was das bedeutete? Diesen Geruch wie von überreifem Obst, das bereits in den Zustand der Fäulnis überging, kannte Valentin nur allzu gut, und er wusste, was ihn erwartete, noch bevor er die zusammengesunkene Gestalt am Boden entdeckte. Für den flüchtigen Betrachter sah es aus, als würde sich der Bettler ausruhen. Sein Oberkörper lehnte am Stamm der Linde, doch sein Kopf war zur Seite gesunken und gab den Blick frei auf eine hühnereigroße Beule unterhalb des rechten Ohres. Seine Finger umklammerten noch das kleine

Während er seine Habseligkeiten zusammenpackte, versuchte er zu verstehen, warum ihn der Anblick derart erschütterte. Schließlich hatte er dem Schwarzen Tod schon so oft ins Gesicht geblickt, dass er davon überzeugt war, dessen abscheuliche Fratze besser zu kennen als die meisten. Hastig schulterte er seinen Ranzen. Wollte er Pirna noch erreichen, bevor die Stadttore geschlossen wurden, musste er seinen Weg nun ohne weitere Verzögerung fortsetzen. Doch bereits nach wenigen Schritten stockte sein Fuß. Beinah gegen seinen eigenen Willen drehte sich Valentin um und sah zurück. Aus der Ferne bot die Linde ein malerisches Bild, und niemand, der hier vorbeikam, würde ahnen, dass unter ihrem grünen Dach der Tod Einzug gehalten hatte. Valentin schob seinen Hut in die Stirn und kratzte sich im Nacken. Es war alles andere als christlich, die sterblichen Überreste des armen Teufels dort zurückzulassen, aber daheim wartete die Mutter. Der Brief, in dem sie Valentin vom Tod des Vaters berichtet hatte, war viele Wochen unterwegs gewesen, und fast genauso lange hatte ihr Sohn gebraucht, um zu Fuß von Flandern nach Sachsen zu gelangen. Schon seit Tagen träumte Valentin davon, endlich wieder in einem Bett zu schlafen anstatt in einer Scheune oder gar auf freiem Feld. Und gewiss würde die Mutter zur Feier seiner Rückkehr ein Huhn schlachten! Valentin lief das Wasser im Mund zusammen, während er sich vorstellte, wie sie den gebratenen Vogel

Was machte es schon, wenn er dafür noch eine weitere Nacht unter freiem Himmel verbringen musste. Ach, zur Hölle mit der Pest, dachte er, während er bereits zum Dorf zurückmarschierte.

Wie erwartet, hatte Valentin seine liebe Not damit, in dem kleinen Weiler eine einsichtige Seele zu finden, die bereit war, ihn bei seinem Vorhaben zu unterstützen. Der Bauer im ersten Gehöft wünschte ihn zum Teufel, der Hufschmied drohte ihm Prügel an, und der Dorfschulze hetzte seinen Hund auf ihn, als Valentin ihm vorwarf, das Amt nicht zum Wohle der Gemeinde zu verwalten. Erst im letzten Gehöft, das ein wenig abseits der

 

Valentin verbrachte die Nacht in einer verfallenen Scheune. Da er sein letztes Stück Brot bereits vor seiner Rast an der Linde verzehrt hatte, erwachte er noch vor dem Morgengrauen vom Knurren seines Magens. Kein Frühstück zu haben, sinnierte er, während er sich im verblassenden Licht der Sterne auf den Weg machte, hat immerhin den Vorteil, dass man keine Zeit damit vertrödelt, es zu verspeisen.

Die Sonne war gerade aufgegangen, als Valentin unten im Elbtal die turmbewehrten Mauern seiner Vaterstadt erblickte. Auf dem Felsen darüber erhob sich die Silhouette des herzoglichen Schlosses, und unmittelbar darunter ragte der achteckige Turm der Marienkirche aus dem Häusermeer. Valentins scharfen Augen gelang es schon bald, die zierlichen Giebel unterhalb der Turmhaube auszumachen. Aus der Ferne wirkten sie zart wie Brüsseler Spitze. Doch Valentin wusste, dass allein die Kreuzblumen, die sie krönten, mannshoch waren.

Trotz der frühen Stunde begegneten ihm nun immer öfter Fuhren, die bis obenhin mit Hausrat und kleinen Kindern beladen waren. Frauen und Mädchen begleiteten die Wagen zu Fuß, manchmal zerrten sie noch Ziegen und Schafe hinter sich her. Ihre Väter und Brüder hatten sich, in Ermanglung eines Zugtieres, meist selbst vor die Karren gespannt. Sie trugen die schlichte Alltagstracht einfacher Leute, und ihre Gesichter waren von Angst gezeichnet.

»He, Kamerad!«, rief ihm ein baumlanger

Valentin blieb stehen. Obwohl ihm der Schweiß zwischen den Schulterblättern herablief, fröstelte es ihn. »Hab Dank für deine Warnung! Aber ich muss in die Stadt. Die Mutter und der Bruder erwarten mich dort.«

»Dann geb’s Gott, dass du die Deinen noch am Leben findest!« Der Zimmermann bekreuzigte sich, bevor er seinen Weg fortsetzte.

Valentin rückte die Riemen seines Ranzens zurecht. Die Gerüchte entsprachen also der Wahrheit. Die Pestwelle, die von Böhmen elbabwärts schwappte, hatte Pirna erreicht. Er holte Luft und zwang sich weiterzugehen. Der Schwarze Tod gehörte zu jenen Krankheiten, die vor allem in der wärmeren Jahreszeit immer wieder ihre Opfer forderten. Doch jeder wusste, wenn die Menschen ihre Häuser verließen und in Scharen flohen, lag das nicht nur an ein paar Toten. Nein, dann hatte ein großes Sterben begonnen!

Schon bald erreichte Valentin die Nikolaivorstadt. Dort waren die Tore der meisten Gehöfte geschlossen, die breite Straße dazwischen wirkte wie leergefegt. Selbst das Stadttor, an dem um diese Tageszeit stets allerlei Volk aus und ein ging, fand Valentin unbewacht. Da weit und breit niemand zu sehen war, dem er seine Papiere weisen konnte, und der Schlagbaum offenstand, betrat er nach kurzem Zögern die hölzerne Brücke, die über den Stadtgraben führte. Ein unheimliches Gefühl überkam ihn, als er unter dem Gewölbe des Torhauses statt rumpelnder Wagenräder und klappernder Pferdehufe nur den dumpfen Klang der eigenen Schritte vernahm.

Auch jenseits des Tores, auf der Dohnschen Gasse, wo sonst immer viele Menschen unterwegs waren, begegneten ihm nur wenige Passanten. Eilig hasteten sie aneinander vorbei, die meisten hatten sich Tücher vor Mund und Nase gebunden.

Wenn Valentin sich nicht täuschte, war Dienstag – Markttag. Doch die Läden vorm Rathaus waren verschlossen, die Fleisch- und Brotbänke lagen verwaist, und offenbar kamen nicht einmal mehr die Bauern aus den umliegenden Dörfern in die Stadt, um ihr Gemüse zu verkaufen. Umso mehr wunderte sich Valentin über die Menschenansammlung vor einem Haus an der Ecke zur Kirchgasse. Die Leute redeten durcheinander und gestikulierten aufgeregt. Er wollte näher treten, blieb aber stehen, als er inmitten der Gaffer einen blonden Mann erkannte.

Neidlos musste Valentin anerkennen, dass sein Bruder in den letzten Jahren ein stattliches Mannsbild geworden war. Conrad hatte die muskulöse Statur ihres Vaters geerbt, und der modisch kurz geschnittene Bart ließ ihn reifer erscheinen.

Neben Conrad stand ein hagerer Mann mit stechend schwarzen Augen. Trotz der Wärme war er in einen dunklen Mantel aus gutem Tuch gekleidet, und auf seinem Kopf trug er ein Barett aus teurem Samt. Da ihn zwei Stadtwachen mit aufgepflanzten Hellebarden flankierten, musste er wohl einer der zwölf Ratsherren sein.

Mit klopfendem Herzen schob sich Valentin weiter nach vorn, und weil er ebenso hochgewachsen war wie sein Bruder, gelang es ihm rasch, die Ursache der allgemeinen Erregung auszumachen.

Zu Conrads Füßen lag ein Mann, der Länge nach auf dem Pflaster ausgestreckt. Sein Bauch, der sich unter der pelzverbrämten Schaube abzeichnete, erinnerte Valentin an den gestrandeten Wal, den er letztes Jahr in Hamburg gesehen hatte.

Während der hagere Ratsherr ungeduldig an seinem Bart zupfte, band Conrad sich ein Tuch vor den Mund und zog ein Paar Lederhandschuhe aus seinem Gürtel. Nachdem er sie über seine Hände gestreift hatte, beugte er sich über die Leiche. Mit geübten Griffen entblößte er den Hals des Toten.

Ein Raunen wogte durch die Reihen der Schaulustigen. »Den hat die Pest geholt!«, verkündete ein grauhaariger Steinmetz mit Grabesstimme. Die dralle Magd neben ihm bekreuzigte sich.

Conrad richtete sich auf. Er zog die Handschuhe aus und verstaute sie umständlich in seinem Gürtel.

»Nun, Bader, was sagt Ihr?«, erkundigte sich der Ratsherr. »Ist es nun die Pest oder ist sie es nicht?«

Conrad nahm das Tuch ab, knüllte es zusammen und wischte sich damit über seine Stirn. Er räusperte sich. »Ja, Richter Seiler. Meister Eckel starb ohne jeden Zweifel an der Pest!«

Valentin runzelte die Stirn. Wenn ihn seine Augen nicht trogen, gab es durchaus Zweifel an dieser Diagnose. Doch um das richtig beurteilen zu können, musste er die Flecken am Hals des Toten aus unmittelbarer Nähe betrachten. Als der Richtherr Conrad beiseitenahm, drängte Valentin sich durch die aufgeregt tuschelnden Menschen. Er ging in die Knie und schob mit der Spitze seines Wanderstabes den Pelzkragen des Toten zur Seite. Während er die dunklen Male begutachtete, bestätigte sich sein Verdacht. Auch Conrad hätte erkennen müssen, dass sie keineswegs Anzeichen für eine Pesterkrankung waren – schließlich hatte der Vater ihnen den Unterschied oft genug erklärt.

Valentin rieb sich das Kinn. Er konnte nicht glauben, dass sein Bruder bei einer so wichtigen Angelegenheit wie einer öffentlichen Leichenschau absichtlich eine falsche Diagnose

Als Valentin sich erhob, begann sich die Menge bereits zu zerstreuen. Suchend ließ er die Augen über den Markt wandern, konnte seinen Bruder aber nirgendwo entdecken. Nur der hagere Ratsherr stand noch immer an derselben Stelle, und während er den beiden Wachen Befehle erteilte, verweilte sein aufmerksamer Blick für einen Moment bei Valentin.

Vom Markt bis zur Badergasse war es nur ein kurzer Weg. Als Valentin sein Vaterhaus erreicht hatte, fragte er sich dennoch, ob er sich möglicherweise verlaufen haben könnte. Das Haus mit der schmalen Fassade und dem spitzen Giebel war verschwunden, und Valentin stand vor einer breiten Hausfront mit sechs Fenstern und einem hohen Torbogen in der Mitte. Das hölzerne Tor war verschlossen, doch daneben befand sich eine schmale, blau gestrichene Tür. Der eiserne Türklopfer, nach dem Valentin griff, hatte die Form einer Schlange, die in ihren eigenen Schwanz biss. Es dauerte eine Weile, bis im Haus Schritte erklangen, und als die Tür sich öffnete, blickte Valentin in das Gesicht einer fremden Frau. Sie trug das schlichte Kleid einer Magd.

»Wenn Ihr zu Meister Arnold wollt, dann müsst Ihr später wiederkommen«, beschied sie ihm.

Es dauerte einen Augenblick, bis Valentin begriff, dass hier nicht von seinem Vater die Rede war. »Ich bin Valentin Arnold«, erklärte er. »Der Bruder des Meisters.«

Sie stieß einen überraschten Laut aus, dann betrachtete sie ihn eingehend von Kopf bis Fuß. »Ihr habt die Augen Eurer Mutter«, sagte sie, während sie die Tür freigab.

»So ist es!« Valentin lachte. »Und außerdem die Füße meines Vaters.«

Die Magd konnte seinem Scherz nicht viel abgewinnen. Stattdessen verzog sie missbilligend das Gesicht, als Valentin

»Sie ist im Kräutergarten.« Die Magd zeigte auf eine Tür hinter der Treppe zum oberen Stockwerk.

Als Valentin in den Hof trat, begriff er, warum ihm der Anblick des Hauses so fremd vorkam. Das Baderhaus war in den letzten Jahren erweitert worden. Der Vater hatte offenbar das Haus des alten Hartmann, ihres Nachbarn auf der rechten Seite, erworben. Um beide Häuser miteinander zu verbinden, hatte er nicht nur die Fassade neu verputzt, sondern auch die Dächer abtragen und einen gemeinsamen Dachstuhl errichten lassen. Das neue Dach zeigte nun mit der Traufseite zur Gasse, was dem größeren Anwesen ein respektables Aussehen verlieh. Dort, wo einst der Hof der Hartmanns gewesen war, hatte die Mutter ihren langgehegten Traum von einem eigenen Kräutergarten wahr gemacht. Valentin lächelte, als er sah, wie sie ihre Finger über die flaumigen Salbeiblätter gleiten ließ, bevor sie einige Zweige abpflückte. Sie legte ihre Ernte in den flachen Korb an ihrem Arm und ging langsam weiter. Vor dem Borretsch blieb sie stehen. Valentin konnte das Summen der Bienen, die in den blauen Blütensternen nach Nektar suchten, ebenso deutlich hören wie den leisen Gesang seiner Mutter. »Warum weinst du, schönes Kind, warum weinst du, schöne Blume?«

Die Mutter war eine große schlanke Frau mit zupackenden Händen. Fünfzig Lebensjahre hatten in ihrem Gesicht Spuren hinterlassen, dennoch fand Valentin es immer noch schön. Als sie den Kopf hob und ihren Sohn erblickte, brach ihr Gesang ab. Sie ließ den Korb fallen und schlug sich die Hände vor den Mund. Ihre ungewöhnlichen silbergrauen Augen füllten sich mit Tränen.

»Valentin?« Zögernd streckte sie die Hand aus und legte sie an seine unrasierte Wange. »Wo hast du dich nur so lange herumgetrieben, Junge?«

Valentin hielt ihre Hand fest. Sie fühlte sich warm an und roch genauso, wie er sie in Erinnerung gehabt hatte, nach Kräutern und Erde, nach Seifenlauge und Brot. Die Mutter war eine zurückhaltende Frau, die neben ihrer Arbeit im Haus und in der Badestube nur selten Zeit für Zärtlichkeit gehabt hatte. Trotzdem hätte Valentin sie jetzt am liebsten umarmt. Aber noch bevor er sich dazu entschließen konnte, erklangen hinter ihm Schritte.

»Dann stimmt es also tatsächlich!« Auf halbem Weg über den Hof blieb Conrad stehen. »Du bist wieder da.« Er neigte den Kopf und betrachtete seinen Bruder eingehend.

Valentin holte tief Luft. Er hatte sich das Wiedersehen mit Conrad in den letzten Tagen immer wieder ausgemalt. Es gab so vieles, was er ihm gern gesagt hätte. Doch die Worte schienen sich in seinem Innern zu verknoten, und so ließ er die Musterung seines Bruders stumm über sich ergehen.

Die Mutter schüttelte den Kopf. »Begrüßt einander, wie es sich für Brüder gehört!«, verlangte sie, indem sie ihrem ältesten Sohn einen kleinen Schubs gab.

Mit weichen Knien ging Valentin auf seinen Bruder zu. »Ich bin froh, dich wiederzusehen!« Er breitete die Arme aus und zog Conrad in eine Umarmung, die der Jüngere zögernd erwiderte.

»Willkommen daheim, Bruder!« Conrad zupfte einen Strohhalm von Valentins Hemd.

»Entschuldige!« Mit einem verlegenen Lächeln löste sich Valentin von ihm. »Ich bin schmutzig wie ein Schwein.«

»Und du riechst auch nicht viel besser!« Conrad lachte.

Valentin spürte, wie sich der Knoten in seiner Brust zu lösen

»Ach, herrje!« Die Mutter schlug die Hände zusammen. »Dann ist es ja ein Glück, dass wir den Kessel im Badehaus wegen der großen Wäsche schon in der Früh angeheizt haben.« Sie griff nach ihrem Korb. »Conrad, während ich die Kräuter in die Küche bringe, zeigst du Valentin schon mal unsere neue Badestube!«

Conrad nickte seinem Bruder zu. »Komm mit! Du wirst staunen, was sich alles verändert hat, seit wir das Haus vor zwei Jahren vergrößert und neu eingerichtet haben.«

Valentin folgte ihm zu der Tür, die früher einmal der Hintereingang des Nachbarhauses gewesen war.

»Aus der Diele der Hartmanns haben wir den Auskleideraum gemacht.« Er zeigte auf die Hakenleisten, die sich ringsum an den Wänden befanden, bevor er seinen Bruder in den nächsten Raum führte. »Und hier haben wir den Vorraum, in dem sich unsere Badegäste erstmal den gröbsten Schmutz vom Leibe waschen können.«

Valentin nickte anerkennend. »Ihr habt den Boden mit Sandstein gepflastert und Abflussrinnen angelegt, durch die das benutzte Wasser gleich in die Gasse gespült wird.«

»Und Vater hat dafür gesorgt, dass die Decken eingewölbt wurden.« Conrad deutete nach oben. »Dadurch sind die Deckenbalken auch in diesem Teil des Hauses vorm Wasserdampf geschützt.« Er klopfte gegen eine der Sandsteinsäulen, auf denen das niedrige Gewölbe ruhte.

»In jedem zweiten Badehaus, in das ich auf meiner Wanderschaft kam, ist schon einmal ein verheerender Brand ausgebrochen, weil die Holzdecken vollkommen morsch geworden waren«, erinnerte sich Valentin, während er Conrad in den angrenzenden Raum folgte. Der war deutlich größer, aber ein Vorhang unterteilte ihn in zwei verschiedene Bereiche.

»Wie du siehst, haben wir das Schwitzbad vergrößert«, Conrad zog den Vorhang zur Seite, »und das Wannenbad in einem kleineren Teil untergebracht.« Er zuckte mit den Schultern. »Seit Feuerholz nicht mehr so billig zu haben ist, gönnen sich immer weniger Leute einmal pro Woche ein heißes Bad.«

Valentin nickte, denn die bedauerliche Entwicklung hatte in Pirna und anderswo schon vor Jahren begonnen. Seit Bergbau und Eisenverhüttung die dichten Wälder an den Hängen des Elbtals verschlangen wie gefräßige Moloche, war der Bedarf an Holz enorm gestiegen. »Trotz dessen muss die Badestube in den letzten Jahren gut gelaufen sein«, entgegnete er. »Sonst hätte sich Vater bestimmt nicht auf all die Umbauten eingelassen.«

»Wir konnten nicht klagen«, bestätigte Conrad, während er einen prüfenden Blick in den riesigen Kupferkessel des Badeofens warf, über dem sich bereits die ersten Dampfwölkchen bildeten. »Aber das war vor dieser verfluchten Pestilenz. Stell dir vor, das Erste, was unseren Ratsherren einfiel, um die weitere Verbreitung der Seuche einzudämmen, war die Schließung der Badestuben!« Er öffnete die nächste Tür und winkte Valentin an sich vorbei in einen hellen Raum mit verglasten Fenstern. »Seitdem müssen wir von dem leben, was uns das Wundheilen einbringt.«

Valentin blickte sich um. Neben einem stabilen Holztisch stand ein Stuhl mit hoher Lehne. Breite Lederriemen an den Armstützen und den vorderen Stuhlbeinen ermöglichten es, einen Patienten darauf zu fixieren – eine äußerst hilfreiche Maßnahme, wenn es galt, einen vereiterten Zahn zu ziehen oder einen anderen schmerzhaften Eingriff durchzuführen. Im Regal

Doch sein Bruder ließ ihm keine Zeit für traurige Betrachtungen. »Schau mal!« Conrad klopfte gegen einen Schrank mit unzähligen kleinen Schubladen. »Den hat Vater nach meinem Entwurf bei Schreinermeister Hampel anfertigen lassen. Sämtliche Pillen, Pulver und Kräuter sind hier übersichtlich untergebracht.« Dann zeigte er auf die Tür nebenan. »Und dort gibt es sogar noch ein kleines Gewölbe, in dem wir unsere Arzneien zubereiten und die Vorräte dafür lagern können.« Conrad ließ sich auf dem Behandlungsstuhl nieder, lehnte sich zurück und streckte die langen Beine aus. »Na, was sagst du dazu, großer Bruder?«

Valentin nickte anerkennend. »Du siehst mich überwältigt von alldem.« Seine Hand beschrieb einen Halbkreis, während er sich seinem Bruder gegenüber an die Tischkante lehnte. »Selbst in den reichen Städten Flanderns sah ich nur wenige Badestuben, die so gut und sinnreich ausgestattet waren. Und wie mir scheint, hat Vater schließlich doch begriffen, dass deine Überlegungen zur Verbesserung des Badebetriebs alles andere waren als Kindereien.«

Conrads Augen begannen zu leuchten, und seine Ohrläppchen wurden rot wie Rosenknospen. So hat er früher ausgesehen, dachte Valentin, wenn der Vater ihn gelobt hatte. Allzu oft war das allerdings nicht passiert, denn Conrad hatte beim Erlernen des väterlichen Handwerks weit weniger Begeisterung

Aber noch bevor er sich dazu durchgerungen hatte, steckte die Magd ihren Kopf durch die Tür. »Die Pötschin ist hier und verlangt, dass Ihr sie zur Ader lasst.«

Conrad winkte ab. »Sag ihr, dass jetzt nicht die rechte Zeit dafür ist! Wir haben seit gestern abnehmenden Mond.«

Doch schon im nächsten Augenblick wurde Agnes zur Seite gedrängt, und eine dicke Frau mit ausladender Haube rauschte an ihr vorbei. Valentin hielt sie für das Eheweib eines wohlhabenden Handwerksmeisters.

Conrad erhob sich unwillig. »Ich kann Euch jetzt nicht zur Ader lassen, gute Frau! Kommt in zwei Wochen wieder, wenn die Sterne dafür günstig stehen.«

Es war offenkundig, dass die Frau Erfahrung darin hatte, ihren Willen durchzusetzen, denn sie machte keine Miene, der Aufforderung des Hausherrn Folge zu leisten. Stattdessen marschierte sie hoch erhobenen Hauptes an Conrad vorbei. Valentin war gespannt, wie sein Bruder mit dieser schwierigen Patientin umgehen würde.

»Ihr werdet mich jetzt zur Ader lassen, junger Meister!« Die Frau entledigte sich ihres Umhangs und pflanzte sich auf den Behandlungsstuhl. »Euer Vater, Gott hab ihn selig, wird Euch

»Selbstverständlich hat er das!« Conrads Gesicht war rot angelaufen, seine Nasenflügel bebten. »Aber bedenkt, dass ich Euch bereits vor vier Tagen zur Ader gelassen habe und in der Woche davor auch.« Er stemmte die Fäuste in die Hüften und blickte verärgert auf die anmaßende Besucherin herab.

»Ich bin ein Weib!«, erklärte sie, was offensichtlich war. »Frauen, auch das ist allgemein bekannt, haben mehr schlechte Säfte in ihrem Blut als Männer, weshalb man sie öfter zur Ader lassen darf.« Energisch streifte sie den linken Ärmel ihres feinen Leinenhemdes nach oben.

Conrad biss die Zähne zusammen, und es war ihm anzusehen, dass er die unverschämte Person am liebsten mit eigenen Händen an die Luft gesetzt hätte. Doch stattdessen drehte er sich um und ging mit steifen Schritten zu seinem Arzneischrank hinüber. »Zur Reinigung Eurer Säfte kann ich Euch verschiedene Kräuter geben. Und zur Vorbeugung gegen die Pest habe ich Pillen aus Nelken, Salbei, Weinraute und Tannenharz zu verkaufen.« Er öffnete eine der vielen Schubladen und entnahm ihr eine Spanschachtel. »Sie beseitigen schlechten Atem und Fäulnis im Mund. Darüber hinaus empfiehlt sich eine strenge Diät. Meidet Schweinefleisch und Milch, trübes Wasser und dickflüssiges Bier. Enthaltet Euch auch aller Früchte, denn sie sind voll böser Feuchtigkeit.« Conrad stellte die Schachtel auf den Tisch. »Bereitet Eure Speisen mit Essig zu und denkt daran, bei allem Maß zu halten!«

Welche Mühe es seinen Bruder kosten musste, den Schein professioneller Gelassenheit zu wahren, konnte Valentin nur ahnen. Die Wutausbrüche des Knaben Conrad waren legendär gewesen und hatten dazu geführt, dass selbst ältere Jungen sich ihm gegenüber mit Spott und Sticheleien zurückhielten. Im Augenblick jedoch wäre Valentin seinem Bruder nur

»Ihr lasst mich jetzt auf der Stelle zur Ader!« Die Frau reckte das Kinn, während sie Conrad weiterhin ihren nackten Arm entgegenhielt. »Oder ich gehe zu einem anderen Bader und setze nie wieder einen Fuß in Euer Haus. Was ich im Übrigen auch all meinen Freundinnen empfehlen werde!«

Valentin schnappte nach Luft. Schon öffnete er den Mund, um das unverschämte Weib zum Teufel zu schicken, doch sein Bruder schüttelte den Kopf.

Mit ausdrucksloser Miene band sich Conrad eine Schürze vor den Bauch. Dann trat er an das Regal mit den Instrumenten, dem er einen kleinen Klöppel, das Lasseisen und einen Zinnbecher entnahm. Er drückte Valentin den Becher in die Hand. »Halt das!«

Mit triumphierendem Lächeln verfolgte die Pötschin, wie Conrad die dreieckige Klinge, die im rechten Winkel am dem eisernen Stiel befestigt war, auf ihre Armvene setzte. Ohne weiteres Federlesen schlug er mit dem Klöppel auf die Rückseite des Lasseisens und trieb die Klinge in ihre Haut. Sofort sprudelte Blut, das Valentin geschickt mit dem Becher auffing. »Das reicht!«, erklärte Conrad, kaum dass sich das Gefäß einen Fingerbreit damit gefüllt hatte. Rasch band er ein Tuch um den Arm der Frau, zog es straff und verknotete es so, dass der Knoten auf die Wunde drückte. Wortlos strich er das Geld ein, das sie ihm reichte.

Valentin nahm es auf sich, das Weib zu verabschieden und zur Tür zu begleiten. Als er in den Behandlungsraum zurückkehrte, war sein Bruder bereits dabei, die Instrumente zu reinigen.

»Ich bin mir sicher, die Pötschin wird nicht an der Pest sterben, sondern an der eigenen Unvernunft!«, knurrte er, während er das Lasseisen so heftig schrubbte, dass die Bürste ein Gutteil

»Hättest du ihr das Blut nicht abgenommen, wäre sie gewiss zu einem dieser Pfuscher gegangen, die mit dem Aderlass sträflich Schindluder treiben, indem sie selbst Kinder und Greise damit traktieren.« Valentin schnaubte frustriert auf. »Dabei kann man mit der Anwendung von Purganzen und Aderlässen gar nicht vorsichtig genug sein. Ich bin mittlerweile der Ansicht, dass sie für die Heilung kaum einen Nutzen haben und in den meisten Fällen sogar schädlich sind.«

Conrad warf seinem Bruder einen verdutzten Blick zu. »Wie verträgt sich denn das mit der Viersäftelehre des großen Galen?« Kopfschüttelnd griff er nach einem Tuch, um die Instrumente trocken zu reiben.

»Gar nicht.« Valentin zuckte mit den Schultern. »Für Galen war die Krankheit eine Verwirrung der Säfte, die den gesamten Körper erfasst. Schlechte Säfte daraus abzuleiten, ist bei dieser Betrachtungsweise durchaus gerechtfertigt.« Valentin überlegte kurz, ob er seinem Bruder von dem Henker erzählen sollte, bei dem er einige Monate im Dienst gestanden hatte. Dem Mann war es hin und wieder erlaubt worden, die sterblichen Überreste eines armen Sünders zur Herstellung besonderer Salben und Heilmittel zu nutzen. Valentin hatte ihm zweimal dabei geholfen und bei diesen Gelegenheiten mehr Einblick in die Funktionsweise des menschlichen Körpers gewonnen als während seiner gesamten Lehrzeit beim Vater. Doch ein Henker, so kundig er auch sein mochte, hatte in den Augen der meisten Menschen einen noch schlechteren Leumund als ein Bader. »Auf meiner Wanderung traf ich auf Heiler und Ärzte, die sich nicht mehr auf das überlieferte Wissen eines Mannes verlassen wollten, der vor mehr als tausend Jahren gelebt hat«, erklärte Valentin etwas allgemeiner. »Sie haben ihre Untersuchungen und Beobachtungen mit dem verglichen, was in den alten

Conrad hatte inzwischen die Instrumente in das Regal zurückgelegt. Als er sich umdrehte, stand eine Falte zwischen seinen zusammengezogenen Augenbrauen. »Und zu welchen Erkenntnissen sind sie dabei gelangt?«

»Der Arzt in Antwerpen, bei dem ich zuletzt gearbeitet habe, hält Krankheiten für eigenständige Lebewesen. Er ist davon überzeugt, dass sie von außen in den Körper eindringen, sich in einem einzelnen Organ niederlassen und so dessen Funktion stören.«

Conrad lachte. »Welch abwegige Vorstellung!«

»Und einer seiner ehemaligen Kommilitonen, mit dem er in Padua studiert hatte, ist der Meinung, Krankheiten würden durch winzige Tierchen, semina morbi, übertragen anstatt durch vergiftete Luft.« Valentin hob die Hände. »Weißt du, es gibt so viel mehr Wissen in dieser Welt als das, was der Vater uns beibringen konnte.«

»Das mag ja sein.« Conrad schüttete das benutzte Wasser in einen Eimer neben der Tür. »Aber nicht jeder kann es sich leisten, jahrelang herumzuziehen, um danach zu suchen.«

Valentin bemerkte den spitzen Unterton, doch sein Wunsch, das, was er erlebt und erfahren hatte, mit seinem Bruder zu teilen, war so stark, dass er dieses Signal ignorierte. »Bevor ich nach Antwerpen kam, zog ich mit einem Wundheiler übers Land, in dessen Familie die Kunst des Steinschneidens seit Generationen weitergegeben wurde. Der Mann verfügte über erstaunliche Fertigkeiten!« Valentin breitete die Arme aus. »Von allem, was ich in der Ferne gelernt habe, will ich dir berichten, damit du es später selbst ausprobieren kannst.«

»Bisher bin ich mit dem, was ich hier gelernt habe, ganz gut zurechtgekommen«, entgegnete Conrad. »Und noch immer ist unsere Badestube die beste in der ganzen Stadt.«

Während Valentin noch nach den richtigen Worten suchte, öffnete Conrad die Tür. »Der Mann auf dem Markt«, sagte er. »Das war nichts Besonderes. Er ist einfach an der Pest gestorben.«

»Nein!«, widersprach Valentin. »Die dunklen Flecke am Hals der Leiche waren gewiss keine Pestmale.«

Conrad drehte sich um. »Ich hätte es wissen müssen! Du tauchst nach einer Ewigkeit hier auf, und das Erste, was du tust, ist, mich darüber zu belehren, wie ich meine Arbeit machen soll!« Für einen Augenblick schien es so, als wolle er mit geballten Fäusten auf seinen Bruder losgehen. »Es ist genauso wie früher!«

Valentin hob beschwichtigend die Hand. »Ich will dich nur bitten, dir den Mann noch einmal genau anzusehen, bevor man ihn unter die Erde bringt. Diese Flecke sind ein Beweis dafür, dass es bei seinem Tod nicht mit rechten Dingen zuging!«

»Ich sage es doch, du bist noch genauso davon überzeugt, alles besser zu wissen, wie früher!« Conrad presste die Lippen zusammen und schnaubte abfällig auf. Noch bevor Valentin aber weiter in ihn dringen konnte, ertönte nebenan der Ruf ihrer Mutter: »Das Bad ist angerichtet!«

 

Als Valentin die Badestube eine Stunde später sauber und frisch rasiert verließ, war Conrad bereits wieder unterwegs. Erst beim Abendmahl, für das ihre Mutter tatsächlich ein Brathuhn mit Backpflaumensoße zubereitet hatte, sahen sich die Brüder wieder.

»In Antwerpen«, erzählte er, um seine Unsicherheit zu überspielen, »benutzten die reichen Leute beim Essen zierliche Gabeln.« Er lachte bei der Erinnerung an seine eigenen Versuche mit dem neuartigen Esswerkzeug. »Ich kann Euch sagen, es war gar nicht so einfach, damit umzugehen!«

»Du bist weit in der Welt herumgekommen, Junge.« Die Augen der Mutter ruhten voller Stolz auf ihrem Ältesten.

Conrad tunkte ein Stück Brot in die Soße und schob es in den Mund. Er schien sich vollkommen auf sein Mahl zu konzentrieren, und Valentin tat es ihm gleich. Er spürte, was in seinem Bruder vorging, doch Conrad täuschte sich, wenn er glaubte, Valentin wäre hier, um sich als Hausherr aufzuspielen.

Ihrer Mutter war anzusehen, wie glücklich sie darüber war, endlich wieder beide Söhne daheim zu haben. Valentin fand, dass sie dünner war, als er sie in Erinnerung gehabt hatte. In ihrem Haar, das bei seiner Abreise noch so schwarz gewesen war wie sein eigenes, zeigten sich erste weiße Strähnen, doch ihre Augen blickten noch immer wach und klar.

Kaum war das Huhn verzehrt, trug die Mutter das benutzte Geschirr zum Spülstein. Anschließend stellte sie eine Schüssel mit Teig neben den Herd. Mit dem Stiel eines hölzernen Kochlöffels prüfte sie, ob das Öl im Kupferkessel seinen Siedepunkt erreicht hatte. Doch bevor sie den Teig löffelweise ins siedende Öl gleiten ließ, forderte sie ihren Ältesten auf, über die Stationen seiner Wanderung zu berichten.

Valentin erzählte, wie er zunächst nach Böhmen gezogen war und einige Zeit bei einem Wundarzt in Prag gearbeitet hatte.

»War das der Arzt, der glaubt, Krankheiten seien eigenständige Wesen?«, erkundigte sich Conrad skeptisch.

Valentin nickte. »Und als anno 1529 in Antwerpen ein großes Sterben begann, lernte ich auch seine Methoden zur Behandlung der Pest kennen.«

Inzwischen war die Mutter mit einer dampfenden Schüssel an den Tisch zurückgekehrt. Valentin lief das Wasser im Mund zusammen, als er sah, wie sie noch einen Löffel Honig über die heißen Krapfen träufelte.

»Na, dann erzähl uns doch mal, wie man die Pest anderswo behandelt!« Conrad langte nach dem ersten Krapfen.

Die Mutter setzte sich und sah ihren Ältesten über den Tisch hinweg erwartungsvoll an. Obwohl die Fürsorge für die Kranken in den Händen des Vaters gelegen hatte, während sich die Baderin vor allem um den Betrieb der Badestube gekümmert hatte, waren medizinische Fragen an diesem Tisch immer ein Thema gewesen.

»Vieles ähnelt dem, was auch hierzulande praktiziert wird.« Valentin zuckte mit den Schultern. »Zunächst erhält der Kranke ein Klistier, dann lässt man ihn zur Ader – je nachdem, wo sich die Pestbeulen gebildet haben. Erscheinen sie zuerst an Kopf und Hals, so glaubt man, befindet sich das Gift im Hirn, weshalb man das Blut aus der Hauptvene am Arm zapfen soll oder an der Hand zwischen Daumen und Zeigefinger. In manchen Fällen hält man es für hilfreich, Blut unter der Zunge zu

»Und gewiss empfiehlt man auch anderswo das Schwitzen und Purgieren, um alle vergifteten Säfte aus dem Körper des Kranken auszuleiten«, unterbrach ihn Conrad unwirsch. »Ich frage mich, wo dein neues Wissen ist, das du mit mir teilen wolltest!«

»Fall deinem Bruder nicht ins Wort!« Die Mutter warf ihrem jüngeren Sohn einen strengen Blick zu.

»Ja, Mutter.« Conrad zog die Schüssel mit den Krapfen zu sich heran, um gleich zwei davon in seinen Mund zu schieben.

Valentin schmunzelte; auch wenn der Vater in der Tischrunde fehlte, schien in diesem Moment alles wie früher zu sein.

»Du hast mich gefragt, wie man die Pestkranken anderswo behandelt«, sagte er, indem er Conrad zuzwinkerte. »Falls du jedoch wissen wolltest, was der Doktor unternahm, um sie zu heilen, so kann ich dir sagen: kaum etwas davon!«

»Wie daf?«, nuschelte Conrad mit vollem Mund, was ihm noch einen mahnenden Blick der Mutter eintrug.

»Seiner Ansicht nach schwächen Maßnahmen wie der Aderlass und die Purgation einen Pestkranken viel zu sehr, vor allem wenn der Heiler, wie allgemein empfohlen wird, die Behandlung über Tage wiederholt. Auch das Aufschneiden oder Anritzen der Beulen würde den Tod nach seiner Erfahrung eher beschleunigen«, erklärte Valentin, bevor er sich einen weiteren Krapfen nahm.

»Aber gerade das ist doch die wirkungsvollste Art, das Gift

Valentin nickte. Vor allem sein Bruder hatte sich während ihrer Lehrzeit lange nicht dazu überwinden können, denn trotz seines aufbrausenden Temperaments besaß Conrad ein äußerst mitfühlendes Wesen. Während er den letzten Krapfen aus der Schüssel fischte, fragte sich Valentin, wie Conrad es inzwischen geschafft hatte, sich mit den blutigen und schmerzhaften Seiten seines Handwerks abzufinden. »Der Doktor jedenfalls hatte beobachtet, dass mehr seiner Patienten überlebten, wenn er ihnen herzstärkende und fiebersenkende Tränke verordnete, dafür sorgte, dass sie viel Flüssigkeit zu sich nahmen und gute Pflege erhielten. Reinlichkeit und Aufmunterung, davon war er überzeugt, können weitaus mehr zur Heilung beitragen als teure Kuren, die letztlich nur die Taschen des Arztes füllen.« Er schob sich den Krapfen in den Mund und leckte sich anschließend den Honig von den Fingern.

»Hört, hört«, rief Conrad. »Dann ernährt sich dein Doktor wohl von Luft und Nächstenliebe?«

»Als vermögender Mann kann er sich das vielleicht leisten«, gab die Mutter zu bedenken. »Aber wir müssen jetzt von dem leben, was uns das Wundheilen einbringt.«

Valentin hatte keineswegs den Eindruck gehabt, dass der Doktor ein vermögender Mann war, doch darüber zu diskutieren würde zu nichts führen. »Auch wenn die Schließung des Badehauses hart für uns ist, erachte ich die Maßnahme dennoch als richtig«, sagte er stattdessen.

»Sei es, wie es sei.« Die Mutter erhob sich, um das Geschirr abzuräumen. »Vorsicht ist zurzeit an jedem Ort geboten.

Valentin musste schmunzeln, als er sah, wie Conrad mit den Augen rollte. »Wir werden uns vorsehen«, versprach er. »Aber welche Maßnahmen hat der Rat zu Pirna außerdem ergriffen, um die Bürger vor der Pestilenz zu schützen?«