Wenn man sich das Rechtsdienstleistungsangebot in Deutschland näher anschaut, so vermittelt dies doch interessante und überraschende Erkenntnisse. Rund 165.000 Rechtsanwälten und ca. 90.000 Steuerberatern bzw. Steuerbevollmächtigten stehen nur etwas mehr als 1.000 gerichtlich zugelassene Rentenberater gegenüber. Diese Personen sind neben den vielen Tausend amtlichen und ehrenamtlichen Beratern der Deutschen Rentenversicherung ebenfalls Ansprechpartner in allen Fragen der Altersvorsorge. Dabei gibt es auch in Zukunft erheblichen Bedarf an kompetenter Renten- und Altersvorsorgeberatung. Immerhin ist die Deutsche Rentenversicherung europaweit der größte gesetzliche Rentenversicherer und betreut mehr als 57 Millionen Kunden – fast drei Viertel der Menschen in der Bundesrepublik. Nicht zuletzt unter Berücksichtigung der neuen Reformgesetze im Rentenversicherungsrecht hat die Bedeutung der Altersvorsorge erheblich zugenommen. Das Rentenpaket I mit der Mütterrente (2014), das Flexi-Rentengesetz (2016), die Verbesserung der Leistungen bei Renten wegen Erwerbsminderung (2017), das Rentenversicherungs-Leistungsverbesserungs- und Stabilisierungsgesetz (2018) sind beste Beispiele dafür.
Den Schlusspunkt für die erfolgreichen Anstrengungen der 3. Großen Koalition (2018-2021) zur Verbesserung der Einkommenssituation der Rentnerinnen und Rentner bildet die Grundrente für langjährige Versicherung mit unterdurchschnittlichem Einkommen. Sie ist als Rentenzuschlag konzipiert und unabhängig von einer nachzuweisenden Bedürftigkeit der Leistungsbezieher, unterliegt aber der Einkommensanrechnung. Die Grundrente wird als große soziale Errungenschaft bezeichnet und ist mit Wirkung vom 01.01.2021 eingeführt worden.
Unser Ziel ist es, auch mit der neuen Auflage des Fachbuches das jetzt geltende Rentenrecht fachbezogen zu erläutern und durch praktische Beispiele verständlicher zu gestalten. Auch der Rentenbescheid, der im Verwaltungsverfahren nur noch mit verkürzten Berechnungsübersichten an den Versicherten versandt wird, erhält in diesem Buch eine voll umfängliche Darstellung und Erläuterung zum gesamten Berechnungsvorgang. Zurecht erwarten die Leser präzise Antworten u.a. auf folgende Fragen: „Welche Rentenansprüche habe ich?“, „Kann ich früher in Rente gehen und wie funktioniert das am besten ohne Abschläge?“ „Besteht die Möglichkeit, meine Abschläge bei vorzeitiger Altersrente durch zusätzliche Beitragszahlung auszugleichen?“ „Welche Chancen bestehen, um neben der Rente noch Hinzuverdienst zu erzielen?“, „Wie wird meine Rente berechnet“ bzw. „Was versteht man unter der Grundrente und bin ich dafür berechtigt?“
Entscheidend für die künftige Entwicklung der Rentenversicherung im Zusammenhang mit einer auskömmlichen Altersvorsorge bis 2030 und darüber hinaus wird die Weichenstellung sein, die politisch nach der Bundestagswahl am 26.09.2021 von der neuen Bundesregierung vorgenommen wird. Auswirkungen dürften ab 2023 zu erwarten sein.
Unser Buch wendet sich an alle Mitarbeiter im Personal- und Sozialwesen, der Unternehmen, der Industrie, des Handels sowie der Banken und Versicherungen. Auch für die mit Sozialrechtsfragen betrauten Mitarbeiter von Steuerberatungsbüros, der Gewerkschaften und der Sozialverbände, die Mitglieder der Widerspruchsausschüsse, die Institutionen der Sozialgerichtsbarkeit, die ehrenamtlichen Versichertenberater und für die nach dem Rechtsdienstleistungsgesetz tätigen Rentenberater soll es ein profundes Nachschlagewerk sein.
Karlsruhe, im September 2021
Wolfgang Wehowsky und Harald Rihm
Wenn dieses Buch erscheint, befinden wir uns im 64. Jahr nach der ersten großen Rentenreform des Jahres 1957. Insgesamt kann die gesetzliche Rentenversicherung in Deutschland seit 1889 bereits auf eine 132-jährige Geschichte zurückblicken. Dass es sich dabei um eine Erfolgsgeschichte handelt, ist durch die Fakten belegt. Hervorzuheben sind insbesondere die Sicherheit und Stabilität der gesetzlichen Rentenversicherung. Die gesetzliche Rente hat außergewöhnliche Krisensituationen in ihrer langjährigen Geschichte mit Bravour gemeistert.
Keiner der heute 30- bis 60-Jährigen, aber auch wenige Ältere können sich heute noch die gravierenden wirtschaftlichen und sozialen Auswirkungen ausmalen, die von der Bevölkerung während und nach den beiden Weltkriegen zwischen 1914 und 1918 sowie zwischen 1939 und 1945 zu bewältigen waren.
Selbst die Hyperinflation des Jahres 1923 in der Weimarer Republik, eine der stärksten Geldentwertungen, die eine der großen Industrienationen in der Neuzeit je erleben musste, konnte der Rentenversicherung etwas anhaben. Die Weltwirtschaftskrise 1929, die die sog. „Goldenen Zwanziger Jahre“ beendete, und die Währungsreform 1948 mit Einführung der DM konnten das Leistungsgefüge der Rentenversicherung ebenfalls nicht erschüttern.
Die Finanzierung der gesetzlichen Rentenversicherung war bis 1956 auf ein Anwartschaftsdeckungsverfahren gegründet. Danach sollten aber die Rentenzahlungen ursprünglich keine Lohnersatzfunktion besitzen, sondern lediglich einen Zuschuss zum Lebensunterhalt darstellen.
Wie war es möglich, unser Rentensystem durch eine Vielzahl von Reformen immer up to date zu halten? Als besonderen Vorteil für die Entwicklung einer modernen Rentenversicherung hat es sich dabei erwiesen, dass die im Sozialgesetzbuch vorgesehene SelbstverwaltungSelbstverwaltung der Rentenversicherungsträger, die gesetzgebenden Körperschaften und die sie tragenden Parteien, die Verbände und die Gewerkschaften, Organisationsstruktur, Leistungsumfang und Leistungsniveau der gesetzlichen Rentenversicherung vorausschauend und flexibel an die grundlegenden gesellschaftlichen Umwälzungen in der Bundesrepublik anpassen konnten. Themen dieses Paradigmenwandels sind z.B. die überwundene Stagnation unserer volkswirtschaftlichen Entwicklung als Folge der Globalisierung und offener Märkte, der Geburtenrückgang, das ständig steigende Lebensalter und die damit sich verändernde Altersstruktur der Rentenversicherten und Leistungsempfänger.
Heute, nach Inkrafttreten der letzten großen Reformen mit Anhebung der RegelaltersgrenzeRegelaltersgrenze vom 65. auf das 67. Lebensjahr sowie der Rentenpakete 2014 und 2018 steht das bundesdeutsche Rentensystem wieder auf stabilen Füßen. Die Nachhaltigkeitsrücklage der Rentenversicherung beträgt Ende 2020 mit mehr als 36 Milliarden € noch 1,53 Monatsausgaben. Trotz der einzupreisenden Auswirkungen der Corona-Pandemie, die uns 2020 vor große Herausforderungen in jeglicher Hinsicht gestellt hat, ist das ein gutes Ergebnis. Der unumgängliche Lockdown aufgrund des Corona-Virus führte 2020 auf dem Arbeitsmarkt zu einem Rückgang der Zahl der Beschäftigten, einem dramatischen Anstieg der Zahl der Kurzarbeiter und einer Zunahme der Arbeitslosigkeit. Der Rentenbeitragssatz kann zwar trotz angespannter Einnahmesituation zunächst bei 18,6 Prozent gehalten werden. Dennoch zeichnen sich heute schon moderate Beitragssatzsteigerungen ab 2023 ab. Die Krise ist auch bei den Rentnern angekommen. Eine Rentenanpassung im Jahr 2021 findet nicht statt. Für Kurzarbeitergeld werden zwar Rentenbeiträge gezahlt, aber dies ist kein Entgelt, das in die Berechnung der Rentenanpassung für 2021 eingeht. Hier wirkt sich die rückläufige Lohnentwicklung des Vorjahres direkt auf die Rentenanpassung aus. Die Rücklagen der gesetzlichen Rentenversicherung werden nach der letzten Finanzschätzung in den kommenden Jahren kontinuierlich abschmelzen und voraussichtlich im Jahr 2023 die Untergrenze von 0,2 Monatsausgaben erreichen. Beitragssatzsteigerungen sind dann ohnehin unvermeidlich.
Was waren nun in den letzten 64 Jahren die Highlights der bundesdeutschen Sozialpolitik, die der gesetzlichen Rentenversicherung ihr Gepräge gaben?
Am Anfang stand die grundlegende Rentenreform des Jahres 1957, mit der die gesetzliche Rentenversicherung mit so viel Energie aufgeladen wurde, dass sie ihre herausragende sozialpolitische Bedeutung bis in die Gegenwart hinein bewahren konnte.
Diese Reform wird zu Recht als Jahrhundertwerk bezeichnet. Sie war notwendig geworden, nachdem sich in der wirtschaftlich aufstrebenden Bundesrepublik in den 50er Jahren der Abstand zwischen Löhnen und Renten ständig vergrößerte und mit Rentenzulagen bzw. pauschalen Rentenerhöhungen kein Anschluss an die Einkommensentwicklung erzielt werden konnte.
Schwerpunkte der Reform waren eine Gleichstellung der rentenrechtlichen Ansprüche für Arbeiter und Angestellte und die Einführung der neuen bruttolohnbezogenen dynamischen Rente. Damit verbunden war auch die wegweisende Umstellung der Finanzierung der Rentenversicherung vom Anwartschaftsdeckungsverfahren auf das Umlageverfahren.
Die wichtigsten Grundsätze waren:
Gleiches Recht für Arbeiter und Angestellte
Eine neue „lohnbezogene Rentenformel
Die Rente hat Lohnersatzfunktion
Finanzierung der Rente durch die aktiv Versicherten (Umlageverfahren)
Generationenvertrag!
Rehabilitation vor Erwerbsminderungsrente
Gleiches Recht für Arbeiter und Angestellte
Durch die getrennte Entwicklung der gesetzlichen Rentenversicherung für die Berufsgruppe der Arbeiter in der Reichsversicherungsordnung und für die Berufsgruppe der Angestellten in dem Angestelltenversicherungsgesetz existierten einige Leistungsunterschiede bei den Ansprüchen auf eine Invaliditäts- bzw. Berufsunfähigkeitsrente, den jeweiligen Hinterbliebenenrenten und bei der Ermittlung der Rentenhöhe. Seit 1957 ist gewährleistet, dass es beitrags- und rentenrechtlich keinerlei Unterschiede mehr zwischen Arbeitern und Angestellten gibt.
Die neue „lohnbezogene“ Rentenformel
Die neue dynamische Rentenformel basierte auf vier miteinander verknüpften Faktoren. Dabei ging es um
die Zahl der jeweils anrechnungsfähigen Versicherungsjahre,
das Verhältnis des jeweils versicherten Bruttolohnes zum Durchschnittsbruttolohn aller Versicherten während der gesamten Versicherungszeit (persönliche Bemessungsgrundlage),
eine durch den Gesetzgeber festgelegte allgemeine Bemessungsgrundlage, die das aktuelle durchschnittliche Lohnniveau widerspiegelt und
einen Steigerungssatz je Versicherungsjahr in Höhe von 1,5 Prozent (Erwerbsminderungsrente, Altersrente) und 1 Prozent (Berufsunfähigkeitsrente).
Wer z.B. 45 anrechnungsfähige Versicherungsjahre geleistet hatte, erhielt als Altersrente jährlich 67,5 Prozent der persönlichen Bemessungsgrundlage. Die Rente hatte erstmals Lohnersatzfunktion, nachdem sie bezüglich ihrer Höhe auch abhängig wurde von der aktuellen Entwicklung der Bruttolöhne und Gehälter. Die Umstellung der Rentenformel 1957 führte seinerzeit sofort zu einer durchschnittlichen Steigerung der Renten aus der Arbeiterrentenversicherung um 65 und aus der Angestelltenversicherung um 72 Prozent.
Finanzierung der Rente durch die aktiv Versicherten (Umlageverfahren)
Nach dem Umlageprinzip zahlen Arbeitnehmer und Arbeitgeber ab 1957 je zur Hälfte in die Rentenkassen ein, die zudem noch von einem BundeszuschussBundeszuschuss gespeist werden. Heute (2012) werden die Renten in erheblichem Umfang (etwas mehr als 30 Prozent) mit Mitteln aus dem Bundeshaushalt – also aus Steuermitteln – finanziert. Beim Bundeszuschuss wird zwischen dem allgemeinen und dem zusätzlichen Zuschuss unterschieden. Der allgemeine Zuschuss dient der Finanzierung der Leistungen in gleicher Weise wie die Beiträge der Versicherten und der Arbeitgeber. Der zusätzliche Zuschuss, der aus einer Mehrwertsteuererhöhung um 1 Prozent im Jahr 1998 resultiert und seit 1999 um die Ökosteuer ergänzt wurde, soll die nicht beitragsgedeckten Leistungen der Rentenversicherung abdecken. Bundeszuschuss und zusätzlicher Bundeszuschuss haben folgenden Hintergrund: Die gesetzliche Rentenversicherung übernimmt eine Reihe von Leistungen, die nicht auf den Kreis der Versicherten und Beitragszahler begrenzt sind, so dass die Leistungen nicht in vollem Umfang durch entsprechende Beitragseinnahmen gedeckt sind. Zu den ungedeckten Leistungen zählen u.a. Ersatzzeiten, wie Wehr- und Kriegsdienst, Fremdrenten, Kindererziehungszeiten, Anrechnungs- und Berücksichtigungszeiten sowie die Rentenfinanzierung in den neuen Bundesländern.
GenerationenvertragGenerationenvertrag
So bezeichnet man ein ungeschriebenes Übereinkommen zwischen den Generationen, mit der die Finanzierung der gesetzlichen Rentenversicherung gesichert werden soll. Die derzeitigen Erwerbstätigen zahlen mit ihren Beiträgen die Renten der aus dem Erwerbsleben ausgeschiedenen Personen und erwerben dabei gleichzeitig Ansprüche auf ähnliche Leistungen der nachfolgenden Generationen an sich selbst.
Rehabilitation vor Erwerbsminderungsrente
Rehabilitationsleistungen erhalten Vorrang vor Rentenleistungen, die bei einer erfolgreichen Rehabilitation nicht oder voraussichtlich erst zu einem späteren Zeitpunkt zu erbringen sind. Dieser Grundsatz hat bis heute herausragende Bedeutung. Er wurde durch die spätere Gesetzgebung mit dem Rehabilitations-Angleichungsgesetz von 1974 und dem Sozialgesetzbuch IX – Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen – im Jahr 2001 nachhaltig verfestigt.
Die Rentenfinanzen gestalteten sich in der ersten Dekade nach den Reformen des Jahres 1957 außerordentlich gut und wurden gestützt durch die expansive Wirtschaftsentwicklung der Bundesrepublik Deutschland in diesem Zeitraum. Trotz Leistungsverbesserungen durch Novellierung der Reformgesetze im Laufe der 60er Jahre entwickelte sich ein sozialpolitischer Grundkonsens zu weiteren strukturellen Reformen, der die gesellschaftliche Aufbruchstimmung nach Amtsübernahme durch die sozialliberale Koalition in Bonn widerspiegelte. Als die abschließenden Beratungen zur Rentenreform 1972 allerdings im Bundestag anstanden, erhielten sie durch die wechselnden Machtverhältnisse zwischen Regierung (SPD/FDP) und Opposition (CDU/CSU) eine besonders pikante Note. Zur Erinnerung: Obwohl nach dem Übertritt mehrerer Koalitionsabgeordneter zur Opposition, das konstruktive Misstrauensvotum im April 1972 scheiterte und letztlich zu den Neuwahlen im Herbst 1972 führte, war die Verabschiedung der Rentenreform im Spätsommer 1972 von einer parlamentarischen Pattsituation gekennzeichnet. Dadurch konnten die Rentengesetze nur durch Kompromisse im Sinne der CDU/CSU beschlossen werden. So blieb z.B. das von der Regierung vorgesehene „Babyjahr“ für erwerbstätige Mütter unberücksichtigt. Erst 1986 war die Zeit reif für entsprechende familienpolitische Reformen in der Rentenversicherung. Dennoch konnten sich die erreichten Leistungsverbesserungen für Versicherte und Rentner sehen lassen.
Beibehaltung der Grundsätze von 1957, aber
Öffnung der Rentenversicherung für Selbständige und Hausfrauen
lukrative Nachentrichtungsmöglichkeiten mit hoher Rendite zurück bis 1956
flexible Altersgrenzen (Senkung des Lebensalters von 65 auf 62 – Schwerbehinderte – und 63-langjährig Versicherte)
Rente „nach Mindesteinkommen“ für Kleinverdiener (Anhebung auf 75 Prozent des Durchschnittsverdienstes aller Versicherten)
Öffnung der Rentenversicherung für Selbständige und Hausfrauen
Alle Personen ab dem 16. Lebensjahr erhielten die Möglichkeit zur freiwilligen Versicherung. Gleichzeitig wurde allen Nichtversicherten (vor allem Hausfrauen) die Möglichkeit der Nachentrichtung von freiwilligen Beiträgen zurück bis zum 01.01.1956 eingeräumt. Den bislang nicht versicherungspflichtigen Selbständigen wurde die Möglichkeit eingeräumt, auf Antrag versicherungspflichtig zu werden. Außerdem konnten sie von einer äußerst vorteilhaften Beitragsnachentrichtung bis zum 01.01.1956 zur Schließung vorhandener Beitragslücken Gebrauch machen. Die dabei erzielbare Rendite des eingezahlten Beitrages betrug dabei zum Teil mehr als 30 bzw. 40 Prozent pro anno.
Einführung flexibler Altersgrenzen
Die starre Regelaltersgrenze mit 65 Jahren gehörte ab 01.01.1973 der Vergangenheit an. Wer die besondere Wartezeit von 35 Versicherungsjahren (Beitrags-, Ersatz- und Ausfallzeiten sowie der Zurechnungszeit) erfüllte, konnte die „flexible“ Altersrente – abschlagsfrei – bereits ab dem 63. Lebensjahr beziehen. Bis zur Änderung durch den neugewählten Bundestag war der Rentenbezug sogar ohne jegliche Einschränkungen neben dem vollen Arbeitsverdienst zugelassen. Erst ab 01.04.1973 wurden die Hinzuverdienstmöglichkeiten neben der flexiblen Altersrente auf 30 Prozent der monatlichen Beitragsbemessungsgrenze festgelegt.
Schwerbeschädigte Versicherte (heute: Schwerbehinderte) erhielten diese flexible Altersrente – auf Antrag – bereits ab dem 62. Lebensjahr.
Rente „nach Mindesteinkommen“
Dadurch wurden Kleinstrenten langjährig pflichtversicherter Arbeitnehmer deutlich angehoben. Wer mindestens 25 anrechnungsfähige Versicherungsjahre ohne freiwillige Beiträge und Ausfallzeiten zurückgelegt hatte, erhielt einen Zuschlag an Werteinheiten in der Rentenberechnung (dies aber begrenzt auf die Pflichtbeiträge bis zum 31.12.1972). Die Werte für die Pflichtbeiträge wurden um die Hälfte – höchstens aber auf 75 Prozent des Durchschnittsverdienstes aller Versicherten – angehoben.
Die Rente nach Mindesteinkommen führte allein zur Anhebung von mehr als 12 Prozent aller Renten, wobei in 4 von 5 Fällen diese Erhöhung Frauen zugutekam. Dadurch wurde das vom Gesetzgeber anvisierte Ziel erfüllt, die geschlechterspezifisch bedingte Lohnminderung langjährig erwerbstätiger Frauen zu beseitigen.
Es fällt schwer, sich für diesen Zeitraum auf die wichtigsten Rechtsänderungen zu beschränken. So viel hat sich in diesem 20-Jahreszeitraum mit konjunkturellen Schwierigkeiten (bedingt durch die Ölkrise) und gesellschaftlichen Umbrüchen ereignet.
Konsolidierungsmaßnahmen in den 70er Jahren
1.07.1977 – Rentenanpassungsgesetz (RAG) –
Verschiebung der Rentenanpassung (9,9 Prozent) um sechs Monate vom 1.07.1977 auf 1.01.1978
Einführung der Versicherungs- u. Beitragspflicht für Arbeitslosgengeld- und hilfebezieher (ab 1.07.1978 bis 31.12.1982)
1.07.1978 – 21. RAG –
Abkoppelung der Rentenanpassung von der Lohndynamik
feste Anpassungssätze
zum 1.01.1979 4,5 Prozent (anstatt 7,2 Prozent)
zum 1.01.1980 4,0 Prozent (anstatt 6,2 Prozent)
zum 1.01.1981 4,1 Prozent (anstatt 6,0 Prozent)
Auf die im Alten Testament verkündeten „sieben fetten Jahre“ folgten nun auch in der Sozialpolitik „sieben magere Jahre“, wobei man sich an der Exaktheit der Zeitrechnung nicht festhalten sollte.
Verschiebung der Rentenanpassung im Jahr 1977 um 6 Monate
Feste Anpassungssätze von 1979 bis 1981
Die mit der Rentenreform 1972 prognostizierten hohen Einnahmeüberschüsse von mehr als 210 Milliarden DM bis 1986 ließen sich aufgrund der weltweiten Rezession durch den Ölpreisschock (1973/1974) nicht mehr realisieren. Deshalb waren 1977 (20. RAG) und 1978 (21. RAG) drastische Konsolidierungsmaßnahmen notwendig, mit der die Rentenanpassungsdynamik der bruttolohnbezogenen Rente deutlich gebremst wurde.
Als leistungssteigernde Neuregelung entpuppte sich dagegen die
Einführung der Versicherungs- und Beitragspflicht für Arbeitslosengeld- und Arbeitslosenhilfebezieher (01.07.1978 bis 31.12.1982).
Sie hatte ihre Ursache in arbeitsmarkt-, sozial- und finanzpolitischen Beweggründen. Die steigende Zahl der Arbeitslosen führte zu Einnahmeausfällen in der Rentenversicherung, während die Bundesanstalt für Arbeit über ein hohes Rücklagenpolster verfügte. Diese vom Bundesarbeitsminister Ehrenberg betriebene Einbindung der Arbeitslosen in die Versicherungspflicht der Rentenversicherung hat politisch unter der Bezeichnung „Verschiebebahnhof“ zwischen den Trägern der Sozialversicherung einen symbolischen Prägestempel erhalten.
Mit der Neuregelung des Scheidungsrechtes und dem Wechsel vom Verschuldens- zum Zerrüttungsprinzip folgte der Gesetzgeber ab 1977 langjährigen gesellschafts- und familienpolitischen Forderungen – vor allem mit Blick auf den Aufbau einer eigenständigen Alterssicherung für Frauen.
Einführung des Versorgungsausgleichs bei Ehescheidungen nach dem 30.06.1977 (Reform des Ehe- und Familienrechts in Kraft ab 1.07.1977)
Erschwerung der Anspruchsvoraussetzungen für BU/EU-Renten ab 1.01.1984 (+ 36 Pflichtbeiträge in den letzten 60 Kalendermonaten)
Hinterbliebenenrenten- u. Erziehungszeiten – Reform vom 1.01.1986 an
Einführung von Kindererziehungszeiten als Versichungszeiten in der Rentenversicherung (heute Pflichtbeitragszeiten!)
Unbedingte Witwen- u. Witwerrente mit Einkommensanrechnung
Einführung des Versorgungsausgleichs bei Ehescheidungen nach dem 30.06.1977
Der Versorgungsausgleich löste einen nur unter erschwerten Voraussetzungen zu erwerbenden Rentenanspruch auf sog. Geschiedenenwitwenrente ab. Die in der Ehezeit erworbenen gemeinsamen Rentenansprüche werden zusammengerechnet und beiden Eheleuten zu gleichen Teilen zugeordnet. Der betragsmäßige Wertausgleich erfolgt im Wesentlichen in der Rentenversicherung über den vom Familiengericht festgestellten Versorgungsausgleich.
Erschwerung der Anspruchsvoraussetzungen für Berufs- bzw. Erwerbsunfähigkeitsrenten (BU/EU)
Bei Leistungsfällen ab 01.01.1984 wird die heute als Erwerbsminderungsrente bezeichnete Rentenart nur noch bei vorheriger versicherungspflichtiger Erwerbstätigkeit bewilligt. Neben der normalen Wartezeit von 60 Monaten Versicherungszeit müssen in einem Zeitraum, der die letzten 60 Kalendermonate vor der Erwerbsminderung umfasst, mindestens 36 Kalendermonate an Pflichtbeiträgen nachgewiesen werden.
Damit zusammenhängend wurde im Haushaltsbegleitgesetz 1984 auch die Wartezeit für die Regelaltersrente ab 65 von 180 auf 60 Kalendermonate Versicherungszeit reduziert. Übrigens für Neurentner ab 01.01.1984 ist der Kinderzuschuss zur Versichertenrente weggefallen. Er betrug zuletzt 152,90 DM monatlich. Die Bruttoanpassung der Renten wurde mit der Einführung eines – sukzessiv steigenden – Eigenbetrages der Rentner zu ihrer Krankenversicherung abgeschwächt.
Hinterbliebenenrenten und Erziehungszeiten – Reform ab 01.01.1986
Durch die Neuordnung des Hinterbliebenenrentenrechts sind seit 1986 Männer und Frauen bei der Gewährung von Hinterbliebenenrente gleichgestellt. Eine unabdingbare Witwen- und Witwerrente wurde aber mit der Anrechnung von Erwerbs- bzw. Erwerbsersatzeinkommen des Hinterbliebenenrentners verknüpft.
Einen wichtigen Baustein zur eigenständigen sozialen Sicherung der Frauen stellt die Einführung der Kindererziehungszeit von einem Jahr pro Kind dar.
Mit dem dritten großen Reformwerk sollten „Beständigkeit und Verlässlichkeit“, restituiert, die sich „laufend ändernden“ – ökonomischen, sozialen, demografischen – Bedingungen integriert, rechts- und sozialpolitische Fehlentwicklungen korrigiert, der Vertrauensschutz garantiert und die Finanzen konsolidiert werden (BT-Drs. 11/4124, S. 138–145).
Die Rentenreform 1992 wurde gekleidet in das neue Sozialgesetzbuch VI. Buch (SGB VI). Im SGB VI wird das gesamte materielle Recht der gesetzlichen Rentenversicherung für alle Versicherungszweige zusammengefasst. Damit traten zum 01.01.1992 die Reichsversicherungsordnung, das Angestelltenversicherungsgesetz und das Reichsknappschaftsgesetz im Rentenrecht außer Kraft.
Die wichtigsten Grundsätze sind:
Nettoanpassung der Renten
stufenweise Heraufsetzung der vorzeitigen und flexiblen Altersgrenzen
Einführung einer Altersteilrente
Neuordnung der beitragslosen Zeiten
Ausbau familienbezogener Elemente (Berücksichtigungszeiten!)
Ausweitung der „Rente nach Mindesteinkommen“ (Einbeziehung der Pflichtbeiträge vom 1.01.1973 bis 31.12.1991)
Nettoanpassung der Renten
Schon während der 80er Jahre wurde die Forderung erhoben, dass sich Renten und verfügbare Arbeitnehmereinkommen künftig gleichgewichtig entwickeln sollen. Nachdem die hälftige Eigenbeteiligung der Rentner am Beitrag zur Krankenversicherung der Rentner mit der Rentenanpassung ab 01.07.1987 abgeschlossen werden konnte, erfolgte erstmals zum 01.07.1992 eine Nettoanpassung der Zugangs- und Bestandsrenten. Maßgebend dafür war – wie bisher – der durchschnittliche Anstieg der Bruttoverdienste bei den Beschäftigten unter Berücksichtigung der durchschnittlichen Belastungsveränderungen infolge von Steuern und Sozialbeiträgen.
Stufenweise Heraufsetzung der vorzeitigen und flexiblen Altersgrenzen
Die Altersgrenzen 60 und 63 sollten gleichzeitig und stufenweise bis zum Jahre 2010 auf eine Regelaltersgrenze 65 angehoben werden, wobei mit der Anhebung im Jahr 2001 in Einzelschritten begonnen werden sollte. Die vorzeitige Inanspruchnahme einer Rente sah schon hier Abschläge von der Rentenhöhe vor.
Einführung einer Altersteilrente
Ab 01.01.1992 können Versicherte eine Altersrente in voller Höhe (Vollrente) oder als Teilrente im Umfang von einem Drittel, der Hälfte oder zwei Drittel der erreichten Vollrente in Anspruch nehmen. Die Teilrenten sollen einen flexiblen Übergang vom Erwerbsleben in den Ruhestand ermöglichen. Tatsächlich wird hiervon aber bislang nur in wenigen Fällen Gebrauch gemacht.
Neuordnung der beitragslosen Zeiten
Beitragslose Zeiten, wie z.B. Krankheitszeiten, Zeiten der Arbeitslosigkeit oder Zeiten der Schulausbildung konnten bis 1991 nur bei der Rente angerechnet werden, wenn die Halbbelegung mit Pflichtbeiträgen erfüllt war. Seit 01.01.1992 werden alle beitragsfreien und beitragsgeminderten Zeiten unabhängig von der Anzahl der Pflichtbeiträge bei der Rentenberechnung berücksichtigt. Bei der Bewertung dieser Zeiten wird jedoch die vorhandene Beitragsdichte zugrunde gelegt.
Ausbau familienbezogener Elemente
Bei Geburten ab 01.01.1992 erhöht sich die Kindererziehungszeit für ein Kind von einem Jahr auf drei Jahre. Daneben wird die Berücksichtigungszeit als weitere rentenrechtliche Zeit eingeführt. Berücksichtigungszeiten zählen u.a. mit bei der Erfüllung der Wartezeit für langjährig Versicherte (35 Jahre) und wirken sich darüber hinaus rentensteigernd aus.
Ausweitung der „Rente nach Mindesteinkommen“
Die Prüfung der Rente nach Mindesteinkommen wird um die Pflichtbeiträge für die Zeit vom 01.01.1973 bis 31.12.1991 erweitert. Erforderlich sind aber nun mindestens 35 Jahre mit rentenrechtlichen Zeiten, zu denen auch die beitragsfreien Zeiten und die Berücksichtigungszeiten gehören.
Bei der Wiedervereinigung mit der ehemaligen DDR konnten Millionen ostdeutscher Versicherter und Rentner in das Rentensystem der Bundesrepublik integriert werden. Mit dem Rentenüberleitungsgesetz (RÜG), das zugleich mit dem SGB VI am 01.01.1992 in Kraft trat, gelang es, das in der ehemaligen DDR vorrangig auf eine Mindestsicherung angelegte Rentensystem durch das lohn- und beitragsbezogene bundesdeutsche Rentenversicherungssystem abzulösen.
Mit dem WFG wurde die Anhebung der Altersgrenze vom 60. auf das 65. Lebensjahr bei der Altersrente wegen Arbeitslosigkeit und nach Altersteilzeit vorgezogen. Ursächlich verantwortlich hierfür war die drastische Ausweitung der von den Unternehmen praktizierten Frühverrentungspraxis.
Darüber hinaus führten folgende weitere Einschränkungen zu reduzierten Regelleistungen aus der gesetzlichen Rentenversicherung:
Kernstück des WFG sind Einsparungen
im Gebiet der Rehabilitation
durch verminderte Berücksichtigung
von Zeiten schulischer Ausbildung und
von Zeiten der Arbeitslosigkeit und Krankheit ohne Leistungsbezug
der ersten Berufsjahre
keine rentensteigernde Anrechnung von Krankheits- und Arbeitslosigkeitszeiten ohne Leistungsbezug
Anrechnung von Zeiten schulischer Ausbildung
Die Anrechnung von Schulzeiten bei der Rentenberechnung unterlag in den zurückliegenden 20 Jahren ständigen Einschränkungen. Vom 01.01.1992 an wurden insgesamt 7 Jahre als rentensteigernde Zeiten der Schul-, Fachschul- und Hochschulausbildung nach dem 16. Lebensjahr berücksichtigt. Das WFG setzte mit dem 01.01.1997 (Rentenbeginn) bei allen Schulzeiten einen Zeitraum von höchstens drei Jahren nach dem 17. Lebensjahr für eine rentensteigernde Anrechnung fest.
Verschlechterung der Bewertung der ersten Berufsjahre
Ab 01.01.1992 waren in der Regel die ersten 48 Kalendermonate nach Eintritt in die Rentenversicherung bei der Rentenberechnung einer Sonderbewertung unterzogen, soweit es sich dabei um Pflichtbeiträge gehandelt hat. Da in den ersten Berufsjahren meistens die gering entlohnten Berufsausbildungszeiten liegen, wurden diese Pflichtbeiträge mit 90 v.H. des Durchschnittsverdienstes aller Versicherten angerechnet. Durch das WFG ist diese Besserstellung ab 01.01.1997 abgeschafft worden. Berufsausbildungszeiten bzw. die ersten 36 Pflichtbeitragsmonate vor dem 25. Lebensjahr erhalten seither nur noch einen Zuschlag bei der Gesamtleistungsbewertung für beitragsfreie und beitragsgeminderte Zeiten.
Anrechnungszeiten wegen Krankheit und Arbeitslosigkeit ohne Leistungsbezug werden ab 01.01.1997 zwar weiterhin als rentenrechtliche Zeiten berücksichtigt, doch bleiben sie bei der Rentenberechnung ohne jegliche Bewertung.
Die wichtigsten Maßnahmen sind:
Einführung eines demographischen Faktors
Neuordnung des Bereichs der Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit
Anhebung der Altersgrenzen für Schwerbehinderte
Abschaffung der Altersrente wegen Arbeitslosigkeit
Anhebung der Bewertung und additive Berücksichtigung von Kindererziehungszeiten