Die Rentenberatung

Inhalt

Vorwort

Wenn man sich das Rechtsdienstleistungsangebot in Deutschland näher anschaut, so vermittelt dies doch interessante und überraschende Erkenntnisse. Rund 165.000 Rechtsanwälten und ca. 90.000 Steuerberatern bzw. Steuerbevollmächtigten stehen nur etwas mehr als 1.000 gerichtlich zugelassene Rentenberater gegenüber. Diese Personen sind neben den vielen Tausend amtlichen und ehrenamtlichen Beratern der Deutschen Rentenversicherung ebenfalls Ansprechpartner in allen Fragen der Altersvorsorge. Dabei gibt es auch in Zukunft erheblichen Bedarf an kompetenter Renten- und Altersvorsorgeberatung. Immerhin ist die Deutsche Rentenversicherung europaweit der größte gesetzliche Rentenversicherer und betreut mehr als 57 Millionen Kunden – fast drei Viertel der Menschen in der Bundesrepublik. Nicht zuletzt unter Berücksichtigung der neuen Reformgesetze im Rentenversicherungsrecht hat die Bedeutung der Altersvorsorge erheblich zugenommen. Das Rentenpaket I mit der Mütterrente (2014), das Flexi-Rentengesetz (2016), die Verbesserung der Leistungen bei Renten wegen Erwerbsminderung (2017), das Rentenversicherungs-Leistungsverbesserungs- und Stabilisierungsgesetz (2018) sind beste Beispiele dafür.

Den Schlusspunkt für die erfolgreichen Anstrengungen der 3. Großen Koalition (2018-2021) zur Verbesserung der Einkommenssituation der Rentnerinnen und Rentner bildet die Grundrente für langjährige Versicherung mit unterdurchschnittlichem Einkommen. Sie ist als Rentenzuschlag konzipiert und unabhängig von einer nachzuweisenden Bedürftigkeit der Leistungsbezieher, unterliegt aber der Einkommensanrechnung. Die Grundrente wird als große soziale Errungenschaft bezeichnet und ist mit Wirkung vom 01.01.2021 eingeführt worden.

Unser Ziel ist es, auch mit der neuen Auflage des Fachbuches das jetzt geltende Rentenrecht fachbezogen zu erläutern und durch praktische Beispiele verständlicher zu gestalten. Auch der Rentenbescheid, der im Verwaltungsverfahren nur noch mit verkürzten Berechnungsübersichten an den Versicherten versandt wird, erhält in diesem Buch eine voll umfängliche Darstellung und Erläuterung zum gesamten Berechnungsvorgang. Zurecht erwarten die Leser präzise Antworten u.a. auf folgende Fragen: „Welche Rentenansprüche habe ich?“, „Kann ich früher in Rente gehen und wie funktioniert das am besten ohne Abschläge?“ „Besteht die Möglichkeit, meine Abschläge bei vorzeitiger Altersrente durch zusätzliche Beitragszahlung auszugleichen?“ „Welche Chancen bestehen, um neben der Rente noch Hinzuverdienst zu erzielen?“, „Wie wird meine Rente berechnet“ bzw. „Was versteht man unter der Grundrente und bin ich dafür berechtigt?“

Entscheidend für die künftige Entwicklung der Rentenversicherung im Zusammenhang mit einer auskömmlichen Altersvorsorge bis 2030 und darüber hinaus wird die Weichenstellung sein, die politisch nach der Bundestagswahl am 26.09.2021 von der neuen Bundesregierung vorgenommen wird. Auswirkungen dürften ab 2023 zu erwarten sein.

Unser Buch wendet sich an alle Mitarbeiter im Personal- und Sozialwesen, der Unternehmen, der Industrie, des Handels sowie der Banken und Versicherungen. Auch für die mit Sozialrechtsfragen betrauten Mitarbeiter von Steuerberatungsbüros, der Gewerkschaften und der Sozialverbände, die Mitglieder der Widerspruchsausschüsse, die Institutionen der Sozialgerichtsbarkeit, die ehrenamtlichen Versichertenberater und für die nach dem Rechtsdienstleistungsgesetz tätigen Rentenberater soll es ein profundes Nachschlagewerk sein.

 

Karlsruhe, im September 2021

Wolfgang Wehowsky und Harald Rihm

1 64 Jahre Reformen in der gesetzlichen Rentenversicherung

Wenn dieses Buch erscheint, befinden wir uns im 64. Jahr nach der ersten großen Rentenreform des Jahres 1957. Insgesamt kann die gesetzliche Rentenversicherung in Deutschland seit 1889 bereits auf eine 132-jährige Geschichte zurückblicken. Dass es sich dabei um eine Erfolgsgeschichte handelt, ist durch die Fakten belegt. Hervorzuheben sind insbesondere die Sicherheit und Stabilität der gesetzlichen Rentenversicherung. Die gesetzliche Rente hat außergewöhnliche Krisensituationen in ihrer langjährigen Geschichte mit Bravour gemeistert.

Keiner der heute 30- bis 60-Jährigen, aber auch wenige Ältere können sich heute noch die gravierenden wirtschaftlichen und sozialen Auswirkungen ausmalen, die von der Bevölkerung während und nach den beiden Weltkriegen zwischen 1914 und 1918 sowie zwischen 1939 und 1945 zu bewältigen waren.

Selbst die Hyperinflation des Jahres 1923 in der Weimarer Republik, eine der stärksten Geldentwertungen, die eine der großen Industrienationen in der Neuzeit je erleben musste, konnte der Rentenversicherung etwas anhaben. Die Weltwirtschaftskrise 1929, die die sog. „Goldenen Zwanziger Jahre“ beendete, und die Währungsreform 1948 mit Einführung der DM konnten das Leistungsgefüge der Rentenversicherung ebenfalls nicht erschüttern.

Die Finanzierung der gesetzlichen Rentenversicherung war bis 1956 auf ein Anwartschaftsdeckungsverfahren gegründet. Danach sollten aber die Rentenzahlungen ursprünglich keine Lohnersatzfunktion besitzen, sondern lediglich einen Zuschuss zum Lebensunterhalt darstellen.

Wie war es möglich, unser Rentensystem durch eine Vielzahl von Reformen immer up to date zu halten? Als besonderen Vorteil für die Entwicklung einer modernen Rentenversicherung hat es sich dabei erwiesen, dass die im Sozialgesetzbuch vorgesehene SelbstverwaltungSelbstverwaltung der Rentenversicherungsträger, die gesetzgebenden Körperschaften und die sie tragenden Parteien, die Verbände und die Gewerkschaften, Organisationsstruktur, Leistungsumfang und Leistungsniveau der gesetzlichen Rentenversicherung vorausschauend und flexibel an die grundlegenden gesellschaftlichen Umwälzungen in der Bundesrepublik anpassen konnten. Themen dieses Paradigmenwandels sind z.B. die überwundene Stagnation unserer volkswirtschaftlichen Entwicklung als Folge der Globalisierung und offener Märkte, der Geburtenrückgang, das ständig steigende Lebensalter und die damit sich verändernde Altersstruktur der Rentenversicherten und Leistungsempfänger.

Heute, nach Inkrafttreten der letzten großen Reformen mit Anhebung der RegelaltersgrenzeRegelaltersgrenze vom 65. auf das 67. Lebensjahr sowie der Rentenpakete 2014 und 2018 steht das bundesdeutsche Rentensystem wieder auf stabilen Füßen. Die Nachhaltigkeitsrücklage der Rentenversicherung beträgt Ende 2020 mit mehr als 36 Milliarden € noch 1,53 Monatsausgaben. Trotz der einzupreisenden Auswirkungen der Corona-Pandemie, die uns 2020 vor große Herausforderungen in jeglicher Hinsicht gestellt hat, ist das ein gutes Ergebnis. Der unumgängliche Lockdown aufgrund des Corona-Virus führte 2020 auf dem Arbeitsmarkt zu einem Rückgang der Zahl der Beschäftigten, einem dramatischen Anstieg der Zahl der Kurzarbeiter und einer Zunahme der Arbeitslosigkeit. Der Rentenbeitragssatz kann zwar trotz angespannter Einnahmesituation zunächst bei 18,6 Prozent gehalten werden. Dennoch zeichnen sich heute schon moderate Beitragssatzsteigerungen ab 2023 ab. Die Krise ist auch bei den Rentnern angekommen. Eine Rentenanpassung im Jahr 2021 findet nicht statt. Für Kurzarbeitergeld werden zwar Rentenbeiträge gezahlt, aber dies ist kein Entgelt, das in die Berechnung der Rentenanpassung für 2021 eingeht. Hier wirkt sich die rückläufige Lohnentwicklung des Vorjahres direkt auf die Rentenanpassung aus. Die Rücklagen der gesetzlichen Rentenversicherung werden nach der letzten Finanzschätzung in den kommenden Jahren kontinuierlich abschmelzen und voraussichtlich im Jahr 2023 die Untergrenze von 0,2 Monatsausgaben erreichen. Beitragssatzsteigerungen sind dann ohnehin unvermeidlich.

Was waren nun in den letzten 64 Jahren die Highlights der bundesdeutschen Sozialpolitik, die der gesetzlichen Rentenversicherung ihr Gepräge gaben?

Am Anfang stand die grundlegende Rentenreform des Jahres 1957, mit der die gesetzliche Rentenversicherung mit so viel Energie aufgeladen wurde, dass sie ihre herausragende sozialpolitische Bedeutung bis in die Gegenwart hinein bewahren konnte.

1.1 Die grundlegende Rentenreform 1957Rentenreform 1957

Diese Reform wird zu Recht als Jahrhundertwerk bezeichnet. Sie war notwendig geworden, nachdem sich in der wirtschaftlich aufstrebenden Bundesrepublik in den 50er Jahren der Abstand zwischen Löhnen und Renten ständig vergrößerte und mit Rentenzulagen bzw. pauschalen Rentenerhöhungen kein Anschluss an die Einkommensentwicklung erzielt werden konnte.

Schwerpunkte der Reform waren eine Gleichstellung der rentenrechtlichen Ansprüche für Arbeiter und Angestellte und die Einführung der neuen bruttolohnbezogenen dynamischen Rente. Damit verbunden war auch die wegweisende Umstellung der Finanzierung der Rentenversicherung vom Anwartschaftsdeckungsverfahren auf das Umlageverfahren.

Die grundlegende Rentenreform 1957

Die wichtigsten Grundsätze waren:

Wer z.B. 45 anrechnungsfähige Versicherungsjahre geleistet hatte, erhielt als Altersrente jährlich 67,5 Prozent der persönlichen Bemessungsgrundlage. Die Rente hatte erstmals Lohnersatzfunktion, nachdem sie bezüglich ihrer Höhe auch abhängig wurde von der aktuellen Entwicklung der Bruttolöhne und Gehälter. Die Umstellung der Rentenformel 1957 führte seinerzeit sofort zu einer durchschnittlichen Steigerung der Renten aus der Arbeiterrentenversicherung um 65 und aus der Angestelltenversicherung um 72 Prozent.

1.2 Die Rentenreform 1972Rentenreform 1972

Die Rentenfinanzen gestalteten sich in der ersten Dekade nach den Reformen des Jahres 1957 außerordentlich gut und wurden gestützt durch die expansive Wirtschaftsentwicklung der Bundesrepublik Deutschland in diesem Zeitraum. Trotz Leistungsverbesserungen durch Novellierung der Reformgesetze im Laufe der 60er Jahre entwickelte sich ein sozialpolitischer Grundkonsens zu weiteren strukturellen Reformen, der die gesellschaftliche Aufbruchstimmung nach Amtsübernahme durch die sozialliberale Koalition in Bonn widerspiegelte. Als die abschließenden Beratungen zur Rentenreform 1972 allerdings im Bundestag anstanden, erhielten sie durch die wechselnden Machtverhältnisse zwischen Regierung (SPD/FDP) und Opposition (CDU/CSU) eine besonders pikante Note. Zur Erinnerung: Obwohl nach dem Übertritt mehrerer Koalitionsabgeordneter zur Opposition, das konstruktive Misstrauensvotum im April 1972 scheiterte und letztlich zu den Neuwahlen im Herbst 1972 führte, war die Verabschiedung der Rentenreform im Spätsommer 1972 von einer parlamentarischen Pattsituation gekennzeichnet. Dadurch konnten die Rentengesetze nur durch Kompromisse im Sinne der CDU/CSU beschlossen werden. So blieb z.B. das von der Regierung vorgesehene „Babyjahr“ für erwerbstätige Mütter unberücksichtigt. Erst 1986 war die Zeit reif für entsprechende familienpolitische Reformen in der Rentenversicherung. Dennoch konnten sich die erreichten Leistungsverbesserungen für Versicherte und Rentner sehen lassen.

Die Rentenreform 1972

Beibehaltung der Grundsätze von 1957, aber

1.3 Gesetzliche Änderungen von 1972 bis 1992

Es fällt schwer, sich für diesen Zeitraum auf die wichtigsten Rechtsänderungen zu beschränken. So viel hat sich in diesem 20-Jahreszeitraum mit konjunkturellen Schwierigkeiten (bedingt durch die Ölkrise) und gesellschaftlichen Umbrüchen ereignet.

Gesetzliche Änderungen von 1972–1992

Konsolidierungsmaßnahmen in den 70er Jahren

Auf die im Alten Testament verkündeten „sieben fetten Jahre“ folgten nun auch in der Sozialpolitik „sieben magere Jahre“, wobei man sich an der Exaktheit der Zeitrechnung nicht festhalten sollte.

Die mit der Rentenreform 1972 prognostizierten hohen Einnahmeüberschüsse von mehr als 210 Milliarden DM bis 1986 ließen sich aufgrund der weltweiten Rezession durch den Ölpreisschock (1973/1974) nicht mehr realisieren. Deshalb waren 1977 (20. RAG) und 1978 (21. RAG) drastische Konsolidierungsmaßnahmen notwendig, mit der die Rentenanpassungsdynamik der bruttolohnbezogenen Rente deutlich gebremst wurde.

Als leistungssteigernde Neuregelung entpuppte sich dagegen die

Mit der Neuregelung des Scheidungsrechtes und dem Wechsel vom Verschuldens- zum Zerrüttungsprinzip folgte der Gesetzgeber ab 1977 langjährigen gesellschafts- und familienpolitischen Forderungen – vor allem mit Blick auf den Aufbau einer eigenständigen Alterssicherung für Frauen.

Gesetzliche Änderungen von 1972–1992

1.4 Die Rentenreform 1992Rentenreform 1992

Mit dem dritten großen Reformwerk sollten „Beständigkeit und Verlässlichkeit“, restituiert, die sich „laufend ändernden“ – ökonomischen, sozialen, demografischen – Bedingungen integriert, rechts- und sozialpolitische Fehlentwicklungen korrigiert, der Vertrauensschutz garantiert und die Finanzen konsolidiert werden (BT-Drs. 11/4124, S. 138–145).

Die Rentenreform 1992 wurde gekleidet in das neue Sozialgesetzbuch VI. Buch (SGB VI). Im SGB VI wird das gesamte materielle Recht der gesetzlichen Rentenversicherung für alle Versicherungszweige zusammengefasst. Damit traten zum 01.01.1992 die Reichsversicherungsordnung, das Angestelltenversicherungsgesetz und das Reichsknappschaftsgesetz im Rentenrecht außer Kraft.

Die Rentenreform 1992

Die wichtigsten Grundsätze sind:

Bei der Wiedervereinigung mit der ehemaligen DDR konnten Millionen ostdeutscher Versicherter und Rentner in das Rentensystem der Bundesrepublik integriert werden. Mit dem Rentenüberleitungsgesetz (RÜG), das zugleich mit dem SGB VI am 01.01.1992 in Kraft trat, gelang es, das in der ehemaligen DDR vorrangig auf eine Mindestsicherung angelegte Rentensystem durch das lohn- und beitragsbezogene bundesdeutsche Rentenversicherungssystem abzulösen.

1.5 Wachstums- und Beschäftigungsförderungsgesetz (WFG) ab 01.01.1997

Mit dem WFG wurde die Anhebung der Altersgrenze vom 60. auf das 65. Lebensjahr bei der Altersrente wegen Arbeitslosigkeit und nach Altersteilzeit vorgezogen. Ursächlich verantwortlich hierfür war die drastische Ausweitung der von den Unternehmen praktizierten Frühverrentungspraxis.

Darüber hinaus führten folgende weitere Einschränkungen zu reduzierten Regelleistungen aus der gesetzlichen Rentenversicherung:

Wachstums- und Beschäftigungs- Förderungsgesetz (WFG) 01.01.1997

Kernstück des WFG sind Einsparungen

Anrechnungszeiten wegen Krankheit und Arbeitslosigkeit ohne Leistungsbezug werden ab 01.01.1997 zwar weiterhin als rentenrechtliche Zeiten berücksichtigt, doch bleiben sie bei der Rentenberechnung ohne jegliche Bewertung.

1.6 Die Rentenreform 1999Rentenreform 1999

Die Rentenreform 1999

Die wichtigsten Maßnahmen sind: