I.

Als Graf Udo Bodo das Licht der Welt erblickte, waren in dem Schloß seines Vaters, des Majoratsherrn Graf Kuno von Adlershorst, fast sämtliche weibliche Mitglieder der Familie versammelt und alle umstanden bewundernd das neugeborene Kind, das in seiner Wiege gar jämmerlich schrie und weinte. Alle hatten gehofft, daß das Kind, das erwartet wurde, ein Mädchen sein würde; denn wenn Graf Kuno ohne männlichen Erben starb, fiel der Besitz an eine der Nebenlinien. Nun war das Kind, allen stillen und frommen Gebeten zum Trotz, doch ein Knabe geworden. Das war bitter, aber es ließ sich nun nicht mehr ändern. So machten denn die Tanten und Basen gute Miene zum bösen Spiel und gratulierten dem glückseligen Vater mit einer Herzlichkeit, als hätte auch ihnen kein größeres Glück zuteil werden können.

Alle umringten den Grafen, nur eine nicht, das war die Gräfin Cäcilie von Adlershorst, die kniete unbeweglich in stiller Verzückung vor der Wiege; sie tat, als sähen ihre Augen endlich das Heil, das sie so lange vergeblich gesucht hatte, und dabei war ihr im tiefsten Herzen nichts unsympathischer als ein kleines Kind, das nach ihrer gewissenhaften Überzeugung eher einem kleinen Affen oder einem kleinen Meerschweinchen glich als einem Menschen. Aber sie mußte das Kind bewundern, denn sie war arm und bezog von dem Grafen Kuno eine jährliche Unterstützung, die es ihr zwar nicht erlaubte, standesgemäß zu leben, die sie aber wenigstens vor der äußersten Not schützte.

Seit vielen Monaten hatte sie schon darüber nachgedacht, wie es ihr möglich sein würde, eine Erhöhung dieser Zulage zu erzielen. Mit einer einfachen Bitte war da nichts getan, das wußte sie ganz genau, denn Graf Kuno war trotz seiner großen Einnahmen immer selbst in Geldverlegenheit, sie mußte es schon sehr schlau anfangen, wenn sie sein Herz erweichen und seine Börse öffnen wollte.

Da kam ihr, während sie anscheinend immer noch in stummer Bewunderung das Neugeborene betrachtete, ein rettender Gedanke. »Kuno ist ja dumm,« dachte sie sich, »und heute in seiner übergroßen Vaterfreude noch leichter zu täuschen als sonst. Versuchen will ich es auf alle Fälle.«

Und mitten in das Gerede der anderen Tanten hinein erklangen plötzlich von der Wiege her mit geheimnisvoller, prophetischer Stimme die Worte: »Ein Heil ist unserem Hause widerfahren, dies Kind wird ein langes Leben und eine große, glänzende Zukunft haben; seltene Ehren und seltene Auszeichnungen stehen ihm bevor.«

Und da Tante Cäcilie bei dem ersten Mal mit ihrer Prophezeiung nicht gleich den Effekt erzielte, den sie erwartet hatte, sprach sie diese Worte, gleichsam wie von einer höheren Macht hierzu angetrieben, beständig vor sich hin, erst leise, dann lauter und immer lauter.

Endlich vernahm Graf Kuno sie, schnell befreite er sich aus dem Kreis der Damen und eilte auf die Wiege zu. Krampfhaft faßte er mit seiner Rechten die Schulter der Knienden und schweratmend und in tiefster Erregung fragte er: »Cäcilie, ist es wahr, was Du da sprichst?«

Sie hob die Lider und sah den Grafen mit den unschuldigsten und ehrlichsten Augen von der Welt an. »Es ist wahr!« sagte sie mit einer Stimme, die auch den leisesten Zweifel an ihren Worten in ihm verjagte.

Er faltete in namenloser Freude die Hände. »Gott lohne Dir die Worte,« sagte er, »ich kann es nicht.«

»Du kannst es nicht nur, Du mußt es sogar.« dachte sie, »aber noch ist der Augenblick nicht gekommen, wir sprechen schon noch über den Punkt.« Dann sagte sie, als hätte sie seine Worte gar nicht gehört, noch einmal vor sich hin: »Dies Kind wird ein langes Leben und eine große, glänzende Zukunft haben, seltene Ehren und seltene Auszeichnungen stehen ihm bevor.«

»Und woran siehst Du das?« fragte er mit bebender Stimme.

»An den Linien der kleinen Hand und hier an den Adern, die so deutlich zutage treten.«

Sie hatte sich vor vielen Jahren einmal die Karten legen und sich aus ihrer Hand die Zukunft prophezeien lassen. Damals hatte sie daran geglaubt, später aber hatte sich dieser Glaube in einen großen Zorn über die unnötig ausgegebenen fünf Mark verwandelt. Etwas Gutes aber hatte dieser Besuch bei der weisen Frau doch gehabt: sie hatte sich genau gemerkt, was die einzelnen Linien und Adern angeblich bedeuteten, und so prophezeite sie denn dem Kinde die Zukunft, als wäre sie eine gerichtlich vereidigte Wahrsagerin.

Voller Glückseligkeit lauschte Graf Kuno ihren Worten, dann sagte er: »Komm mit mir auf mein Zimmer, ich habe mit Dir allein zu sprechen.«

»Wie Du wünschest.«

Sie küßte noch einmal das schreiende Kind auf die Stirn, dann folgte sie dem Grafen.

Kaum hatte sich hinter den beiden die Tür geschlossen, als sich unter den zurückbleibenden Damen ein Sturm der Entrüstung erhob. »Solche Schlange,« zischte Tante Konstanze. »Man muß sich ja fast schämen, daß Cäcilie unseren alten, adligen Namen trägt! Der arme Kuno, wenn es nicht zu grausam wäre, müßte man ihm die Augen öffnen und ihm sagen, was Cäcilie mit ihren Worten bezweckt. Ich kenne sie, sie läßt sich jede Silbe, die sie sprach, mit Gold aufwiegen; es ist einfach empörend.«

Und Tante Konstanze war wirklich empört. Aber nicht so sehr über das, was Cäcilie getan hatte, sondern vielmehr darüber, daß sie es nicht selbst getan hatte. Warum war sie nicht auf diesen klugen Gedanken gekommen? So viel, oder besser gesagt, so wenig wie Cäcilie verstand sie auch vom Wahrsagen, und sie hätte das Geld, das Cäcilie jetzt einsteckte, selbst so schön gebrauchen können, denn erst heute hatte ihr Egon, der als Leutnant bei einem vornehmen Kavallerieregiment stand, um einen Extrazuschuß gebeten.

»Man sollte dem armen Kuno wirklich die Augen öffnen,« begann jetzt auch eine der anderen Damen.

Aber die alte Kammerherrin widersprach. »Warum? Ob Cäcilie ihre Worte aus Berechnung oder aus innerster Überzeugung sprach, was liegt daran? Sie haben ihren Zweck erfüllt, denn Kuno ist glücklich, und er erwartet Großes von seinem Sohn. Warum ihm da heute schon den Glauben an die Wahrheit dieser Worte rauben? Wer hätte den Mut, so grausam zu sein? Und vor allen Dingen, wer weiß, ob nicht doch an Cäciliens Worten etwas Wahres ist? Denn daß sie nur aus Berechnung so sprach, kann und will ich nicht glauben, weil sie eine Gräfin Adlershorst ist.«

Das war nun zwar nach Ansicht der Gräfin Konstanze absolut kein Grund, an Cäciliens ehrliches Empfinden zu glauben, aber sie wagte doch nicht, der Kammerherrn zu widersprechen; denn die alte Dame, eine noch immer schöne Sechzigerin mit schneeweißem Haar und einem unendlich vornehmen und aristokratischen Gesichtsausdruck, war die ehrwürdigste in der Familie, und alle hatten, schon weil sie sehr reich war, den lebhaften Wunsch, bei ihr in Gunst zu stehen.

Unterdessen saßen sich Graf Kuno und Cäcilie in dem großen, prächtig eingerichteten Herrenzimmer des Grafen gegenüber.

Der Graf war eine große, breite, kräftige Erscheinung, die einen leichten Hang zur Fülle hatte. Trotzdem er erst in der Mitte der Vierzig stand, sah er durch den langen, graumelierten Vollbart, der ihm tief auf die Brust hinabhing, bedeutend älter aus. Auch seinen Bewegungen fehlte das Frische, Elastische. Vielleicht lag das daran, daß er eigentlich in seinem ganzen bisherigen Leben noch nie etwas getan hatte und auch gar nicht die Absicht besaß, hierin je eine Änderung eintreten zu lassen. Er war auf seinem jetzigen Besitz als einziges Kind seiner sehr reichen Eltern geboren, hatte teils auf dem Gut, teils in der benachbarten Stadt seine Erziehung genossen und war dann in der Armee einer der damals noch bestehenden kleinen Bundesstaaten Offizier geworden.

Der plötzliche Tod seines Vaters, dem bald der Tod seiner Mutter folgte, veranlaßten ihn jedoch schon früh, seinen Abschied wieder zu erbitten. Er übernahm das ererbte Gut, und da er trotz aller geistigen Beschränktheit klug genug war, einzusehen, daß er von der Landwirtschaft nicht das geringste verstände, vor allen Dingen aber auch, weil er viel zu träge war, um sich selbst um seinen Besitz zu kümmern, verpachtete er das Gut. Er ließ für den Pächter ein Wohnhaus errichten und behielt für sich selbst das alte Schloß und den herrschaftlichen Pferdestall, in dem zwölf kostbare und wertvolle Rappen standen. Dann ging er auf die Brautschau und holte sich von einem der Nebengüter eine ebenso kluge wie schöne Frau, die leider nur zu früh einsehen mußte, daß ihr Mann für etwas anderes als für Pferde, Wein und Zigarren nicht das leiseste Interesse hatte. Nur noch eine einzige Sache interessierte ihn, das war der Adel und der Stammbaum seiner Familie. Für ihn war die Familie Adlershorst die vornehmste des ganzen Landes; die andern hatten ja auch ihre Verdienste, aber gegen die seinige konnten sie denn doch nicht aufkommen.

Die Folge war natürlich, daß niemand, der es nicht unbedingt mußte, sein Haus betrat, selbst seine adligen Gutsnachbarn teilten seine fast zu aristokratischen Ansichten nicht und suchten ihn zu überzeugen, daß er sich durch sein Benehmen nur Feinde schaffe. Aber das war dem Grafen Kuno einerlei, seine stehende Redensart war: ich brauche keinen Menschen, der Umgang mit mir selbst genügt mir vollständig und lieber bin ich ganz allein, als daß ich mich nicht in absolut standesgemäßer Gesellschaft befinde.

Anders dachte seine junge, schöne Frau über diesen Punkt; sehr bald ertrug sie die Einsamkeit auf dem Lande nicht mehr, sie sehnte sich nach Gesellschaften und nach Festen, wo man sie bewunderte und ihr den Hof machte, und so ging sie erst für einige Wochen, dann im Laufe der Jahre auf immer längere Zeit auf Reisen, teils zu ihren Verwandten, teils nach dem Süden, teils zu ihren Freunden nach Paris.

Graf Kuno, der sehr viel allein war, beklagte sich nie darüber. Er war mit sich und seinem Leben sehr zufrieden, er ritt oder fuhr täglich ein paar Stunden spazieren und saß die andere Zeit in seinem Zimmer, las mehr oder weniger pikante französische Romane, rauchte den ganzen Tag eine schwere Importzigarre nach der anderen, und arbeitete täglich ein paar Stunden in dem Grafenkalender und an der Familiengeschichte. Darüber vergaß er aber nicht, sehr gut zu essen und sehr gut zu trinken. Auf Reisen ging er selten, einmal, weil ihm das zu unbequem war, dann aber auch, weil selbst das vornehmste Hotel seinen Ansprüchen nicht genügte, und hauptsächlich, weil man es auf der Reise doch nicht immer verhindern konnte, mit Bürgerlichen zusammenzutreffen. Einmal war ihm dieses Unglück sogar in einem Coupé erster Klasse begegnet und von dem Tage an reiste er – wenn er unbedingt einmal auf Reisen gehen mußte – nur in einem Salonwagen, das aber kam auf die Dauer selbst ihm zu teuer.

Er war glücklich und zufrieden, er hatte die ganzen Jahre hindurch auf Erden nur den einen Wunsch gehabt, daß ihm ein Sohn geboren wurde, und heute – nach fast vierzehnjähriger Ehe – war ihm dieses Glück zuteil geworden. Allerdings, er wußte, er würde die Erfüllung seines Wunsches schwer bezahlen müssen. Die Ärzte hatten ihn schon lange darauf vorbereitet, daß die Geburt des Kindes der Mutter wahrscheinlich das Leben kosten würde, und Angst und Entsetzen hatten ihn zuerst bei diesen Worten gepackt, denn er liebte seine Frau, soweit er überhaupt einer tieferen Neigung fähig war, von ganzem Herzen. Aber höher als das Glück des einzelnen stand nach seiner Auffassung das Glück der ganzen Familie, mochte denn die einzelne, wenn der Himmel es so beschlossen hatte, sterben, wenn nur die Familie nicht ausstarb, und dafür war nun gottlob gesorgt, ein gesunder, kräftiger Junge lag in der Wiege, und darüber vergaß er alles, sogar die Frau, die nur wenige Stuben von ihm entfernt mit dem Tode rang. Das Kind war da, und vor allen Dingen: ihm war ein langes Leben und eine glänzende Zukunft prophezeit.

»Cäcilie,« nahm nun der Graf nach einer langen Pause, während der er erregt in dem großen Zimmer auf und ab gegangen war, das Wort, »Cäcilie, ich muß Dir nochmals für das danken, was Du an der Wiege gesprochen hast. Als die Ärzte mir vor Wochen sagten, wie es um meine Frau, die arme Isabella, stände, da habe ich geglaubt, das Kind, das zur Welt käme, würde schwach und nicht lebensfähig sein; Du hast mir diese Furcht geraubt und dafür möchte ich Dir danken, soweit ich es vermag, und ich möchte eine große Bitte an Dich richten.«

»Und die wäre?« fragte Cäcilie gespannt.

»Du weißt, wie es mit der armen Isabella steht,« fuhr der Graf fort. »Noch hoffe ich, daß die Ärzte sich irren, daß der Himmel sich meiner erbarmt, daß Isabellas kräftige Natur doch noch den Sieg davonträgt. Aber wenn dies doch nicht der Fall sein sollte, wenn ich die Frau wirklich verliere, dann –«

Er ließ sich auf einen Stuhl fallen, bedeckte das Gesicht mit beiden Händen und stöhnte schwer auf.

In herzlichster, aufrichtiger Anteilnahme trat Cäcilie auf ihn zu und legte tröstend ihre Hände auf seine Schulter: »Willst Du nicht einmal zu ihr gehen?« fragte sie. »Vielleicht ist sie bei Bewußtsein, sie weiß ja, wie schlecht es um sie steht, sicher wäre es ihr eine große Freude und ein großer Trost, Dich noch einmal zu sehen. Sie hat Dich doch sehr lieb gehabt, sie hat Dir doch auch das Kind geschenkt.«

Er zuckte zusammen. »Ich kann nicht, ich kann keinen Menschen sterben sehen, noch dazu jemand, der meinem Herzen so nahe steht wie kein anderer Mensch. Ich bitte Dich, erspare mir das Gräßliche.«

»Wie Du willst,« erwiderte sie, aber im stillen verachtete sie doch den Mann, der aus lauter Egoismus nicht einmal den Mut besaß, in den letzten Minuten bei seiner Frau zu weilen. Dann fragte sie nach einer kleinen Pause: »Du sprachst vorhin von einer Bitte, die ich Dir erfüllen sollte?«

Er strich sich mit der Hand über die Stirn und trocknete die Tränen, die in seinen Augen schimmerten, dann sagte er: »Es ist viel, was ich von Dir verlange, aber Du wirst es mir nicht abschlagen, denn es handelt sich um die Erziehung des Knaben. Wie ich Dir schon sagte, noch hoffe ich, daß Gott mir meine Frau erhält, aber selbst wenn ein Wunder sie noch rettet, wird es lange dauern, ehe sie sich ganz wieder erholt hat, sie wird für viele Monate auf Reisen gehen müssen, und wer weiß, ob Isabella überhaupt eine gute Erzieherin für das Kind wäre. Sie hat mir oft genug gesagt, daß sie kleine Kinder nicht gern hat, es würde ihr lästig und unbequem sein, sich um den Jungen kümmern zu müssen, sie würde sich in ihrer persönlichen Bewegungsfreiheit beengt fühlen, sie würde traurig sein, nicht mehr so viel wie früher auf Reisen gehen zu können, und im Reisen besteht doch nun einmal ihr Lebensglück. Ich habe ihr diese Freude früher stets gegönnt und möchte ihr in Zukunft, nachdem sie heute meinen seligsten Wunsch erfüllt hat, natürlich noch weniger als je eine Bitte abschlagen. Es ist ja jetzt noch mehr als früher geradezu meine Pflicht, ihr jedes Vergnügen, jede Zerstreuung zu gönnen, ihr meine Dankbarkeit zu beweisen, soweit ich es irgend vermag. Und da meine ich, Du solltest zu mir kommen, dem Knaben gewissermaßen eine zweite Mutter sein und seine Erziehung übernehmen.«

Viel hatte Tante Cäcilie erwartet, so viel aber denn doch nicht. Ihr Herz schlug zum Zerspringen, aber sie hütete sich, ihre Freude zu verraten. »Es ist unmöglich, was Du da von mir verlangst, und selbst wenn ich wollte, die Verantwortung wäre für mich zu groß.«

»Erfüll mir meinen Wunsch,« bat er. »Ich brauche Dir nicht erst zu sagen, daß ich das, was ich erbitte, nicht umsonst von Dir verlange. Ich werde Dir Deinen jährlichen Zuschuß auf das Doppelte erhöhen. Du wirst hier ganz umsonst leben, so daß Du das Geld für spätere Zeiten zurücklegen kannst, und außerdem werde ich Dir an dem Tage, an dem Du die Erziehung des Knaben beendet hast, ein Kapital zur Verfügung stellen, dessen Zinsen zusammen mit Deinen Ersparnissen Dich vor jeder Sorge schützen. Du siehst, ich tue, was ich kann, hier ist meine Hand, schlag ein.«

Aber Tante Cäcilie zögerte immer noch. »Und was werden die andern sagen? Werden sie nicht neidisch sein? Werden sie nicht vielleicht glauben, ich übernähme diese verantwortliche Stellung nur, um mich finanziell besser zu stellen?«

Er stampfte ungeduldig mit dem Fuß auf den Boden. »Du bist eine Adlershorst, sogar eine geborene Adlershorst, durch Deine damalige Heirat mit dem inzwischen leider verstorbenen Vetter gleichen Namens gewissermaßen eine doppelte Adlershorst, da ist jede Verdächtigung ausgeschlossen. Und noch eins kommt hinzu, daß ich gerade Dich bitte, das Kind erziehen zu wollen,« fuhr er nach einer kleinen Pause fort. »Von allen Verwandten stehst Du meinem Herzen am nächsten, weil Du meine Anschauungen über das Leben am meisten teilst. Nichts liegt mir ferner, als der armen Isabella etwas Unfreundliches nachsagen zu wollen, aber es hat doch auch Tage gegeben, wo ich nicht ganz verstand. Sie ist mir auf ihren Reisen mit zu viel Menschen der verschiedensten Berufsklassen und, so schwer es mir auch wird, ich muß es sagen, mit zu viel Menschen aus den verschiedensten Gesellschaftssphären zusammengekommen, und dabei ist sie eine geborene Gräfin Hohenburg, deren Ahnen auf Kaiser Rotbart zurückgehen, ja, ich hoffe sogar, ihre Ahnen noch weiter nachweisen zu können, ich habe deswegen erst gestern an ein Archiv geschrieben und um Überlassung einiger alten Urkunden gebeten. Also, ich meine, obgleich Isabella eine geborene Gräfin Hohenburg ist, hat sie sich auf ihren Reisen doch eine gewisse freie Auffassung in manchen Punkten angewöhnt, sie hat die Schranken dem Bürgertum gegenüber nicht immer so aufrechterhalten, wie ich es im Interesse meines Namens wohl gewünscht hätte, und es ist deshalb zu wiederholten Malen zwischen uns zu einem ernsten Meinungsaustausch gekommen. Auch aus diesem Grunde glaube ich nicht, daß Isabella die geeignete Erzieherin des Knaben wäre. Und so bitte ich Dich zum letztenmal, komm zu mir.«

Cäcilie saß anscheinend in einem schweren Kampf da. »Laß es mich noch einen Augenblick ruhig überlegen,« bat sie.

Aber ihr Überlegen bestand nur in einem schnellen Kopfrechnen. Sie lebte jetzt in einer kleinen Stadt, in der sie trotz ihrer geringen Einnahmen lediglich ihres Namens wegen eine große Rolle spielte, aber sie war doch immer nur eine Witwe, die selbst kein großes Haus machte. Kinder hatte sie gottlob nicht, sie stand ganz allein auf der Welt. Wenn sie jetzt auf das Gut zog. dann würde sich, einerlei ob Isabella am Leben blieb oder nicht, ihre ganze Position verändern, sie würde dem Namen nach die stellvertretende, in Wirklichkeit aber die wahre Hausfrau sein, und als Erzieherin des einstigen Majoratsherrn würden alle sie beneiden und bewundern. Mit einem Schlage änderte sich nicht nur ihre gesellschaftliche, sondern auch ihre finanzielle Lage, und die Finanzen blieben doch schließlich die Hauptsache. Selbst wenn der Knabe später in ein Pensionat kommen würde, so vergingen bis dahin doch wenigstens noch fünfzehn Jahre, in dieser Zeit konnte sie ein kleines Vermögen ersparen, und wenn Graf Kuno ihr dann später auch noch ein Kapital zur Verfügung stellte, dann war sie bis an ihr Lebensende vor allen Sorgen geschützt. Im stillen überschlug sie die Summe, die sie zum Abschied wohl erhalten würde. Allzuviel würde es wohl nicht sein, denn Graf Kuno verstand nicht zu rechnen, er lebte als großer Herr, und trotzdem er fast immer allein war, verschlangen sein Haushalt, sein Marstall, seine große Dienerschaft Unsummen, und Isabella verstand es auch, das Geld unter die Leute zu bringen. Aber immerhin würden doch wohl noch einige zehntausend Mark für sie übrigbleiben, und die Aussicht war verlockend.

So sagte sie denn nach langem Besinnen, obgleich sie sich von Anfang an darüber klar gewesen war, daß es mehr als töricht sei, dieses glänzende und verlockende Angebot auszuschlagen: »Gut, Kuno, ich will Dir Deinen Wunsch erfüllen; leicht wird es mir nicht, denn ich gebe viel auf und tausche dagegen eine schwere, verantwortliche Stellung ein, aber ich tu es Dir und dem Knaben zuliebe.«

»Ich danke Dir, ich danke Dir herzlichst. Ich bitte Dich jetzt nur noch, Deine Übersiedelung hierher möglichst bald bewerkstelligen zu wollen, Du kannst Dir selbst die Zimmer im Schloß aussuchen, die Du zu bewohnen wünschst.«

Sie besprachen noch einige Formalitäten, dann fragte Cäcilie: »Hast Du eigentlich schon darüber nachgedacht, wie Dein Sohn heißen soll? Willst Du ihm Deinen Namen geben, soll auch er Kuno getauft werden?«

Aber der Graf schüttelte den Kopf. »Ich habe mir einen viel schöneren Namen ausgesucht, einen Namen, der etwas eigenartig ist und der auch nur deshalb auf einen Adlershorst paßt, der wirklich etwas Großes und Bedeutendes leistet, wie es unser Ahne im sechzehnten Jahrhundert tat, der denselben Namen führte. Seitdem ist er sonderbarerweise in unserer Familie gar nicht wieder vorgekommen. Ich will ihn Udo Bodo nennen, Udo Bodo, Graf von Adlershorst.«

Cäcilie fand den Namen Udo Bodo mehr als scheußlich, aber wenn Graf Kuno ihn sich nun einmal ausgesucht hatte, dann war ja nichts mehr daran zu ändern, und schließlich war es auch ganz egal, wie der Knabe hieß, die Hauptsache war ja, daß er ein tüchtiger Mensch würde. Und daran, daß er dies wirklich würde, zweifelte sie nicht eine Sekunde, nicht nur, weil sie es ihm selbst prophezeit hatte, sondern weil sie ihn selbst erziehen würde.

Da öffnete sich die Tür und der Kammerdiener, wie immer in Frack und Eskarpins, erschien im Zimmer. An seinem Gesichtsausdruck sah man, daß er keine frohe Nachricht brachte.

»Was gibt es, Franz?«

Einen Augenblick schwieg der noch und warf seinem Herrn einen traurigen Blick zu, dann sagte er: »Der Herr Sanitätsrat lassen dem Herrn Grafen ganz gehorsamst melden, daß die Frau Gräfin soeben zu ihren Ahnen versammelt worden ist.«

»Also doch.«

Schweratmend stützte sich der Graf auf die Lehne eines Sessels, während Cäcilie zu weinen anfing; sie weinte weniger aus Trauer, denn wie fast allen in der Familie war auch ihr Isabella nie sehr sympathisch gewesen, und auch sie hatte ihr das Reiseleben sehr verdacht, aber sie weinte doch, weil es nun bei solchen Gelegenheiten einmal Mode ist und weil es sich für sie in ihrer neuen Stellung gehörte, so zu tun, als wäre sie ganz besonders traurig.

Der Graf hatte die Hände gefaltet und seine Lippen bewegten sich, als spräche er ein leises Gebet. Jetzt richtete er sich aus seiner zusammengesunkenen Haltung auf. »Sagen Sie den Damen, Franz, sie möchten sich im Sterbezimmer versammeln, ich komme sofort.«

»Zu Befehl, Herr Graf.«

Lautlos verschwand der Diener, und festen Schrittes ging der Graf zu seinem Arbeitstisch. Dort lag wie immer der Grafenkalender, er nahm das Buch zur Hand, schlug die Seite auf, auf der sein Geschlecht verzeichnet war, und mit umflortem Blick las er: »Isabella, Klara, Maria, geborene Gräfin von Hohenburg, geboren den 20. Mai 1840 auf dem adligen Gut Hohenburg, vermählt am 17. Juni 61 mit Kuno, Graf von Adlershorst, Offizier a. D., Majoratsherr des adligen Gutes Adlershorst.« Dann nahm er die Feder zur Hand, machte mit schwarzer Tinte hinter diese Zeilen ein Kreuz und schrieb mit fester Hand daneben: »gestorben am 14. September 1875.«

Und nachdem er somit seinen Grafenkalender in Ordnung gebracht hatte, ging auch er mit Cäcilie hinauf zu der Toten.

II.

Die Gräfin Isabella war begraben worden, und angeblich hatte man einen letzten Wunsch der Verstorbenen vorgefunden, in der diese die Bitte aussprach, achtspännig zur letzten Ruhestätte gefahren zu werden, jedenfalls erzählte Graf Kuno das jedem, ganz einerlei, ob er es hören wollte oder nicht. In Wirklichkeit hatte die verstorbene Gräfin natürlich nie daran gedacht, einen derartigen Wunsch zu äußern, der Gedanke, seine Frau mit allem nur denkbaren Prunk beerdigen zu lassen, war lediglich dem Gehirn des Grafen Kuno entsprungen. Einmal wollte er dadurch der Welt zeigen, wie lieb er seine Gemahlin auch nach dem Tode habe, dann aber war es ihm, der so selten Gelegenheit fand, ein Fest zu geben, ein aufrichtiges Bedürfnis, wenigstens ein anständiges Totenfest zu feiern, das den Glanz und den Reichtum seines Hauses zeigte. Aber er erreichte das Gegenteil von dem, was er bezweckt hatte, man fand sein Verhalten albern und etwas pietätlos, und alle waren der Ansicht, daß eine einfachere Feier auch würdiger gewesen wäre. Diesen Standpunkt hatte Cäcilie auch von Anfang an vertreten, aber sie hatte nur zu schnell merken müssen, daß Graf Kuno einen sehr dicken Schädel besaß. Sollte es ihr überhaupt gelingen, die Zügel der Regierung in die Hand zu nehmen, so mußte sie dabei sehr schlau und sehr vorsichtig zu Werke gehen. Während der Tage, in der die Leiche der Gräfin noch im Schlosse stand, hatte Graf Kuno seiner großen Trauer dadurch Ausdruck gegeben, daß er, ebenso wie es bei Hof üblich ist, ein genaues Zeremoniell für das Trauerjahr ausarbeitete, und nach der Beisetzung hielt er mit aller Strenge darauf, daß die von ihm erlassenen Vorschriften in bezug auf den Anzug auf das genaueste befolgt wurden. Ja, als sein Pächter, der ihn in einer dringenden geschäftlichen Angelegenheit zu sprechen wünschte, in seinem Arbeitszimmer ohne schwarze Handschuhe erschien, wurde er höchst ungnädig entlassen und zum Nachmittag wieder befohlen. Allerdings war es da zu spät, die in Frage stehende Angelegenheit noch zugunsten des Grafen Kuno zu erledigen, aber das war diesem auch einerlei, lieber Geld verlieren, als sich in der Form oder in seinem Verhalten irgendwie etwas vergeben.

Überhaupt war Graf Kuno als Witwer tadellos. Im ersten Monat fuhr er tagtäglich in seinem Viererzug zur benachbarten Stadt, in deren Kirche sich die Familiengruft der Grafen von Adlershorst befand, und am Sarge verrichtete er, wie man das so nennt, ein stilles Gebet. In Wirklichkeit aber freute er sich darüber, wie hübsch und vornehm das große Fenster aussah, das er gestiftet hatte, und wie stolz sich dort das vereinigte Wappen derer von Adlershorst und Hohenburg auf dem Sarkophag ausnahm. Erst wenn er zur Tür der Gruft hinausschritt, fiel ihm ein, warum er eigentlich gekommen war; dann gab er einen schweren Seufzer von sich, daß man es draußen hörte, und die Schuljungen, die bewundernd den schönen Viererzug umstanden, riefen dann: »Der Graf kommt!« Und wenn Graf Kuno dann erschien, freute er sich über die mehr oder weniger große Menschenmenge, die sein Gespann umstand, denn auch Erwachsene blieben zuweilen stehen, um die schönen Rappen zu bewundern. Graf Kuno tat zwar so, als hätte er für die Leute nicht das geringste Interesse, aber im stillen zählte er doch jedesmal, wie viele da waren, und je mehr da waren, desto glücklicher war er. Fritz, der Jäger, half ihm dann in seinen Wagen, und sobald er Platz genommen hatte, befahl er jedesmal mit lauter Stimme: »Nach Schloß Adlershorst.« Er hätte ja auch sagen können: »nach Haus«, das wäre genau dasselbe gewesen, aber nach Schloß Adlershorst klang vornehmer. Und auf Gummirädern, von vier stolzen Rappen gezogen, den Jäger neben dem Kutscher auf dem Bock, fuhr er dann seinem heimatlichen Herde entgegen.

Dieses Schauspiel wiederholte sich einen Monat hindurch jeden Tag um dieselbe Stunde.

Einmal hatte er Besuch von seinem Rechtsanwalt, und die sehr wichtige Konferenz war noch nicht halb beendet, als der Wagen vorfuhr, der ihn zur Familiengruft bringen sollte. Der Rechtsanwalt, der noch an demselben Abend wieder abreisen mußte, bat, ihm noch eine Stunde Gehör zu schenken, aber Graf Kuno sagte einfach: »Meine selige Gemahlin Isabella, die hochselige Gräfin Hohenburg, erwartet mich,« und damit war die Sache erledigt.

In Wirklichkeit nahm er natürlich auf seine verstorbene Gattin viel weniger Rücksicht als auf die Schuljugend und auf die andern Müßiggänger, die da ganz genau wußten: mit dem Glockenschlag fünf Uhr kommt der Viererzug. Diese Zuschauer waren dem Grafen Kuno ein Lebensbedürfnis, und wenn sie ehrerbietigst die Mützen lüfteten und mit einem halbunterdrückten: Aaah! den Riesenkranz bewunderten, den der Graf täglich am Sarge niederlegte, kam erst die richtige Trauerstimmung über ihn.

Nach Ablauf des ersten Trauermonats fuhr er nur noch alle acht Tage zur Familiengruft, dann ein halbes Jahr lang nur einmal monatlich, an dem Datum des Sterbetages, an jedem 14., und als das Jahr herum war, nur noch einmal jährlich. Nicht etwa aus Pietätlosigkeit, aber seitdem seine Frau gestorben war, sah er sie nach seiner Meinung viel öfter im Sarge vor sich, als er sie je bei Lebzeiten gesehen hatte, und er wußte nicht, was er der Toten sagen, wie er sich mit ihr in Gedanken beschäftigen sollte. Das hatte er ja nicht einmal im Leben gekonnt, er hatte keine Interessen und hielt es unter seiner Würde, seine in vieler Hinsicht höchst mangelhaften Kenntnisse zu bereichern.

In der ersten Zeit seiner Ehe hatte er allerdings seiner blendend schönen, jungen Frau zuliebe versucht, gute und ernste Bücher zu lesen, aber bei seinen geringen geistigen Fähigkeiten hatte er das meiste nicht verstanden. Und wenn er dann zu seiner Isabella gekommen war und gebeten hatte: »Erkläre mir, bitte, was der Verfasser hiermit sagen will, ich kann ihm nicht folgen,« dann hatte sie ihn ausgelacht und ihn geneckt, weil sie glaubte, er mache nur einen Scherz und er schütze seine Unkenntnis nur vor, um in ihre Nähe zu gelangen und mit ihr zusammen zu sein. Bis sie dann später, als die erste Leidenschaft verraucht war, und sie ihn mit nüchternen Augen betrachtete, merken mußte, daß es ihm damals doch Ernst gewesen war mit seinem Wort: »Ich verstehe das nicht.« Da aber war es zu spät, da hatte er die Bücher schon für immer verschlossen und las nur noch die Tageszeitung und französische Sittenromane.

Wie in so vielen anderen Dingen versuchte Cäcilie auch hierin eine Änderung herbeizuführen, aber es gelang ihr nicht. Sie selbst war eine kluge, gebildete Person, die es nicht begriff, wie Kuno mit dem geistig armen Leben, das er führte, zufrieden sein konnte. Sie hielt es für ihre Pflicht, geistig auf ihn einzuwirken, sie wollte ihm des Abends nach dem Diner vorlesen, die Tagesfragen mit ihm besprechen, sein Interesse für die verschiedensten Sachen erwecken, aber alles scheiterte an seinem Phlegma und an der Familientradition.

Er kannte es von seinem verstorbenen Vater her gar nicht anders, als daß um sieben Uhr diniert wurde, und daß man dann in den Salon ging und dort bei einer Zigarre über irgendeine adlige Familie miteinander plauderte, bis es Zeit war, sich schlafen zu legen. Er saß Tag für Tag auf demselben Platz, auf demselben Stuhl, auf dem schon sein Vater gesessen hatte, und sein Wunsch war, daß in späteren Jahren, wenn er einst nicht mehr auf der Welt sei, Udo Bodo dort ebenso sitzen möge wie er jetzt. »Familientraditionen sind heiliger und wertvoller als leere unnütze Wissenschaften,« pflegte er zu sagen. »Für den Bürgerstand, der noch nichts ist, wo ein jeder, der ihm angehört, danach ringen muß, etwas zu werden, ist die Weiterbildung natürlich unerläßlich, für unsereins aber ist sie nur schädlich. Wir brauchen keine neuen Ideen, wir können nicht mehr werden, als wir sind, für uns kommt es nur darauf an, das zu bleiben, was wir sind, den von unsern Vätern ererbten Besitz und die uns überlieferten Anschauungen festzuhalten, damit die Schranke, die uns von den andern trennt, nicht eines Tages zusammenstürzt.«

Tante Cäcilie fand diese Anschauung zwar mehr als töricht, aber sie hütete sich, das auszusprechen, denn gerade bei ihr setzte Graf Kuno ja voraus, daß sie genau so dachte wie er selbst, nur deshalb hatte er ihr ja die Erziehung des Kindes übertragen.

So blieb alles wie es war, und in steter Einsamkeit und Einförmigkeit gingen die Tage, die Wochen und die Jahre dahin. Auch nach dem Tod der Gräfin Isabella blieb es still und einsam auf Adlershorst. Cäcilie hatte auf den Nachbargütern Besuche gemacht, die erwidert worden waren, hin und wieder fand bei dem einen oder anderen Nachbarn ein offizielles Diner statt, und einmal hatten Graf Kuno und Cäcilie auch die Genugtuung gehabt, die Herren von den Nachbargütern mit ihren Damen bei sich zu sehen. Aber dann schlief der Verkehr wieder ein, und Cäcilie entbehrte ihn schließlich auch nicht mehr. Sie hatte mit der Erziehung des Knaben, mit der Leitung des großen Haushaltes, mit der Beaufsichtigung der vielen Dienstboten und mit tausend anderen Dingen, um die sie sich sehr gewissenhaft kümmerte, mehr als genug zu tun, und Graf Kuno saß jahraus, jahrein an seinem Schreibtisch, von dem aus er den ganzen Hof und einen Teil der Chaussee übersehen konnte, rauchte eine Importzigarre nach der andern und blätterte in alten Familienchroniken. Unterdessen entwickelte sich Udo Bodo mehr und mehr zu einem kräftigen, gesunden Knaben. Er war jetzt schon zwölf Jahre alt und stark an körperlichen Kräften, er war ein gewandter Turner, ein geübter Ringer und sein größtes Vergnügen bestand darin, sich mit den Kindern des Pächters oder mit denen des Kammerdieners Franz, der auf Grund seiner Vertrauensstellung beinahe für voll angesehen wurde, zu prügeln, wobei es natürlich den andern Kindern auf das strengste verboten war, den jungen Grafen wieder zu schlagen, so daß Udo Bodo im Kampf stets Sieger blieb, was ihn immer von neuem wieder mit großer Genugtuung erfüllte.

Aber so stark und gewandt Udo Bodo in allen körperlichen Übungen war, in einer Hinsicht war es mehr als traurig mit ihm bestellt, das war sein Geist. Der Hauslehrer rang oft die Hände, denn er sah es ja deutlich genug, daß es bei Udo Bodo nicht an dem guten Willen lag, sondern lediglich an dem Mangel jeder geistigen Befähigung. Aber das Händeringen half nichts und verzweifelt klagte er oft Tante Cäcilie sein Leid. Aber auch die konnte nichts ändern, und es war ja eigentlich ganz selbstverständlich, daß Udo Bodo nicht allzu begabt war; er hatte die Dummheit seines Vaters und seines Großvaters geerbt, und es wäre ja mehr als ein Wunder gewesen, wenn er ganz aus der Art geschlagen und ein begabtes Kind geworden wäre.

In der ersten Zeit war sie über diese Entdeckung allerdings doch etwas erschrocken, denn was der Lehrer sagte, stand so gänzlich im Widerspruch mit dem, was sie seinerzeit an der Wiege des Neugeborenen prophezeit hatte. Aber was noch nicht war, konnte ja noch werden, es passierte ja oft genug, daß jemand in der Jugend schwer lernt und daß dann plötzlich doch noch die Erleuchtung über ihn kommt. Und vor allen Dingen, wie mancher wirklich Begabte erleidet in dieser Welt nicht Schiffbruch und bringt es trotz aller Befähigung und trotz allen ernsten Strebens zu nichts, während so manchem Minderbegabten das Glück in den Schoß fällt und ihn doch eine glänzende Karriere machen läßt. Und viel mehr als das leere Wissen konnten Udo Bodo später sein Name, seine tadellosen Manieren, sein Vermögen und vor allen Dingen seine hohen verwandtschaftlichen Beziehungen nützen. Und Udo Bodo hatte hohe Beziehungen, ein Onkel von ihm war an einem kleinen Fürstenhof Kammerherr, ein anderer war Intendant an einem Hoftheater, eine Tante war Hofdame, eine andere sogar Oberhofmeisterin, man hatte mit den meisten Fürstenhäusern Beziehungen, da mußte Udo Bodo ja später Karriere machen, selbst wenn er gar nicht wollte. Und sie, Tante Cäcilie, würde später schon ihre Hand schützend über ihn halten und ihn zu lancieren wissen. Es sollte doch schon noch etwas Großes aus ihm werden.

»Soll ich nicht einmal mit dem Herrn Grafen über die geistigen Fähigkeiten seines Herrn Sohnes sprechen?« fragte eines Tages der Hauslehrer.

Aber Cäcilie verbat sich das auf das energischste, einmal, weil sie fürchtete, daß Graf Kuno dann an der Wahrheit ihrer Prophezeiungen irre würde, dann aber auch, weil sie den Grund dieser Aussprache nicht einsah. Graf Kuno konnte seinen Sohn doch nicht klüger machen, als er war, einmal, weil das überhaupt nicht ging, dann aber auch, weil er, selbst wenn es gegangen wäre, hierzu die am wenigsten geeignete Persönlichkeit war. Und außerdem, warum dem Vater unnötige Sorge machen, warum ihn unnötig ängstigen, er war so stolz auf sein Kind, warum ihn da betrüben. Später, wenn Udo Bodo sich wirklich nicht weiter entwickelte, war es ja immer noch Zeit genug, und vor allen Dingen würde Graf Kuno ihm gar nicht glauben, der sah bei seinem Jungen in den goldenen Kelch, alles, was er sagte und tat, war vollkommen, und in seiner Vaterliebe und in seinem Vaterstolz hatte er sich ein Buch angelegt, in das er gewissenhaft alle bedeutsamen Äußerungen seines Kindes eintrug, so zum Beispiel: »Anständige Menschen waschen sich nur mit französischer Seife.« – »Von den Kindern eines Pächters kann man nicht verlangen, daß sie wissen, wie man anständig ißt.« – »Wenn ich einmal groß bin, werde ich es den Leuten schon beizubringen wissen, daß ich Udo Bodo, Graf von Adlershorst bin.«

Jeder andere Vater hätte seinen Sohn wegen solcher Aussprüche zur Rede gestellt, aber Graf Kuno war stolz auf diese Worte, die ihm der beste Beweis dafür waren, daß sein Sohn ganz in seinem Sinne erzogen wurde, und wenn er einen solchen denkwürdigen Ausspruch in sein Buch hatte eintragen können, dann war er gegen Cäcilie von einer doppelten Aufmerksamkeit und segnete stets von neuem den Tag, an dem er sie zu sich ins Haus genommen hatte. Und dabei war Cäcilie an diesen Anschauungen des Knaben ganz unschuldig, sie versuchte zwar in ihm schon in der frühesten Jugend das Bewußtsein zu erwecken daß er als Träger eines alten Namens später auch besondere Pflichten zu erfüllen habe, aber für die Ausschreitung seines jugendlichen Adelsstolzes konnte man sie nicht verantwortlich machen. Oft lag es ihr sogar auf den Lippen, dies offen und ehrlich einzugestehen, aber was hätte es für einen Zweck gehabt, Graf Kuno hätte sie doch nicht verstanden, im Gegenteil, er hätte ihr höchstens Vorwürfe gemacht. So hatte sie denn auch den Hauslehrer gebeten, nicht mit dem Grafen zu sprechen.

»Aber was wird nur später aus dem jungen Grafen werden?« hatte der ganz zerschmettert gefragt.

»Kommt Zeit, kommt Rat.« hatte Cäcilie erwidert, »die Stunde wird schon noch kommen, in der Graf Udo Bodo für irgendeinen Beruf Lust und Talent bezeugt. Er ist ja noch jung.«

Aber Udo Bodo wurde immer älter, die Jahre gingen dahin, er war nun schon konfirmiert, und es wurde Zeit, daß er ein Gymnasium besuchte, um die Reife für das Einjährigenzeugnis zu erhalten, oder um die Abiturientenprüfung zu bestehen, falls er studieren wollte. Vorher aber sollte er als neukonfirmierter Jüngling, der dadurch einen gewissen Grad der geistigen Reife und der männlichen Vollkommenheit erreicht hatte, der Familie vorgestellt werden. Hierzu gab es zwei Möglichkeiten. Man mußte entweder eine Rundreise von Stadt zu Stadt, von Gut zu Gut antreten und allen Verwandten einen Besuch abstatten, und das war dem Grafen Kuno viel zu umständlich, oder aber man mußte den nächsten Familientag abwarten. Der aber fand erst im Januar statt, und spätestens zum Herbst mußte Udo Bodo auf das Gymnasium. Graf Kuno fand keinen Ausweg, da kam ihm Cäcilie zu Hilfe.

»Wie wäre es, Kuno, wenn Du alle Verwandten oder wenigstens diejenigen, an deren Urteil Dir etwas gelegen ist, auf ein paar Tage zu uns bätest? Wir können sie ja alle bequem unterbringen, wir verleben dann ein paar frohe Tage, Du gibst ein offizielles Diner, von den kleinen Festlichkeiten abgesehen, und bei dieser Gelegenheit können wir dann über Udo Bodos Zukunft beraten. Mir persönlich tätest Du damit einen großen Gefallen, denn mir ist natürlich sehr viel daran gelegen, aus dem Munde der Verwandten zu hören, wie ich mein schweres, verantwortliches Amt erfüllte.«

Er stimmte ihr lebhaft bei, er freute sich, einmal wieder den Glanz seines Hauses entfalten zu können und eine besondere Gelegenheit zu haben, gut zu essen und noch besser zu trinken, auch schmeichelte es seiner Eitelkeit, seine ganze Verwandtschaft einmal bewirten zu können. So setzte er sich denn gleich hin, um die Sache in die Wege zu leiten.

Zunächst wandte er sich natürlich an die alte Kammerherrin, die trotz ihres hohen Alters immer noch von einer seltenen geistigen und körperlichen Frische war, und bat sie, selbst den Tag bestimmen zu wollen, an dem es ihr angenehm wäre, Adlershorst mit ihrem Besuch auszuzeichnen. Gleichzeitig schrieb er an alle anderen Verwandten, er hege die Absicht, sie zu sich einzuladen, sie möchten sich reisefertig halten, um auf eine telegraphische Mitteilung hin sofort abfahren zu können.

An dem Abend desselben Tages geschah ein Wunder. Graf Kuno rauchte nach dem Diner nur eine Zigarre im Salon, dann zog er sich mit seinem Sohn in sein Wohnzimmer zurück und dort setzte er Udo Bodo in längerer feierlicher Rede auseinander, daß demnächst in seinem Leben ein wichtiger Wendepunkt eintrete und daß er sich nun zu einem ernsten Menschen entwickeln würde, die goldenen, sorglosen Kinderjahre lägen jetzt hinter ihm.

Udo Bodo, der in seinem Vater das Ideal eines klugen, vollkommenen Menschen sah, dessen Menschenkenntnis und Lebensweisheit über allen Zweifel erhaben sei, hörte diese Worte andächtig an, dann meinte er: »Ja, Papa.« Das war alles, was er zu sagen wußte.

Dem Grafen Kuno genügte das auch vollständig, er hörte aus dieser Entgegnung heraus, daß sein Sohn nicht nur ein gehorsames Kind war, sondern den Ernst der Situation vollständig verstand. So etwas verdiente Belohnung und so sagte er denn: »Udo Bodo, willst Du eine Zigarette haben?«

»Eine Zigarre wäre mir lieber, Papa. Nein, die nicht,« wehrte er ab, als Graf Kuno ihm eine kleine, leichte Zigarillo geben wollte. »Weißt Du, an dem Tag meiner Konfirmation hast Du mir eine kleine Uppmann gegeben, die ist mir noch in angenehmster Erinnerung.«

»Ach so, ja richtig,« und der Vater beeilte sich, den Wunsch seines sechzehnjährigen Sohnes zu erfüllen.

Mit großem, berechtigten Vaterstolz betrachtete Graf Kuno seinen Sohn, wie dieser ihm mit übereinandergeschlagenen Beinen gegenübersaß, den Rauch durch die Nase zog und dann kunstvolle Ringe von sich blies. Aber das letztere fand doch nicht so ganz seinen Beifall und so sagte er denn:

»Merke Dir eins. Udo Bodo, wer Ringe bläst, achtet dabei mehr darauf, ob das Kunststück ihm auch gelingt, als auf den Geschmack der Zigarre selbst. Ein ernster Raucher verabscheut daher solche Mätzchen. Merke es Dir.«

»Ich werde es mir merken, Papa, wie alle ernsten und guten Lehren, die Du mir bisher in meinem Leben gegeben hast.«

»Du bist ein guter Junge, komm her und gib mir einen Kuß.«

Udo Bodo eilte auf seinen Vater zu, schlang die Arme um seinen Hals und küßte ihn stürmisch.

Endlich machte sich der Graf lachend aus dem Arme seines Sohnes frei. »So, Udo Bodo, jetzt ist es genug, in allem muß man Maß halten. Setz Dich mir wieder gegenüber.«

Udo Bodo tat, wie ihm geheißen wurde, und sah seinen Vater erwartungsvoll an.

»Udo Bodo,« begann jetzt Graf Kuno, »wie ich Dir vorhin schon kurz sagte, wirst Du in der nächsten Zeit der Familie vorgestellt werden und bei dieser Gelegenheit wird über Deinen ferneren Lebensweg beraten werden. Das ist aber natürlich nur so zu verstehen, daß ich den Verwandten die Pläne, die ich mit Dir habe, mitteile, und daß diese sie stillschweigend billigen. Ernsthaft denkt natürlich niemand daran, sich um eine so ernste und wichtige Sache, wie es Deine Erziehung ist, zu kümmern, das liegt allein Deinem Vater ob, und Dein Vater bin ich.«

»Ja, Papa,« stimmte Udo Bodo ihm bei, »ich weiß.«

»Ich bin aber nicht nur Dein leiblicher Vater,« fuhr Graf Kuno fort, »sondern ich bin auch Dein geistiger Vater. Ich habe Dich, seitdem