Sabine Bode

Die vergessene
Generation

Die Kriegskinder brechen ihr Schweigen

Mit einem Nachwort
von Luise Reddemann

Klett-Cotta

Impressum

Dieser Text beruht auf der erweiterten und aktualisierten Ausgabe aus dem Jahr 2011.

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Klett-Cotta

www.klett-cotta.de

© 2004, 2011, 2021 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger GmbH,
gegr. 1659, Stuttgart

Alle Rechte vorbehalten

Cover: Rothfos & Gabler, Hamburg

unter Verwendung einer Abbildung von © ullstein bild

Gesetzt von C.H.Beck.Media.Solutions, Nördlingen

Gedruckt und gebunden von GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 978-3-608-96487-5

E-Book ISBN 978-3-608-10504-9

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten
sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Für Georg

Einführung zur erweiterten und aktualisierten Ausgabe

Die Erinnerungsarbeit einer vergessenen Generation

Erst vor wenigen Jahren ging in Deutschland eine Zeit zu Ende, in der den Angehörigen der Kriegskinderjahrgänge der Gedanke noch völlig fremd war, sie hätten als Generation ein besonderes Schicksal. Der Satz »Ich bin ein Kriegskind« fiel äußerst selten, und noch seltener sprach ihn jemand unbefangen aus.

Als dieses Buch 2004 erschien, waren die Spätfolgen des Krieges in der deutschen Bevölkerung noch nicht erforscht. Der Begriff »Trauma« wurde im Wesentlichen im Zusammenhang mit den Opfern des Nationalsozialismus genannt. Ein öffentliches Interesse am Thema »deutsche Kriegskinder« existierte nicht. Es erwachte erst im April 2005, ausgelöst durch den ersten großen Kriegskinderkongress in Frankfurt am Main. Hatten sich die öffentlichen Medien bis dahin überwiegend auf die Aufarbeitung des Nationalsozialismus konzentriert, wurden nun dem Themenkomplex »deutsche Vergangenheit« die Schrecken von Bombenkrieg und Vertreibung aus Kindersicht hinzugefügt.

An Zeitzeugen herrschte kein Mangel. Jahrzehntelang hatten die Kriegskinder ihre frühen Traumatisierungen verdrängt oder auf Abstand gehalten, doch nun war die Zeit reif, Worte für Erlebnisse zu finden, die bis dahin unaussprechbar gewesen waren. Was dabei sichtbar wurde: Natürlich hat die Begegnung mit Kriegsgewalt und Heimatverlust im späteren Leben Folgen, auch wenn die Betroffenen nicht wahrnehmen, wodurch sie untergründig gesteuert werden.

Erst jetzt, im Alter, werden sich viele dessen bewusst und fangen an, sich Fragen zu stellen. Häufig setzen sie sich damit auseinander, indem sie ihre Kindheitserinnerungen aufschreiben. Unzählige ältere Menschen sind derzeit damit beschäftigt. Viele ihrer Generation haben das Gefühl, sie müssen es tun, denn im Alter fällt das Verdrängen immer schwerer. Es ist daher nicht übertrieben, von einem Erinnerungsboom zu reden.

Als »Die vergessene Generation« vor sieben Jahren erschien, gab es, wie gesagt noch kein öffentliches Bewusstsein für die Thematik »Kriegskinder« und keine nennenswerte Forschung. Das ist jetzt anders. Studien kommen zum Ergebniss: 8 bis 10 Prozent der Menschen, die als Kinder Krieg und Vertreibung erlebten, sind heute – im Alter – psychisch krank. Sie leiden an einer posttraumatischen Belastungsstörung. Im Gegensatz dazu Vergleichszahlen der Schweiz: Hier sind in den Jahrgängen der Rentner und Ruheständler nur 0,7 Prozent betroffen.

Nun sind die Kriegskindheitserfahrungen sehr unterschiedlich gewesen, und unterschiedlich stark waren und sind die Folgen der frühen Verlust- und Gewalterfahrungen. So gibt es noch weitere 25 Prozent ältere Deutsche, bei denen sich die Spätfolgen zwar weniger gravierend, aber immer noch deutlich zeigen. Sie sind, wie es der Arzt und Traumaforscher Michael Ermann von der Universität München formulierte, »in ihrer psychosozialen Lebensqualität eingeschränkt«. Man kann es auch anders ausdrücken: Viele ältere Menschen sind tief verunsichert, und daher lassen sie sich nicht gern durch neue Erfahrungen, auch nicht durch neue Gedanken irritieren. Der Kontakt zur Welt der Jüngeren ist daher eingeschränkt und ihre Beziehungen sind wenig emotional. Veränderte Lebensumstände setzen sie enorm unter Stress. Weitere Auffälligkeiten sind Schwarz-Weiß-Denken und ein extrem hohes Bedürfnis nach materieller Sicherheit.

Die Forschung hat herausgefunden, dass bei Menschen, die sich nicht von ihren Traumata erholt haben, der Cortisolspiegel zu niedrig ist. Daher ihre Anfälligkeit für Stress. Luftangriffe, Tiefflieger, der Verlust von Angehörigen, Vertreibung und Hunger – dies alles hat körperliche und seelische Auswirkungen.

Man kann also sagen: Ein Drittel jener Menschen, die ihre Kindheit oder Jugend im Krieg verbrachten – in etwa die Jahrgänge von 1930 bis 1945 –, ist noch heute von den Spätfolgen belastet. Je kleiner die Kinder waren, als die Katastrophe über sie hereinbrach, umso gravierender die Spätfolgen. In der Altersgruppe derer, die in den Vierzigerjahren geboren wurden und sich daher kaum oder gar nicht an das Kriegsgeschehen erinnern können, werden heute die größten Beeinträchtigungen sichtbar. Viele Menschen klagen über psychosomatische Beschwerden, vor allem über immer wiederkehrende Depressionen, unerklärliche Schmerzen oder Panikattacken. Da ihre Ängste nicht von Bildern der Kriegsschrecken begleitet werden und es auch in ihren Träumen keinerlei Hinweise dazu gibt, kamen sie bis vor Kurzem nicht auf die Idee, sie könnten durch Kriegserlebnisse belastet sein, und ihre Symptome blieben für die Ärzte rätselhaft. Heute hat sich in der Medizin herumgesprochen, dass ein nicht unerheblicher Teil der älteren Patienten unter Kriegstraumata leidet. Noch sind die Hilfsangebote für diese Kranken nicht ausreichend, aber es wächst die Aufmerksamkeit für die Hintergründe ihrer Beschwerden, vor allem auch in der Altenpflege.

Seit Mitte der Neunzigerjahre beschäftigt mich die Problematik der Kriegskinder. Dass ich als Journalistin über so viele Jahre von einem Thema gefesselt war, hatte ich vorher noch nicht erlebt. Ausschlaggebend für das, was später mein Lebensthema werden sollte, war ein Krieg, der Deutschland geografisch sehr nahe rückte. Anfangs sprach man noch gar nicht von einem Krieg, sondern von einem Konflikt – dem Bosnienkonflikt. Weil im Fernsehen dem Leid der Kinder viel Sendezeit gewidmet wurde, wuchsen in mir Fragen: Wie geht es eigentlich den deutschen Kriegskindern heute? Wie haben sie ihre frühen Erfahrungen mit Gewalt, Bomben, Flucht, Hunger und Tod in der Familie verkraftet? In welchem Ausmaß blieb das spätere Leben davon geprägt?

Das Verblüffende war, dass sich außer mir kaum jemand dafür zu interessieren schien. Weder die Kriegskinder selbst noch Ärzte, Psychotherapeuten, Seelsorger, Redakteure. In Deutschland, so kam es mir vor, hatte man sich stillschweigend darauf geeinigt, dass die Kinder des Krieges gut davongekommen waren.

Im Archiv des WDR fand ich dazu keine Fakten, keine Zahlen, keine nennenswerten Untersuchungen. Also fragte ich die Betroffenen selbst. Tatsächlich nutzte ich dazu jede Gelegenheit, auch zufällige Begegnungen, in der Bahn zum Beispiel. Gelegentlich kam es zu heftigen Reaktionen wie: »Sie wollen mir wohl ein Trauma anhängen!« Ich verstand, dass ich meinem Gegenüber manchmal zu nahe getreten war.

Die meisten Angesprochenen wollten nur über die NS-Vergangenheit und den Holocaust reden – darüber, wie sehr sie das heute noch belaste und wie sie als Pfarrer, als Lehrerin, als Eltern die Erinnerung daran wachgehalten und an die Jüngeren weitergegeben hätten. Wenn ich sie dann erneut auf mein Thema ansprach, wurden einige ärgerlich und unterstellten mir, ich wollte »die Deutschen« als Opfer stilisieren.

Fazit meiner Gespräche im ersten Jahr: An Kriegserinnerungen war noch heranzukommen, aber die Frage nach den Kriegsfolgen wurde so gut wie nie beantwortet. Am häufigsten hörte ich Sätze wie: »Andere haben es schlimmer gehabt« oder »Es hat uns nicht geschadet« oder »Das war für uns normal.« Finale Sätze. Ende des Gesprächs. Es ging mir nicht besonders gut in diesem Jahr. Mich haben die Begegnungen häufig verwirrt, ich geriet in einen inneren Zwiespalt. Einerseits sagte ich mir, dass die Deutschen ja wohl kaum so viel für Kinder in Kriegsgebieten spenden würden, wenn sie nicht um deren Traumatisierungen wüssten. Andererseits: Sie waren sich so einig, diese Kriegskinder, und ich hatte nicht das Gefühl, dass mir etwas vorgemacht wurde.

Nur gelegentlich kam es zu längeren Gesprächen, und rückblickend kann ich meine Erfahrungen der ersten Jahre mit dem Satz zusammenfassen: Je mehr Menschen ich fragte, desto unklarer wurde das Bild. Nach meinen Interviews war ich oft ratlos, ich zweifelte an meiner Wahrnehmung und war körperlich sehr erschöpft. Wenn ich mit Freunden darüber sprach, hörte ich: »Was beschäftigst du dich auch mit so einem dunklen Thema?«

Aber daran allein konnte es nicht liegen. Ich habe Erfahrung mit unbequemen Fragestellungen – Nazizeit, Holocaust, psychische Erkrankungen, Kindstod –, aber eine vergleichbar niederdrückende Stimmung und Konfusion hatte ich noch nie erlebt.

Die Verwirrung ging schon damit los, dass es eine ganze Weile dauerte, bis ich begriff, dass es sich bei den Jahrgängen von 1930 bis 1945 in Wahrheit um mehrere Generationen handelt. Denn es macht einen großen Unterschied, in welchem Alter ein Kind diesem Krieg ausgeliefert war: ob als Säugling, als Kleinkind, ob vor oder nach der Pubertät.

Natürlich hätte ich auch eine andere Zeitspanne wählen können, zum Beispiel von 1928 bis 1950, aber ich entschied mich, vor allem um die Arbeit überschaubar zu halten, für jene 15 Jahrgänge, von der Flakhelfergeneration bis zu jenen Kindern, die auf der Flucht geboren wurden. Gerade diese beiden Pole machen deutlich, dass es nicht um eine, sondern um mehrere Generationen geht.

Und dennoch gibt es viele Ähnlichkeiten in den Aussagen über die Kriegszeit und die schweren Jahre danach. Zum Beispiel der Satz: »Es war nie langweilig«. Und: »Was wir damals erlebt haben, war für uns normal.« Soll heißen: »Wir haben das, was der Krieg mit sich brachte, als normal empfunden, zumal es ja allen Familien ringsum genauso ging, und wir haben uns in unserem Alltag so wenig wie möglich vom Krieg stören lassen.«

Nun ist ja bekannt, dass kleine Kinder auch extreme Lebensumstände so hinnehmen, wie sie sind. Romanautoren haben sich immer wieder davon inspirieren lassen, dass solche Prägungen ihre eigene Dynamik entwickeln. Ein Kind, das in einem Bordell aufwächst, wird das als völlig normal empfinden, bis es mit den Normen der Außenwelt in Kontakt kommt. Wenn dann aus dem Kind ein reflektierender Erwachsener geworden ist, wird er ein Bewusstsein davon entwickeln, welche Spuren eine solche Kindheit bei ihm hinterlassen hat.

Bei meinen Gesprächspartnern war das in der Regel anders. Sie wollten nur von ihren Kindheitserinnerungen erzählen, die sie gern mit dem Satz einleiteten: »Wir haben in dieser Zeit auch viel Schönes erlebt.« Selbst im Nachhinein fehlte der Mehrzahl der Betroffenen das angemessene Gefühl für das, was sie an Schrecken erfahren hatten. Dass das Haus der Lieblingstante, in dem man so viel Schönes erlebt hatte, von Bomben komplett zerstört worden war, das erwähnte ein Mann nur beiläufig; bei mir kam es so an wie: nichts Besonderes, so was hat man eben weggesteckt. Sprach ich meine Interviewpartner darauf an, dann stellte sich heraus, dass sie auch das Festhalten an eigentlich nicht adäquaten Gefühlen – bis hin zur Gefühllosigkeit – heute noch »ganz normal« finden.

Ein zähes Thema, nicht nur für die Befragten. Wenn ich es Zeitungs- oder Fernsehredakteuren anbot, die selbst der Kriegskindergeneration angehörten, stieß ich auf fast einhellige Ablehnung. Genauer gesagt, in den meisten Fällen kam überhaupt keine Reaktion. Meine Exposés wurden offenbar zur Seite gelegt und dann vergessen. Das kannte ich noch nicht, dass ein Themenvorschlag so viel Schweigen auszulösen vermochte.

Oberflächlich sah es so aus, als habe man die Frage »Wie hat sich die Kriegskindheit auf das weitere Leben ausgewirkt?« einfach für unwichtig gehalten. Doch schließlich wurde mir klar: Das zugrunde liegende Thema beunruhigt uns Deutsche weit mehr, als ich angenommen hatte. Die Antworten liegen unter der Last von Schuld und Scham begraben, als Folgen der Naziverbrechen, des Holocaust.

Warum mich das Thema nicht losgelassen hat? Ich glaube, dies hat nun wiederum mit meiner eigenen Generation zu tun, mit den kurz nach dem Krieg Geborenen. Ich habe als Kleinkind das zerstörte Köln gesehen. So, wie die Erwachsenen darauf reagierten, war es klar, dass das Wort »Krieg« etwas Schlimmes bedeutete. Ich glaube also, dass ich in einem Alter eine Ahnung von Vergangenheit bekam, in dem man üblicherweise nur in der Gegenwart lebt und das Vergangene noch gar keine Kategorie ist. Das Vergangene war allgegenwärtig und trotzdem ein geheimnisvolles Tabu. Als Jugendliche entwickelte ich dann eine konkrete Neugier. In der Schule erfuhren wir von den Naziverbrechen, von Auschwitz; die Eltern reagierten auf meine Fragen mit Ärger oder Schweigen.

Als ich dann dreißig Jahre später beim Thema Kriegskinder ähnliche Erfahrungen machte, wieder in verhärtete Gesichter blickte, wusste ich, dass ich auf etwas gestoßen war. Wieder wurden meine Fragen abgewehrt. Wieder wurde mir bedeutet, dass ich keine Ahnung hätte. Wahrscheinlich gibt es für meine Neugier nichts Stimulierenderes als kollektive Geheimnisse.

Während ich an diesem Buch schrieb, geschah etwas Unerwartetes: Günter Grass veröffentlichte 2002 seine Novelle »Im Krebsgang« und löste damit in deutschen wie in ausländischen Zeitungen einen Diskurs über die heikle Thematik »Die Deutschen als Opfer« aus. Befürchtet wurde eine Relativierung der deutschen Schuld. Gewarnt wurde vor einer Aufrechnung von Opfern der NS-Verbrechen, des Holocaust, mit den deutschen Opfern von Bombenkrieg, Flucht und Vertreibung.

Günter Grass befand in seinem Buch, er habe zu lange geschwiegen, und lenkte die Aufmerksamkeit auf die deutschen Opfer von Krieg und Vertreibung. Ein Zitat macht die Hintergründe seiner Sinneswandlung deutlich: Niemals, sagt er, hätte man über so viel Leid, nur weil die eigene Schuld übermächtig und bekennende Reue in all den Jahren vordringlich gewesen sei, schweigen, das gemiedene Thema den Rechtsgestrickten überlassen dürfen. Dieses Versäumnis sei bodenlos …

Anfang 2002 widmete »Der Spiegel« dem »Krebsgang« vor dem Hintergrund des Themas Flucht und Vertreibung eine Titelgeschichte. Darin stand, was dem Tenor in fast allen großen Zeitungen entsprach: dass über die Folgen der Nazizeit und des Krieges noch einmal gründlich nachgedacht werden müsse. Als ich den »Spiegel«-Titel las, wusste ich: Das ist der Wendepunkt. Jetzt ändert sich etwas. Jetzt kommt auch das Thema »deutsche Kriegskinder« endlich an die Öffentlichkeit, schon deshalb, weil sie die letzten lebenden Zeitzeugen sind.

Mit der Veröffentlichung der Grass-Novelle sowie des ebenfalls 2002 erschienenen Buches »Der Brand« von Jörg Friedrich wurden eine heftige Diskussion und vor allem eine gigantische Erinnerungswelle ausgelöst, die bis heute anhält. Dabei von einem Tabubruch zu reden wäre wohl übertrieben. Aber ganz sicher handelt es sich um einen Dammbruch, weshalb die Flut der Erinnerungen nun auch bei den Kriegskindern nicht mehr zurückzudrängen ist. Für sie ist es häufig das erste Mal, dass sie darüber reden – vorher hatte ja keiner danach gefragt.

In meinem Buch steht die Sicht der Betroffenen im Vordergrund. Ich habe sehr viele Stimmen gesammelt, aber meine Auswahl beschränkt sich auf Lebensläufe, die stark vom Krieg geprägt wurden (wobei alle Namen mit Sternchen geändert worden sind). So haben mich vor allem jene Frauen und Männer interessiert, die zwar wussten, aber bis vor Kurzem überhaupt nicht empfanden, dass in ihrer Kindheit etwas Besonderes oder gar etwas besonders Schreckliches vorgegangen war.

Dass die Katastrophe des Luftkriegs in Deutschland weit weniger öffentliches Thema war als das der Vertreibung, mag erklären, warum in diesem Buch mehr von den Überlebenden des Bombenkriegs die Rede ist als von Flüchtlings- und Vertriebenenschicksalen.

Beim Abfassen der veröffentlichten Lebensgeschichten aus der Kriegskindergeneration war mir klar, dass die Erinnerungen und die damalige Realität nicht immer deckungsgleich sind. Vieles konnte ich nicht überprüfen, weil mir andere Quellen fehlten. Unvermeidbar auch, dass es mir, der Nachgeborenen, hin und wieder an Zweifeln mangelte, dass ich also bestimmte Behauptungen hinnahm, weil ich nie etwas Abweichendes gehört hatte. Bei Unkorrektheiten bitte ich um die Nachsicht derer, die es als Zeitzeugen und Historiker besser wissen.

Bildung, beruflicher Erfolg und eine robuste Gesundheit erweisen sich als enorm hilfreich, wenn es darum geht, frühes Leid zu kompensieren. Daher begab ich mich auf die Suche nach den weniger begünstigten Zeitzeugen und erkundigte mich bei Ärzten und bei Krankenkassen. Ich hoffte, es gäbe vielleicht Statistiken über den Gesundheitszustand der Jahrgänge 1930 bis 1945. Fehlanzeige. Dann schaute ich noch einmal gezielt zwei Ordner mit Post durch: 600 Hörer hatten auf meine nicht gerade zahlreichen Sendungen zum Thema »Kriegskinder« geschrieben. Die meisten von ihnen beließen es bei einer Bitte um das Manuskript. Etwa 20 Prozent hatten hinzugefügt, warum diese Sendung sie persönlich so betroffen hatte. Das alles war aufschlussreich und unterstützend, führte mich aber auch nicht zu der Gruppe der Unsichtbaren, von deren Existenz ich nach wie vor überzeugt bin.

Sie kommen also wieder zu kurz, hier in diesem Buch – wie übrigens auch diejenigen, die in der DDR lebten. Der Hauptgrund ist, dass ich als Kölnerin am westlichen Rand der Republik wohne und meine Kontakte mit Ostdeutschland entsprechend dünn sind. Meine Beiträge über die Kriegskindergeneration wurden fast ausschließlich in Westdeutschland gesendet. In der Hörerpost waren folglich kaum Briefe aus Ostdeutschland, die mir bei meinen Recherchen hätten weiterhelfen können. Das bedauere ich, denn mir ist bewusst, dass es in der DDR vor allem die Vertriebenen besonders schwer hatten. Sie mussten sich »Umsiedler« nennen und über ihr Schicksal schweigen. In den meisten Vertriebenenfamilien ist das Tabu immer noch wirksam – auch zwanzig Jahre nach der Wende.

Doch auch dies wird sich noch ändern, dafür sorgen nicht zuletzt die neuen Medien.

Seit ich über das Thema »Kriegskinder« Beiträge im Internet veröffentliche, erreichen mich ständig E-Mails, auch aus Österreich, wo die Kinder des Krieges offenbar einem ähnlich großen Schweigen ausgesetzt waren wie hierzulande. Besonders überrascht haben mich aber die Briefe von Auslandsdeutschen. Ihr Tenor: Da lebe ich so viele Tausend Kilometer von Deutschland entfernt, aber der Krieg holt mich immer wieder in meinen Träumen ein.

Seit sechs Jahren treffe ich bei Lesungen auf Kriegskinder und werde regelmäßig Zeugin davon, wie emotionale Schranken plötzlich überwunden werden. Konflikte zwischen Kriegskindern und ihren Kindern, die oftmals bei den Lesungen dabei sind, brechen auf. Familien finden Worte für das, was bisher im Unterbewusstsein der Kriegskinder rumorte und ganze Generationen verstummen ließ. Solche Begegnungen waren ausschlaggebend dafür, die »Vergessene Generation« um ein Kapitel zu erweitern. Sie zeigen, wie aktuell das Thema nach wie vor ist.

Die Medien lassen das Thema nicht ruhen. Mit unzähligen Beiträgen halten sie das Interesse wach, Tendenz steigend. Das lässt hoffen, dass in nicht allzu ferner Zukunft auch jene Regionen ausgeleuchtet sein werden, die heute noch im Dunkeln liegen. Noch nie waren Vertreibung und Luftkrieg im deutschen Bewusstsein so lebendig wie heute. Als »Die vergessene Generation« 2004 erschien, lautete der letzte Satz der Einführung: »Wir stehen erst am Anfang.«

Das hat sich gründlich geändert.

Wir stehen nicht mehr am Anfang.

Dank

Mein ganz besonderer Dank geht an die »Kriegskinder« und deren Kinder, die mir ihre Lebensgeschichten anvertrauten. Ohne ihre Offenheit hätte ich nie erfahren, wie es in ihrer so lange verschwiegenen Welt aussieht. Darüber hinaus möchte ich Luise Reddemann für ihr Nachwort danken und weil sie mir bei meinen Recherchen den Rücken stärkte. Dankbar bin ich auch Axel Becker, Heinz Beyer, Theo Dierkes, Peter Heinl, Curt Hondrich, Bernward Kalbhenn, Peter Liebermann, Ralph Ludwig, Christa Pfeiler-Iwohn, Fritz Roth, Dierk Schäfer, Joachim Schmidt von Schwind, Helga Spranger, Irene Wielpütz. Sie alle halfen mir durch Ermutigung und Austausch, durch Anregungen oder die Chancen der Veröffentlichung und ihre Bereitschaft, sich immer wieder mit einem schwierigen Thema zu beschäftigen.

Erstes Kapitel

Millionen Kriegskinder unter uns

Was der Kalte Krieg verhinderte

Je länger der Berliner Mauerfall zurückliegt, desto deutlicher wird, dass die Nachkriegszeit in Deutschland erst 1989 zu Ende gegangen ist. Durch die Wiedervereinigung wurden die letzten politischen Kriegsfolgen beseitigt und – wie sich dann einige Jahre später zeigte – Raum geschaffen für gesellschaftliche Themen, die durch das Klima des Kalten Krieges nicht an die Oberfläche gedrungen waren.

Das jeweilige Auftreten der Ideologie West gegen Ideologie Ost und umgekehrt war so selbstgerecht und laut und so sehr auf Einschüchterung programmiert, dass Nachdenklichkeit, feine Schattierungen und leise Töne davon regelrecht aufgesaugt wurden. In der deutschen Bevölkerung, im Westen wie im Osten, hatte die Hochrüstung über die Jahre neue Ängste ausgelöst – vermutlich wurden auch deshalb die kollektiven Bedrohungsgefühle, die noch aus dem Zweiten Weltkrieg stammten, nicht wirklich wahrgenommen und verarbeitet. Man kann sagen: Über fünf Jahrzehnte wurde in beiden deutschen Staaten wenig über die seelische Hinterlassenschaft des Krieges nachgedacht. Wer in den Siebziger- und Achtzigerjahren in der Bundesrepublik von Lebensängsten geplagt wurde, der galt, je nach seiner sozialen Umgebung, als neurotisch oder als ein sensibler Zeitgenosse, der den Rüstungswahn der beiden Blöcke einfach nicht länger verdrängen konnte. In der DDR gab die SED die stramme Richtung vor, dass die Bürger gut daran täten, an die »unbesiegbare Sowjetmacht« zu glauben, denn dann gebe es auch keinen Grund, sich zu fürchten.

Auf dem Höhepunkt einer Diskussion in Köln um den sogenannten NATO-Doppelbeschluss rief eine Hausfrau ins Mikrofon: »Heutzutage kann doch schon eine Fluse im Computer den Dritten Weltkrieg auslösen!« Eine absurde Übertreibung? Die Informationen, über die wir heute verfügen, geben der Frau im Nachhinein recht. Hätte ein falscher Alarm den Befehl für einen Atombombeneinsatz ausgelöst, wären noch genau zwanzig Minuten Zeit geblieben, um die Lage einzuschätzen und den GAU zu verhindern.

Ich selbst gehöre jenem Teil der Nachkriegsgeneration an, der sich, je nachdem, welches politische Thema gerade Konjunktur hatte, zwischen »Nie wieder Krieg!« und »Nie wieder Auschwitz!« bewegte. Dass wir die Kinder des Kalten Krieges gewesen waren, wurde mir erst nach und nach bewusst, als diese Epoche endgültig vorbei war: die Einäugigkeit der Argumentation, die blinden Flecken, nicht mehr und nicht weniger als beim Rest der Gesellschaft. Zum Beispiel kann ich mich nicht erinnern, dass in der christlich geprägten Friedensgruppe, der ich einmal angehörte, jemals in Betracht gezogen wurde, ob vielleicht der Furcht »vor dem Russen« auch eine traumatische Erfahrung zugrunde lag.

Ein erhellendes Seminar

Anfang der Neunzigerjahre änderte sich meine Sichtweise. Damals besuchte ich ein sehr erhellendes Seminar, und plötzlich erinnerte ich mich an eine extrem aufgeregte Frauenstimme, die ich zehn Jahre zuvor im Radio hatte sagen hören: »Ich würde alles tun, um mich vor dem Russen zu schützen. Ich würde sogar eine Rakete in meinen Vorgarten stellen!«

In diesem Seminar ging es darum, aus Anlass der Wiedervereinigung die eigene Familiengeschichte vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte genauer zu betrachten. Ich war nicht die Einzige, die befürchtete, die Nähe der eigenen Eltern und Großeltern zum Nationalsozialismus wäre größer gewesen, als sie stets behauptet hatten. Was sich dann auch im Laufe der viertägigen Veranstaltung bestätigte.

Zur Vorbereitung hatten wir Familienforschung betrieben, das heißt alle Daten und Fakten zusammengetragen, die von 1930 bis 1950 innerhalb der engeren Verwandtschaft bestimmend gewesen waren: Geburt, Krankheit, Tod, Umzüge, Berufswechsel, Fronteinsätze, Verwundungen und so weiter. Alle Teilnehmer zeigten sich erstaunt über die Tatsache, wie wenig ihnen über ihre Familien bekannt war. Das war die erste Gemeinsamkeit. Die zweite Gemeinsamkeit bestand darin, zu erkennen, dass wir zwar über die Einstellungen und Funktionen unserer Eltern in der Nazizeit recht gut Bescheid wussten, aber emotional und faktisch kaum erfassen konnten, was der Krieg in unseren Familien angerichtet hatte.

Einige Seminarteilnehmer hatten ihn noch als Kinder miterlebt. Aber auch für die später Geborenen wurde deutlich, dass der Krieg eine bestimmende Komponente in ihrer Biografie war, zum Beispiel dann, wenn die Eltern durch Flucht, Hunger, Bomben oder den Verlust von Angehörigen traumatisiert waren. Alle zwölf Teilnehmer wussten von mindestens einem Fall von Gewalt in der Familie. Die Stichworte hießen: ausgebombt, verschüttet, gefallen, vermisst, Flucht, Vertreibung, Vergewaltigung, Gefangenschaft, Selbstmord. Die Zahl der Toten in der engeren Verwandtschaft, die auf das Konto Krieg ging, war jedenfalls größer als die Zahl der Teilnehmer. Dabei bin ich mir ziemlich sicher, dass sie ganz durchschnittliche deutsche Familien repräsentierten und dass es sich nicht um eine extrem heimgesuchte Gruppe handelte.

Nazivergangenheit und Kriegsvergangenheit

Am dritten Tag hatte sich die Veranstaltung zu einem Trauerseminar entwickelt. Es wurde unendlich geweint. Zu erschütternd war das, was nach fünfzig Jahren ans Tageslicht kam. Seitdem ist mir klar, dass wir Deutschen eine Nazivergangenheit und eine Kriegsvergangenheit haben. Über die eine wird inzwischen offen gesprochen, bei der anderen fängt der Austausch gerade erst an. Noch sind die Kinder dieses Krieges zurückhaltend. Noch wollen sie, dass ihre Geschichte anonymisiert veröffentlicht wird.

Natürlich hat die Trennung zwischen Nazivergangenheit und Kriegsvergangenheit etwas Künstliches, aber ich glaube, wir können darauf nicht verzichten, weil das Schicksal der Kriegskinder fast sechzig Jahre lang von den Verbrechen der Nazis verschattet wurde. Die Kindergeneration litt – weit mehr als die ihrer Eltern – darunter, dass sie jenem Volk angehörte, das Hitler an die Macht gebracht hatte. Scham und Schweigen erschwerten den Zugang zu den eigenen seelischen Verletzungen durch Gewalt und Verluste. Den meisten ehemaligen Kriegskindern liegt es völlig fern, sich selbst als Opfer zu sehen, auch dann, wenn sie ein oder zwei Jahre lang im Luftschutzkeller gehockt haben.

Wir stehen gerade am Anfang eines gesellschaftlichen Prozesses, der darauf hinweist, dass die in den Sechzigerjahren von Alexander und Margarete Mitscherlich diagnostizierte »Unfähigkeit zu trauern« bis heute nachwirkt und dass sie sich nicht nur auf die Nazizeit, sondern auch auf die Kriegsfolgen bezieht.

Wenn ich Menschen aus meinem Bekanntenkreis nach langer Zeit wiedersehe, werde ich oft gefragt: »Woran arbeitest du gerade?« Um Missverständnissen vorzubeugen, was mir aber meistens nicht gelingt, beschreibe ich das heikle Thema immer bewusst ausführlich: »Es geht um die Frage, wie sich der Zweite Weltkrieg auf das Leben derjenigen Deutschen ausgewirkt hat, die damals Kinder waren.«

Typisch war die Reaktion eines Lehrers. Er sprudelte los, er habe gerade wieder einmal seine Schüler mit Anne Frank und den Geschwistern Scholl vertraut gemacht. Man müsse sich als Pädagoge für die Vermittlung der Nazivergangenheit viel Zeit nehmen.

Schließlich, als der Lehrer das eigentliche Thema erfasst hatte, ging er zum Angriff über: Wie ich darauf käme, Kriegszeit und Nazizeit zu trennen? Das sei doch unmöglich! Ob ich etwa die Seiten gewechselt hätte? Gehe es mir jetzt darum, die Deutschen als Opfer zu stilisieren?

»Du selbst wurdest doch 1940 in Berlin geboren«, sagte ich. »Was hat dich in deiner Kindheit mehr bestimmt: die Nazis oder Bomben und Hunger?«

Mein Gegenüber wurde heftig: »Begreifst du das immer noch nicht?! Ohne die Nazis hätte es für meine Familie die ganzen Kriegserlebnisse nicht gegeben!«

»Muss ich mir das so vorstellen«, fragte ich weiter, »dass du dich später mit den Schrecken des Nationalsozialismus beschäftigt hast – aber nicht mit deiner eigenen Kriegskindheit?«

»Genau«, bestätigte er. »Der Krieg war vorbei, als ich acht Jahre alt war. Ehrlich, du nervst mich mit den alten Geschichten …«

Aber genau diese verschwiegenen Geschichten, die eine ganze Generation und teilweise wohl auch noch deren Kinder prägten, müssen erzählt werden. Sie sind wichtig für die Einzelnen und für die Identität und die Zukunft der Deutschen als Europäer.

Eine tüchtige Generation

Warum träumt Gudrun Baumann* immer wieder, sie müsse eine Brille haben, obwohl sie längst eine besitzt? Wieso standen dem kernigen Kurt Schelling* plötzlich, mit 45 Jahren, ständig Tränen in den Augen? Wie kommt es, dass Wolfgang Kampen* in Israel, auf dem Höhepunkt der Gewalt, keine Angst vor Selbstmordanschlägen hatte? Sonderbare Fragen tauchen auf, wenn man sich heute mit Menschen beschäftigt, die im Zweiten Weltkrieg noch Kinder waren. Davon gibt es Millionen. Sie befinden sich im Ruhestand.

In der Tat ist nicht zu erkennen, dass ihnen das frühe Drama in besonderer Weise zugesetzt hätte. Offenbar ist es ihnen gut gelungen, ihre Erinnerungen an Tod, Bomben, Vertreibung und Hunger auf Distanz zu halten. Sie sind nicht kränker und auch nicht ärmer als frühere vergleichbare Altersgruppen. Im Gegenteil. Noch nie hat es in Deutschland Senioren gegeben, denen es finanziell so gut ging wie den heute Sechzig- bis Siebzigjährigen. Sie bauten das zerstörte Deutschland wieder auf, gründeten eigene Familien und stellten, sofern sie zu den rebellierenden Studenten gehörten, die deutsche Nachkriegskultur radikal infrage.