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Pete Hackett

Der Erstgeborene gehört dem Satan

Cassiopeiapress Horror Roman





BookRix GmbH & Co. KG
80331 München

Der Erstgeborene gehört dem Satan

Horrorroman von Pete Hackett

 

Ein CassiopeiaPress E-Book

© by Author

© der Digitalausgabe 2015 by AlfredBekker/CassiopeiaPress, Lengerich/Westfalen

www.AlfredBekker.de

www.postmaster@alfredbekker.de

 

Der Umfang dieses Ebook entspricht 136 Taschenbuchseiten.

 

 

1

Der Himmel war grau und mutete bedrohlich an, ein scharfer Wind trieb Regenschleier vor sich her durch die Straßen. In den Dachrinnen und Abflüssen rauschte und gurgelte es und in den Rinnsteinen schoss das Wasser kleinen Wildbächen gleich dahin, um mit Getöse in die Kanalschächte zu stürzen.

Es war ein Wetter, an dem man keinen Hund vor die Tür jagte. Den Mann jedoch, der an diesem frühen Morgen auf dem Gehsteig die menschenleere Straße entlangschritt, schien das Dreckwetter nicht zu beeindrucken. Er war mit einem schwarzen Mantel bekleidet, der fast bis zu den Knöcheln reichte, und auf seinem Kopf saß ein schwarzer Hut, von dessen Krempe das Wasser tropfte. Der Mann hatte den Jackenkragen hochgeschlagen und hielt den Kopf gesenkt. Von seinem Gesicht war nicht viel zu sehen. Die Hände hatte er in den Manteltaschen vergraben. Er wich den Pfützen, die sich auf dem Gehsteig gebildet hatten, nicht aus und es schien, als wäre er mit seinen Gedanken weit, weit weg.

Eine Seitenstraße mündete und der Gehweg knickte ab. Hier stand eine Straßenlaterne, in deren Licht der Asphalt glänzte. Das eintönige Prasseln des Regens wurde unterbrochen, als in der Nähe ein Automotor gestartet wurde. Der Mann war stehengeblieben und ließ seinen Blick die Straße hinauf und hinunter schweifen. Weit unten, an einer Straßenkreuzung, blinkten die Ampeln gelb. Jetzt fuhr der Wagen langsam aus einer Einfahrt, bog nach links ab, die beiden Lichtfinger der Scheinwerfer bohrten sich in das trostlose Grau des Morgens, dann wurde das Fahrzeug beschleunigt und das Motorengeräusch entfernte sich.

Der Dunkelgekleidete auf dem Gehsteig reckte sich, straffte seine Schultern und hob das Gesicht an. Die Augen blieben im Schatten der Hutkrempe, der untere Teil dieses schmalen, faltigen Gesichts – es hatte die Farbe vergilbten Pergaments - aber lag im Licht der Straßenbeleuchtung. Er wurde beherrscht von einem dünnlippigen Mund, um den ein erschreckend brutaler, fast grausamer Zug lag. Die Mundwinkel waren leicht nach unten gebogen, von ihnen bis zu den Nasenflügeln zogen sich scharfe Falten. Das Kinn sprang spitz hervor. Es war kein angenehmes Gesicht, es wirkte bösartig und verkniffen.

Noch einmal schickte der Mann seinen Blick die Straße hinauf und hinunter, schließlich gab er sich einen Ruck. Er verströmte jähe Entschlossenheit und überquerte mit langen Schritten die Fahrbahn, steuerte die Einfahrt an, aus der vor etwa zwei Minuten der Pkw gekommen war, schaute sich noch einmal um und verschwand lautlos, wie ein großes Tier, zwischen den Häusern in der Düsternis.

Er gelangte in einen Hof. Hier gab es acht Garagen zwischen den drei- und vierstöckigen Wohnhäusern, die im Karree angeordnet waren und den Hof begrenzten. Das Kopfsteinpflaster war uneben, dazwischen wucherte Unkraut. Riesige Pfützen, kleinen Seen gleich, hatten sich gebildet. Verschiedene Fenster waren erleuchtet. Hier und dort waren die Jalousien heruntergelassen und durch die dünnen Ritzen drang der Lichtschein. Eine Tür schlug. Um den Mann herum war nur das monotone Prasseln des Regens.

Er lenkte seine Schritte auf eine der Haustüren zu. Acht Klingelknöpfe mit Namensschildern gab es hier, daneben waren ebenso viele Briefkästen angebracht. Auf der anderen Hofseite öffnete sich in dem Augenblick, als der seltsame Mann die Namensschilder studierte, knarrend und leise quietschend eine Tür. Licht flutete in den Hof und umriss die Gestalt eines Mannes, der - mit einem Regenschirm bewaffnet -, durch den strömenden Regen in Richtung der Garagen lief. Die Haustür schloss sich hinter ihm von selbst. Gleich darauf schwang das Garagentor auf. Der Mann schimpfte brabbelnd über das Schmuddelwetter, dann aber ging die Innenbeleuchtung seines Wagens an, als er dessen Tür öffnete.

Der geheimnisvolle Mann hatte sich in die Türnische gedrängt und beobachtete zwischen engen Lidschlitzen, in denen es unheilvoll glitzerte, das Auto. Ein weißes Licht leuchtete auf, als der Fahrer, nachdem er gestartet hatte, den Rückwärtsgang einlegte. Die Rücklichter glühten rot wie Dämonenaugen. Der Wagen beschrieb im Hof einen halben Bogen und fuhr dann im Schritttempo zur Ausfahrt.

Der Dunkelgekleidete in der Türnische atmete aus, als löste sich in ihm eine Verkrampfung, und widmete sich wieder den Namensschildern. Schließlich nickte er zufrieden. Er hatte die richtige Adresse gefunden, zog seine Rechte aus der Manteltasche und legte sie auf den Türknopf.

Die Haustür war verschlossen. Hart stieß der Unheimliche die Luft durch die Nase aus und richtete seine Augen auf das Schloss. Seine Züge wirkten plötzlich wie aus Granit gemeißelt, in seine Pupillen trat ein intensives Glimmen, der Mann konzentrierte sich, und plötzlich sprang die Tür auf. Das Glühen in den Augen des Dunkelgekleideten erlosch. Ohne zu zögern betrat er den Hausflur, in dem die Finsternis undurchdringlich anmutete. Leise klappte hinter ihm die Tür zu, das Prasseln des Regens war nur noch als entferntes Rauschen zu vernehmen.

 

 

2

Lisa Kunze hatte die Kaffeemaschine eingeschaltet. Während sie duschte, war er durchgelaufen. Barfuß und nur mit dem rosaroten Bademantel bekleidet betrat Lisa die kleine Küche. Im Haus war es ruhig. Die Wanduhr tickte gleichmäßig. Auf das Fensterblech trommelten die schweren Regentropfen. Der Duft des Kaffees zog in Lisas Nase. Das lange, blonde Haar klebte an Lisas Kopf. Sie schaute auf die Uhr; es war zwanzig Minuten nach sechs. Heute war Samstag. Am Vortag hatte Lisa sich in der Bank, in der sie arbeitete, in den Jahresurlaub verabschiedet. In drei Stunden würde sie im Reisebus sitzen, denn sie hatte Urlaub am Gardasee gebucht.

Skepsis wallte in ihre hoch. Es war Ende Juli, normalerweise die heißeste Zeit des Jahres. Dieser Sommer aber war im wahrsten Sinne des Wortes ins Wasser gefallen. Es hatte viel geregnet, und es war viel zu kalt für die Jahreszeit. Wenn es nun am Gardasee auch so war!

Lisa verzog den schön geschwungenen, sinnlichen Mund beim Gedanken daran und verdrängte ihn sofort in den hintersten Teil ihres Bewusstseins. Sie war in Urlaubsstimmung und wollte sich die gute Laune nicht mit unerfreulichen Gedanken verderben. Schließlich bestand ein Urlaub nicht nur aus Sonnenbaden und Strand. Es gab noch eine ganze Reihe anderer Dinge, die der Freizeit Würze verleihen konnten. Und da Lisa nicht gerade prüde war, würde sie schon für Abwechslung sorgen. Sie hatte sich jedenfalls vorgenommen, ihren Urlaub auszuleben.

Lisa goss sich Kaffee in die Tasse und bereitete ihn mit Milch und Süßstoff auf. Sie hörte im Hof ein Auto, das wegfuhr, und lächelte. Es gibt tatsächlich Leute hier, dachte sie, die sogar am Samstag in aller Herrgottsfrühe zur Arbeit müssen. Vielleicht verabschiedete sich auch der Hausfreund einer sich bieder gebenden Ehefrau, ehe der Gatte von der Nachtschicht heimkommt, spann sie belustigt den Gedanken fort.

Lisa holte sich zwei Scheiben Knäckebrot, Diätmargarine und Marmelade, nahm aus dem Besteckfach ihres Küchenschranks ein Tafelmesser und lud alles auf dem kleinen Tisch ab, dann setzte sie sich. Neben der Tür an der Wand standen ein kleiner Koffer und eine rote Reisetasche aus Segeltuch. Viel benötigte Lisa nicht; zwei leichte Kleider für die langen Abende an der Hotelbar, dazu die passenden Schuhe, im übrigen nur T-Shirts und farbige Shorts, einen Bikini zum wechseln, zwei Paar Sandalen, Unterwäsche und eine Reihe von Toilettenartikeln.

Sie bestrich die Knäckebrote. In der Tasse dampfte der Kaffee. Lisa schlug die langen, schlanken Beine übereinander. Der Bademantel rutschte etwas auseinander und gab den makellosen Oberschenkel ihres linken Beines frei. Sie biss herzhaft in das Knäckebrot und kaute. Gerade, als sie den Bissen mit einem Schluck Kaffee hinunterspülen wollte, vernahm sie ein leises Knirschen an der Korridortür.

Lisas Rückgrad versteifte, sie hielt in der Kaubewegung inne, lauschte und ihr Herz begann in einem schnelleren Rhythmus zu schlagen.

Sie kannte dieses Geräusch. Schon längst einmal hätte das Schloss ihrer Wohnungstür geölt werden müssen, doch Lisa hatte es von einer Woche auf die andere verschoben.

Die Tür klappte leise und Lisa glaubte einen kühlen Luftzug aus dem Treppenhaus an den Füßen zu spüren. Ihr Kopf zuckte herum, aus geweiteten Augen starrte sie durch die offenstehende Küchentür in den Korridor. Aber sie sah nur die weißgetünchte Wand mit den gerahmten Kunstdrucken, vor der der Flur einen Knick nach links zur Wohnungstür machte.

Jemand hatte ihre Wohnung betreten, Lisa glaubte sogar gepresstes Atmen zu vernehmen. Ohne von einem bewussten Willen geleitet zu werden würgte sie den Bissen hinunter, wie von Schnüren gezogen erhob sie sich. Die Angst kam und ließ fast keinen anderen Gedanken mehr zu. Ihr Mund stand halb offen und ihre Lippen gaben eine Reihe perlweißer, ebenmäßiger Zähne frei. Die junge Frau atmete schneller, fasste Schließlich allen Mut zusammen und rief: „Ist da jemand?“

Ihre Stimme war belegt und hörte sich fremd an. Die Worte entfernten sich von ihr und versanken in der Stille. Einige Sekunden verstrichen und Lisa glaubte schon, ihre Sinne hätten ihr einen Streich gespielt. Du hast den Horrorfilm von gestern Nacht noch nicht richtig verarbeitet!, durchzuckte es sie. Du siehst selbst schon Gespenster. Reiß dich zusammen, Lisa! Du hast vier Wochen Urlaub - und in einigen Stunden bist du in Italien. Dieser blöde Film …

Sie nahm sich vor, künftig keinen der blutrünstigen Horrorfilme mehr anzusehen, von denen einige Privatsender ganze Wagenladungen voll angekauft zu haben schienen, und sie wollte sich wieder setzen, als sie im Flur das Schlurfen von Schritten vernahm.

Lisa stockte der Atem, das Herz drohte ihr in der Brust zu zerspringen. Die junge Frau war wie elektrisiert, die Angst kam jäh zurück und griff mit grausam kalter Hand nach ihr. Sie stand geduckt da, wie zum Sprung bereit, als wollte sie die Flucht ergreifen. Ihre Lippen zitterten, ihre Nasenflügel bebten und die Furcht verdunkelte ihre blauen Augen.

Der Mann trat um die Ecke, und der Schrei, der sich in Lisas Brust hochkämpfte, erstickte in der Kehle. Eine unsichtbare Faust schien Lisa zu würgen. Das Erschrecken ging tief und jagte in langen, heißen Wogen durch ihre Blutbahnen.

Der Mann stand jetzt an der Grenze des Lichts, das aus der Küchentür in den Flur fiel. Von seinem schwarzen Mantel tropfte Regenwasser auf den grauen Teppichboden und wurde aufgesaugt. Er starrte Lisa an und seine Augen waren kalt wie glasiertes Porzellan. Wie eine Statue stand er vor der weißen Wand; groß, hager, drohend und - unheimlich.

Ein Eishauch schien Lisa zu streifen und sie spürte fast schmerzhaft die Gänsehaut, die von ihrem ganzen Körper Besitz ergriff. Sie war zu keiner Reaktion fähig. Der glitzernde Reptilienblick des fremden Eindringlings schien hypnotisch auf sie zu wirken.

Nun ließ der Fremde seine Stimme erklingen. Sie hörte sich hohl, monoton und unwirklich an. Der Mann sprach langsam und abgehackt und seine bleichen Lippen bewegten sich während des Sprechens kaum. Er sagte: „Du bist Lisa Kunze?“

Wie unter Zwang nickte die junge Frau.

Der Fremde lächelte und ein gelbliches, kräftiges Gebiss wurde sichtbar. Die dünnen Lippen kräuselten sich, doch der grausame Ausdruck um den Mund lockerte sich nicht und die Augen nahmen an dem Lächeln nicht teil. Sie blickten kalt und gehässig, böse und auf seltsame Art gierig.

Der Mann stieß hervor, nachdem sein Lächeln zu gefrieren schien: „Ich bin Abel Kunze, dein Großonkel.“

Und obwohl es Lisa nicht gelang, den Bann, der sie gefangen hielt, abzuschütteln, ächzte sie: „Ich - kenne - Sie - nicht. Ich - ich habe nie von Ihnen gehört.“

„Du wirst mich kennen lernen!“, versprach der Mann, der sich als ihr Großonkel ausgab und dessen Anblick allein Lisa erschauern ließ.

Dem eiskalten Wind ihrer quälenden Gedanken ausgesetzt lauschte sie den Worten hinterher, die auf böse Art sehr vielversprechend geklungen hatten, die sie berührten wie eine höllische Verheißung.

 

 

3

„Komm her zu mir, Lisa!“, befahl Abel Kunze.

Doch die junge Frau war wie gelähmt und blieb stehen, als wäre es neben dem Tisch festgewachsen. Angst wäre in Lisas Zustand ein zu gelindes Wort gewesen, um auszudrücken, was sie empfand, aber auch Entsetzen konnte den Zustand nicht beschreiben, in dem sie sich befand. Es war das nackte Grauen, das ihr Herz mit eiskalter Hand umkrampfte.

„Wie - wie sind Sie hereingekommen?“, stammelte Lisa. „Die Tür war verschlossen.“ Ihre Stimme vibrierte, das Sprechen bereitete ihr Mühe, die Stimmbänder wollten ihr kaum gehorchen.

Abel Kunze lachte rasselnd auf. „Türen sind für mich kein Problem. Der Meister hat mir Kräfte verliehen, die es mir möglich machen, jede Tür zu öffnen. Und nicht nur das.“

„Der Meister?“ Fassungslos entrang sich Lisa die Frage.

„Ja, der Meister. Ich bin sein letzter Diener.“ Abel Kunze legte eine kurze Pause ein, ehe er fortfuhr. Er sagte: „Es begann vor über vierhundert Jahren, als Meinhardt von Kunzendorf seine Seele dem Meister verpfändete - und nicht nur die seine. Aus jeder nachfolgenden Generation versprach er dem Meister die Seele eines männlichen Erben – und zwar die des erstgeborenen Sohnes. - Ich nehme dich mit, Lisa. Der Meister braucht dich - er braucht dein Blut. Und er braucht das Blut eines männlichen Nachfahren Meinhardts, um diesem und seiner Dienerin Elonora menschliches Leben wiederzugeben. Das Böse soll leben und einen Platz unter der Menschheit einnehmen. Ich, Abel Kunze, bin verpflichtet, für die Fortpflanzung derer von Kunzendorf zu sorgen.“

Er rief es voll Stolz und siegessicherer Überlegenheit. Lisa war ihm gewiss. Nichts mehr konnte sie vor ihm retten. Mit geradezu sanfter Stimme lockte er: „Komm, Lisa, gehen wir. Du spielst eine sehr wichtige Rolle im Plan des Meisters. Du bist klug, hübsch und sprühst vor Lebenslust - und in dir fließt Kunzendorf-Blut. Darum fiel die Wahl des Meisters auf dich. Aus dir wird neues Leben hervorgehen, und es wird sich vermehren - zur Ehre des Meisters und um ihm zu dienen.“

Die Worte erreichten Lisas Gehör, aber ihre wirbelnden Gedanken waren nicht in der Lage, sie zu verarbeiten. Ihr gemartertes Hirn suchte nach einem Ausweg und eine Welle der Panik jagte die nächste. Der seltsame Besucher redete irres Zeug - aber er war nicht irr. Was er sprach, war tödlicher Ernst. Mit der Wucht der Erkenntnis kam bei Lisa die Verzweiflung. Eine Bruchteile von Sekunden andauernde Blutleere im Gehirn ließ sie taumeln. Ihre Knie waren butterweich, und sie hatte das Gefühl, jeden Moment zusammenzubrechen.

„Ich will nicht!“

Sie war der Meinung, die drei Worte hinausgeschrien zu haben, tatsächlich aber brachen sie nur als brüchiges Röcheln über ihre bleichen Lippen. Ihre Lider zuckten wie im Fieber und die namenlose Angst verzerrte ihr Gesicht.

„Keine Angst, Lisa“, gab Abel Kunze zu verstehen. „Du wirst leben - gut leben. Nur deine Einstellung wird sich ändern. Denn dein schöner Körper wird den Geist Elonoras aufnehmen. Also zieh dich an und komm. Wir fahren in die Berge. Dort, in der Einsamkeit …“

„Niemals!“ Lisa streifte ihre Erstarrung ab, warf sich herum und flüchtete ins Bad. „Hilfe!“, stieg es schrill und gellend aus ihrer Kehle, dann flog die Tür zu, sie drehte den Schlüssel um, lehnte stoßweise atmend an der Wand daneben - und erschrak bis in den Kern.

Es gab im Bad kein Fenster, durch das sie die Nachbarschaft alarmieren hätte können, denn der Raum befand sich mitten in der Wohnung und besaß nur eine Lüftungsanlage. Ihre verzweifelten Schreie würden zwischen den Wänden ihrer Wohnung ungehört verhallen.

Lisas gehetzter Blick huschte über die Einrichtung. Ihr Verstand begann zu blockieren. Die Türklinke wurde nach unten gedrückt, Abel Kunze rüttelte an der Tür. Sein teuflisches Lachen erklang. Lisas schreckensgeweitete Augen verkrallten sich an der Klinke, die jetzt langsam nach oben ging und in Normalstellung blieb. Plötzlich aber begann sie sich - wie auch der metallene Türbeschlag -, rötlich zu verfärben, als würde das Metall zu glühen beginnen. Lisa japste nach Luft wie eine Erstickende. Was sie sah, wollte ihr nicht in den Kopf, das Blut drohte ihr in den Adern zu gefrieren und ihre Nackenhaare begannen sich zu sträuben. Die Klinke verformte sich etwas, und unvermittelt sprang die Tür auf.

Ein leiser Aufschrei brach sich Bahn aus Lisas Mund, der Anblick Abel Kunzes im Türrechteck traf sie wie ein Schwall eiskalten Wassers, und nichts mehr hielt Lisa auf ihrem Platz. Sie stürzte zum Waschbecken und raffte den Stielkamm an sich, der auf der Keramikkonsole lag. Ihre Hand umklammerte den Kamm so sehr, dass sich die Plastikzinken tief in ihre Handfläche eingruben. Aber den Schmerz spürte Lisa nicht. Die fünfzehn Zentimeter lange, dünne Nadel funkelte matt im vagen Licht, das durch die Tür hereinfiel und in dem sich scharf, schwarz und unheilvoll die Gestalt Abel Kunzes abzeichnete.

„Du siehst, mir kann keine Tür widerstehen“, erklärte er hohnvoll, den stechenden Blick auf die Nadel gerichtet, die aus Lisas Hand wie ein dünner Dolch ragte. Er schürzte die Lippen und ohne jeden höhnischen Unterton sagte er: „Leg das Ding weg, Lisa. Du kannst mir damit nichts anhaben, aber du machst mich zornig. Fordere mich nicht unnötig heraus. Meine Geduld ist bald am Ende. Ich nehme dich mit, und wenn du nicht freiwillig mit mir kommst, dann werde ich Gewalt anwenden.“

Zitternd wie Espenlaub und jeglichen Gedankens beraubt stand Lisa vor dem Waschbecken. Jeden Moment musste sie die Beherrschung verlieren und in Hysterie ausbrechen. Das alles war für sie zuviel - sie konnte es verstandesmäßig nicht mehr erfassen. Was vor acht Stunden für sie noch TV-Märchen gewesen ist, war jetzt zur grauenvollen Wahrheit geworden. Dämonen, Vampire, Werwölfe, Zombies - das alles hatte für sie bis zu dieser Stunde nur im Aberglauben, in den Märchen und auf dem Bildschirm gelebt. Doch nun …

Mit der linken Hand fuhr sich Lisa fahrig über die flackernden Augen, als wollte sie das Bild dieses alten, unheimlichen Mannes einfach wegwischen. Ihr Atem ging keuchend, ihre Brust hob und senkte sich unter den stoßweisen, schnellen Atemzügen.

Abel Kunze jedoch blieb Realität. Das alles war kein böser Traum. Er kam langsam näher. Seine Züge hatten sich zu einer Physiognomie der Boshaftigkeit verwandelt. Etwas Zwingendes, Unduldsames ging von ihm aus. Lisa wich einen halben Schritt zurück, dann stieß sie mit dem Rücken gegen das Handwaschbecken. Sie hob die Faust mit dem Stielkamm.

„Komm nicht näher!“, zischte sie, halb wahnsinnig vor Angst, dabei fintierte sie mit der Nadel in seine Richtung. Wirr hingen ihr die vom Duschen noch nassen Haare in die Stirn, ihr Gesicht war totenbleich, als wäre jeder Blutstropfen daraus gewichen, und ihre Mundwinkel zuckten unkontrolliert.

„Du bist unvernünftig, Lisa!“, gab Abel Kunze zu verstehen. „Ich muss dich bestrafen.“

Sie starrte jetzt in seine unergründlichen Augen. Ein Bann, aus dem sie sich nicht zu lösen vermochte, hielt sie ihm Klammergriff. Das Badezimmer begann sich um sie herum zu drehen; schneller, immer schneller, und plötzlich stürzte sie. Hart schlug sie auf die Fliesen. Ihr Verstand war ausgeschaltet. Die Motorik ihres Körpers funktionierte nicht mehr, ihr Gehirn sandte keine Signale mehr aus - Lisa war willenlos. Sie war diesem Scheusal auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. Mit der Kraft seiner Gedanken setzte er sie vollkommen außer Gefecht. Eine Kraft, die ihm der Satan persönlich verliehen hatte. Hier war eine schwarzmagische Macht am Werk, der der Mensch nichts entgegenzusetzen hatte.

Ungerührt starrte Abel Kunze auf sie hinunter. Er kannte kein Mitleid. Für ihn gab es nur den Willen des Meisters, und um ihn durchzusetzen scheute er vor nichts zurück. Das Menschliche in ihm war abgestorben. Abel Kunze stand voll und ganz im Banne des Bösen - er war das personifizierte Böse. Unablässig fixierte er Lisa und suggerierte ihr die höllischen Schmerzen. Lisa indes hielt den wühlenden Schmerz für Realität. Sie warf sich am Boden hin und her, schlug sich den Kopf an, verdrehte die Augen, keuchte rasselnd und japste nach Luft wie eine Erstickende.

„Steh auf!“

Da klingelte das Telefon. Schrill und durchdringend …