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Dick Francis

Lunte

Roman
Aus dem Englischen von
Malte Krutzsch

 

 

 

 

 

 

 

 

Titel der 1993 bei

Michael Joseph Ltd., London,

erschienenen Originalausgabe: ›Decider‹

Copyright © 1993 by Dick Francis

Die deutsche Erstausgabe erschien 1995

im Diogenes Verlag

Umschlagzeichnung von

Tomi Ungerer

 

 

 

 

Alle deutschen Rechte vorbehalten

Copyright © 2012

Diogenes Verlag AG Zürich

www.diogenes.ch

ISBN Buchausgabe 978 3 257 22934 9 (6. Auflage)

ISBN E-Book 978 3 257 60011 7

Die grauen Zahlen im Text entsprechen den Seitenzahlen der im Impressum genannten Buchausgabe.

 

[5] Ich danke meinem Patensohn
ANDREW HANSON
Dipl. Arch. (Edin) RIBA

und grüße meine Enkelkinder
Jocelyn
Matthew
Bianca
Timothy
William

[7] 1

Okay, hier bin ich also, Lee Morris, und ich öffne Türen und Fenster und lasse eine Brise Leben und einen Hauch von frühem Tod herein.

Dabei sahen sie ziemlich harmlos aus auf meiner Türschwelle: zwei höfliche Engländer mittleren Alters in Gutsherrentweed und Schirmmützen, mit fragend hochgezogenen Augenbrauen und nervös verlegenen Mienen.

»Lee Morris?« sagte einer von ihnen knapp, ruhig, kultiviert. »Könnten wir Sie sprechen?«

»Wegen einer Versicherung?« fragte ich trocken.

Sie wurden noch verlegener.

»Nein, das nicht…«

Später Märznachmittag, eine volle, tiefstehende Sonne, die ihr goldenes Licht schräg auf die freundlichen Gesichter der beiden warf, so daß sie gegen die schmerzende Helligkeit die Augen zusammenkniffen. Sie standen ein, zwei Schritte von mir entfernt und achteten darauf, mich nicht zu bedrängen. Ausgesucht gutes Benehmen.

Mir wurde klar, daß ich den einen vom Sehen kannte, und ich überlegte kurz, was in aller Welt ihn wohl an einem Sonntag zu mir führte, so weit weg von seiner gewohnten Umgebung.

Während ich noch darüber spekulierte, kamen drei kleine Jungen hinter mir durch den mit Fliesen ausgelegten Flur getappt, schoben sich konzentriert an mir vorbei, um die zwei Draußenstehenden herum, und kletterten lautlos wie Katzen in den knospenden Blätterflaum einer breitkronigen Eiche auf dem Rasen. Oben angekommen drückten sie sich bäuchlings in das alte [8] Astwerk und erstarrten zu drei reglosen Gestalten, getarnt, gespannt, vertieft in ein Agentenspiel.

Die Besucher schauten verwundert zu ihnen hoch.

»Kommen Sie mal lieber rein«, sagte ich. »Die lauern auf Piraten.«

Der Mann, den ich erkannt hatte, lächelte plötzlich erfreut, dann trat er vor, als hätte er einen Entschluß gefaßt, und streckte die Hand aus.

»Roger Gardner«, sagte er, »und das ist Oliver Wells. Wir kommen von der Rennbahn Stratton Park.«

»Ja«, sagte ich, und als ich sie hereinwinkte, folgten sie mir langsam, zögernd, noch immer halb geblendet von der schräg einfallenden Sonne.

Ich führte sie durch die geflieste Diele in den höhlenartigen zentralen Raum der einst abbruchreifen Scheune, die ich in sechsmonatiger Arbeit zu einem gemütlichen Haus umgebaut hatte. Solche Ruinen zu renovieren war meine wichtigste Existenzgrundlage, aber inzwischen war das Unvermeidliche eingetreten – meine Familie weigerte sich, auf die nächste Baustelle umzuziehen, und hatte mir erklärt, daß sie hier, in diesem Haus, wohnen bleiben wollte.

Die Sonne schien durch hohe, nach Westen blickende Fenster auf den blanken, einheitlich schiefergrauen Fliesenboden, der hier und da durch kleine türkische Teppiche aufgelockert wurde. Von der Nord- und über die Ost- zur Südseite der Scheune verlief jetzt eine durch zwei Treppen erreichbare Galerie mit nebeneinanderliegenden Schlafzimmern. Unter der Galerie befand sich, zum Hauptraum hin offen, eine Reihe von Zimmern, die sich, wenn man ungestört sein wollte, durch Falttüren abteilen ließen. Ein mit Büchern gesäumter Fernsehraum war ebenso vorhanden wie ein Büro, ein Spielzimmer, ein Nähzimmer und ein langes, geräumiges Eßzimmer. Das Frühstückszimmer in der Südostecke führte zu einer großen, halb [9] sichtbaren Küche, hinter der sich noch ein Wirtschaftsraum und eine Werkstatt verbargen. Die Trennwände zwischen den nach vorn offenen Zimmern sahen zwar aus wie bloße Raumaufteiler, waren in Wirklichkeit aber äußerst tragfähige Stützen für die Galerie.

Die Einrichtung des Hauptraums bestand vornehmlich aus locker um kleine Tische gruppierten Knautschsesseln. In einem offenen Kamin an der Westwand glühten Holzscheite.

Der angestrebte Effekt, eine Wohnung, die wie ein kleiner überdachter Marktplatz aussah, war so schön herausgekommen, daß es meine Vorstellungen sogar noch übertraf, und insgeheim (ohne es der Familie zu sagen) hatte ich von Anfang an vorgehabt, das Haus zu behalten, wenn es sich als Erfolg erweisen sollte.

Roger Gardner und Oliver Wells blieben wie die meisten Besucher stehen und blickten sich mit unverhohlenem Erstaunen um, schienen aber zu gehemmt, um etwas zu sagen.

Ein nacktes Baby kam über die Fliesen gekrabbelt, stockte, als es auf einen Teppich stieß, plumpste auf den Po und sah sich nachdenklich um.

»Ist das Ihres?« fragte Roger leise, die Augen auf dem Baby.

»Sehr wahrscheinlich«, sagte ich.

Eine junge Frau in Jeans, Pullover und zweckmäßigen Turnschuhen kam mit wehender blonder Mähne aus dem hinteren Teil der Küche gelaufen.

»Hast du Jamie gesehen?« fragte sie von weitem.

Ich zeigte hin.

Sie stürzte sich auf das Baby und raffte es ohne viel Federlesens auf. »Wenn man den zwei Sekunden aus den Augen läßt…« Sie streifte die Besucher im Vorbeigehen mit einem Blick, blieb aber nicht stehen und verschwand wieder aus unserem Gesichtsfeld.

»Nehmen Sie Platz«, bat ich. »Was kann ich für Sie tun?« Sie [10] setzten sich zögernd auf die angebotenen Sessel und suchten sichtlich einen Einstieg.

»Lord Stratton ist kürzlich verstorben«, sagte Roger schließlich. »Vor einem Monat.«

»Ja. Das ist mir bekannt«, sagte ich.

»Sie haben Blumen zur Beerdigung geschickt.«

»Es schien mir angebracht«, bestätigte ich und nickte. Die beiden Männer warfen sich Blicke zu. Wieder ergriff Roger das Wort.

»Wir haben gehört, er sei Ihr Großvater gewesen.«

Ich sagte geduldig: »Nein. Da sind Sie falsch unterrichtet. Meine Mutter war mal mit seinem Sohn verheiratet. Sie wurden geschieden. Meine Mutter hat dann noch mal geheiratet und mich bekommen. Ich bin nicht direkt verwandt mit den Strattons.«

Eine unangenehme Neuigkeit, wie es schien. Roger versuchte es noch einmal.

»Aber Sie besitzen doch Anteile an der Rennbahn, nicht wahr?«

Aha, dachte ich. Die Fehde. Seit dem Tod des alten Herren zankten und bekämpften seine Erben sich angeblich bis aufs Messer.

»Damit möchte ich nichts zu tun haben«, sagte ich.

»Hören Sie«, sagte Roger mit wachsender Verzweiflung, »die Erben ruinieren die Rennbahn. Das riecht man eine Meile gegen den Wind. Krach, daß die Fetzen fliegen. Verdächtigungen. Gewalttätiger Haß. Die sind schon übereinander hergefallen, bevor der alte Herr noch kalt war.«

»Da herrscht Bürgerkrieg«, sagte Oliver Wells unglücklich. »Anarchie. Roger ist der Rennbahnverwalter, und ich bin der Vereinssekretär. Im Moment schmeißen wir den Laden allein und bemühen uns, ihn in Gang zu halten, aber lange schaffen wir das nicht mehr. Wir haben keine Vollmachten, verstehen Sie?«

Ich sah in ihre tief besorgten Gesichter und mußte daran [11] denken, wie schwierig es war, auf einem gnadenlosen Arbeitsmarkt mit über fünfzig noch Posten dieses Kalibers zu finden.

Lord Stratton, mein Nicht-Großvater, hatte die Dreiviertelmehrheit an der Rennbahn besessen und sie als gutmütiger Despot jahrelang selbst geleitet. Unter seiner Regie hatte Stratton Park jedenfalls den Ruf einer gut organisierten, gut besuchten Rennbahn erlangt, die auch bei einem großen Kreis von Trainern beliebt war. Klassische Rennen oder Gold Cups fanden dort zwar nicht statt, aber sie war leicht erreichbar, bekannt für ihre freundliche Atmosphäre und verfügte über einen ausgezeichneten Rennkurs. Neue Zuschauertribünen und die eine oder andere Schönheitskorrektur hätten ihr gutgetan, doch der alte Starrkopf Stratton hatte sich gegen Veränderungen gesträubt. Man konnte ihn manchmal im Fernsehen bewundern, wenn der Sport ins Kreuzfeuer geriet und er, ganz der erfahrene konservative Staatsmann, liebenswürdig dazu Stellung nahm. Ein bekanntes Gesicht.

Hin und wieder hatte ich aus Neugier einen Nachmittag auf der Rennbahn verbracht, aber weder die Pferderennen noch die Familie meines Nichtgroßvaters hatten mich unwiderstehlich in ihren Bann gezogen.

Roger Gardner war nicht den ganzen Weg gereist, um jetzt ohne weiteres aufzugeben.

»Ihre Schwester gehört aber doch zur Familie«, sagt er.

»Meine Halbschwester.«

»Auch gut.«

»Mr. Gardner«, erklärte ich, »vor vierzig Jahren hat meine Mutter ihre kleine Tochter im Stich gelassen und ist ihrem Mann davongelaufen. Die Strattons haben hinter ihr dichtgemacht. Sie war nur noch ein Dreck, in Großbuchstaben. Für die Tochter, meine Halbschwester, existiere ich gar nicht. Es tut mir leid, aber was ich sage oder tue, würde keinen aus der Familie in irgendeiner Weise beeindrucken.«

[12] »Der Vater Ihrer Halbschwester…«

»Ihn«, sagte ich, »am allerwenigsten.«

Stille trat ein, und während die schlechte Nachricht verdaut und verarbeitet wurde, kam ein schlaksiger blonder Junge aus einem der Schlafzimmer auf der Galerie die Treppe heruntergesaust, winkte mir lässig mit der Hand und trat in die Küche, um gleich darauf mit dem jetzt angezogenen Baby im Arm wieder herauszukommen. Er brachte den Kleinen nach oben, nahm ihn mit auf sein Zimmer und schloß die Tür. Das Schweigen hielt an.

In Rogers Gesicht mehrten sich die Fragen, die er zu meiner Belustigung noch immer nicht stellte. Als Reporter wäre Roger – Lieutenant Colonel R. B. Gardner laut den Rennprogrammen von Stratton Park – ein Totalausfall gewesen, aber ich fand seine Hemmungen erholsam.

»Sie waren unsere letzte Hoffnung«, klagte Oliver Wells vorwurfsvoll.

Wenn er hoffte, mir dadurch Schuldgefühle einzuflößen, war er schiefgewickelt. »Was erwarten Sie denn von mir?« fragte ich einfach.

»Wir dachten…«, begann Roger. Die Stimme versagte ihm, dann fing er sich und versuchte es beherzt noch einmal. »Na ja, wir hatten gehofft, Sie könnten denen vielleicht den Kopf zurechtsetzen.«

»Wie denn?«

»Nun, zunächst mal sind Sie kräftig.«

»Kräftig?« Ich starrte ihn an. »Heißt das, ich soll ihnen buchstäblich die Köpfe zurechtsetzen?«

Anscheinend hatte mein Aussehen sie da unwillkürlich auf Ideen gebracht. Ich war in der Tat großgewachsen und körperlich stark; das ist zum Häuserbauen sehr nützlich. Und ich gebe ja auch zu, daß es mir schon geholfen hat, einen Standpunkt durchzusetzen. Aber manchmal ließ sich Übereinstimmung leichter erzielen, wenn man leise auftrat und die breiten [13] Schultern ein wenig zurücknahm, und von Natur aus neigte ich mehr dazu. Lethargisch nannte mich meine Frau. Zu faul zum Kämpfen. Zu behäbig. Aber die alten Häuser wurden restauriert, die zuständigen Ämter niemals enttäuscht, und ich hatte gelernt, mit Konzilianz und Sachlichkeit an den meisten Planungsbeamten vorbeizukommen.

»Ich bin nicht Ihr Mann«, sagte ich.

Roger klammerte sich an Strohhalme. »Aber Sie sind doch Anteilseigner. Können Sie damit nicht den Krieg beenden?«

»Sind Sie in erster Linie wegen der Anteile zu mir gekommen?« fragte ich.

Roger nickte unglücklich. »Wir wissen nicht, an wen wir uns sonst wenden sollen, verstehen Sie?«

»Sie dachten also, wenn ich vielleicht in die Arena presche, mit meinen Scheinen wedle und schreie: ›Schluß jetzt!‹, werfen sie alle ihre Vorurteile über Bord und vertragen sich?«

»Es könnte helfen«, sagte Roger, ohne eine Miene zu verziehen.

Ich mußte lächeln. »Zunächst einmal«, sagte ich, »gehören mir nur sehr wenige Anteile. Meine Mutter hat sie damals als Abfindung bei der Scheidung bekommen, und nach ihrem Tod habe ich sie geerbt. Sie werfen hin und wieder eine kleine Dividende ab, weiter nichts.«

Rogers Gesichtsausdruck wechselte von Verwirrung zu Bestürzung. »Soll das heißen, Sie haben noch gar nicht gehört, um was die sich zanken?« fragte er.

»Wie ich schon sagte, ich stehe nicht mit ihnen in Verbindung.« Ich wußte nur, was ich einer kurzen Notiz im Wirtschaftsteil der Times hatte entnehmen können (»Stratton-Erben im Streit wegen familieneigener Rennbahn«) und dem deftigeren Kommentar eines Sensationsblatts (»Kampf mit schweren Säbeln in Stratton Park«).

»Ich fürchte, daß Sie bald von ihnen hören werden«, sagte [14] Roger. »Eine Faktion möchte die Bahn einem Bauunternehmen verkaufen. Wie Sie wissen, liegt das Gelände im Nordosten von Swindon, einer Gegend also, die ständig wächst. Die Stadt hat sich über Nacht zu einem Industriezentrum entwickelt. Alle möglichen Firmen lassen sich dort nieder. Swindon strotzt vor neuem Leben. Ihre paar Anteile könnten schon jetzt ziemlich was wert sein und in Zukunft vielleicht noch mehr. Einige Strattons wollen also sofort verkaufen, einige wollen warten, und wieder andere wollen überhaupt nicht verkaufen, sondern weiter die Rennbahn betreiben, und ich hätte eigentlich gedacht, die Sofortverkäufer wären mittlerweile an Sie rangetreten. Jedenfalls werden sie sich jetzt bald an Ihre Anteile erinnern und Sie in den Streit mit hineinziehen, ob es Ihnen paßt oder nicht.«

Er schwieg, da er glaubte, sein Anliegen hinreichend unterstrichen zu haben, und das hatte er wohl auch. Mein aufrichtiger Wunsch, jedem Gezänk aus dem Weg zu gehen, war offenbar der »Realität« zum Opfer gefallen, dem Sammelbegriff eines meiner Söhne für Katastrophen aller Art.

»Und Sie«, bemerkte ich, »gehören natürlich zu der Partei, die möchte, daß die Rennen weitergehen.«

»Hm, ja«, gab Roger zu. »Ja, das möchten wir. Offen gestanden hofften wir, Sie überreden zu können, daß Sie mit Ihren Anteilen gegen den Verkauf stimmen.«

»Ich weiß nicht, ob meine Anteile überhaupt stimmberechtigt sind, und es dürften zu wenig sein, um die Lage entscheidend zu beeinflussen. Aber woher wissen Sie, daß ich welche habe?«

Roger blickte kurz auf seine Fingernägel und entschloß sich, offen zu sein.

»Die Rennbahn ist eine GmbH, wie Sie sicher wissen. Es gibt einen Vorstand und Vorstandssitzungen, und die Anteilseigner werden immer benachrichtigt, wenn die Jahreshauptversammlung stattfindet.«

[15] Ich nickte ergeben. Die Nachricht kam jedes Jahr, und jedes Jahr ließ ich sie links liegen.

»Voriges Jahr nun war die Sekretärin, die sonst das Rundschreiben versendet, krank, und Lord Stratton sagte zu mir, übernehmen Sie das mal, mein Guter…« – er ahmte die Stimme des alten Mannes treffend nach –, »also habe ich die Nachricht verschickt und mir gleichzeitig die Liste mit den Namen und Adressen für die Zukunft kopiert…«, er schwieg einen Augenblick, »falls ich sie noch mal brauchen sollte, verstehen Sie?«

»Und jetzt ist die Zukunft da«, sagte ich. Ich überlegte. »Wer hat denn sonst noch Anteile? Haben Sie die Liste zufällig dabei?«

Ich sah ihm an, daß er sie mitgebracht hatte, und auch, daß er nicht so recht wußte, ob es vertretbar war, sie aus der Hand zu geben. Sein gefährdeter Arbeitsplatz wog jedoch schwerer als alles andere, und nach einem ganz kurzen Zögern griff er in die Innentasche seines Tweedsakkos und zog ein sauber gefaltetes Blatt Papier hervor. Eine neue Kopie dem Anschein nach.

Ich faltete sie auseinander und las die ausgesprochen kurze Liste:

William Darlington Stratton (3. Baron)
Die Ehrenwerte Mrs. Marjorie Binsham
Mrs. Perdita Faulds
Lee Morris, Esq.

»Das sind alle?« erkundigte ich mich verblüfft.

Roger nickte.

Marjorie Binsham, das wußte ich, war die Schwester des alten Lords. »Wer ist Mrs. Perdita Faulds?« fragte ich.

»Ich weiß es nicht«, sagte Roger.

»Bei ihr sind Sie also nicht gewesen. Und zu mir kommen Sie?«

[16] Roger schwieg, aber er brauchte auch nicht zu antworten. Ein ehemaliger Soldat wie er fand es leichter, mit Männern umzugehen als mit Frauen.

»Und wer«, sagte ich, »erbt die Anteile des alten Herrn?«

»Das weiß ich eben nicht«, antwortete Roger verärgert.

»Die Familie schweigt darüber. Sie sagt keinen Piep über das Testament, und bis es vom Gericht bestätigt wird, ist eine Einsichtnahme ja nicht möglich – und darauf können wir noch Jahre warten, wenn’s so weitergeht. Müßte ich raten, würde ich sagen, Lord Stratton hat allen gleiche Anteile hinterlassen. Auf seine Art war er gerecht. Gleiche Beteiligung hieße, daß die Kontrolle nicht bei einem einzelnen liegt, und das ist der Kern des Problems, würde ich meinen.«

»Kennen Sie die Erben persönlich?« fragte ich, und beide nickten düster. »So schlimm, ja?« meinte ich. »Nun, tut mir leid, das werden sie schon unter sich ausmachen müssen.«

Die blonde junge Frau schlenderte aus der Küche, in der einen Hand ein Glas, in der anderen eine Saugflasche. Sie nickte uns unbestimmt zu und ging dann die Treppe hinauf in das gleiche Zimmer wie vorhin der Junge mit dem Baby. Meine Besucher schauten sich das wortlos an.

Ein Junge mit braunen Haaren kam auf dem Rad durch den Hausflur gefegt und drehte eine Runde durch die Örtlichkeit, wobei er hinter mir ein wenig abbremste und sagte: »Jaja, ich weiß, ich soll das nicht«, bevor er durch den Flur wieder der Außenwelt zustrebte. Das Rad war rot, sein Fahrer violett, rosa und phosphorgrün gekleidet. Die ganze Luft schien von Farben zu flimmern, bis er fort war und das ruhige Schiefergrau wieder die Oberhand gewann.

Aus Taktgefühl sagte niemand etwas von Gehorsam oder richtiger Kindererziehung.

Ich bot den Besuchern zu trinken an, doch sie waren nicht dazu aufgelegt und sagten nur, sie müßten noch weit fahren. Ich [17] ging mit ihnen hinaus in das verblassende Sonnenlicht und bat sie höflich um Entschuldigung dafür, daß sie umsonst gekommen waren. Sie nickten unglücklich. Ich begleitete sie noch zu ihrem Wagen.

Die drei Piratenjäger waren aus der Eiche verschwunden. Das rote Fahrrad blitzte in der Ferne. Mein Besuch blickte sich nach dem langgezogenen, dunklen Scheunenbau um, und schließlich rückte Roger mit einer Frage heraus.

»Was für ein interessantes Haus«, meinte er höflich. »Wie haben Sie das entdeckt?«

»Ich habe es gebaut. Die Innenräume, meine ich. Die Scheune selbst natürlich nicht. Die ist alt. Steht unter Denkmalschutz. Ich mußte verhandeln, um Fenster einbauen zu dürfen.«

Sie schauten auf die schmalen dunklen Scheiben, die unauffällig in die Bretterschalung eingefügt waren, der einzige sichtbare Hinweis auf die Wohnung im Innern.

»Sie hatten einen guten Architekten«, bemerkte Roger.

»Danke.«

»Das ist übrigens auch ein Zankapfel zwischen den Strattons. Ein Teil von ihnen möchte die Tribünen abreißen und neue hochziehen, und sie haben einen Architekten mit der Planung beauftragt.«

Seine Stimme triefte vor Abscheu.

Ich sagte: »Neue Tribünen wären doch sicher gut? Mehr Komfort fürs Publikum und so?«

»Natürlich wären neue Tribünen gut!« Jetzt konnte er seinen Unmut nicht mehr zurückhalten. »Jahrelang habe ich den alten Herrn beschworen, er solle umbauen. Immer hieß es, irgendwann, irgendwann, aber er wollte es von Anfang an nicht haben, nicht solang er lebte. Und sein Sohn Conrad, der neue Lord Stratton, hat jetzt einen unmöglichen Kerl gebeten, neue Tribünen zu entwerfen, und der stelzt da herum und erzählt mir, wir brauchen dies, wir brauchen das, und redet nichts als Unsinn. [18] Der hat im Leben noch keine Tribüne entworfen und weiß einen Dreck vom Rennsport.«

Seine ehrliche Entrüstung interessierte mich viel mehr als ein Gerangel um Geschäftsanteile.

»Wenn die Tribüne verbaut wird, machen sie alle bankrott«, meinte ich nachdenklich.

Roger nickte. »Sie müssen einen Kredit dafür aufnehmen, und das Rennsportpublikum ist heikel. Die Wetter bleiben aus, wenn man die Bars falsch anlegt, und wenn die Besitzer und die Trainer sich nicht rundum verwöhnt fühlen, lassen sie ihre Pferde woanders laufen. Dieser übergeschnappte Architekt hat nur dumm geglotzt, als ich ihn fragte, was die Zuschauer seiner Ansicht nach zwischen den Rennen machen. Die sehen sich die Pferde an, meinte er. Ich bitte Sie! Und wenn es regnet? Wärme, Wein und Bier, das lockt die Besucher an, habe ich ihm gesagt. Ich sei altmodisch, meinte er. Und Stratton Park ist drauf und dran, eine ungeheuer kostspielige Geisterbahn zu werden, wo kein Mensch hingeht. Und dann kommt, wie Sie sagen, die große Pleite.«

»Nur wenn die Sofort- oder Demnächstverkäufer nicht ihren Willen durchsetzen.«

»Aber wir brauchen neue Tribünen«, beharrte Roger. »Und zwar gute neue Tribünen.« Er schwieg. »Wer hat Ihr Haus entworfen? Vielleicht brauchen wir so jemanden.«

»Der hat noch nie Zuschauerbauten geplant. Nur Häuser… und Kneipen.«

»Kneipen«, Roger stürzte sich darauf. »Er würde zumindest einsehen, wie wichtig gute Bars sind.«

Ich lächelte. »Ganz bestimmt. Aber was Sie brauchen, sind Großbauspezialisten. Ingenieure. Klare eigene Vorstellungen. Ein Team.«

»Sagen Sie das Conrad.« Er zuckte niedergeschlagen die Achseln und glitt hinter das Steuer, drehte aber sein Fenster runter [19] und schaute heraus, um eine letzte Frage zu stellen. »Dürfte ich Sie vielleicht bitten, mir Bescheid zu geben, wenn die Familie Stratton sich mit Ihnen in Verbindung setzt? Wahrscheinlich sollte ich Sie damit nicht behelligen, aber die Rennbahn liegt mir am Herzen, verstehen Sie? Ich weiß, daß der alte Baron geglaubt hat, sie würde weiterbestehen, und daß er es so gewollt hat – und vielleicht kann ich ja etwas dazu tun, nur weiß ich eben nicht, was.«

Er griff wieder in seine Jacke und zog eine Visitenkarte hervor. Ich nahm sie an und nickte, ohne irgend etwas zu versprechen, aber meine Geste war ihm schon Zusage genug.

»Vielen Dank«, sagte er.

Oliver Wells setzte sich ungerührt neben ihn, mit der steinernen Miene dessen, der von vornherein gewußt hat, daß ihre Mission unergiebig sein würde. Schuldgefühle weckte er bei mir trotzdem nicht. Alles, was ich über die Strattons wußte, warnte mich davor, mich mit ihnen einzulassen.

Roger verabschiedete sich traurig und fuhr los, und ich ging ins Haus zurück und hoffte, ich würde ihn nie wiedersehen.

»Wer waren die Leute?« fragte Amanda. »Was haben sie gewollt?«

Die junge Blonde, meine Frau, lag auf der anderen Seite unseres quadratischen Zweimeterbetts und unterstrich damit wie gewohnt den Abstand zwischen uns.

»Sie wollten einen edlen Ritter, der Stratton Park befreit.«

Sie knobelte es aus. »Krisenhilfe? Du? Mit deinen alten Geschäftsanteilen? Du hast hoffentlich nein gesagt.«

»Ich habe nein gesagt.«

»Liegst du deshalb jetzt im Mondschein wach und starrst auf den Baldachin?«

Der plissierte Seidenbaldachin wölbte sich über unserem großen Himmelbett wie ein mittelalterliches Schlafzelt, die einzige [20] Möglichkeit, für sich zu sein, in jener Zeit, als man eigene Schlafzimmer noch nicht kannte. Freunde ließen sich vom dekorativen Prunk des Betthimmels, von all den Quasten an dem kuscheligen Lager täuschen; nur Amanda und ich wußten, warum es so groß war. Zwei Tage hatte ich daran gezimmert und geschneidert, und wir betrachteten es beide als das Ergebnis eines schwer erkämpften Kompromisses. Wir wohnten im selben Haus, schliefen im selben Bett, aber getrennt.

»Die Jungen bekommen diese Woche Ferien«, sagte Amanda.

»So?«

»Du hast gesagt, du wolltest über Ostern mit ihnen irgendwo hinfahren.«

»Hab ich das?«

»Das weißt du doch.«

Ich hatte es gesagt, um einen Streit zu entschärfen. Du sollst keine voreiligen Versprechungen abgeben, ermahnte ich mich nicht zum erstenmal. Es gab kein Kraut dagegen.

»Ich werde mir was einfallen lassen«, sagte ich.

»Und was das Haus hier angeht…«

»Wenn es dir gefällt, behalten wir’s«, sagte ich.

»Lee!« Das brachte sie erst einmal zum Schweigen. Ich wußte, daß sie tausend Argumente dafür parat hatte: Die zarten Winke und die Seufzer waren seit Wochen unverkennbar, schon seit der Kies auf der Einfahrt lag und die Baupolizei zuletzt hereingeschaut hatte. Das Haus war freier Grundbesitz, es war verkaufsfertig, und wir brauchten das Geld. Die Hälfte meines Betriebskapitals war in die Scheunenwände einbetoniert.

»Die Jungen brauchen endlich feste Wurzeln«, sagte Amanda, damit ihre Vernunftgründe nicht ganz vergeudet waren.

»Ja.«

»Es ist nicht fair, sie von einer Schule zur anderen zu schleifen.«

»Nein.«

[21] »Sie haben Angst, daß sie hier wegmüssen.«

»Beruhige sie.«

»Ich faß es nicht! Können wir uns das leisten? Ich dachte, du hättest gesagt, es wäre nicht drin. Was ist mit der Villa bei Oxford, wo im Wohnzimmer der Baum wächst?«

»Wenn ich Glück habe, kriege ich diese Woche die Baugenehmigung.«

»Aber wir ziehen da nicht hin?« Trotz meiner Zusicherung war sie wieder mehr als besorgt.

»Ich fahre hin«, sagte ich. »Du und die Jungs, ihr könnt hier bleiben, solange ihr wollt. Auf Jahre. Ich werde pendeln.«

»Versprich es.«

»Versprochen.«

»Kein Schlamm mehr? Kein Dreck? Keine Planen mehr als Dach und kein Ziegelstaub in den Cornflakes?«

»Nein.«

»Was hat dich dazu bewogen?«

Der Entscheidungsprozeß, dachte ich, war etwas Rätselhaftes. Ich hätte sagen können, es sei eben der Kinder wegen wirklich Zeit, seßhaft zu werden, zumal der Älteste bald Prüfungen haben würde und kontinuierlichen Unterricht brauchte. Ich hätte sagen können, daß die Welt hier an der Grenze zwischen Surrey und Sussex, auf dem flachen Land, so friedlich und so heil sei wie sonst kaum irgendwo. Ich hätte die Entscheidung ungemein logisch begründen können.

Insgeheim wußte ich aber, daß die alte Eiche den Ausschlag gegeben hatte. Sie hatte mich mächtig angesprochen – den Jungen in mir, der im Londoner Großstadtgetriebe aufgewachsen war, umgeben von Landschaften aus Stein.

Ich hatte die Eiche vor einem Jahr zum erstenmal gesehen, und auch damals hatten sich als Flaum die Blätter angekündigt. Ihre starken, gleichmäßigen Äste luden zum Klettern ein, und da ich alleine dort war, stieg ich ohne Hemmungen hinauf, machte [22] es mir in der uralten Krone bequem und betrachtete den Schandfleck von einer Scheune, riesengroß, halb verfallen, die der in Geldnot geratene Grundstückseigentümer bei Strafe nicht abreißen durfte. Eine historische Zehntscheune! Ein Wahrzeichen! Die mußte da stehenbleiben, bis sie von selbst einfiel.

Welch ein Unfug, hatte ich gedacht, als ich von dem Baum herunterkletterte und durch eine knarrende Öffnung, die als Eingang diente, in die Ruine trat. Verrücktgewordene Geschichtsverehrung.

Teile des hohen Daches fehlten. Auf der Westseite hingen die Balken alle schief und quer, ihre Auflager waren völlig verwittert. Ein rostiger, ausrangierter Traktor stand zwischen Bergen von anderem Schrott und jungen Schößlingen, die sich aus Rissen im Betonboden hochkämpften. Ein scharfer Wind blies durch die Lotterlaube, unfreundlich und kalt.

Ich hatte fast sofort gesehen, was sich daraus machen ließ, so als hätte der Entwurf schon lange in meinem Kopf geschlummert und auf seine Stunde gewartet. Es würde ein Haus für Kinder sein. Nicht unbedingt für meine eigenen, aber für Kinder. Für das Kind, das ich gewesen war. Ein Haus mit vielen Zimmern, mit Überraschungen, mit Verstecken.

Die Jungen hatten zu Anfang überhaupt nichts davon gehalten, und Amanda, hochschwanger, war in Tränen ausgebrochen, doch die Baubehörde war hilfsbereit gewesen, und der Grundbesitzer hatte mir die Scheune mit einem Morgen Land drumherum verkauft, als könne er sein Glück nicht fassen. Als die Söhne herausfanden, daß jeder ein eigenes Zimmer als Reich für sich bekommen würde, hörten die Einwendungen wie durch ein Wunder auf.

Ich hatte die Eiche von einem Naturschützer begutachten lassen. Ein Prachtexemplar, hatte er gesagt. Dreihundert Jahre alt. Sie würde uns alle überleben, meinte er, und ihre zeitlose Stärke schien mir Frieden zu geben.

[23] Amanda sagte noch einmal: »Was hat dich dazu bewogen?«

Ich sagte: »Die Eiche.«

»Was?«

»Der gesunde Menschenverstand«, sagte ich, und damit war sie zufrieden.

Am Mittwoch erhielt ich zwei weichenstellende Briefe. Der erste kam von der Kreisverwaltung Oxford, die mir mitteilte, daß mein dritter Antrag für den Umbau der Villa mit der Buche im Wohnzimmer abgelehnt war. Ich rief an, um den Grund zu erfahren, da sie den dritten Antrag inoffiziell schon so gut wie genehmigt hatten. Eine verkniffene Stimme erklärte mir, sie seien jetzt der Ansicht, daß die Villa nicht, wie ich vorgeschlagen hatte, in vier kleinere Einheiten aufgeteilt, sondern zu einer zusammenhängenden Wohnung umgebaut werden sollte. Vielleicht könnte ich dafür ja Pläne einreichen. Nein danke, sagte ich. Vergessen Sie’s. Ich rief den Besitzer der Villa an, daß ich am Kauf nicht mehr interessiert sei, und wie vorauszusehen explodierte er vor Wut, aber keine Baugenehmigung, kein Kauf, so hatten wir es fest vereinbart.

Seufzend legte ich auf und warf die Arbeit von drei Monaten in den Papierkorb. Buchstäblich zurück ans Zeichenbrett.

Der zweite Brief kam von einem Anwaltsbüro, das die Familie Stratton vertrat, und war die Einladung zu einer außerordentlichen Versammlung der Gesellschafter von Stratton Park in der kommenden Woche.

Ich rief die Anwälte an. »Wird erwartet, daß ich da teilnehme?« fragte ich.

»Das weiß ich nicht, Mr. Morris. Da Sie aber Anteilseigner sind, war man verpflichtet, Sie auf die Versammlung hinzuweisen.«

»Und was meinen Sie?«

»Allein Ihre Entscheidung, Mr. Morris.«

[24] Die Stimme war vorsichtig und unverbindlich, keinerlei Hilfe.

Ich fragte, ob ich stimmberechtigte Anteile hätte.

»Ja, haben Sie. Jeder Anteil eine Stimme.«

Am Freitag, ihrem letzten Schultag vor den Osterferien, holte ich die Jungen aus der Schule ab: Christopher, Toby, Edward, Alan und Neil.

Sie wollten wissen, was ich mir für ihre Ferien ausgedacht hatte.

»Morgen«, sagte ich ruhig, »gehen wir zum Rennen.«

»Autorennen?« fragte Christopher hoffnungsvoll.

»Pferderennen.«

Sie machten würgende Geräusche.

»Und nächste Woche… auf Ruinensuche«, sagte ich.

Der ohrenbetäubende Protest dauerte bis nach Hause.

»Wenn ich nicht ein anderes schönes, baufälliges Stück finde, müssen wir das Haus hier doch verkaufen«, sagte ich, als ich draußen anhielt. »Ihr habt die Wahl.«

Ernüchtert murrten sie: »Warum suchst du dir keine richtige Arbeit?«, was ich so auffaßte, wie es gemeint war – als resigniertes Einverständnis mit dem vorgegebenen Programm. Ich hatte ihnen immer gesagt, woher das Geld für Essen, Kleider und Fahrräder kam, und da sie noch nie ernstlich Mangel gelitten hatten, war ihr Vertrauen in Abbruchhäuser unerschöpflich; oft wiesen sie mich spontan auf mögliche Objekte hin.

Nach dem Aus für die Villa hatte ich die Zuschriften auf eine Annonce noch einmal durchgesehen, die ich vor drei Monaten im Spectator aufgegeben hatte:

Suche unbewohnbaren Altbau, egal ob Schloß oder Kuhstall.

[25] Ich ging mehreren interessanten Angeboten nach, um zu sehen, ob sie noch standen. Da sie wegen des jüngsten Einbruchs der Grundstückspreise offenbar alle noch zu haben waren, versprach ich, zur Besichtigung vorbeizukommen, und stellte eine Liste auf.

Ich mochte mir kaum eingestehen, daß die unbewohnbaren Gebäude, die ich dabei ständig im Hinterkopf hatte, die Tribünen von Stratton Park waren.

Nur ich allein wußte, was ich dem dritten Baron schuldig war.

[26] 2

Es regnete während des Hindernismeetings in Stratton Park, doch meine fünf Großen – von Christopher, vierzehn, bis Neil, sieben – meckerten weniger über das Wetter als darüber, daß sie an einem Samstag in sauberen, unauffälligen Klamotten herumlaufen mußten. Toby, zwölf, der Fahrer des roten Fahrrads, hatte sich um den Ausflug zu drücken versucht, doch Amanda hatte ihn zu den anderen in den Kombi verfrachtet und uns Coca-Cola und Brötchen mit Schinkenomelett eingepackt, die wir uns bei der Ankunft auf dem Parkplatz schmecken ließen.

»Okay, die Spielregeln«, sagte ich und sammelte unsere Papierabfälle in einer Tüte. »Erstens, ihr flitzt nicht blind herum und rempelt Leute an. Zweitens, Christopher kümmert sich um Alan, Toby um Edward, Neil geht mit mir. Drittens, wenn wir einen Treff ausgemacht haben, kommt ihr unmittelbar nach jedem Rennen dahin.«

Sie nickten. Das familieneigene Kontrollsystem war alteingeführt und vollauf akzeptiert. Sie fanden das regelmäßige Nasenzählen eher beruhigend als lästig.

»Viertens«, fuhr ich fort, »ihr lauft nicht hinter Pferden her, denn es kann passieren, daß sie auskeilen, und fünftens, wir haben zwar eine klassenlose Gesellschaft, aber ihr seid gut beraten, wenn ihr auf der Rennbahn jeden mit ›Sir‹ anredet.«

»Sir, Sir«, sagte Alan grinsend, »ich muß mal, Sir.«

Ich scheuchte sie alle an der Kasse vorbei und kaufte ihnen Karten für die Clubtribüne. Die weißen Pappvierecke baumelten an den Reißverschlüssen von fünf blauen Anoraks. Die fünf jungen Gesichter sahen ernst und gutwillig aus, auch das von [27] Toby, und ich erlebte einen seltenen Augenblick des Stolzes auf meine geliebten Kinder.

Als Treffpunkt vereinbarten wir eine trockene Ecke nicht weit vom Absattelring, in Sichtweite der Herrentoilette. Dann gingen wir alle zusammen durchs Eingangstor zum Clubhaus und weiter zur Tribünenvorderseite, und als ich sicher war, daß sich alle die Örtlichkeiten eingeprägt hatten, ließ ich die Älteren jeweils zu zweit losziehen. Neil, klug aber außerhalb der Brüderschar schüchtern, legte seine Hand in meine und ließ sie wie geistesabwesend dort oder hielt sich ersatzweise an meiner Hose fest, ging aber nicht das Risiko ein, abhanden zu kommen.

Sich zu verirren war für Neil wie für den phantasiebegabten Edward der absolute Alptraum. Alan lachte nur darüber; Toby legte es drauf an. Christopher, der Selbständige, verlor nie die Übersicht und fand gewohnheitsmäßig eher seine Eltern als sie ihn.

Neil war unkompliziert und hatte nichts dagegen, daß wir auf der Tribüne herumliefen, statt uns die Pferde anzusehen, die vor dem ersten Rennen jetzt regennaß durch den Führring stapften. (»Was sind die Tribünen, Pa?« »Die ganzen Gebäude hier.«) Neils reger kleiner Verstand saugte Wörter und Eindrücke auf wie ein Schwamm, und ich hatte mich schon daran gewöhnt, Bemerkungen von ihm zu hören, die ich kaum einem Erwachsenen zugetraut hätte.

Wir schauten kurz in eine Bar, die trotz des Regens ziemlich leer war, und Neil zog die Nase kraus und sagte, der Geruch dort gefalle ihm nicht.

»Das ist Bier«, sagte ich.

»Nein, es riecht wie die Kneipe, in der wir vor dem Umzug in die Scheune gewohnt haben. So wie es da gerochen hat, bevor du sie aufgemöbelt hast.«

Ich sah nachdenklich auf ihn hinunter. Ich hatte eine alte, glück- und zukunftslose Gastwirtschaft umgebaut und ihre [28] tröpfelnden Umsätze in eine Flut verwandelt. Viele Faktoren hatten dabei mitgespielt – ein neuer Grundriß, Farben, Licht, Lüftung, Parkplätze. Ich hatte bewußt Gerüche hereingenommen, vor allem den von Brot, frisch aus dem Ofen, aber ich wußte nicht, was ich verbannt hatte außer schalem Bier und abgestandenem Rauch.

»Wonach riecht es?« fragte ich.

Neil bückte sich und hielt das Gesicht dicht über den Fußboden. »Nach dem fiesen Reinigungsmittel, mit dem der Wirt sein Linoleum geschrubbt hat, ehe du es rausgerissen hast.«

»Wirklich?«

Neil richtete sich auf. »Können wir rausgehen?« fragte er.

Wir gingen Hand in Hand. »Weißt du, was Salmiakgeist ist?« sagte ich.

»Das wird in den Spülstein gekippt«, erklärte er.

»Hat es so gerochen?«

Er dachte darüber nach. »Wie Salmiakgeist, aber mit Parfüm drin.«

»Widerlich«, sagte ich.

»Genau.«

Ich lächelte. Abgesehen von dem wunderbaren Augenblick der Geburt Christophers hatte ich mit Babys nie viel anfangen können, aber wenn ihr wachsender, erwachender Verstand sie erst mal befähigte, eigene Gedanken und Meinungen zum Ausdruck zu bringen, war ich immer wieder hingerissen.

Wir schauten dem ersten Rennen zu, und ich hob Neil hoch, damit er die tolle Aktion an den Hürden sehen konnte.

Unter den Jockeys, so entnahm ich dem Rennprogramm, war eine Rebecca Stratton, und nach dem Rennen (R. Stratton unplaziert) kamen wir zufällig an ihr vorbei, als sie gerade die Gurte um ihren Sattel schlang und über die Schulter weg mit den niedergeschlagenen Besitzern sprach, ehe sie zu den Umkleideräumen ging.

[29] »Der ist gelaufen wie ein mondsüchtiges Trampeltier. Vielleicht versuchen Sie es mal mit Scheuklappen.«

Sie war hochgewachsen, ihr Körper flach, die Wangenknochen in dem schmalen, aseptischen Gesicht spitz vorspringend, und nirgends ein Zugeständnis an Weiblichkeit. Im Gegensatz zu den männlichen Jockeys, die bei ihrem typischen schnellen Trippelschritt zuerst die Fersen aufsetzten, ging sie katzenhaft federnd auf den Ballen, den Zehen, so als wäre sie sich nicht nur ihrer Kraft bewußt, sondern würde auch dadurch erregt. Die einzige Frau, bei der ich diesen Gang bisher gesehen hatte, war eine Lesbierin.

»Was ist ein mondsüchtiges Trampeltier?« fragte Neil, als sie fort war.

»Das bedeutet langsam und schwerfällig.«

»Ach so.«

Wir trafen uns mit den anderen am Sammelpunkt, und ich gab allen Geld für Popcorn.

»Pferderennen sind langweilig«, sagte Toby.

»Wenn du auf einen Sieger tippst, bekommst du von mir die gleiche Quote wie am Wettschalter«, sagte ich.

»Und ich?« fragte Alan.

»Das gilt für alle.«

Aufgemuntert gingen sie zum Führring, um sich die nächsten Starter anzusehen, wobei Christopher ihnen zeigte, wie man die Formen im Programmheft liest. Neil, der dicht bei mir blieb, sagte ohne Zögern, er tippe auf Nummer sieben.

»Wieso die Sieben?« sagte ich und schaute nach. »Die hat ihr Lebtag noch kein Rennen gewonnen.«

»Mein Kleiderkasten in der Schule hat die Nummer sieben.«

»Aha. Nun, die Sieben heißt Clever Clogs – Schnelldenker.«

Neil strahlte.

Die anderen vier kamen mit ihren Tips wieder. Christopher war für das formstärkste Pferd, den Favoriten. Alan hatte sich [30] Jugaloo herausgesucht, weil ihm der Name gefiel. Edward setzte auf einen hoffnungslosen Fall, weil er traurig aussah und Ermutigung brauchte. Toby entschied sich für Tough Nut, weil der im Ring geschlagen und gebockt und die Leute gescheucht hatte.

Alle wollten wissen, auf wen meine Wahl fiel, und ich überflog rasch die Liste und sagte auf gut Glück »Grandfather«, Großvater, um mich anschließend über die unbewußten Tücken des Verstandes zu wundern und mich zu fragen, ob das wirklich so ein Zufall war.

Zu meiner gelinden Erleichterung gewann Tobys Tough Nut, die harte Nuß, nicht nur das Rennen, sondern hatte auch im Absattelring noch genügend Pep, um einige Male boshaft auszuschlagen. Tobys Langeweile verwandelte sich in reges Interesse, und wie so oft reagierten die anderen auf seine Stimmung. Außerdem hörte es auf zu regnen. Der Nachmittag fing erst richtig an.

Später ging ich mit ihnen die Bahn hinunter, um das vierte Rennen, eine 3-Meilen-Steeplechase, von einem schwierigen Sprung aus zu verfolgen. Es war ein Graben, das vorletzte Hindernis auf der Bahn, flankiert von einem naß gewordenen Rennplatzarbeiter in leuchtend oranger Jacke und von einem Johanniter, der Jockeys, die ihm vor die Füße fielen, Erste Hilfe erweisen sollte. Eine Gruppe von etwa dreißig Zuschauern hatte die gleiche Idee gehabt wie wir und stand hinter den Rails an der Innenbahn, verteilt zwischen Absprung- und Aufsprungseite des Hindernisses.

Der Graben selbst – im historischen Jagdrennen ein echter Entwässerungsgraben mit Wasser – war heutzutage, wie hier in Stratton Park, kein eigentlicher Graben mehr, sondern ein knapp anderthalb Meter breiter Zwischenraum auf der Absprungseite des Hindernisses. Ein im Geläuf eingelassener Balken diente den Pferden als Anhalt, wo sie abzuspringen hatten, und die Hecke aus dunklem Birkenreisig war ein Meter vierzig [31] hoch bei mindestens siebzig, achtzig Zentimetern Tiefe: alles in allem ein Standardsprung, der für erfahrene Steepler wenig Überraschungen bereithielt.

Die Jungen hatten zwar schon eine Menge Pferderennen im Fernsehen gesehen, aber auf eine richtige Rennbahn hatte ich sie noch nie mitgenommen, schon gar nicht dahin, wo das Geschehen voll auf die Sinne einstürmte. Als das Zehnerfeld in der ersten der beiden Runden über das Hindernis ging, bebte die Erde unter den donnernden Hufen, knisterte das schwarze Reisig unter den halbtonnenschweren, flach hindurchwischenden Steeplern, teilte die Luft sich vor dem Pulk der Kämpfer, die da im Flug, mit dreißig Meilen in der Stunde Leib und Leben riskierten: Der Lärm dröhnte in den Ohren, die Jockeys schimpften, die kaleidoskopisch bunten Farben rauschten vorbei… und plötzlich waren sie fort, kaum mehr zu sehen, und es wurde wieder still, das Getümmel, das Gedränge war vorüber, war Erinnerung. »Mensch!« sagte Toby beeindruckt. »Daß das so ist, hast du nicht gesagt.«

»So ist es nur, wenn man nah dran ist«, sagte ich.

»Aber für die Jockeys muß es immer so sein«, gab Edward zu bedenken. »Ich meine, die nehmen den Krach ja bis ins Ziel mit.« Edward, zehn, hatte den Piratenfangtrupp auf der Eiche geleitet. Seine Schweigsamkeit täuschte, denn immer war er derjenige, der sich fragte, wie es wäre, ein Pilz zu sein; der mit unsichtbaren Freunden sprach; der sich am meisten um hungernde Kinder sorgte. Edward dachte sich Phantasiespiele für seine Brüder aus, las Bücher, lebte in einer eigenen Welt und war dabei so zurückhaltend wie sein neunjähriger Bruder Alan extravertiert und mitteilsam war.

Der Rennbahnarbeiter ging auf der Aufsprungseite an der Hecke entlang und drückte mit einem kleinen Spaten das durcheinandergebrachte Reisig zurecht, damit es vor dem zweiten Ansturm wieder ordentlich aussah.

[32] Die fünf Jungen warteten ungeduldig, während die Starter weiter um die Bahn herumgingen und zum zweiten und letzten Mal auf den Graben zuhielten, auf den nur noch ein Sprung folgte und dann der Schlußspurt zum Ziel. Alle fünf hatten ihren Siegertip bei mir abgegeben, und als die Leute um uns herum anfingen, ihre Favoriten anzufeuern, brüllten auch die Jungs.

Ich hatte mein Vertrauen in Rebecca Stratton gesetzt, die jetzt eine Schimmelstute namens Carnival Joy ritt, und als sie sich dem Sprung näherten, schien sie an zweiter Stelle zu liegen, was mich ein wenig überraschte, denn meine Wetterfahrung war gleich Null.

Im letzten Moment wich das Pferd vor ihr von seiner geraden Linie ab, und flüchtig sah ich die Anspannung im Gesicht des Jockeys, als er einen Zügel aufnahm, um die Situation zu retten. Aber er verpaßte den Sprung völlig. Sein Pferd sprang einen Schritt zu früh ab und landete genau in der Lücke zwischen Absprungbalken und Hecke, wo es seinen Jockey absetzte und, indem es ausscherte, nicht nur Carnival Joy, sondern allen nachfolgenden Startern in die Quere kam.

Bei dreißig Meilen in der Stunde geht alles schnell. Carnival Joy sah, daß der Weg nach vorn verstellt war, und versuchte, zugleich die Hecke und das Pferd auf der Absprungseite zu überfliegen, ein schier unmögliches Unterfangen. Die Hufe der Stute trafen das reiterlose Pferd, so daß sie mit dem Brustkorb voran voll in das Hindernis krachte. Ihre Reiterin wurde über die Hecke katapultiert und knallte mit rudernden Armen und Beinen auf den Turf. Carnival Joy fiel über die Hecke, traf mit dem Kopf auf, überschlug sich, blieb atemlos auf der Seite liegen und keilte bei dem Versuch, wieder hochzukommen, lebensgefährlich aus.

Die Nachfolgenden, ob sie nun abbremsten, von dem Gewirr noch gar nichts mitbekommen hatten oder es zu umgehen versuchten, machten das Debakel nur schlimmer, wie Autos bei [33] einer Massenkarambolage im Nebel. Ein Pferd, das zu schnell war, zu spät begriff, daß es kein Entrinnen mehr gab, glaubte noch einen Ausweg entdeckt zu haben und versuchte durch den linksseitigen Fang direkt vom Geläuf herunterzuspringen.

Die Fänge auf der Absprungseite sollen gerade verhindern, daß Pferde im letzten Moment ausbrechen, und zu diesem Zweck müssen sie so hoch sein, daß sie nicht übersprungen werden können. Jeder Versuch, sich durch einen Sprung über die Fänge in Sicherheit zu bringen, ist deshalb zum Scheitern verurteilt, wenn auch heute nicht so verhängnisvoll wie früher, als sie noch aus Holz bestanden, das brechen und Splitter ins Fleisch treiben konnte. In Stratton Park waren die Fänge der geltenden Norm entsprechend aus Plastik, das biegsam war und nachgab, ohne zu verletzen, doch das Pferd, das jetzt die Hindernisbegrenzung unversehrt durchbrach, kollidierte mit den dort stehenden Zuschauern, die zu spät auseinanderstoben.

Eben noch ein reibungsloses Rennen. Fünf Sekunden darauf ein Blutbad. Ich registrierte zwar, daß sich auf der Aufsprungseite drei weitere Pferde verletzt hatten, deren Reiter bewußtlos waren oder sich schimpfend hochrappelten, aber ich hatte nur Augen für die Zuschauer am Unglücksort, vor allem für ein paar kleine Gestalten in blauen Anoraks, die ich, ich gebe es zu, voller Panik zählte, und mir wurde vor Erleichterung fast schlecht, als ich sie alle unversehrt dastehen sah. Um das Entsetzen in ihren Gesichtern konnte ich mich später kümmern.

Alan, dem Anschein nach ohne ein Gefühl für Gefahr geboren, tauchte plötzlich unter den Rails durch und rannte auf die Bahn, entschlossen, den gestürzten Jockeys zu helfen.

Ich rief ihm sofort nach, er solle zurückkommen, aber es war zuviel Lärm um uns herum, und im Gedanken an all die verschreckt umherstürmenden Pferde stieg ich selbst unter den Rails durch, um ihn rasch zurückzuholen. Neil, der kleine Neil, trippelte hinter mir her.

[34] Erschrocken nahm ich ihn hoch und lief zu Alan, der sich, scheinbar blind für die ausschlagenden Beine von Carnival Joy, alle Mühe gab, einer benommenen Rebecca Stratton aufzuhelfen. Ich war am Rand der Verzweiflung, als ich sah, daß jetzt auch Christopher ihr quer übers Geläuf zu Hilfe eilte.

Rebecca Stratton kam wieder ganz zu sich, wedelte verärgert die kleinen Hände weg, die sich ihr hilfsbereit entgegenstreckten, und sagte in scharfem Ton zu niemand Bestimmtem: »Schafft mir bloß die Gören weg. Die haben mir gerade noch gefehlt.«

Wütend stand sie auf, stelzte zu dem Jockey hinüber, dessen Pferd die ganze Karambolage verursacht hatte und der jetzt hilflos neben der Hecke stand, und sagte ihm lautstark ein paar wenig schmeichelhafte Dinge über seine Reitkunst. Ihre Hände schlossen sich immer wieder zu Fäusten, als hätte sie ihn am liebsten geschlagen.

Klar, daß meine Gören sie prompt nicht mehr ausstehen konnten. Ich scheuchte sie mit ihren verletzten Gefühlen vom Geläuf herunter und aus der Gefahrenzone, doch als wir an der Rennreiterin vorbeikamen, sagte Neil plötzlich laut und deutlich: »Mondsüchtiges Trampeltier.«

»Was?« Rebeccas Kopf fuhr herum, aber ich hatte mein Söhnchen schleunigst von ihr wegbefördert, und sie schien eher aus der Fassung gebracht als auf Streit erpicht, es sei denn mit dem unglücklichen Reiterkollegen.

Toby und Edward beachteten sie nicht mehr, sondern kümmerten sich jetzt um die niedergemähten Zuschauer, von denen zwei sehr schwer verletzt aussahen. Leute weinten, waren wie betäubt, aber auch Zorn kam auf. Weiter weg wurde Beifall gerufen. Eines der wenigen Pferde, die der Unglücksstelle ausgewichen waren, hatte das Ziel erreicht und gesiegt.

Wie auf den meisten Rennplätzen war den Startern rund um den Kurs ein Krankenwagen gefolgt, der einen schmalen [35] Fahrweg parallel zum Geläuf benutzte, um im Notfall gleich eingreifen zu können. Der Rennbahnfunktionär hatte zwei Flaggen herausgeholt, eine rotweiß, eine orange, und sie mehrmals geschwenkt, um dem Arzt und dem Tierarzt, die in der Mitte des Platzes in einem Wagen saßen, zu signalisieren, daß sie sofort gebraucht wurden.

Ich rief die Jungen zu mir, und gemeinsam schauten wir den Sanitätern und dem Arzt mit seiner Armbinde zu, wie sie sich neben die Gestürzten hinknieten, Tragbahren holten, sich berieten und nach Kräften versuchten, mit Knochenbrüchen, Blut und Schlimmerem fertig zu werden. Es war zu spät, sich darüber Gedanken zu machen, was die Jungen hier sahen; da sie meinen Vorschlag, zur Tribüne zurückzugehen, ablehnten, blieben wir wie die meisten Zuschauer da, und immer neue stießen zu uns in einem steten Strom, makabrerweise angezogen von Unglück und Chaos.

Der Krankenwagen fuhr langsam mit den beiden Rennplatzbesuchern fort, die an dem durchbrochenen Fang niedergestreckt worden waren. »Das Pferd ist dem Mann ins Gesicht gesprungen«, erklärte Toby mir sachlich. »Ich glaube, er ist tot.«

»Sei doch still«, protestierte Edward.

»Das ist die Realität«, sagte Toby.

Eins von den Pferden war nicht zu retten. Man verbarg es hinter Stellwänden, was man bei dem Mann mit dem eingetretenen Gesicht nicht getan hatte.