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Dick Francis

Reflex

Roman

Aus dem Englischen von
Monika Kamper

 

 

 

 

 

 

 

 

Titel der 1980 bei Michael Joseph Ltd., London,

erschienenen Originalausgabe: ›Reflex‹

Copyright © 1980 by Dick Francis

Die deutsche Erstausgabe erschien 1982

im Ullstein Verlag, Frankfurt/M., Berlin

Umschlagillustration von

Tomi Ungerer

 

 

Ich danke den Fotografen

Bernard Parkin und David Hastings

und vor allem Ron Massey, der für mich

die Rätsel austüftelte

 

 

Alle deutschen Rechte vorbehalten

Copyright © 2013

Diogenes Verlag AG Zürich

www.diogenes.ch

ISBN Buchausgabe 978 3 257 21982 1 (9. Auflage)

ISBN E-Book 978 3 257 60012 4

Die grauen Zahlen im Text entsprechen den Seitenzahlen der im Impressum genannten Buchausgabe.

[5] 1

Keuchend und hustend lag ich auf einen Ellbogen gestützt auf dem Boden und spuckte einen Mundvoll Gras und Dreck aus. Das Pferd, das ich geritten hatte, hievte sein Gewicht von meinem Knöchel, rappelte sich unbeholfen auf und galoppierte ungerührt davon. Meine Knochen waren gründlich durchgeschüttelt von dem Aufprall, und ich wartete mit bebender Brust darauf, daß alles wieder ins Lot kam, daß ich nach dem Fünfzig-Stundenkilometer-Salto und ein paar Purzelbäumen mein Gleichgewichtsgefühl wiedergewann.

Nichts passiert. Nichts gebrochen. Ein Sturz mehr, nichts weiter.

Zeit und Ort: sechzehntes Hindernis, Drei-Meilen-Hindernisrennen, Rennbahn Sandown Park, Freitag, November, im kalten Nieseldauerregen. Nachdem ich Atem und Kraft geschöpft hatte, stand ich lustlos auf und dachte voller Inbrunst, daß es verdammt albern war, als erwachsener Mensch auf diese Weise sein Leben zu verbringen.

Der bloße Gedanke versetzte mir einen Schock. Dergleichen war mir noch nie in den Sinn gekommen. In rasendem Tempo auf einem Pferderücken über die unterschiedlichsten Hindernisse zu setzen war die einzige Art, die ich kannte, mir meine Brötchen zu verdienen. Und diesen Job konnte man nur machen, wenn man mit dem Herzen dabei war. Ein erster kühler Anflug von Desillusionierung meldete sich wie das erste Stechen von Zahnschmerzen, unerwartet, unwillkommen, ein beunruhigender Hinweis auf möglichen Ärger.

Ich unterdrückte das Gefühl, ohne mich groß aufzuregen. [6] Bestätigte mir selbst, daß ich dieses Leben liebte, wie ich es immer geliebt hatte, gar keine Frage. Ich überzeugte mich mühelos davon, daß alles in bester Ordnung war, abgesehen von dem Wetter, von meinem Sturz und dem verlorenen Rennen… nichts weiter von Bedeutung. Alltagskram, wie ihn die Arbeit mit sich brachte.

Während ich in meinen papierdünnen Reitstiefeln, die sich überhaupt nicht zum Wandern eigneten, den Hügel zu den Tribünen hinaufquatschte, dachte ich einzig und allein an das Pferd, auf dem ich gestartet war, und überlegte mir, was ich seinem Trainer sagen konnte und was nicht. Verwarf: »Wie können Sie erwarten, daß es springt, wenn Sie es nicht ordentlich schulen?« zugunsten von: »Die Erfahrung wird ihm guttun.« »Untaugliches, schreckhaftes, hartmäuliges, unterernährtes Mistvieh« war vielleicht doch nicht so gut, also entschied ich mich für: »Man könnte es mit Scheuklappen versuchen.« Der Trainer würde ohnehin mir den Sturz ankreiden und dem Besitzer erzählen, ich hätte den Sprung falsch eingeschätzt. Für Trainer wie ihn war jeder Absturz ein Pilotenfehler.

Ich war dem Himmel leise dankbar, daß ich nicht oft für diesen Rennstall reiten mußte. Ich war nur für diesen Tag engagiert worden, weil Steve Millace, der Stalljockey, bei der Beerdigung seines Vaters war. Vertretungsritte konnte man nicht ohne weiteres ablehnen, selbst wenn die Katastrophe einem schon aus dem Rennbericht entgegensah. Nicht, wenn man auf das Geld angewiesen war wie ich. Und nicht, wenn man wie ich darauf angewiesen war, daß der eigene Name so oft wie möglich auf den Starterlisten erschien, damit jeder wußte, daß man brauchbar, gefragt und präsent war.

Das einzig Gute bei meinem Sturz an dem Hindernis war, daß Steve Millaces Vater nicht da war, um das Ereignis festzuhalten. George Millace, der gnadenlose Fotograf von Augenblicken, die jeder Jockey am liebsten ungeschehen machen würde, lag sicher [7] verwahrt in seiner Kiste und wurde wahrscheinlich gerade in dieser Minute zur ewigen Ruhe in die Erde versenkt. Ein Glück, daß wir ihn los sind, dachte ich herzlos. Es war ein für allemal vorbei mit dem geringschätzigen, hämischen Vergnügen, das George empfand, wenn er den Pferdebesitzern unwiderlegbare Beweise für das Versagen ihrer Jockeys präsentieren konnte. Ein für allemal vorbei mit der motorisierten Kamera, die mit ihren dreieinhalb Bildern pro Sekunde die falsche Gewichtsverlagerung, den Arm in der Luft, das Gesicht im Matsch einfing.

Während andere Sportfotografen fairerweise von Zeit zu Zeit ein Siegerfoto brachten, handelte George ausschließlich in Schmach und Schande. George war der geborene Ehrabschneider. Die Zeitungen bedauerten es vielleicht, daß es ein Ende hatte mit seinen zum Kichern reizenden Bildern, aber an dem Tag, als Steve erzählte, daß sein Vater gegen einen Baum gefahren war, hielt sich die Trauer in der Jockeystube in Grenzen.

Aus Sympathie für Steve hatte niemand viel gesagt. Allerdings war ihm das Schweigen nicht entgangen, und er hatte sich sein Teil gedacht. Er hatte seinen Vater all die Jahre pflichtschuldig verteidigt; und er wußte Bescheid.

Als ich so im Regen zurücktrottete, kam es mir dennoch sonderbar vor, daß wir George Millace nie wiedersehen sollten. Ich sah seine altvertraute Erscheinung vor meinem inneren Auge: leuchtende, kluge Augen, lange Nase, Hängeschnauzer, zu einem säuerlichen Lächeln verzogener Mund. Zugegeben, ein fantastischer Fotograf mit einem außergewöhnlichen Talent für Vorahnungen und gutes Timing, stets mit dem Objektiv zur rechten Zeit am rechten Ort. Ein Witzbold, auf seine Art: Erst vor knapp einer Woche hatte er mir ein Hochglanz-Schwarzweißfoto gezeigt, das mich im Sturzflug zeigte, Nase nach unten, Hinterteil in der Luft. Die Legende auf der Rückseite lautete: ›Philip Nore – …Arsch hoch zum Grashüpfen!‹ Wenn hinter seinem Humor nicht diese tiefsitzende Mißgunst gesteckt hätte, [8] hätte man lachen können. Wenn nicht diese Grausamkeit in seinen Augen gelauert hätte, hätte man seinen entlarvenden Ansatz zumindest tolerieren können. Er hatte gewissermaßen Bananenschalen verstreut und dann auf der Lauer gelegen, um sich über diejenigen lustig zu machen, die darauf ausrutschten; man würde ihn dankbar vermissen.

Als ich schließlich in den Schutz der Veranda vor dem Waageraum trat, empfingen mich Trainer und Besitzer mit der erwarteten vorwurfsvollen Miene.

»Ziemlich übel verschätzt, wie?« sagte der Trainer aggressiv.

»Er ist einen Schritt zu früh abgesprungen.«

»Ihr Job, ihn richtig ranzuführen.«

Zwecklos, darauf hinzuweisen, daß kein Jockey auf der Welt jedes Pferd jederzeit perfekt springen lassen kann, und ein schlecht geschultes, das bockt, schon gar nicht. Ich nickte nur und lächelte den Besitzer leicht bekümmert an.

»Man könnte es mit Scheuklappen versuchen«, sagte ich.

»Darüber habe ich zu entscheiden«, sagte der Trainer scharf.

»Sie sind doch nicht verletzt?« fragte der Besitzer besorgt.

Ich schüttelte den Kopf. Der Trainer würgte diese menschliche, Jockey-bezogene Erkundigung ab und schleuste seine Geldquelle aus der Gefahrenzone hinaus, ehe ich irgend etwas Wahres darüber sagen konnte, warum das Pferd nicht sprang, wenn es dazu aufgefordert wurde. Ich sah ihnen ohne Bitterkeit nach und wandte mich dann zur Tür des Waageraumes.

»Ah, sind Sie nicht Philip Nore?« sagte ein junger Mann und versperrte mir den Weg.

»Bin ich.«

»Tja… könnte ich Sie einen Moment sprechen?«

Er war ungefähr fünfundzwanzig, langbeinig wie ein Storch, ein aufrechter Mensch mit büroblassem Teint. Grauer Flanellanzug, gestreifte Krawatte, kein Fernglas und an diesem Ort hier, wo Unbefugte keinen Zutritt hatten, völlig fehl am Platze.

[9] »Klar«, sagte ich. »Wenn Sie warten wollen, bis der Arzt mich durchgecheckt hat und ich mir was Trockenes angezogen habe.«

»Arzt?« Er schien erschrocken.

»Ach… Routine. Nach einem Sturz. Dauert nicht lang.«

Als ich aufgewärmt und in Straßenkleidung wieder herauskam, stand er immer noch da, und er war mehr oder weniger allein auf der Veranda, weil fast jeder sich das letzte Rennen ansah, das bereits im Gange war.

»Ich… ähm… Mein Name ist Jeremy Folk.« Er zog eine Visitenkarte aus seinem grauen Jackett und hielt sie mir unter die Nase. Ich nahm sie und las: Folk, Langley, Sohn und Folk.

Rechtsanwälte, St. Albans, Hertfordshire.

»Der letzte Folk da«, erklärte Jeremy bescheiden, »das bin ich.«

»Herzlichen Glückwunsch«, sagte ich.

Er lächelte mich scheu an und räusperte sich.

»Man hat mich geschickt… ähm… Ich bin hier, um Sie zu bitten, daß… ähm…« Er stockte, wirkte hilflos und ganz und gar nicht wie ein Anwalt.

»Daß was?« sagte ich ermutigend.

»Die meinten, daß es Ihnen gar nicht recht sein wird… aber, also… Man hat mich geschickt, um Sie zu bitten, ähm…«

»Raus damit«, sagte ich.

»Sie sollen Ihre Großmutter aufsuchen.« Die Worte purzelten überstürzt hervor, und er schien erleichtert, daß er sie los war.

»Nein«, sagte ich.

Er sah mir prüfend ins Gesicht, und meine Gelassenheit schien ihm Mut zu machen.

»Sie liegt im Sterben«, sagte er. »Und sie möchte Sie sehen.«

Vom Tod umgeben, dachte ich. George Millace und die Mutter meiner Mutter. In beiden Fällen war es nicht weiter bedauerlich.

»Haben Sie verstanden?« sagte er.

[10] »Ja.«

»Also dann. Geht es heute?«

»Nein«, sagte ich. »Ich gehe nicht zu ihr.«

»Aber Sie müssen.« Er sah besorgt aus. »Ich meine… Sie ist alt… und stirbt bald und sie will Sie…«

»Sehr bedauerlich.«

»Und wenn ich Sie nicht dazu bringen kann, wird mein Onkel… das ist der Sohn…« Er zeigte wieder auf die Visitenkarte und wurde zunehmend nervöser. »Ähm, Folk ist mein Großvater, und Langley ist mein Großonkel und… ähm… sie haben mich geschickt…« Er schluckte. »Sie sind der Meinung, daß ich absolut nichts tauge, um es ehrlich zu sagen.«

»Und das ist Erpressung«, sagte ich.

Ein schwaches Leuchten in seinen Augen verriet mir, daß er im Grunde nicht so dämlich war, wie er sich gab.

»Ich will sie nicht sehen«, sagte ich.

»Aber sie liegt im Sterben.«

»Haben Sie sich mit eigenen Augen davon überzeugt?«

»Ähm… nein.«

»Wetten, sie stirbt nicht. Wenn sie mich sehen will, behauptet sie einfach, daß sie bald stirbt, nur um mich einzufangen, weil sie denkt, daß sie mich nur so kriegt.«

Er wirkte schockiert. »Sie ist immerhin achtundsiebzig.«

Ich sah düster in den Dauerregen hinaus. Ich war meiner Großmutter nie begegnet und wollte ihr nie begegnen, weder sterbend noch tot. Ich hielt nichts von Reue am Totenbett, Beteuerungen am Höllentor kurz vor Torschluß. Es war verdammt noch mal zu spät.

»Es bleibt bei nein«, sagte ich.

Er zuckte entmutigt die Achseln und schien aufzugeben. Lief ein paar Schritte in den Regen hinaus, barhäuptig, verwundbar, ohne Schirm. Drehte sich nach zehn Schritten wieder um und kam zögernd näher.

[11] »Hören Sie… mein Onkel sagt, sie braucht Sie wirklich.« Er gab sich ernst und eifrig wie ein Missionar. »Sie können sie nicht einfach sterben lassen.«

»Wo ist sie?« sagte ich.

Er strahlte. »In einem Pflegeheim.« Er kramte in einer anderen Jackentasche. »Ich habe die Adresse. Aber ich bringe Sie hin, jetzt gleich, wenn Sie mitkommen. Es ist in St. Albans. Sie wohnen doch in Lambourn? Es liegt also nicht so sehr weit ab von Ihrem Weg. Jedenfalls keine hundert Kilometer oder so was.«

»Aber immerhin gute fünfzig.«

»Tja… nun ja… Sie sind es ja gewohnt, ziemlich viel durch die Gegend zu fahren.«

Ich seufzte. Eins war so schlimm wie das andere. Eine Wahl zwischen duckmäuserischer Kapitulation und eiskalter Ablehnung. Beides ungenießbar. Daß sie mir seit meiner Geburt eiskalte Ablehnung entgegengebracht hatte, war wohl keine Entschuldigung für mich, sie auf dem Sterbebett genauso zu behandeln. Ich konnte sie auch kaum weiterhin selbstgefällig verachten, wie ich es jahrelang getan hatte, wenn ich ihrem Vorbild folgte. Ärgerlich!

Der Winternachmittag verdämmerte bereits, von Minute zu Minute leuchtete das verschwommene Licht der elektrischen Lampen heller durch den Regen. Ich dachte an mein leeres Häuschen; da gab’s nicht viel, um den Abend auszufüllen, zwei Eier, ein Stück Käse und schwarzen Kaffee zum Abendessen; die Lust, mehr zu essen, und den Zwang, es sich zu verkneifen. Wenn ich mitkam, dachte ich, würde das meine Gedanken zumindest vom Essen ablenken, und wenn mir etwas bei meinem ständigen Kampf gegen die Pfunde half, konnte es nicht nur von Übel sein. Selbst wenn es sich um eine Begegnung mit meiner Großmutter handelte.

»Also gut«, sagte ich resigniert, »bringen Sie mich hin.«

[12] Die alte Frau saß aufrecht in ihrem Bett und starrte mich an. Falls sie im Begriff war zu sterben, dann gewiß nicht an diesem Abend. Aus ihren dunklen Augen sprach größte Lebenskraft und in ihrer Stimme lag keinerlei Todesschwäche.

»Philip«, stellte sie fest und taxierte mich von oben bis unten.

»Ja.«

»Ha!«

In diesem explosiven Laut schwang sowohl Triumph als auch Verachtung mit. Genau das hatte ich erwartet. Mit ihrem eisernen Willen hatte sie meine Kindheit zerstört und bei ihrer eigenen Tochter noch weit größeres Unheil angerichtet, und ich stellte zu meiner Erleichterung fest, daß ich mich auf keinerlei sentimentales Flehen um Verzeihung gefaßt machen mußte. Die Devise war immer noch Ablehnung, wenn auch in gemäßigter Form.

»Ich wußte, daß du sofort angerannt kommst, wenn du von dem Geld hörst«, sagte sie. Ihr kalter Hohn war nicht zu überbieten.

»Was für Geld?«

»Die hunderttausend Pfund natürlich.«

»Von Geld hat niemand was gesagt«, sagte ich.

»Lüg nicht. Was hätte dich sonst hergetrieben?«

»Man hat mir gesagt, daß du im Sterben liegst.«

Sie bedachte mich mit einem verblüfften, boshaften Blitz aus ihren Augen und einem Zähneblecken, das nichts mit einem Lächeln zu tun hatte. »Früher oder später trifft es jeden.«

»Genau«, sagte ich. »Und wir bezahlen alle den gleichen Preis. Eines Tages, wenn die Zeit reif ist.«

Sie entsprach wahrlich nicht dem Idealbild einer lieben, kleinen, rosenwangigen Oma. Ein hartes, stures Gesicht mit tief eingegrabenen Falten der Mißbilligung um den Mund herum. Eisgraues Haar, immer noch kräftig, sauber und gut frisiert. Ihre bleiche Haut war braun gefleckt von Alterssommersprossen, [13] und auf ihren Handrücken wölbten sich dunkle Adern. Eine magere Frau, fast ausgemergelt, und hochgewachsen, soweit ich das beurteilen konnte.

Der große Raum, in dem sie lag, war eher wie ein Wohnzimmer mit Bett als wie ein Krankenzimmer eingerichtet. Das paßte zu dem Gesamteindruck, den ich bei meinem Gang durch das Haus gewonnen hatte. Ein umfunktioniertes Landhaus: Hotel mit Pflegepersonal. Überall Teppiche, lange Chintzvorhänge, Blumensträuße. Kultiviertes Sterben, dachte ich.

»Ich habe Mr. Folk Anweisung gegeben, dir das Angebot zu machen«, sagte sie.

Ich überlegte. »Dem jungen Mr. Folk? Etwa fünfundzwanzig? Jeremy?«

»Unsinn.« Sie war ungehalten. »Mr. Folk, meinem Anwalt. Ich habe ihn beauftragt, dich hierherzuschaffen. Und er hat seinen Auftrag erfüllt. Du bist hier.«

»Er hat seinen Enkel geschickt.«

Ich trat von ihrem Bett zurück und setzte mich unaufgefordert in einen Sessel. Warum hatte Jeremy wohl die hunderttausend Pfund nicht erwähnt? Eine Kleinigkeit, die man eigentlich nicht so leicht vergaß.

Meine Großmutter starrte mich ohne jedes Zeichen der Zuneigung unentwegt an und ich starrte zurück. Mir mißfiel ihre Gewißheit, daß man mich kaufen konnte. Ihre Verachtung stieß mich ab, und ich mißtraute ihren Absichten.

»Ich werde dir in meinem Testament hunderttausend Pfund vermachen, unter gewissen Bedingungen«, sagte sie.

»Nein, das wirst du nicht tun«, sagte ich.

»Wie bitte?« Eiskalte Stimme, versteinerter Blick.

»Ich sagte nein. Kein Geld. Keine Bedingungen.«

»Hör dir erst mal meinen Vorschlag an.«

Ich sagte nichts. Ehrlich gesagt, regte sich eine gewisse Neugier in mir, aber das durfte sie auf keinen Fall merken. Da sie es [14] offenbar nicht eilig hatte, dehnte sich das Schweigen aus. Weitere Bestandsaufnahme ihrerseits, vielleicht. Reine Geduld meinerseits. Da ich unter völlig ungeordneten Umständen aufgewachsen war, besaß ich die nahezu grenzenlose Fähigkeit zu warten. Auf Leute zu warten, die nicht kamen; und auf Versprechen, die nicht erfüllt wurden.

Schließlich sagte sie: »Du bist größer, als ich dachte. Und härter.«

Ich wartete weiter.

»Wo ist deine Mutter?« sagte sie.

Meine Mutter, ihre Tochter. »In den Wind gestreut«, sagte ich.

»Was soll das heißen?«

»Ich glaube, sie ist tot.«

»Du glaubst es!« Sie schien eher ärgerlich als besorgt. »Weißt du es denn nicht?«

»Sie hat’s mir nicht direkt schriftlich gegeben, daß sie tot ist, nein.«

»Deine Frivolität ist unerhört.«

»Dein Verhalten seit meiner Geburt gibt dir nicht das Recht, so etwas zu sagen«, sagte ich.

Sie blinzelte. Ihr Mund öffnete sich und stand volle fünf Sekunden offen. Dann schloß er sich fest, so daß die Muskeln an ihrem Kiefer hervortraten, und sie starrte mich mit einer beängstigenden Mischung aus Zorn und Feindseligkeit finster an. Ich erkannte an diesem Gesichtsausdruck, womit meine arme Mutter sich einst hatte auseinandersetzen müssen, und wurde jäh von Mitleid für diesen hilflosen Schmetterling ergriffen, der mich geboren hatte.

Als ich noch ganz klein war, hatte man mich eines Tages in neue Kleider gesteckt und ermahnt, ganz brav zu sein, weil ich mit meiner Mutter meine Großmutter besuchen sollte. Meine Mutter hatte mich dort, wo ich damals gerade wohnte, abgeholt, und wir waren mit dem Auto zu einem großen Haus gefahren, [15] wo man mich allein in der Eingangshalle warten ließ. Hinter einer weißgestrichenen, geschlossenen Tür war lautstark gestritten worden. Dann war meine Mutter weinend herausgekommen, hatte mich bei der Hand gepackt und hinter sich her zum Auto gezerrt.

»Komm, Philip. Wir werden sie nie wieder um einen Gefallen bitten. Sie wollte dich nicht einmal sehen. Vergiß das nie, Philip, deine Großmutter ist ein gehässiges Biest.«

Ich hatte es nicht vergessen. Ich hatte selten daran gedacht, aber ich konnte mich noch deutlich erinnern, wie ich auf dem Stuhl in der Halle saß, ohne mit den Füßen bis auf den Boden zu reichen, und steif in meine neuen Kleider eingezwängt wartete und dem Gezeter lauschte.

Von ein, zwei traumatischen Wochen dann und wann einmal abgesehen, hatte ich eigentlich nie richtig mit meiner Mutter zusammengelebt. Wir hatten kein Haus, keine Adresse, keine feste Bleibe. Da sie selbst ständig auf Achse war, hatte sie das Problem meiner Unterbringung einfach gelöst, indem sie mich, mal kürzer, mal länger, bei einer langen Reihe von meist verwunderten verheirateten Freundinnen ablud, die, wenn man’s nachträglich bedenkt, bemerkenswert großzügig gewesen waren.

»Sei so gut und paß ein paar Tage auf Philip auf, Liebes«, sagte sie etwa, wenn sie mich wieder einmal auf eine fremde Dame zuschubste. »Bei mir geht im Moment alles drunter und drüber, und ich weiß beim besten Willen nicht, wohin mit ihm. Du weißt ja, wie das ist, liebe Deborah… (oder Miranda oder Chloe oder Samantha oder wer auch immer unter der Sonne)… sei ein Schatz, ich hol ihn dann am Samstag wieder ab, ganz bestimmt.« Meistens gab sie dann der lieben Deborah oder Miranda oder Chloe oder Samantha einen dicken Schmatz, und weg war sie in einer Wolke von Parfüm.

Der Samstag kam, aber meine Mutter nicht, doch zu guter Letzt tauchte sie immer wieder auf, total aufgekratzt, lachend und [16] überströmend vor Dankbarkeit, und holte sozusagen ihr Paket von der Gepäckaufbewahrung ab. Manchmal wurde ich ein paar Tage, manchmal ein paar Wochen oder gar Monate nicht abgeholt. Ich wußte vorher nie, was auf mich zukam, und ich fürchte, meinen Gastgeberinnen ging es nicht anders. Meistens bezahlte sie wohl etwas für meine Betreuung, aber das wurde alles unter Gekicher abgewickelt.

Sie war sogar in meinen Augen bildhübsch, so daß jeder sie gern in die Arme schloß und ihr alles durchgehen ließ; die Leute blühten in ihrer Gegenwart auf. Erst hinterher, wenn sie buchstäblich mit dem Baby im Arm zurückblieben, meldeten sich Zweifel. Ich wurde ein verschrecktes, stilles Kind, schlich ständig nervös auf Zehenspitzen herum, um niemandem zur Last zu fallen, stets voller Furcht, man könnte mich eines Tages auf der Straße aussetzen.

Rückblickend wurde mir klar, daß ich Samantha, Deborah, Chloe und den anderen eine Menge zu verdanken hatte. Ich mußte nie hungern, wurde nie schlecht behandelt und letztendlich nie total abgelehnt. Gelegentlich nahm jemand mich zwei- oder dreimal auf, manchmal erfreut, meistens resigniert. Als ich drei oder vier war, brachte mir jemand mit langen Haaren und Armreifen und folkloristischer Kleidung Lesen und Schreiben bei. Aber ich war nie so lange an einem Ort, daß ich richtig zur Schule gehen konnte. Aus diesem außergewöhnlichen, orientierungslosen und entwurzelten Leben kam ich mit zwölf Jahren heraus. Damals wurde ich in mein erstes dauerhaftes Zuhause verfrachtet, fähig zu fast jeder Arbeit, die im Haushalt anfiel, aber unfähig zu lieben.

Sie gab mich bei zwei Fotografen ab, Duncan und Charlie, in deren großem Atelier mit dem nackten Fußboden, der Dunkelkammer, einem Badezimmer, einem Gaskocher und einem Bett hinterm Vorhang.

»Ihr Lieben, paßt doch bitte bis Samstag auf ihn auf, wirklich [17] riesig nett von euch…« Und obwohl in den nächsten drei Jahren Geburtstagskarten und Weihnachtsgeschenke ankamen, sah ich sie in der Zeit nicht wieder. Als Duncan dann auszog, rauschte sie eines Tages herein, holte mich von Charlie weg und brachte mich nach Hampshire zu einem Rennpferdtrainer und seiner Frau. Sie beteuerte ihren überrumpelten Freunden: »Nur bis Samstag, meine Lieben, und er ist fünfzehn und stark, er kann für euch die Ställe ausmisten und all so was…«

Zwei Jahre lang kamen Karten und Geschenke, immer ohne Absender. Zu meinem achtzehnten Geburtstag kam keine Karte, und Weihnachten danach kam kein Geschenk. Seither hatte ich nie wieder von ihr gehört.

Später kam ich zu dem Schluß, daß sie an Drogen gestorben sein mußte. Als ich älter wurde, konnte ich mir einiges zusammenreimen.

Die alte Frau starrte durchs Zimmer, so unversöhnlich und auf Zerstörung aus wie eh und je und immer noch wütend wegen meiner Worte.

»Du kommst bei mir nicht weit, wenn du so daherredest«, sagte sie.

»Ich will gar nicht weit kommen.« Ich stand auf. »Dieser Besuch bringt nichts. Wenn dir daran gelegen war, deine Tochter wiederzufinden, dann hättest du vor zwanzig Jahren suchen müssen. Und was mich betrifft… Ich würde sie nicht für dich ausfindig machen, selbst wenn ich es könnte.«

»Ich will nicht, daß du Caroline suchst. Ich glaube, du hast recht, sie ist tot.« Diese Vorstellung bereitete ihr ersichtlich keinen Kummer. »Ich möchte, daß du deine Schwester suchst.«

»Meine… was?«

Die feindseligen dunklen Augen taxierten mich listig. »Du hast nicht gewußt, daß du eine Schwester hast? Aber du hast eine. Ich vermache dir hunderttausend Pfund in meinem Testament, wenn du sie findest und zu mir bringst. Und glaub ja nicht, daß [18] du mir irgendeine kleine Schwindlerin präsentieren kannst, auf die ich dann hereinfalle«, fuhr sie bissig fort, bevor ich zu Wort kam. »Ich bin zwar alt, aber kein bißchen verkalkt. Du müßtest Mr. Folk eindeutig beweisen, daß das Mädchen meine Enkelin ist. Und Mr. Folk wird nicht leicht zu überzeugen sein.«

Ich hörte die scharfen Worte kaum, sondern spürte nur einen seltsam heftigen Schock. Ich war der einzige gewesen. Die einzige Frucht des Schmetterlings. Ich spürte eine unangebrachte, brennende Eifersucht, weil es eine zweite gab. Sie hatte mir allein gehört, und jetzt mußte ich sie teilen, mußte ihr Andenken revidieren und teilen. Ich dachte verwirrt, daß es lächerlich war, sich mit dreißig zurückgesetzt zu fühlen wie ein Zweijähriger.

»Also?« sagte meine Großmutter scharf.

»Nein«, sagte ich.

»Es ist eine Menge Geld«, fuhr sie mich an.

»Wenn man’s hat.«

Sie war wieder empört. »Du bist unverschämt!«

»Klar doch. Wenn das dann alles ist, geh ich mal lieber wieder.« Ich drehte mich um und ging zur Tür.

»Warte«, sagte sie hastig. »Willst du nicht wenigstens ein Bild von ihr sehen? Da drüben auf der Kommode liegt ein Foto von deiner Schwester.«

Ich blickte über die Schulter zurück und sah, wie sie Richtung Kommode nickte. Sie mußte das Zögern meiner Hand auf der Türklinke bemerkt haben, denn sie sagte zuversichtlicher: »Schau sie dir mal an. Wirf mal einen Blick auf sie.«

Ohne recht zu wollen, aber getrieben von nicht zu leugnender Neugier, trat ich zur Kommode hinüber. Dort lag ein Foto, ein ganz normaler Schnappschuß fürs Familienalbum in Postkartengröße. Ich nahm es auf und hielt es ins Licht.

Ein kleines Mädchen, drei oder vier Jahre alt, auf einem Pony.

Das Kind hatte schulterlanges braunes Haar und trug ein rotweiß gestreiftes T-Shirt und Jeans. Sie saß auf einem [19] unscheinbaren grauen Welsh-Pony mit gepflegtem Sattel und Zaumzeug. Das Foto war offenbar auf einem Reiterhof aufgenommen, beide sahen zufrieden und wohlgenährt aus, aber der Fotograf hatte zu weit weg gestanden, um das Gesicht des Kindes deutlich herauszuholen. Eine Vergrößerung könnte da etwas weiterhelfen.

Ich drehte das Foto um, aber auf der Rückseite stand kein Hinweis darauf, wo es herkam oder wer es aufgenommen hatte.

Etwas enttäuscht legte ich es wieder auf die Kommode zurück. Dabei fiel mein Blick auf einen Briefumschlag, der in der Handschrift meiner Mutter beschriftet war, und ich verspürte einen Stich von Wehmut. Er war an meine Großmutter, Mrs. Lavinia Nore, in dem alten Haus in Northamptonshire adressiert, wo ich einst in der Halle hatte warten müssen.

Im Umschlag ein Brief.

»Was machst du da?« sagte meine Großmutter aufgeregt.

»Lese einen Brief von meiner Mutter.«

»Aber ich… Der Brief sollte nicht da liegen. Leg ihn sofort zurück. Ich dachte, er liegt in der Schublade.«

Ich ignorierte sie. Die schwungvolle, extravagante, extrovertierte Schrift sprang mir so lebendig vom Papier ins Auge, als wäre meine Mutter hier im Raum gewesen mit ihrer Überschwenglichkeit und ihrem halben Lachen, wie immer um Hilfe bittend.

Dieser an irgendeinem zweiten Oktober geschriebene Brief war kein Scherz.

Liebe Mutter,

Ich weiß, daß ich gesagt habe, daß ich Dich nie wieder um irgend etwas bitten würde, aber ich versuche es noch einmal, weil ich – dumm wie ich bin – immer noch hoffe, daß Du Deine Meinung eines Tages doch noch änderst. Ich schicke Dir ein Foto von meiner Tochter Amanda, Deiner Enkelin. Sie ist richtig [20] niedlich und lieb und jetzt schon drei, und sie braucht ein ordentliches Zuhause und muß zur Schule gehen und alles, und ich weiß, daß Du kein Kind um Dich haben willst, aber wenn Du einen Beitrag leisten oder vielleicht sogar eine Unterhaltsverpflichtung unterschreiben würdest, könnte sie bei wirklich himmlischen Leuten unterkommen, die sie lieben und bei sich behalten möchten, sich aber kein weiteres Kind leisten können, weil sie selber schon drei haben. Wenn Du regelmäßig was auf ihr Konto überweisen würdest, würdest Du das nicht weiter merken, und es würde bedeuten, daß Deine Enkelin in einem glücklichen Heim aufwachsen kann, und ich wünsche ihr das so verzweifelt, daß ich jetzt an Dich schreibe.

Sie hat nicht den gleichen Vater wie Philip, Du kannst sie also nicht aus den gleichen Gründen hassen, und wenn Du sie sehen würdest, würdest Du sie lieben, aber auch wenn Du sie nicht sehen willst, bitte, Mutter, kümmere Dich um sie. Ich hoffe, bald etwas von Dir zu hören. Bitte, bitte, Mutter, antworte auf diesen Brief.

Deine Tochter Caroline

(z. Zt. in Pine Woods Lodge,

Mindle Bridge, Sussex)

Ich hob den Blick und sah zu der harten alten Frau hinüber.

»Wann hat sie das geschrieben?«

»Vor Jahren.«

»Und du hast nicht geantwortet«, sagte ich rundheraus.

»Nein.«

Es hatte wenig Sinn, sich über so eine alte Tragödie aufzuregen. Ich sah auf den Umschlag und versuchte, das Datum auf dem Poststempel zu entziffern, aber es war verschmiert und unleserlich. Wie lange sie wohl in Pine Woods Lodge gewartet hatte, hoffend und bangend und verzweifelt? Verzweiflung war allerdings, was meine Mutter anging, immer ein relativer Begriff. [21] Verzweiflung war ein Lachen und eine ausgestreckte Hand – und der Herrgott (oder Deborah oder Samantha oder Chloe) würden helfen. Verzweiflung war nichts Schreckliches und Auswegloses, aber sie mußte ganz schön tief gewesen sein, wenn sie ihre eigene Mutter um Hilfe bat.

Ich steckte den Brief, den Umschlag und das Foto in meine Jackentasche. Ich fand es widerwärtig, daß die alte Frau das alles aufgehoben hatte, obwohl sie die Bitte nicht erhört hatte, und ich hatte das dunkle Gefühl, daß die Sachen mir gehörten und nicht ihr.

»Du bist also bereit, es zu tun«, sagte sie.

»Nein.«

»Aber du nimmst das Foto mit.«

»Ja.«

»Na also.«

»Wenn du willst, daß… Amanda… gefunden wird, solltest du einen Privatdetektiv engagieren.«

»Habe ich schon«, sagte sie ungeduldig. »Selbstverständlich. Drei Detektive. Waren allesamt nutzlos.«

»Wenn die drei versagt haben, ist sie nicht auffindbar«, sagte ich. »Wie soll ich sie dann finden?«

»Der Anreiz ist größer«, sagte sie triumphierend. »Du wirst dich gehörig ins Zeug legen, für soviel Geld.«

»Du irrst dich.« Ich starrte sie quer durchs Zimmer verbittert an, und sie starrte ohne ein Lächeln von ihrem mit Kissen beladenen Bett zurück. »Wenn ich nur einen Pfennig von deinem Geld annähme, käme mir das kalte Kotzen.«

Ich ging zur Tür und öffnete sie diesmal ohne zu zögern.

Sie sagte zu meinem entschwindenden Rücken: »Amanda wird mein Geld bekommen, wenn du sie findest.«

[22] 2

Als ich am nächsten Tag nach Sandown Park zurückkehrte, hatte ich den Brief und das Foto immer noch in der Tasche, aber die Gefühlswallungen, die sie verursacht hatten, waren abgeebbt. Ich konnte ohne kindische Wut an meine Halbschwester denken, und ein weiteres Bruchstück hatte sich in meine Vergangenheit eingefügt.

Aber im Moment beanspruchte die Gegenwart, in Gestalt von Steve Millace, jedermanns Aufmerksamkeit. Er kam eine halbe Stunde vor dem ersten Rennen in die Jockey-Stube gefegt, das Haar feucht vom Nieselregen und heiligen Zorn in den Augen.

Während alle bei der Beerdigung seines Vaters waren, sei in das Haus seiner Mutter eingebrochen worden, sagte er.

Wir saßen aufgereiht auf den Bänken, halb umgezogen, und hörten ihm entgeistert zu. Ich sah mir die Szene an – Jockeys in allen Stadien der Entkleidung, in Unterhosen, mit nacktem Oberkörper, im Hemd und beim Anziehen der enganliegenden Reithosen und Stiefel, und alle waren schlagartig verstummt und lauschten mit offenen Mündern, die Augen auf Steve gerichtet.

Fast automatisch griff ich nach meiner Nikon, wählte die richtige Einstellung und machte ein paar Aufnahmen, und was ich tat, war allen so vertraut, daß niemand es groß beachtete.

»Es war schrecklich«, sagte Steve, »absolut widerlich. Sie hatte ein paar Kuchen und so was gebacken, meine Mutter, für die Tanten und so, für später, nach der Einäscherung, und die waren überall verteilt, plattgequetscht, Marmelade und so was an die Wände geschmiert und in den Teppich getreten. Und wo man hinsah, die gleiche Sauerei, in der Küche… im Bad… Es hat [23] ausgesehen, als wäre eine Horde verrückter Kinder durchs Haus getobt und hätte es mit aller Kraft verwüstet. Aber es waren keine Kinder… Kinder hätten nicht gestohlen, was alles gestohlen wurde, sagt die Polizei.«

»Deine Mutter hat wohl ’n Haufen Schmuck?« witzelte jemand.

Der eine oder andere lachte, die erste Anspannung hatte sich gelöst, aber alle empfanden echtes Mitleid mit Steve, und er redete weiter davon, erzählte es jedem, der es hören wollte. Und ich hörte zu, nicht nur weil sein Kleiderhaken in Sandown direkt neben meinem war, so daß mir kaum etwas anderes übrig blieb, sondern weil wir uns auf eine alltägliche, oberflächliche Art gut verstanden.

»Sie haben Vaters Dunkelkammer ausgeräumt«, sagte er. »Einfach alles rausgerissen. Und es war sinnlos… ich hab’s der Polizei erzählt… weil sie nicht nur Sachen mitgenommen haben, die man verkaufen kann, wie Vergrößerungsapparat und Entwickler und das Zeug, sondern sein ganzes Werk, die ganzen Bilder, die er in all den Jahren gemacht hat, alle weg. Es ist zum Heulen. Meine Mutter mitten in dem Chaos, und mein Vater tot, und jetzt bleibt ihr nicht mal mehr das, womit er sich sein Leben lang beschäftigt hat. Einfach nichts. Und sie haben ihre Pelzjacke mitgenommen und sogar das Parfüm, das er ihr zum Geburtstag geschenkt hat und das sie noch gar nicht aufgemacht hatte, und da sitzt sie jetzt und heult…«

Er hielt plötzlich inne und schluckte, als wäre alles zuviel für ihn. Obwohl er nicht mehr zu Hause lebte, war er mit seinen dreiundzwanzig Jahren noch ganz das Kind seiner Eltern und hielt, so schwierig das manchmal war, stets zu ihnen, was die meisten Leute bewunderten. George Millace war zwar allgemein unbeliebt gewesen, aber sein Sohn hatte nie etwas auf ihn kommen lassen.

Steve war schmal gebaut, hatte leuchtende dunkle Augen und [24] gab mit seinen abstehenden Ohren eine leicht komische Figur ab, war von seiner Veranlagung her aber eher verbissen als humorvoll, und neigte dazu, zwanghaft auf allem herumzureiten, was ihn aufregte, selbst wenn er nicht soviel Grund dazu hatte wie heute.

»Die Polizei sagt, Einbrecher machen das aus purer Boshaftigkeit«, sagte Steve, »…den Leuten die Häuser versauen und ihre Fotos stehlen. Sie haben Mutter gesagt, das käme ständig vor. Sie meinen, wir könnten froh sein, daß nicht alles vollgepißt und vollgeschissen sei, das passierte nämlich oft, und sie hätte Glück gehabt, daß sie die Sessel und Sofas nicht aufgeschlitzt hätten und die ganzen Möbel verkratzt.« Jedem Neuankömmling berichtete er zwanghaft, was passiert war, aber ich kleidete mich fertig um und ging hinaus zum ersten Rennen, und für den Rest des Nachmittags vergaß ich den Millace-Einbruch mehr oder weniger.

Auf den heutigen Tag freute ich mich seit fast einem Monat, obwohl ich mich dagegen gewehrt hatte. Heute lief Daylight im Sandown Handicap-Hindernisrennen. Ein großes Rennen, ein gutes Pferd, mäßige Gegner und große Gewinnchancen. Mit einer solchen Konstellation hatte ich es äußerst selten zu tun und wußte sie daher zu schätzen, aber ich wagte nie richtig daran zu glauben, bis ich nicht wirklich auf dem Weg zum Zielpfosten war. Man hatte mir mitgeteilt, daß Daylight gesund und munter auf der Rennbahn eingetroffen war, und ich mußte nur noch das erste Rennen, ein Hindernisrennen für Pferde, die gerade erst eingesprungen worden waren, überstehen, und könnte dann, vielleicht, das große Handicap-Hindernisrennen gewinnen, worauf ein halbes Dutzend Leute sich gegenseitig über den Haufen rennen würde, um mir den Favoriten für den Gold Cup anzubieten.

Ich ritt im Durchschnitt zwei Rennen pro Tag, und wenn ich am Ende der Saison unter den ersten Zwanzig auf der [25] Jockey-Rangliste stand, war ich glücklich. Jahrelang war es mir gelungen, mir selbst weiszumachen, daß mein mäßiger Erfolg darauf zurückzuführen war, daß ich größer und schwerer war, als es für meinen Job günstig ist. Obwohl ich ständig halb am Verhungern war, wog ich unbekleidet fünfundsechzigeinhalb Kilo und kam folglich nicht an die unzähligen Pferde heran, die mit fünfundsechzig Kilo oder weniger ins Rennen gingen. Fast in jeder Saison ritt ich ungefähr zweihundert Rennen mit etwa vierzig Siegen, und ich wußte, daß ich allgemein als ›stark‹, ›zuverlässig‹, ›gut am Hindernis‹ und ›nicht erstklassig bei einem langen Finish‹ galt.

In jungen Jahren glauben die meisten Leute, daß sie in ihrer selbstgewählten Welt einmal ganz an die Spitze gelangen werden, und daß der Aufstieg nur eine Formalität ist. Ohne diesen Glauben würde man wohl gar nicht erst anfangen. Irgendwo auf der Strecke hebt man dann den Blick zum Gipfel und sieht ein, daß man ihn nie erreichen wird; und Glück bedeutet dann, hinunterzuschauen und die Aussicht zu genießen, die man hat, und nicht die herbeizuwünschen, die man nicht hat. So etwa mit sechsundzwanzig hatte ich mich mit der Aussicht zufriedengegeben, die ich gewonnen hatte, hatte akzeptiert, daß ich nicht weiterkommen würde, und seltsamerweise hatte mich diese Erkenntnis ganz und gar nicht bedrückt, sondern vielmehr erleichtert. Ich war nie extrem ehrgeizig, aber immer bestrebt, mein Bestes zu leisten. Und besser ging es dann eben nicht. Es ging nicht, und damit basta. Trotzdem hätte ich sozusagen nicht direkt was dagegen, wenn man mir Gold Cup-Gewinner aufdrängte.

An diesem Nachmittag in Sandown brachte ich das Hürdenrennen der Frischlinge ereignislos hinter mich (›brauchbar, aber ohne Feuer‹) und lief als Fünfter von achtzehn ein. Nicht übel. Eben das Beste, was ich und das Pferd an diesem Tag leisten konnten, wie üblich.

Ich legte die Farben von Daylight an und ging zu gegebener [26] Zeit hinaus in den Führring, ganz erfüllt von der Vorfreude auf das bevorstehende Rennen. Daylights Trainer, für den ich regelmäßig ritt, erwartete mich dort, desgleichen sein Besitzer.

Daylights Besitzer tat mein freundliches »Wunderbar, daß es nicht mehr nieselt« mit einer Handbewegung ab und sagte ohne Einleitung: »Sie werden heute verlieren, Philip.«

Ich lächelte. »Nicht, wenn ich es verhindern kann.«

»Sie werden es verhindern«, sagte er scharf. »Sie verlieren. Mein Geld läuft auf der andern Schiene.«

Vermutlich sah man mir meine Bestürzung und meine Wut deutlich an. Ich hatte so was früher schon gemacht, aber das war etwa drei Jahre her, und er wußte, daß es mir nicht paßte.

Victor Briggs, der Besitzer von Daylight, war ein stämmig gebauter Mann in den Vierzigern, über dessen Job und Herkunft ich so gut wie nichts wußte. Ungesellig und verschlossen, tauchte er mit abweisendem, finsterem Gesicht bei den Rennen auf und wechselte kaum ein Wort mit mir. Er trug stets einen schweren marineblauen Mantel, einen schwarzen breitkrempigen Hut und dicke schwarze Lederhandschuhe. Er war früher ein aggressiver Wetter gewesen, und als sein Reiter war mir nichts anderes übrig geblieben, als zu tun, was er wollte, sonst hätte ich meinen Job bei dem Rennstall verloren. Harold Osborne, der Trainer, hatte mir schon bald, nachdem ich bei ihm angefangen hatte, offen gesagt, daß ich weg vom Fenster war, wenn ich nicht tat, was Victor Briggs wollte.

Ich hatte Rennen für Victor Briggs verloren, die ich hätte gewinnen können. So lief das nun mal. Ich mußte essen und die Hypothek auf meinem Haus abbezahlen. Deshalb brauchte ich einen guten, großen Rennstall, für den ich reiten konnte, und wenn ich den einen, bei dem man mir eine Chance gegeben hatte, verlassen hätte, hätte ich vielleicht keinen anderen gefunden. So groß war die Auswahl auch wieder nicht, und einmal abgesehen von Victor Briggs waren die Bedingungen bei Osborne ganz in [27] Ordnung. Also hatte ich, wie viele andere Reiter, die in der gleichen Klemme steckten, getan, was man mir befahl, und den Mund gehalten.

Ganz zu Anfang hatte Victor Briggs mir ein ordentliches Sümmchen geboten fürs Verlieren. Ich hatte es nicht angenommen. Ich würde verlieren, wenn ich mußte, aber kassieren würde ich dafür nicht. Er sagte, ich sei ein aufgeblasener junger Idiot, aber als ich sein Angebot zum zweiten Mal ausgeschlagen hatte, behielt er seine Mäuse und seine Meinung über mich für sich.

»Warum nehmen Sie’s nicht an?« hatte Harold Osborne gesagt. »Immerhin verlieren Sie die zehn Prozent, die Sie für einen Sieg bekämen. Mr. Briggs entschädigt Sie dafür, mehr nicht.«

Ich hatte den Kopf geschüttelt, und er hatte nicht insistiert. Ich dachte, daß ich vielleicht wirklich ein Idiot war. Aber irgendwann hatte wohl Samantha oder Chloe oder wer auch immer mir die unwillkommene, unbequeme Einstellung vermittelt, daß man für seine Sünden büßen mußte. Drei Jahre lang oder mehr war ich nicht mehr in der prekären Lage gewesen; um so ärgerlicher war es, jetzt wieder damit konfrontiert zu sein.

»Ich kann nicht verlieren«, protestierte ich. »Daylight ist eindeutig der beste von allen. Mit Abstand. Das wissen Sie ganz genau.«

»Trotzdem tun Sie’s«, sagte Victor Briggs. »Und reden Sie nicht so laut, oder wollen Sie, daß die Stewards Sie hören?«

Ich sah zu Harold Osborne hinüber. Er beobachtete angelegentlich die Pferde, die im Ring herumtrotteten, und tat so, als hörte er nicht, was Victor Briggs sagte.

»Harold«, sagte ich.

Er warf mir einen kurzen, emotionslosen Blick zu. »Victor hat recht. Das Geld läuft auf der anderen Schiene. Du wirst uns ’ne ganze Stange kosten, wenn du gewinnst, also tu’s nicht.«

»Uns?«

Er nickte. »Uns. Genau das. Fall runter, wenn’s sein muß. [28] Mach den zweiten, wenn du willst. Aber nicht den ersten. Kapiert?«

Ich nickte. Ich kapierte. Wieder in der alten Klemme, nach drei Jahren.

Ich ritt Daylight in lockerem Galopp zum Start, und wie früher siegte der Realismus über die Auflehnung. Wenn ich es mir mit dreiundzwanzig nicht leisten konnte, den Job zu verlieren, konnte ich es mit dreißig erst recht nicht. Ich war als Osbornes Jockey bekannt. Sieben Jahre war ich jetzt bei ihm. Wenn er mich rausschmiß, bekäme ich bei anderen Reitställen nur noch Kleinkram, wäre zweite Garnitur neben anderen Jockeys, auf der Einbahnstraße in Richtung Vergessen. Er würde der Presse nicht erzählen, daß er mich gefeuert hatte, weil ich nicht mehr auf Anweisung verlieren wollte. Er würde ihnen erzählen (mit Bedauern natürlich), daß er sich nach jemand Jüngerem umsähe… tun müsse, was im Sinne seiner Besitzer war… schrecklich traurig, aber einmal sei jede Jockey-Karriere zu Ende… natürlich tue es ihm leid und so weiter, aber die Zeit bleibe nicht stehen, das wisse doch jeder.

Verdammt noch mal, dachte ich. Ich wollte dieses Rennen nicht verlieren. Ich haßte Betrug… und mit den zehn Prozent würde ich diesmal eine ordentliche Summe verlieren, was meine Wut noch schürte. Warum zum Teufel zog Briggs nach so langer Zeit wieder diese Masche ab? Ich hatte gedacht, er hätte damit Schluß gemacht, weil ich es als Jockey bei ihm schon so weit gebracht hatte, daß er mit meiner Weigerung rechnen mußte. Ein Jockey, der auf der Gewinnerliste so weit oben stand, war gegen derartigen Druck gefeit, weil er jederzeit bei einem anderen Rennstall unterkommen konnte, wenn sein eigener so dumm war, ihn zu feuern. Vielleicht dachte Briggs, ich sei über dieses Stadium hinaus, weil ich jetzt älter war und damit wieder in der Gefahrenzone – und er hatte recht.

Wir gingen im Kreis, während der Starter die Namen aufrief, [29] und ich sah mir beunruhigt die andern vier Pferde an, die gegen Daylight antraten. Es war nicht ein gutes darunter. Wenn alles mit rechten Dingen zuging, konnte nichts meinen kraftvollen Wallach am Sieg hindern; und genau aus diesem Grund setzten die Leute jetzt vier Pfund auf Daylight.

Vier zu eins, die Wette läuft…

Weit davon entfernt, sein eigenes Geld bei dieser Quote aufs Spiel zu setzen, hatte Victor Briggs auf irgendwelchen zwielichtigen Wegen Wetten von anderen Leuten angenommen, die er auszuzahlen hatte, wenn sein Pferd gewann. Und Harold offenbar auch, und ihm gegenüber hatte ich gewisse Verpflichtungen, egal, wie mir zumute war.

Nach sieben Jahren beruflicher Zusammenarbeit, die enger war als zwischen Jockey und Trainer üblich, brachte ich ihm zwar keine warme, persönliche Zuneigung, aber doch freundschaftliche Gefühle entgegen. Er konnte entsetzlich wütend und überaus charmant sein, tief deprimiert und ausgelassen heiter, tyrannisch und großzügig. Mit seiner Stimme überschrie und überfluchte er jeden in den Berkshire Downs, und zartbesaitete Stallburschen verließen reihenweise seinen Stall. Als ich das allererste Mal für ihn ritt, posaunte er seine vernichtende Meinung über meine Reitkünste so lautstark heraus, daß man es von Wantage bis Swindon hören konnte, und kurz darauf öffnete er dann in seinem Haus um zehn Uhr morgens eine Flasche Champagner, und wir tranken auf unsere zukünftige Zusammenarbeit.

Er hatte mir jederzeit vollständig vertraut und mich gegen Kritik verteidigt, was manch ein Trainer nicht getan hätte. Jeder Jockey hat Pechsträhnen, hatte er gepoltert, und mich ohne Unterbrechung durch meine Tiefs hindurch beschäftigt. Für ihn stand außer Frage, daß ich mich ihm und seinem Rennstall hundertprozentig verpflichtet fühlte, und in den letzten drei Jahren war das leicht gewesen.

[30] Der Starter rief die Pferde an die Startlinie, und ich lenkte Daylight herum, bis seine Nase in die richtige Richtung zeigte.

Keine Startboxen. Sie waren bei Hindernisrennen nicht üblich. Statt dessen gab es elastische Startbänder.

Voll kalter wütender Trauer überlegte ich mir, daß das Rennen aus Daylights Sicht möglichst bald nach dem Start zu Ende sein mußte. Tausend Ferngläser waren auf uns gerichtet, Fernsehaugen und Kontrollkameras und sachkundige Reporter beobachteten mich genauestens. Unter diesen Bedingungen war es ohnehin schwer genug zu verlieren, und es war praktisch selbstmörderisch, wenn ich es hinauszögerte, bis klar war, daß Daylight gewinnen würde. Wenn ich in der letzten halben Minute ohne ersichtlichen Grund runterfiel, gäbe es eine Untersuchung, und ich konnte meine Lizenz verlieren; und es wäre kein Trost zu wissen, daß ich es verdient hatte.

Der Starter legte die Hand an den Hebel, die Startbänder schnellten hoch, und ich trieb Daylight an. Keiner von den anderen Jockeys wollte die Pace machen, und folglich schlugen wir eine gemäßigte Gangart ein, was meine Sorgen erhöhte. Da Daylight alle Zeit der Welt hatte, würde er an keinem einzigen Hindernis stolpern. Er war schon immer ein eleganter Springer und stürzte so gut wie nie. Manche Pferde konnten beim Anreiten eines Hindernisses nie in die richtige Position gebracht werden, Daylight war in keine falsche zu bringen. Er akzeptierte nur ganz minimale Anweisungen von seinem Jockey, den Rest erledigte er selbst. Ich hatte ihn schon oft geritten. Hatte sechs Rennen auf ihm gewonnen. Kannte ihn gut.

Das Pferd betrügen. Die Zuschauer betrügen.

Betrügen.

Verdammt noch mal, dachte ich. Verdammt, verdammt, verdammt.

Ich machte es am dritten Hindernis. Dort ging es von der Hügelkuppe abwärts in die scharfe Kurve, weg von den [31] Tribünen. Im Hinblick auf die Glaubwürdigkeit war es die bestmögliche Stelle, weil sie von den Zuschauermassen am schlechtesten zu übersehen war und man sich dem Hindernis über ein starkes Gefälle näherte – einem Hindernis, das jedes Jahr seine Opfer forderte.

Daylight war verwirrt, weil er die falschen Hilfen von mir bekam, vielleicht auch, weil er auf telepathischem Wege, wie Pferde das an sich haben, etwas von meinem inneren Aufruhr und meiner Wut spürte, und kam leicht aus dem Schritt, bevor er abdrückte, machte einen kleinen ruckartigen Schritt zuviel.

Mein Gott, Junge, dachte ich, tut mir schrecklich leid, aber jetzt gehst du runter, wenn ich dich dazu bringen kann. Ich trieb ihn im falschen Moment an, zerrte mitten im Sprung hart an seiner Gebißstange und verlagerte mein Gewicht nach vorn auf seine Schultern.

Er kam ungünstig auf und stolperte leicht, senkte den Kopf, um das Gleichgewicht wiederzuerlangen. Es war nicht hundertprozentig gelungen… aber es mußte reichen. Ich schwang den rechten Fuß aus dem Steigbügel und über seinen Rücken, so daß ich nur noch auf der linken Seite hing, aus dem Sattel, an seinen Hals geklammert.

Es ist so gut wie unmöglich, in dieser Position oben zu bleiben. Ich hing noch etwa drei bockende Schritte an ihm, rutschte dann an seiner Brust hinunter, ließ endgültig los und knallte ins Gras zwischen seinen Beinen. Ein Hagel von Hufschlägen, ein, zwei Purzelbäume, und weg war der Lärm und das Getrappel der galoppierenden Pferde.

Ich saß auf dem ruhigen Boden, schnallte meinen Helm ab und fühlte mich hundsmiserabel.

»Pech«, sagten sie kurz und bündig im Waageraum. »Verdammtes Pech«, und weiter ging’s im Tagesablauf. Ich fragte mich, ob jemand was ahnte. Vermutlich nicht. Niemand stieß mich an [32] oder zwinkerte mir zu oder grinste süffisant. Daß ich die Augen fast ständig gesenkt hielt, lag daran, daß ich mich selbst so schämte.

»Kopf hoch«, sagte Steve Millace, während er seine orangeblaue Bluse zuknöpfte. »Ist doch kein Weltuntergang.« Er griff nach seiner Peitsche und seinem Helm. »Das nächste Mal läuft’s besser.«

»Klar.«

Er ging zu seinem Rennen, und ich stieg düster in meine Straßenkleidung. Das war’s dann also, dachte ich: aus und vorbei mit der Aufregung, in der ich hergekommen war. Aus und vorbei mit dem Sieg und dem halben Dutzend fiktiver Trainer, die sich gegenseitig über den Haufen rannten, um mich für den Gold Cup zu verpflichten. Aus und vorbei mit der hübschen Aufbesserung meiner Finanzen, die etwas im argen lagen, nachdem ich mir ein neues Auto gekauft hatte. Depression auf allen Ebenen.