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Ingrid Noll

Ehrenwort

Roman

 
 
 

 

 

 

 

 

 

 

 

Die Erstausgabe

erschien 2010 im Diogenes Verlag

Umschlagillustration:

Georges de la Tour, ›La diseuse

de bonne aventure‹, 1633/39

(Ausschnitt)

 

Für meine Schwester Ute
1939–2010

 

Alle Rechte vorbehalten

Copyright © 2012

Diogenes Verlag AG Zürich

www.diogenes.ch

ISBN Buchausgabe 978 3 257 24095 5 (1. Auflage)

ISBN E-Book 978 3 257 60031 5

Die grauen Zahlen im Text entsprechen den Seitenzahlen der im Impressum genannten Buchausgabe.

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Autorenbiographie

Mehr Informationen

[5] 1

»Kopf oder Schwanz?«, fragte die Großmutter immer, wenn sie den Vanillepudding aus der Form gestürzt hatte und anschließend verteilte. Da Mizzi mit der Antwort schneller war als ihr kleiner Bruder, landete der Schwanz bei Max. Mit kindlicher Grausamkeit malte ihm seine Schwester aus, was da alles auf seinem Teller lag. Daraufhin verekelte Max ihr den Kopf: Im Maul steckte bestimmt ein Wurm, und erst die glotzenden Fischaugen! Die Eltern und die beiden Alten machten sich ungerührt über den Bauch her.

Nachdem die Großmutter gestorben war, wurde die Fischform nicht mehr gebraucht, doch sie hing immer noch in der Küche. Mittlerweile wusste Max auch, was sich dahinter verbarg: der Schlüssel für den kleinen Tresor, der in den Tiefen des Küchenbuffets angeschraubt war. Noch heute, viele Jahre später, erinnerte sich Max bei jedem Besuch an Großmutters leckeren Vanillepudding und daran, wie es nach Zimt, Äpfeln und Zitrone duftete. Heute roch es leider anders, der Witwer lüftete kaum und rauchte ständig.

[6] Seit Max einen Führerschein besaß, war er für seinen Opa zuständig, tauschte Glühbirnen aus, mähte Rasen oder brachte einen Luftpostbrief zur Post. Auch die an Altersschwäche gestorbene Katze hatte er beerdigt. Mit der Zeit kamen weitere Aufgaben hinzu. Nach vollbrachter Tat nickte der Alte immer wohlwollend, angelte den Schlüssel aus der Fischform, öffnete sein Schatzkästchen und zog einen einzelnen Geldschein aus dem dicken Stoß heraus. Er ging nur selten zur Bank und hob dann stets eine größere Summe ab.

Meistens hatte sein Großvater einen lateinischen Spruch auf den Lippen, dessen Bedeutung Max mit der Zeit erfasste. Nicht zuletzt pecunia non olet: Auch Max fand, dass Geld nicht stank.

Max wartete immer hoffnungsvoll auf dem grünen Küchensofa, das dort stand, seit er denken konnte. Seine Großmutter hatte es jahrelang mit einer Katze geteilt, die am weichen Mohairstoff ihre Krallen schärfte, wovon er mit der Zeit wie Kunstrasen aussah. In seiner Kindheit war ein Besuch bei den Großeltern stets ein Abenteuer gewesen, inzwischen war es eher eine Pflicht oder, besser gesagt, ein lukrativer Job.

Schon immer wollte der Großvater seinem Enkel gefallen und redete mit ihm in beinahe [7] vertraulichem Ton, auch wenn seine Sprache längst aus der Mode gekommen war.

»Junge, ob du es glaubst oder nicht, ich war mal ein toller Hecht – so wie du –, und deine Großmutter eine kesse Biene!«

Max kannte das vergilbte Foto von Hecht und Biene. Willy in Uniform, Ilse im Dirndlkleid. Er streng und kantig, sie verträumt und hausbacken, alle beide dünn und hochgewachsen.

Meistens steckte ihm sein Opa 100 Euro fürs Benzin und für Zigaretten zu, weil sie unter Männern waren. Mit neunzehn hatte Max sich das Rauchen zwar weitgehend abgewöhnt, doch das brauchte sein Großvater nicht unbedingt zu wissen.

Eines Tages flog es beinahe auf: »Max, deine Mutter hat gesagt, du rauchst schon seit einem Jahr nicht mehr!«

Max wurde rot und stotterte: »Mütter wissen auch nicht alles…«

Der Alte grinste zwar verständnisvoll, rückte aber keinen einzigen Schein heraus. Und das ausgerechnet an jenem Tag, als Max ihm zum ersten Mal – mühselig und mehr schlecht als recht – die gelblich verfärbten, steinharten Zehennägel abgeknipst hatte.

Es kann verhängnisvoll sein, wenn man eine [8] gewisse Summe fest eingeplant hat, weil man sie einem gnadenlosen Typen pünktlich abliefern muss. Nachdem Max recht verzweifelt das großväterliche Haus verlassen hatte, kehrte er noch einmal um. Schließlich wusste er, wo »Barthel den Most holt«.

Einen Hausschlüssel besaß Max schon seit zwei Jahren. Der Opa hörte fast nie, wenn sein Enkel hereinkam, und falls doch, konnte er sich immer noch herausreden. Im Wohnzimmer lief der Fernseher, wie gewöhnlich unerträglich laut. Max angelte sich den Schlüssel aus der Puddingform, schloss den Tresor auf und bediente sich.

Einen Monat später erzählte ihm seine Mutter mit besorgter Miene, dass Opa seine Frau Künzle entlassen habe. Max wunderte sich nicht weiter darüber: In letzter Zeit sah es beim Großvater aus wie im Schweinestall. Doch dann erfuhr er, dass die Frau Geld gestohlen habe. Seine Mutter wollte das allerdings nicht recht glauben; sie dachte, der Alte hätte seine Moneten verlegt und die Haushaltshilfe zu Unrecht beschuldigt.

»Das passiert in Altenheimen fast täglich«, sagte sie, »die Senioren können ihren Schmuck nicht finden, weil sie ihn unter der Matratze gebunkert haben, sie suchen vergeblich nach Fotos, Briefen oder Bargeld und erinnern sich nicht, wo sie es [9] diesmal hingesteckt haben. Die Pflegerinnen sind an Verdächtigungen gewöhnt, aber Frau Künzle, die sich so viele Jahre lang für Opa und Oma abgerackert hat, ist bis ins Mark getroffen.«

Wenn das Geld noch in seinem Besitz gewesen wäre, hätte Max es heimlich wieder hingebracht.

Seine Mutter meinte noch: »Wir müssen uns wohl bald einmal eine andere Lösung einfallen lassen.«

»Eine Polin«, schlug Max vor.

»Bei seinen Vorurteilen gegen Ausländer? Aber du kannst ein gutes Werk tun«, meinte sie und schob ihrem Sohn einen Fünfziger hin, »und ihm einen Korb mit Wäsche bringen. Vielleicht könntest du ihm auch sonst ein bisschen mehr unter die Arme greifen.«

»Man müsste mal die Wände weißeln«, sagte Max und dachte dabei an einen größeren Auftrag.

Aber seine Mutter fand, es lohne sich nicht, im Grunde dürfe der Opa überhaupt nicht mehr allein wohnen.

»Okay«, sagte Max, »dann kann er ja in Mizzis Zimmer einziehen.«

Seine Mutter lachte nur. »Bring das mal deinem Vater bei!«

Der hoffte nämlich immer noch, dass seine Tochter ins elterliche Nest zurückkehren würde.

[10] 1975, zur Silberhochzeit, hatte der Alte seiner Frau einen Pelzmantel geschenkt, der allerdings nicht ganz neu war. Damals kursierte gerade der Kalauer: »Wenn einer von uns beiden stirbt, dann ziehe ich nach Mallorca.« Insbesondere die Frauen fanden das witzig, weil sie in der Regel ihre Männer überlebten. Willy wäre es nie in den Sinn gekommen, im höheren Alter die Heimat zu verlassen und sich auf eine fremde Sprache einzustellen. Er wäre aber auch nicht auf die Idee gekommen, dass seine Ilse vor ihm sterben könnte. Schließlich war sie fünf Jahre jünger und von robuster Gesundheit, wie er jedenfalls glaubte. Welch grausame Vorstellung, dass sie in ihrer Todesstunde ganz allein gewesen war. Womöglich hatte sie drei Tage lang im Nachthemd auf den kalten Fliesen gelegen, konnte sich nicht bewegen, nicht um Hilfe rufen, während ihr Mann mit den letzten mobilen Klassenkameraden ein Abituriententreffen feierte. Als er zurückkam, fand er eine Tote.

Damals war er noch fit genug gewesen, um allein zu verreisen. Das würde er sich heute gar nicht mehr zutrauen, er konnte kaum begreifen, wie schnell er in der letzten Zeit gealtert war. Das hatte man davon, wenn einem plötzlich die Frau wegstarb. Ideale Partner waren sie zwar nie gewesen, [11] denn er wünschte sich eigentlich eine Frau, die auch seinen intellektuellen Ansprüchen genügte. Trotzdem hatte er sich nie beklagt. Ilse hatte andere Vorzüge, war eine Sanfte, die nie laut wurde oder ungehörige Ausdrücke in den Mund nahm. Nach über fünfzig Ehejahren schwiegen sich Paare sowieso die meiste Zeit an, immerhin besser als Streit. Vor allem aber waren Willy und Ilse ein perfektes Gespann gewesen. Sie hatte keinen Führerschein, konnte keine Überweisungsformulare ausfüllen und hatte keine Ahnung, wie hoch seine Rente war. Ilse bekam pünktlich ihr Haushaltsgeld abgezählt und war es zufrieden. Willy konnte wiederum weder kochen noch bügeln und hatte sich nie um die zahlreichen sozialen Kontakte gekümmert, die Ilse über Jahre hinweg aufrechterhielt.

Nach Ilses Tod hatte der Alte gelernt, ein Fertigprodukt in die neue Mikrowelle zu schieben und Tee oder Kaffee zu kochen. Leider gab es nicht mehr – wie in der Nachkriegszeit – ein eingemachtes Huhn zu kaufen, was nach seiner Meinung die einzige gute amerikanische Erfindung war. Wenn man die Riesendose öffnete, glitschte der sülzige Vogel mit einem schmatzenden Geräusch heraus, und die Knochen waren so weich, dass man sie fast mitessen konnte. Manchmal sehnte er sich sehr nach diesem pampigen Mahl.

[12] Nach Ilses Tod besorgte seine Putzfrau auch den Abwasch und die Wäsche, zuletzt kam sie sogar dreimal in der Woche. Allerdings hatte ihm seine Frau schon vor Jahren verboten, dieses Wort zu benutzen, »Frau Künzle« oder »unsere gute Fee« sollte er sagen.

Am meisten vermisste er seine Frau an warmen Tagen, wenn sie den Frühstückstisch auf der Terrasse gedeckt hatte. Ihre ganze Liebe galt dem Steingarten, wo sie Stunden um Stunden herumzupfte. Es hatte ihn immer verwundert, wie sehr sie sich über ein winziges Blümchen freute, wie glücklich sie über eine Eidechse auf den warmen Steinen oder ein Eichhörnchen in der Tanne sein konnte. Wenn der Wind gelbe Blätter von den Bäumen wehte, rief sie voller Entzücken: »Schau doch, Willy! Sterntaler wie im Märchen!«

Für ihn war es die reinste Qual geworden, Laub aufzukehren, Unkraut zu rupfen oder den Rasen zu mähen, und der Garten sah inzwischen dementsprechend aus. Heute aß er auch bei schönstem Wetter nur noch vor laufendem Fernseher. Kürzlich war ihm dabei das fettige Spiegelei vom Teller geglitten, zum Glück fiel das Gelb auf Ilses rosa Plüschsessel kaum auf. Wenn der Junge nicht wäre, der ihm gelegentlich einen Gefallen tat, dann würde er womöglich verlottern. Neulich bat er darum, [13] ihm die Haare zu scheren, und Max lachte schallend. »Opa, da gibt es nicht mehr viel…«

Seine Schwiegertochter Petra machte sich Sorgen, stieß aber bei ihrem Mann auf taube Ohren. Harald mochte seinen Vater sowieso nicht gern besuchen und tat es nur, wenn seine Schwester, die sich schon in jungen Jahren nach Australien abgesetzt hatte, ihm heftig einheizte. Vorläufig käme Papa noch gut zurecht, behauptete er. Petra kannte zwar die Probleme ihres Mannes mit seinem Vater, sah aber darin keinen Grund, die Verantwortung für den Alten abzuschieben. Gegen Haralds Willen und leicht zerstritten fuhr das Paar an einem eiskalten Sonntag nach Dossenheim, einem Heidelberger Vorort, um sich persönlich ein Bild zu machen. Während der Alte und sein Sohn im Wohnzimmer Cognac tranken und über die Unfähigkeit der heutigen Politiker räsonierten (persönliche Themen waren bei Vater und Sohn seit langem tabu), machte Petra eine kleine Razzia.

Es war schlimm, was sie da im Kühlschrank vorfand. Fast alles verschimmelt, abgelaufen, speckig. Schmutzige Wäsche türmte sich auf dem Sofa des Gästezimmers, es stank. Das Bett war offenbar seit einer Ewigkeit nicht frisch bezogen worden. Den [14] muffigen Geruch im ausgekühlten Haus überlagerten Zigarrenschwaden, Wohnraum und Küche waren dagegen völlig überheizt.

Zurück im Wohnzimmer, fragte Petra ihren Schwiegervater, wann er das letzte Mal etwas Warmes gegessen habe. Gestern sei er im Wirtshaus gewesen, sagte er, dort gebe es vorzügliche Jägerschnitzel. Mit dem Wagen sei er in fünf Minuten dort.

Erst jetzt wurde Harald hellhörig. Irgendwie hatte er völlig verdrängt, dass sein Vater mit bald neunzig Jahren immer noch mit seinem alten Opel herumkurvte.

»Du hättest deinen Führerschein längst abgeben und das Auto endlich verschrotten lassen sollen, ich wundere mich sowieso, dass du es noch durch den TÜV gebracht hast«, sagte er energisch.

Der Alte warf Petra einen flehenden Blick zu, er erwartete ihren Beistand. Schon lange hielt er sie für seine Verbündete, und in gewisser Weise war sie das auch. Hin und wieder nannte er sie versehentlich Ilse.

»Harald meint es nur gut mit dir«, behauptete Petra. »Stell dir mal vor, ein Kind flitzt über die Straße, und du kannst nicht mehr schnell genug reagieren…«

»Ich sehe noch wie ein Adler und höre wie ein [15] Luchs«, fiel Willy seiner Schwiegertochter ins Wort und beendete damit das Gespräch.

Auf dem Heimweg murmelte Harald immer wieder empört: »So ein sturer alter Bock«, hörte aber kaum hin, wenn Petra laut über Lösungsmöglichkeiten nachdachte. Der Gestank der Wäsche im Kofferraum raubte einem fast den Atem.

»Riechst du es nicht? Ich glaube, dein Vater leidet unter Inkontinenz«, schimpfte Petra.

Sie schwiegen eine Weile, bis Harald wieder lospolterte: »Ich kann sein immer gleiches Geschwätz kaum mehr ertragen: Lasst mir bloß meine Ruhe, ihr könnt mir alle den Buckel runterrutschen, nach mir die Sintflut, ist mir doch egal, die Welt geht sowieso bald unter… und so weiter.«

Ja, dachte Petra, wenn Ilse noch lebte, wäre alles einfacher. Gemeinsam wären die beiden bestimmt in eine kleinere, altersgerechte Wohnung umgezogen, wo nach Bedarf professionelle Hilfe angeboten wurde. Zu Ilse hatte sie immer ein sehr gutes Verhältnis gehabt, ihre Schwiegermutter vertraute ihr sogar Dinge an, über die sie mit den eigenen Kindern niemals gesprochen hätte. Zum Beispiel, dass ihre Ehe mit Willy nicht glücklich gewesen war. Mit achtzehn Jahren hatte sich Ilse in einen [16] Nachbarssohn verliebt, der allerdings nicht besonders ansehnlich war. Alle hatten ihn wegen seines vorstehenden Kinns verspottet, wovon sie sich leider beeinflussen ließ. Ilse entschied sich für den stattlichen Willy Knobel, der für damalige Verhältnisse gute berufliche Chancen hatte. Es wurde eine langweilige, zuweilen trostlose Ehe.

Der Alte machte sich oft über Ilse lustig, weil sie am liebsten Märchen las. »Sie bleibt ein ewiges Kind«, meinte er gönnerhaft. Er ahnte nicht, dass sie gelegentlich flüsterte:

Ich arme Jungfer zart,
ach hätt’ ich genommen
den König Drosselbart!

Petra glaubte, der alte Mann liebte seine Frau erst, seit sie tot war. Seine Ilse fehlte ihm an allen Ecken und Enden, vielleicht tat es ihm jetzt leid, dass er geizig und ihr gegenüber sehr autoritär gewesen war.

[17] 2

»Manus manum lavat – eine Hand wäscht die andere. Und da ich dir nicht gut im Alter die Zehennägel schneiden kann, habe ich eine andere Idee: Wenn ich tot bin, sollst du meine Bücher erben«, sagte der Großvater zu Max. »Das heißt, du musst dich natürlich mit Mizzi einigen. Deine Eltern haben ja genug eigene Exemplare.«

Max nickte. Seine Mutter war schließlich Buchhändlerin; in den elterlichen Wohnzimmerregalen hatten sich Leseexemplare und Bestseller der letzten zwanzig Jahren angesammelt. Darüber hinaus besaß sein Vater noch eine Bibliothek im Arbeitszimmer, zwei String-Wände waren von oben bis unten mit Fachbüchern über Kläranlagen, Tiefbau, Wasserlaufkorrekturen, Straßensanierungen, Friedhofserweiterungen etc. zugestellt.

Im Sortiment des Alten gab es allerdings nichts, was Max oder Mizzi wirklich interessierte. Jede Menge veraltete Lexika standen da, wo man doch heute nur noch bei Wikipedia nachschaute. Lateinische und griechische Wörterbücher, gebundene Zeitschriften aus den Nachkriegsjahren. Auch [18] Klassiker wie Shakespeare und Goethe, Lessing und Keller waren vertreten, zur Unterhaltung gab es ein paar französische Romane. Unter Umständen besaß sein Großvater auch Literatur aus der Nazizeit, aber da kannte sich Max nicht aus. Und es interessierte ihn auch nicht, wie sich der Alte im Dritten Reich verhalten hatte. Es war jedoch auffallend, dass er seine Kinder Harald und Karin genannt hatte, obwohl sie erst nach dem Krieg geboren wurden.

Das Haus der Großeltern war Anfang der sechziger Jahre gebaut worden. Max mochte die Durchreiche von der Küche zum Essplatz (die er als Kind zum Kasperlespiel benutzt hatte) und auch die geräumige Speisekammer, aber sonst waren ihm die Zimmer zu klein, die Decken zu niedrig, das Gärtchen zu langweilig. Seine Großmutter hatte irgendwann ein ehemaliges Kinderzimmer besetzt, in dem sie später auch schlief. Dort standen ihre ganz persönlichen Bücher – fast ausschließlich Märchen und Sagen aus aller Welt. Gleich dreimal vertreten war Der Butt von Günter Grass, wohl weil eine namensgleiche Ilsebill darin vorkam. Omas schön illustrierte Märchensammlung liebten sowohl Mizzi als auch Max, aber das übrige Erbe würden sie bei eBay anbieten.

[19] Der Alte kramte in den Schubladen. »Hier, meine Doktorarbeit«, sagte er zu Max, »über Ovids Metamorphosen. Willst du sie mal in Ruhe lesen?«

Max warf einen Blick auf den unverständlichen Titel und nickte freundlich. Der Opa zog jetzt eine Tischdecke heraus.

»Hat deine Großmutter selbst gestickt«, sagte er, »Kreuzstich, glaube ich. Nimm sie für Mizzi mit, für die Aussteuer.«

»Opa, sie hat wenig Platz…«

»Hat sie jetzt endlich einen Freund? Mir kannst du es ja sagen…«

»Frag sie lieber selbst«, sagte Max, was der Alte aber falsch interpretierte.

»Ist er etwa verheiratet?«

Max fand es mühsam, dass er dem Alten keinen reinen Wein einschenken durfte. Sein Vater hatte es streng verboten, den Großvater über Mizzi aufzuklären. Doch vielleicht war der Alte gar nicht so verklemmt wie sein Sohn.

»Von Oma hängt noch ein teurer Pelzmantel im Schrank«, sagte der Alte, »ich würde ihn gern verkaufen. Vielleicht weißt du einen Abnehmer.«

»Fun furs sind gerade in, echte Pelze weniger«, sagte Max, »da hättest du kaum Chancen. Aber kann ich das gute Stück mal sehen?«

Max zog den schwarzgelockten Persianer seiner [20] Großmutter an, der zwar einige Mottenlöcher aufwies, aber angenehm wärmte. Er stellte sich im Flur vor den großen Spiegel und gefiel sich gut.

Der Großvater schlurfte ihm nach. »Scheiße siehst du aus«, sagte er, und Max musste grinsen.

»Sagen wir mal eher – rattenscharf. Opa, ich werde versuchen, den Mantel auf dem Flohmarkt zu verhökern, aber das ist reine Glückssache. Soll ich noch etwas für dich tun?« Max wollte allmählich weg.

»Vielleicht könntest du mir etwas Warmes brutzeln«, sagte der Alte, »ich habe heute noch nichts gegessen. Und in den letzten Tagen immer nur Spiegeleier oder Lasagne.«

Max ging in die Küche. Obwohl er bestimmt kein Ordnungsfanatiker war oder gar einen Hygienefimmel hatte, kriegte er ein Würgen im Hals, als er die Tür öffnete. Die Kakerlaken in der Spüle, die sich dort wie Gnus am einzigen Wasserloch der Kalahari versammelt hatten, verschwanden blitzschnell. Als würde ein hungriger Löwe auftauchen, dachte Max.

Das konnte nicht mehr lange gutgehen, der Opa wurde langsam, aber sicher zum Messie. Er sollte lieber heute als morgen das Haus verkaufen und bei seinen Kindern einziehen. Dann bräuchte Max auch nicht immer herzufahren, der Alte könnte [21] mit der Familie essen und müsste sich nicht mehr um Dinge kümmern, die ihm über den Kopf wuchsen. Wenn sein Vater nur nicht so stur wäre und Mizzis Zimmer freigeben würde. Auch ein Ringtausch wäre denkbar – Mizzis Balkonzimmer für Max, der Raum im Souterrain für den Opa. Wahrscheinlich kam sein Vater erst zur Einsicht, wenn dem Alten etwas zustieße. »Muss ja nicht gleich ein Herzinfarkt sein«, knurrte Max vor sich hin, »ein Hexenschuss genügt schon.«

Er nahm eine Packung Fischstäbchen aus dem Kühlfach, gab ranzig riechendes Rapsöl in die Pfanne und stand tatenlos daneben, während sich das Fett langsam erhitzte. Als er die schmierige Flasche wieder ins Regal stellen wollte, entglitt sie und zerschellte auf den Fliesen.

»Shit happens«, sagte Max, kehrte die Scherben zusammen und wischte kurz mit einem stinkenden Lappen über den Boden.

Dann bettete er die Fischstäbchen in die Pfanne, briet sie in dem inzwischen sehr heißen Öl etwas zu kross und servierte sie seinem Großvater mit einer Scheibe hartem Roggenbrot, das einen schimmeligen Graustich angenommen hatte.

»Den Waschkorb habe ich im Flur abgestellt«, meinte er noch. »Soll ich die sauberen Sachen im Schlafzimmer einsortieren?«

[22] »Junge, wenn ich dich nicht hätte«, sagte sein Großvater mümmelnd, erhob sich vom Sofa und schlurfte in die Küche zur Puddingform. Diesmal erhielt Max 200 Euro.

Zum Glück wollte Max die Haustür gerade erst zuziehen, so dass er den dumpfen Aufprall und fast gleichzeitig den Schrei noch hörte. In Windeseile stürzte er in die Küche zurück, wo sein Großvater auf den Fliesen lag und ihn mit verschrecktem Ausdruck anstarrte. Um ihn herum lagen Splitter von einem zerbrochenen Schnapsglas.

»Hilf mir auf die Beine, Junge!«, bat er kleinlaut. Max fasste ihn an den kalten Händen und versuchte, ihn hochzuziehen. Der Alte stöhnte auf. »Autsch! Nicht so grob! So geht das nicht«, sagte er. »Hol Hilfe!«

Max bettete ihm ein Kissen unter den Kopf und rief zu Hause an. Zum Glück war seine Mutter schon von der Buchhandlung zurück. Ihre Anweisungen waren präzise und knapp:

»Du musst auf der Stelle einen Krankenwagen rufen! Bei einem Schlaganfall kommt es auf jede Minute an. Kann er sprechen, kann er Arme und Beine bewegen?«

»Mama, alles halb so schlimm, ich glaube, er ist bloß ausgerutscht…«

[23] Sie gab ihm die Nummer vom Rettungsdienst und versprach, sofort zu kommen. Falls man den Opa in ein Krankenhaus bringe, solle Max mitfahren und sie per Handy informieren. Sie würden sich dann in der Klinik treffen.

Max legte einen Stoß Zeitungen auf den verschmutzten Küchenboden und setzte sich neben seinen Großvater. Sein schüchterner Versuch, dem Alten die Hand zu halten, wurde verschmäht.

»Genau hier habe ich meine tote Frau gefunden«, flüsterte der Alte, »auf diesen kalten Fliesen hat sie gelegen, genau wie ich. Max, du hast mich gerettet.«

Bereits nach zehn Minuten hörte man das Martinshorn. Zwei Sanitäter in weißen Hosen, die Jacken leuchtend orange, stapften herein, vergewisserten sich, dass der Verletzte ansprechbar und der Kreislauf stabil war, und hoben ihn auf eine Trage. Max deckte seinen Großvater mit dem Persianermantel zu und fuhr mit zur Klinik.

Wahrscheinlich eine Fraktur, meinte der erfahrene Chauffeur, man müsse auf jeden Fall röntgen.

Inzwischen griff der Alte doch nach der Hand seines Enkels, in seinen Augen standen Hilflosigkeit und Angst.

»Es wird schon alles wieder gut, Opa«, sagte Max und glaubte selbst nicht daran. Erst jetzt [24] wurde ihm bewusst, dass er das ausgelaufene Öl nur oberflächlich beseitigt und somit den Sturz des Alten verursacht hatte.

Im Krankenhaus traf Max dann auch seine Mutter. Während sie auf das Ergebnis der Röntgenaufnahme warteten, wurde Petra zunehmend nervöser.

»Ich glaube, ich habe das Bügeleisen angelassen«, sagte sie.

»Weiß Papa schon, was passiert ist?«, fragte Max. Seine Mutter hatte ihren Mann noch nicht erreichen können.

Schließlich wurden sie hereingerufen und erfuhren, dass sich der Alte den Oberschenkel gebrochen hatte. Eine Operation sei unumgänglich. Dann wurde der Großvater, der inzwischen eine schmerzstillende Injektion erhalten hatte, hereingerollt. Gemeinsam besprach man das Vorgehen. Es bestand eine gewisse Unklarheit, welche Medikamente der Patient regelmäßig einnehmen musste, Max wusste es nicht, und dem Alten fielen die Namen nicht ein.

Da Max sowieso noch ein Köfferchen für seinen Opa packen musste, sollte er auch gleich die Pillen nebst Originalverpackung ins Krankenhaus bringen. Seine Mutter wollte zu ihrem Bügeleisen und setzte ihren Sohn nur schnell vor dem großväterlichen Haus ab.

[25] »Stell die Heizung auf Sparflamme, Ende Februar friert es nicht mehr über Nacht!«, befahl sie. »Er braucht mindestens drei Schlafanzüge, Bademantel, Taschentücher, Pantoffeln und Waschzeug. Bücher oder Zeitschriften noch nicht, die kann man ihm in den nächsten Tagen mitbringen. Und seine Brieftasche mit Ausweis und Versicherungskarte!«

»Und die Zigarren?«, fragte Max.

»Bist du wahnsinnig? Am besten gleich noch drei Flaschen Schnaps – mein Gott, mir ist im Moment nicht nach Scherzen zumute.«

»Alles klar«, brummte Max. Als Erstes hatte er vor, den Küchenboden gründlich zu reinigen. Seine Eltern sollten auf keinen Fall erfahren, dass ihr Sohn schuld an der Katastrophe war.

Als Max an Ort und Stelle war, fiel ihm auf, dass der Schlüssel für den kleinen Tresor nicht hinter der Puddingform hing. Hatte ihn der Alte etwa noch in der Hosentasche?

Die Zahnbürste seines Großvaters sah ziemlich heruntergekommen aus. Wofür brauchte man sie überhaupt, wenn man Ober- und Unterkieferprothesen trug? Max stopfte alles, was er an Rasierzeug und Hygieneartikeln im Badezimmer fand, in eine Plastiktüte. Der graue Canvas-Koffer im Gästezimmer war viel zu groß. Im Schlafzimmer unterm Bett fand er einen kleineren, der ihm sehr [26] schwer vorkam. Als Max ihn öffnete, war er gefüllt mit Pornoheften aus den siebziger Jahren. Max stieß einen Pfiff aus und musste laut lachen.

»Alter Schwede«, sagte er anerkennend. »Wer hätte das gedacht!«

Dann schüttete er die Hefte in den Kleiderschrank, wobei ein schweres Kästchen herauspolterte. Max steckte es zurück in den Schrank, verschloss die Tür und zog den Schlüssel ab, seine Eltern brauchten von dem Fund nicht unbedingt zu wissen. Eilig packte er alles Nötige ein, drehte die Heizkörper herunter und fuhr zum zweiten Mal ins Krankenhaus.

Dort wurde er auf eine der chirurgischen Stationen geschickt, wo ihn eine Krankenschwester abfing.

»Wurde mein Großvater schon operiert?«, fragte Max.

»Meinen Sie Herrn Knobel? So schnell schießen die Preußen nicht, aber morgen ist er als Erster dran, der Anästhesist kommt gleich zu ihm. Sie können ihm ruhig seine Sachen bringen.«

An der Zimmertür mit der Nr. 207 steckten zwei Namenskärtchen in einer Halterung: Hermann Schäfer und Willy Knobel.

Der Alte trug ein fade gemustertes, verwaschenes Nachthemd, wie Max es nur aus Fernsehserien [27] kannte. Er teilte sich den kleinen Raum mit einem kaum jüngeren Patienten, der jedoch schlief. Als sich sein Enkel dem Bett näherte, hob der Kranke wortlos die Decke und zeigte ihm das gebrochene Bein, das fest in eine Schaumstoffschiene eingeklemmt war. Max packte den Koffer aus, brachte die Waschsachen ins Bad und räumte die Schlafanzüge in den Wandschrank. Neben der Tür hing der schwarze Persianer. Max winkte kurz zum Abschied und fuhr nachdenklich nach Hause.

Inzwischen war auch sein Vater da. Wie zu erwarten, regte er sich furchtbar auf.

»Ob er in diesem Alter noch eine Narkose und Operation übersteht, mangelhaft ernährt, wie er ist?«

»Was spricht dagegen?«, sagte Petra. »Herz und Kreislauf sind stabil. Die Operation ist mittlerweile Routine. Meine beiden Großmütter hatten sich den Oberschenkelhals gebrochen, lagen monatelang flach, ohne dass es heilte, und starben schließlich an einer Lungenentzündung. Heute haben auch Hochbetagte eine gute Chance, wieder gesund zu werden.«

»Na schön«, sagte Harald. »Mit Nägeln, Platten und Schrauben kann man die Knochen zwar zusammenflicken, aber wird der Tattergreis auch wieder gehfähig? Das alles bedeutet doch, dass ich [28] mich eher heute als morgen um einen Platz in einem Pflegeheim bemühen muss. Gleich morgen frage ich den Kollegen vom Gesundheitsamt um Rat.«

»Opa könnte doch bei uns wohnen«, sagte Max.

»Du bist wohl verrückt geworden! Wer soll sich denn um ihn kümmern? Deine Mutter ist berufstätig, ich bin sowieso den ganzen Tag nicht zu Hause. Und du solltest gefälligst dein Studium etwas ernster nehmen.«

Bei diesem Reizwort wollte Max schleunigst den Raum verlassen, wurde aber vom Vater zurückgehalten.

»Papa«, sagte Max, »du hast gut reden! Dieses Studium ist absolut sinnlos. Ich war zwar in der Schule nicht schlecht in Englisch, weil ihr mich in den großen Ferien so oft nach Australien geschickt habt. Aber das hat nichts mit diesem bescheuerten Beowulf zu tun, mit dem man in der Uni gequält wird.«

Seine Eltern tauschten fassungslose Blicke. Gerade als Max endlich gehen wollte, begann seine Mutter mit ihrer sanftesten Stimme: »Mäxchen, bei jeder Ausbildung gibt es Teilgebiete, die einem weniger liegen und nur aus reiner Paukerei bestehen. Beim Medizinstudium müsstest du dich bis zum Physikum mit Anatomie und Biochemie [29] herumplagen! Man darf doch nicht nach zwei Semestern bereits aufgeben!«

Seine Mutter benutzte ihre Pastorinnenstimme, wenn es um seine Zukunft ging, und sein Vater klang wie ein weinerlicher Frauenarzt – als ob sie es mit einem durchgeknallten Junkie zu tun hätten.

»Ihr versteht überhaupt nichts«, sagte er und machte, dass er aus dem Haus kam. Wohin er fahren wollte, wussten weder seine Eltern noch er selbst, doch sein treues Auto umso besser. Zielstrebig brachte es ihn in die Brennnessel, sein Lieblingskino.

[30] 3

Nach der Operation kam der Alte für einen halben Tag auf die Intensivstation und erst am Nachmittag wieder in sein Bett. Er schlief, als Petra und Harald ihn am frühen Abend besuchten.

»Bis vor einer Stunde hing er noch am Tropf«, sagte der Zimmergenosse und erzählte, dass er selbst ein neues Hüftgelenk erhalten habe, und das schon zum zweiten Mal. »Es geht alles vorüber«, fügte er noch mürrisch hinzu.

Die Besucher saßen eine Weile neben dem Alten und betrachteten sein blasses Gesicht, das ein wenig wie eine Totenmaske wirkte. Völlig überraschend öffnete Willy auf einmal die Augen, blinzelte seine Schwiegertochter an und murmelte: »Ilsebill!«

Petra und Harald verabschiedeten sich. Im Flur sprachen sie mit der Ärztin.

»Es ist alles nach Plan gelaufen«, meinte die Chirurgin. »Wenn der Heilungsprozess gut voranschreitet, können wir ihn bald in eine Senioren-Reha-Klinik verlegen. Dort wird er wieder laufen lernen.«

[31] »Und wie lange wird das alles dauern?«, fragte Harald. Etwa vierzehn Tage im Krankenhaus, zwei bis drei Wochen Reha, erfuhr er. Aber das könne man heute noch nicht so genau beurteilen. Auf alle Fälle werde es nötig, dass der Patient angesichts seiner fast neunzig Jahre in ein betreutes Altenheim umziehe. Man solle am besten schon jetzt einen Antrag auf Pflegestufe zwei stellen, damit sich die Krankenkasse an den Kosten beteilige.

»Das war vorauszusehen«, sagte Petra, als sie wieder im Auto saßen. »Du hast das Problem viel zu lange vor dir hergeschoben. Am besten verkauft Vater das Haus, dann springt genug Geld für eine anständige Seniorenresidenz heraus.«

»Und mein Erbe geht den Bach hinunter«, sagte Harald. »Es muss ja nicht gleich das Augustinum sein, das Kreispflegeheim tut es auch.«

»Er wird sich schwertun«, sagte Petra, »er mag keine fremden Menschen um sich, er kann sich keine neuen Namen merken, er lässt sich nur sehr ungern anfassen – Max ist der Einzige, bei dem er es duldet.«

»Mein Gott, da wird er sich eben dran gewöhnen müssen«, sagte Harald.

Am nächsten Tag machte Max die Visite. Wie erwartet war sein Großvater erschöpft, noch [32] benommen, aber auch grantig, und wollte auf der Stelle nach Hause gebracht werden. So richtig vom Leder ziehen konnte er allerdings nicht, seine Stimme war angeschlagen.

»Was soll ich dir beim nächsten Mal mitbringen? Etwas zum Lesen? Und ein bisschen Obst? Darfst du überhaupt schon alles essen, Opa?«, fragte Max.

Aus dem anderen Bett ertönte Hermann Schäfers höhnisches Lachen: »Ach, hör’n Se auf mit dem Essen! Wir kriegen sowieso nichts runter.«

»Ilse wird mir etwas kochen«, krächzte der Alte. »Sie war heute schon dreimal hier. Zum Nachtisch hat sie mir kalifornische Dosenpfirsiche versprochen.«

Angesichts dieser erfreulichen Aussicht schloss er die Augen und schlief ein. Der zahnlose Mund stand weit offen.

Max schielte befremdet zum Bettnachbarn hinüber, aber der schien sich nicht weiter über Ilses Besuche zu wundern. Nun gut, er konnte nicht wissen, dass Opas Frau tot war.

»Übrigens…«, fragte Hermann Schäfer leise, »ist Ihr Großvater im Ausland aufgewachsen? Er redet manchmal in einer Fremdsprache…«

»Das war bestimmt Latein«, sagte Max. »Da verstehe ich auch nur Bahnhof.«

[33] Als Max aufstand und seine Jacke vom Kleiderhaken nahm, dämmerte ihm beim Anblick des Persianers, wieso sein Opa immer von Ilse sprach. Wahrscheinlich hatte der Pelz dem frisch Operierten die vertraute Person vorgegaukelt. Max nahm das gute Stück lieber wieder mit.

Als Petra zwei Tage später das Krankenzimmer betrat, wirkte die Szene schon viel lebendiger. Nicht ohne Pathos wurde sie vom Schwiegervater begrüßt: »Ave, Petra! Morituri te salutant!« – Zum Glück war der Gruß der Todgeweihten nicht ernst gemeint, fast konnte man die Stimmung hoffnungsvoll nennen. Selbst der griesgrämige Hermann Schäfer lächelte ein wenig. Alle beide machten unter Anleitung des Physiotherapeuten wacklige Stehversuche und konnten mit Stolz vom Lob der Krankengymnastin berichten. Petra hatte Blumen mitgebracht, mehrere Zeitungen und Kreuzworträtselhefte. Sie war die Einzige in der Familie, die lateinische Zitate verstand und zur Freude des Alten sogar gelegentlich in den Mund nahm.

Als sie sich nach einer halben Stunde zum Gehen wandte, sagte der Alte: »Bitte, mach die Tür fest zu, damit die Wellensittiche nicht fortfliegen.«

Etwas irritiert sah sich Petra im Raum um, zog die Tür aber wie gewünscht gut hörbar zu. Zum [34] Glück lief ihr die Ärztin über den Weg. Petra fragte nach dem Zustand des Patienten.

»Sie müssen sich überhaupt keine Sorgen machen«, war die Antwort. »Man spricht von Durchgangssyndrom, wenn ältere Menschen etwas länger brauchen, bis sie die Folgen der Narkose überwinden. Gelegentlich beobachtet man leichte Störungen der Wahrnehmung oder Gedächtnisausfälle, die sich wieder geben. Die Wunde heilt bestens, nächste Woche soll er mit dem Rollator ein bisschen herumwandern. Wenn er weiter gut mitmacht, kann er das Bein bald zu fünfzig Prozent belasten und die Reha antreten. Achten Sie bitte darauf, dass er immer genügend trinkt!«

Anderntags stellte auch Max fest, dass die Genesung und Mobilisierung seines Großvaters Fortschritte machte. Kaum aber wurde der Mitbewohner zu einer Kontrolluntersuchung abgeholt, nutzte der Alte die Gelegenheit, um über seinen Leidensgenossen herzufallen.

»Überhaupt keine Kinderstube hat der! Beim Sprechen spuckt er so widerlich, dass ich in Deckung gehe. Ich zähle die Tage, bis ich ihn los bin!«

»Opa, so schlimm ist Herr Schäfer nun auch wieder nicht. Und wie kommst du mit den Krankenschwestern klar?«

»Die eine nenne ich Zerberus. Aber zum Putzen [35] kommt ein Engel. Eine Asiatin mit einem zauberhaften Popöchen! Das ist der einzige Lichtblick im Tal der Finsternis« – er hielt kurz inne und fuhr fort: »außer dir natürlich.«

Sein Blick ruhte gerührt auf seinem Enkel: Max trug einen braunen Kapuzenpullover, Jeans und Turnschuhe. Die dunklen Haare waren sehr kurz, das schmale Gesicht verzog sich beim Lächeln zu einem langen spitzen Dreieck.

»Opa, du bist wieder ganz der Alte«, sagte Max. »Übrigens – Mizzi lässt dich grüßen.«

»Wie geht es meinem Augenstern?«

Max zuckte zusammen. Er riss sich die Beine für seinen Großvater aus, während seine Schwester noch nie einen Finger krumm gemacht hatte und allerhöchstens mal einen Gruß ausrichten ließ.

»Es geht ihr gut, sie will heiraten!«

Der Alte strahlte. »Und wer ist der Glückspilz?«, fragte er.

»Ihre Freundin Jasmin«, meinte Max.

Der Alte kicherte. Max ließ es dabei bewenden. Mit unbewegtem Gesicht nahm er neue Aufträge entgegen: Ein Trainingsanzug, der angeblich noch in einer Schlafzimmerkommode lagerte, und Kreuzworträtsel sollten besorgt werden.

»Alle bereits ausgefüllt«, sagte der Alte stolz und übergab seinem Enkel den Beweis. Max warf [36] einen flüchtigen Blick darauf. Tatsächlich war kein Kästchen mehr frei, aber die eingetragenen Worte kamen ihm unbekannt vor. Vorbau eines Hauses: elken, las er, asiatisches Wildrind: Kai.