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Bernhard Schlink

Sommerlügen

Geschichten

 

 

 

 

 

 

 

 

Die Erstausgabe erschien 2010 im Diogenes Verlag

Covermotiv: Gemälde von August Macke, ›Sitzender Akt mit Kissen‹, 1911

 

 

 

 

Alle Rechte vorbehalten

Copyright © 2017

Diogenes Verlag AG Zürich

www.diogenes.ch

ISBN Buchausgabe 978 3 257 24169 3

ISBN E-Book 978 3 257 60041 4

[7] Nachsaison

1

Vor der Gepäckkontrolle mussten sie Abschied nehmen. Aber weil in dem kleinen Flughafen alle Schalter und Kontrollen in einem Raum untergebracht waren, konnte er ihr mit den Augen folgen, als sie ihre Tasche auf das Band legte, durch den Detektor ging, die Bordkarte vorzeigte und zum Flugzeug geführt wurde. Es stand gleich hinter der Glastür auf dem Rollfeld.

Sie sah immer wieder zu ihm und winkte. Auf den Stufen zum Flugzeug drehte sie sich ein letztes Mal um, lachte und weinte, legte ihre Hand auf ihr Herz. Als sie im Flugzeug verschwand, winkte er den kleinen Fenstern zu, wusste aber nicht, ob sie ihn sah. Dann wurden die Motoren angeworfen, die Propeller drehten sich, das Flugzeug rollte an, wurde schneller und hob ab.

Sein Flug ging erst in einer Stunde. Er holte sich Kaffee und Zeitung und setzte sich auf eine Bank. Seit sie sich kennengelernt hatten, hatte er keine Zeitung mehr gelesen und nicht mehr alleine über einem Kaffee gesessen. Als er nach einer Viertelstunde noch immer keine Zeile gelesen und keinen Schluck getrunken hatte, dachte er: Ich habe das Alleinsein verlernt. Er mochte den Gedanken.

[8] 2

Vor dreizehn Tagen war er angekommen. Die Saison war zu Ende und mit ihr das schöne Wetter. Es regnete, und er verbrachte den Nachmittag mit einem Buch auf der überdachten Veranda seines Bed & Breakfast. Als er sich am nächsten Tag in das schlechte Wetter schickte und im Regen am Strand zum Leuchtturm wanderte, begegnete er der Frau zuerst auf dem Hin- und dann auf dem Rückweg. Sie lächelten einander an, neugierig beim ersten Mal und schon ein bisschen vertraut beim zweiten. Sie waren weit und breit die einzigen Wanderer, und sie waren Leidens- und Freudengenossen, hätten beide lieber einen klaren, blauen Himmel gehabt, genossen aber den weichen Regen.

Am Abend saß sie alleine auf der großen, mit Plastikdach und -fenstern bereits herbsttauglich gemachten Terrasse des beliebten Fischrestaurants. Sie hatte ein volles Glas vor sich und las ein Buch – Zeichen, dass sie noch nicht gegessen hatte und nicht auf ihren Mann oder Freund wartete? Er stand unschlüssig in der Tür, bis sie aufschaute und ihn freundlich anlächelte. Da fasste er sich ein Herz, ging zu ihrem Tisch und fragte, ob er sich zu ihr setzen dürfe.

»Bitte«, sagte sie und legte das Buch zur Seite.

Er setzte sich, und weil sie schon bestellt hatte, konnte sie ihn beraten, und er wählte den Kabeljau, den sie auch gewählt hatte. Dann wussten beide nicht, wie sie ins Gespräch finden sollten. Das Buch half nicht; es lag so, dass er den Titel nicht lesen konnte. Schließlich sagte er: »Hat was, ein später Urlaub auf dem Cape.«

»Weil das Wetter so gut ist?« Sie lachte.

[9] Machte sie sich über ihn lustig? Er sah sie an, kein hübsches Gesicht, die Augen zu klein und das Kinn zu kräftig, aber der Ausdruck nicht spöttisch, sondern fröhlich, vielleicht ein bisschen unsicher. »Weil man den Strand für sich hat. Weil man in Restaurants einen Tisch findet, in denen man in der Saison keinen fände. Weil man mit wenigen Menschen weniger alleine ist als mit vielen.«

»Kommen Sie immer nach dem Ende der Saison?«

»Ich bin das erste Mal hier. Eigentlich müsste ich arbeiten. Aber mein Finger macht noch nicht mit, und seine Übungen kann er ebenso hier machen wie in New York.« Er bewegte den kleinen Finger der linken Hand auf und ab, beugte und streckte ihn.

Sie sah dem kleinen Finger verwundert zu. »Wofür übt er?«

»Für die Flöte. Ich spiele im Orchester. Und Sie?«

»Ich habe Klavier gelernt, spiele aber nur noch selten.« Sie wurde rot. »Das meinen Sie nicht. Ich bin als Kind mit den Eltern oft hier gewesen und habe manchmal Heimweh. Und nach dem Ende der Saison hat das Cape den Reiz, den Sie beschrieben haben. Alles ist leerer, ruhiger – ich mag das.«

Er sagte nicht, dass er sich einen Urlaub während der Saison nicht leisten könnte, und nahm an, dass es ihr ebenso ging. Sie trug Turnschuhe, Jeans und Sweatshirt, und über der Lehne des Stuhls hing eine ausgeblichene gewachste Jacke. Als sie zusammen die Weinkarte studierten, schlug sie eine billige Flasche Sauvignon Blanc vor. Sie erzählte von Los Angeles, von ihrer Arbeit bei einer Stiftung, die Kinder aus dem Ghetto Theater spielen ließ, von dem Leben ohne Winter, von der Gewalt des Pazifiks, vom Verkehr. Er [10] erzählte vom Sturz über ein falsch verlegtes Kabel, bei dem er sich den Finger gebrochen hatte, vom Armbruch beim Sprung aus dem Fenster mit neun und vom Beinbruch beim Skifahren mit dreizehn. Sie saßen zuerst alleine auf der Terrasse, dann kamen weitere Gäste, und dann saßen sie bei einer zweiten Flasche wieder alleine. Wenn sie aus dem Fenster sahen, lagen Meer und Strand in völliger Finsternis. Der Regen rauschte auf das Dach.

»Was haben Sie morgen vor?«

»Ich weiß, dass Sie im Bed & Breakfast Frühstück kriegen. Aber wie wär’s mit Frühstück bei mir?«

Er brachte sie nach Hause. Unter dem Schirm nahm sie seinen Arm. Sie redeten nicht. Ihr kleines Haus lag an der Straße, an der eine Meile weiter sein Bed & Breakfast lag. Vor der Tür ging von selbst das Licht an, und sie sahen einander zu plötzlich zu hell. Sie umarmte ihn kurz und gab ihm den Hauch eines Kusses. Ehe sie die Tür zumachte, sagte er: »Ich heiße Richard. Wie heißen…«

»Ich heiße Susan.«

3

Richard wachte früh auf, verschränkte die Arme hinter dem Kopf und hörte den Regen in den Blättern der Bäume und auf dem Kies des Wegs. Er hörte das gleichmäßige, beruhigende Rauschen gerne, auch wenn es für den Tag nichts Gutes verhieß. Würden Susan und er nach dem Frühstück am Strand wandern? Oder im Wald um den See? Oder Fahrrad fahren? Er hatte kein Auto gemietet und vermutete, dass [11] auch sie keines gemietet hatte. So war der Radius gemeinsamer Unternehmungen begrenzt.

Er beugte und streckte den kleinen Finger, damit er später weniger üben musste. Er hatte ein bisschen Angst. Wenn Susan und er nach dem Frühstück tatsächlich den Tag gemeinsam verbringen und auch noch gemeinsam essen oder sogar kochen würden – was kam danach? Musste er mit ihr schlafen? Ihr zeigen, dass sie eine begehrenswerte Frau war und er ein begehrensstarker Mann? Weil er anders sie kränken und sich blamieren würde? Er hatte über Jahre mit keiner Frau geschlafen. Er fühlte sich nicht besonders begehrensstark und hatte sie am letzten Abend auch nicht besonders begehrenswert gefunden. Sie hatte vieles zu erzählen und zu fragen, hörte aufmerksam zu, war lebhaft und witzig. Dass sie, ehe sie etwas sagte, immer einen winzigen Augenblick zögerte und, wenn sie sich konzentrierte, die Augen zusammenkniff, hatte Charme. Sie weckte sein Interesse. Sein Begehren?

Im Salon war für ihn das Frühstück gerichtet, und weil er das ältere Ehepaar, das Orangensaft gepresst, Rühreier geschlagen und Pfannkuchen gebacken hatte, nicht enttäuschen mochte, setzte er sich und aß. Die Frau kam alle paar Minuten aus der Küche und fragte, ob er noch Kaffee wünsche oder mehr Butter oder andere Marmelade oder Obst oder Joghurt. Bis er begriff, dass sie mit ihm reden wollte. Er fragte sie, wie lange sie schon hier lebe, und sie setzte die Kaffeekanne ab und blieb neben dem Tisch stehen. Vor vierzig Jahren hatte ihr Mann eine kleine Erbschaft gemacht, und sie hatten das Haus auf dem Cape gekauft, in dem er schreiben und sie malen wollte. Aber aus dem Schreiben und [12] Malen wurde nichts, und als die Kinder groß waren und die Erbschaft aufgebraucht war, machten sie aus dem Haus ein Bed & Breakfast. »Was Sie über das Cape wissen wollen, wo es am schönsten ist und wo man am besten isst, fragen Sie mich. Und wenn Sie heute rausgehen – Strand ist auch bei Regen Strand, Wald ist nur nass.«

In den Bäumen des Walds hing der Nebel. Er hüllte auch die Häuser ein, die abseits der Straße standen. Das kleine Haus, in dem Susan wohnte, war ein Pförtnerhaus, neben dem eine Auffahrt zu einem großen, nebelverhüllten, geheimnisvollen Haus führte. Er fand keine Klingel und klopfte. »Gleich«, rief sie, und es klang weit weg. Er hörte sie eine Treppe hinauflaufen, eine Tür zuwerfen und einen Gang entlangrennen. Dann stand sie vor ihm, außer Atem und eine Flasche Champagner in der Hand. »Ich war im Keller.«

Der Champagner machte ihm wieder Angst. Er sah Susan und sich mit den Gläsern vor einem Feuer im Kamin auf einem Sofa sitzen. Sie rückte näher. Es war so weit.

»Was stehst du und guckst? Komm rein!«

In dem großen Zimmer neben der Küche sah er tatsächlich einen Kamin, daneben Holz und davor ein Sofa. Susan hatte in der Küche gedeckt, und wieder trank er Orangensaft und aß Rühreier, und danach gab es Obstsalat mit Nüssen. »Es hat wunderbar geschmeckt. Aber jetzt muss ich raus und laufen oder Fahrrad fahren oder schwimmen.« Als sie zweifelnd in den Regen sah, erzählte er ihr von seinem doppelten Frühstück.

»Du wolltest John und Linda nicht enttäuschen? Was für ein Schatz du bist!« Sie sah ihn vergnügt und bewundernd an. »Ja, warum nicht schwimmen! Du hast keine Badehose? [13] Du willst…« Sie schaute zweifelnd, war aber einverstanden, packte Handtücher in eine große Tasche und legte einen Schirm, den Champagner und zwei Gläser dazu. »Wir können übers Grundstück gehen, es ist schöner und geht schneller.«

4

Sie kamen an dem großen Haus vorbei, einem mit hohen Säulen und geschlossenen Läden auch aus der Nähe geheimnisvollen Bau. Sie stiegen die breiten Stufen hoch, standen auf der Terrasse zwischen den Säulen, gingen ums Haus und fanden die Treppe zur überdachten Veranda vor dem nächsten Geschoss. Von hier ging der nebeltrübe Blick über Dünen und Strand zum grauen Meer.

»Es liegt ganz still«, flüsterte sie.

Sah sie das auf diese Entfernung? Hörte sie es? Es regnete nicht mehr, und in der tiefen Stille mochte auch er nur flüstern. »Wo sind die Möwen?«

»Draußen auf dem Meer. Wenn der Regen aufhört, kommen die Würmer aus der Erde und die Fische an die Oberfläche.«

»Das glaube ich nicht.«

Sie lachte. »Wollten wir nicht schwimmen?« Sie lief los, so schnell und des Wegs so sicher, dass er mit der großen Tasche nicht mithalten konnte. In den Dünen verlor er sie aus den Augen, und als er den Strand erreichte, zog sie gerade die letzte Socke aus und rannte zum Meer. Als er am Meer war, schwamm sie schon weit draußen.

[14] Das Meer lag tatsächlich ganz still und war nur kalt, bis er zu schwimmen begann. Dann schmeichelte es seinem nackten Körper. Er schwamm weit hinaus und ließ sich auf dem Rücken treiben. Noch weiter draußen kraulte Susan. Als der Regen wieder einsetzte, genoss er die Tropfen auf seinem Gesicht.

Der Regen wurde dichter, und er sah Susan nicht mehr. Er rief. Er schwamm in die Richtung, in der er meinte, sie zuletzt gesehen zu haben, und rief wieder. Als er das Land kaum noch sah, kehrte er um. Er war kein schneller Schwimmer, strengte sich an, kam aber nur langsam voran, und die Langsamkeit steigerte seine Angst zur Panik. Wie lange würde Susan durchhalten? Hatte er das Handy in der Hosentasche? Bekam er am Strand eine Verbindung? Wo war das nächste Haus? Er hielt die Anstrengung nicht durch, wurde noch langsamer und noch panischer.

Dann sah er eine blasse Gestalt aus dem Meer steigen und am Strand stehen bleiben. Der Zorn gab ihm Kraft. Wie hatte sie ihm solche Angst einjagen können! Als sie winkte, winkte er nicht zurück.

Als er wütend vor ihr stand, lächelte sie ihn an. »Was ist los?«

»Was los ist? Ich habe eine Wahnsinnsangst gekriegt, als ich dich nicht mehr gesehen habe. Warum bist du nicht vorbeigeschwommen, als du zurückgeschwommen bist?«

»Ich habe dich nicht gesehen.«

»Du hast mich nicht gesehen?«

Sie wurde rot. »Ich bin ziemlich kurzsichtig.«

Sein Zorn kam ihm plötzlich lächerlich vor. Sie standen sich nackt und nass gegenüber, beiden lief der Regen übers [15] Gesicht, beide hatten Gänsehaut und zitterten und wärmten sich die Brust mit den Armen. Sie sah ihn mit dem verletzlichen, suchenden Blick an, in dem sich, wie er jetzt wusste, nicht Unsicherheit ausdrückte, sondern nur Kurzsichtigkeit. Er sah die blauen Adern, die durch ihre dünne weiße Haut schienen, ihr Schamhaar, rotblond, obwohl das Haar auf ihrem Kopf hellblond war, ihren flachen Bauch und ihre schmalen Hüften, ihre kräftigen Arme und Beine. Er schämte sich seines Körpers und zog den Bauch ein. »Es tut mir leid, dass ich grob war.«

»Ich verstehe schon. Du hattest Angst.« Sie lächelte ihn wieder an.

Er war verlegen. Dann gab er sich einen Ruck, zeigte mit dem Kopf zu der Stelle bei den Dünen, wo ihre Sachen lagen, rief »los!« und rannte los. Sie war schneller als er und hätte ihn mühelos überholen können. Aber sie rannte neben ihm her, und es erinnerte ihn an seine Kindheit, an die Freude des gemeinsamen Rennens zu einem gemeinsamen Ziel mit den Schwestern oder den Freunden. Er sah ihre kleinen Brüste, die sie, als sie am Strand gestanden war, mit den Armen geschützt hatte, und ihren kleinen Po.

5

Ihre Kleider waren nass. Aber die Handtücher waren in der Tasche trocken geblieben, und Susan und Richard hüllten sich hinein und setzten sich unter den Schirm und tranken Champagner.

Sie lehnte sich an ihn. »Erzähl mir von dir. Von vorne, von [16] deiner Mutter und deinem Vater und deinen Geschwistern, bis jetzt. Stammst du aus Amerika?«

»Aus Berlin. Meine Eltern gaben Musikunterricht, er Klavier und sie Geige und Bratsche. Wir waren vier Kinder, und ich durfte auf die Musikhochschule, obwohl meine drei Schwestern viel besser waren als ich. Mein Vater wollte es so; er konnte den Gedanken nicht ertragen, ich würde versagen, wie er versagt hatte. Also ging ich für ihn auf die Musikhochschule, wurde für ihn zweiter Flötist im New York Philharmonic Orchestra und werde für ihn eines Tages erster Flötist in einem anderen guten Orchester werden.«

»Leben deine Eltern noch?«

»Mein Vater ist vor sieben Jahren gestorben, meine Mutter letztes Jahr.«

Sie dachte nach. Dann fragte sie: »Wenn du nicht für deinen Vater Flötist geworden wärst, sondern gemacht hättest, was du hättest machen wollen – was wärst du?«

»Lach mich nicht aus. Als zuerst mein Vater und dann meine Mutter starben, dachte ich, endlich bin ich frei und kann machen, was ich will. Aber sie sitzen immer noch in meinem Kopf und reden auf mich ein. Ich müsste ein Jahr lang raus, weg vom Orchester, weg von der Flöte, müsste laufen, schwimmen, nachdenken und vielleicht aufschreiben, wie es zu Hause mit den Eltern und den Schwestern war. Damit ich am Ende des Jahres wüsste, was ich will. Vielleicht wäre es sogar die Flöte.«

»Ich habe mir manchmal gewünscht, jemand würde auf mich einreden. Meine Eltern hatten einen Autounfall und starben, als ich zwölf war. Die Tante, zu der ich kam, mochte Kinder nicht. Ich weiß auch nicht, ob mein Vater mich [17] mochte. Er hat manchmal gesagt, er freut sich, wenn ich größer bin und er was mit mir anfangen kann – klang nicht so gut.«

»Das tut mir leid. Wie war deine Mutter?«

»Schön. Sie wollte, dass ich so schön werde wie sie. Meine Garderobe war so fein wie ihre, und wenn Mutter mir beim Anziehen half, war sie wunderbar, liebevoll, zärtlich. Sie hätte mir beigebracht, wie man mit biestigen Freundinnen und frechen Freunden umgeht. So musste ich alles alleine lernen.«

Sie saßen unter dem Schirm und hingen ihren Erinnerungen nach. Wie zwei Kinder, die sich verirrt haben und nach Hause sehnen, dachte er. Ihm fielen Lieblingsbücher seiner Kindheit ein, in denen Jungen und Mädchen sich verirrten und in Höhlen und Hütten überlebten, auf einer Reise überfallen und in die Sklaverei verschleppt, in London geraubt und zum Betteln und Stehlen gezwungen oder aus dem Tessin als Schornsteinfeger nach Mailand verkauft wurden. Er hatte mit den Kindern um den Verlust der Eltern getrauert und auf die Rückkehr zu ihnen gehofft. Aber der Reiz der Geschichten lag darin, dass die Kinder ohne die Eltern zurechtkamen. Wenn sie schließlich nach Hause zurückkehrten, waren sie den Eltern entwachsen. Warum ist es so schwer, selbständig zu sein, wozu man doch nur sich selbst braucht und niemand anders? Er seufzte.

»Was ist?«

»Nichts«, sagte er und legte den Arm um sie.

»Du hast geseufzt.«

»Ich wäre gerne weiter, als ich bin.«

Sie kuschelte sich an seine Seite. »Das Gefühl kenne ich. [18] Aber ist es nicht so, dass wir in Schüben weiterkommen? Lange tut sich nichts, und plötzlich erleben wir eine Überraschung, haben eine Begegnung, treffen eine Entscheidung und sind nicht mehr dieselben wie zuvor.«

»Nicht mehr dieselben wie zuvor? Ich war vor einem halben Jahr auf einem Klassentreffen, und die, die in der Schule anständig und angenehm gewesen waren, waren’s immer noch, und die Arschlöcher waren immer noch Arschlöcher. Den anderen wird es mit mir nicht anders ergangen sein. Für mich war es ein Schock. Da arbeitet man an sich, denkt, man verändert und entwickelt sich, und die anderen erkennen einen sofort als den wieder, der man schon immer war.«

»Ihr Europäer seid Pessimisten. Ihr kommt aus der Alten Welt und könnt euch nicht vorstellen, dass die Welt neu wird und dass Menschen neu werden.«

»Lass uns am Strand wandern. Der Regen hat fast aufgehört.«

Sie schlugen die Handtücher um sich, liefen über den Strand und neben dem Meer. Sie liefen mit bloßen Füßen, und der nasse, kalte Sand prickelte.

»Ich bin kein Pessimist. Ich hoffe immer, dass mein Leben besser wird.«

»Ich auch.«

Als es wieder heftiger regnete, gingen sie zurück zu Susans Haus. Sie froren. Während Richard duschte, ging Susan in den Keller und stellte die Heizung an; während Susan duschte, machte Richard ein Feuer im Kamin. Er trug den Morgenmantel, den Susan von ihrem Vater behalten hatte, rot, warm, schwere Wolle mit seidenem Futter. Sie hängten ihre nassen Kleider zum Trocknen auf und fanden [19] heraus, wie der Samowar funktionierte, der auf dem Sims über dem Kamin stand. Dann saßen sie auf dem Sofa, sie im Schneidersitz in der einen, er auf den Knien in der anderen Ecke, tranken Tee und sahen einander an.

»Ich kann meine Sachen sicher bald wieder anziehen.«

»Bleib doch. Was willst du bei dem Regen machen? Alleine in deinem Zimmer sitzen?«

»Ich…« Er wollte einwenden, dass er sich nicht aufdrängen, sie nicht belästigen, ihren Tagesablauf nicht durcheinanderbringen wolle. Aber es waren Floskeln. Er wusste, dass sie sich über seine Gesellschaft freute. Er las es in ihrem Gesicht und hörte es in ihrer Stimme. Er lächelte sie an, zuerst höflich, dann verlegen. Wie, wenn die Situation bei Susan Erwartungen weckte, denen er nicht genügen konnte? Aber dann griff sie aus den Büchern und Zeitschriften neben dem Sofa ein Buch und las. Sie saß und las so selbstgenügsam, so behaglich, so entspannt, dass auch er sich zu entspannen begann. Er suchte und fand ein Buch, das ihn interessierte, las aber nicht, sondern sah ihr beim Lesen zu. Bis sie aufschaute und ihn anlächelte. Er lächelte zurück, endlich entspannt, und machte sich ans Lesen.

6

Als er um zehn ins Bed & Breakfast kam, saßen Linda und John vor dem Fernseher. Er sagte ihnen, er brauche am nächsten Morgen kein Frühstück, er werde bei der jungen Frau in dem kleinen Haus eine Meile weiter frühstücken, einer Bekanntschaft vom Abendessen im Restaurant.

[20] »Sie wohnt nicht im großen Haus?«

»Das macht sie, wenn sie alleine kommt, schon lange nicht mehr.«

»Aber im letzten Jahr…«

»Im letzten Jahr kam sie alleine, hatte aber ständig Besuch.«

Richard hörte Linda und John mit wachsender Irritation zu. »Sie reden von Susan…« Er merkte, dass sie sich einander nur mit dem Vornamen vorgestellt hatten.

»Susan Hartman.«

»Ihr gehört das große Haus mit den Säulen?«

»Ihr Großvater hat es in den zwanziger Jahren gekauft. Nach dem Tod ihrer Eltern hat der Verwalter das Anwesen runtergewirtschaftet, die Miete kassiert und nichts investiert, bis Susan ihn vor ein paar Jahren entlassen und die Häuser und den Garten wieder hergerichtet hat.«

»Hat das nicht ein Vermögen gekostet?«

»Es hat ihr nicht weh getan. Wir hier sind froh – es gab Interessenten, die das Grundstück parzellieren und das Haus aufteilen oder durch ein Hotel ersetzen wollten. Hier wäre alles anders geworden.«

Richard wünschte Linda und John eine gute Nacht und ging auf sein Zimmer. Er hätte Susan nicht angesprochen, wenn er von ihrem Reichtum gewusst hätte. Er mochte reiche Leute nicht. Er verachtete ererbten Reichtum und hielt erwirtschafteten Reichtum für ergaunert. Seine Eltern hatten nie genug verdient, um den vier Kindern zu geben, was sie ihnen gerne gegeben hätten, und er verdiente am New York Philharmonic Orchestra gerade so viel, dass er in der teuren Stadt zurechtkam. Er hatte keine reichen Freunde und nie welche gehabt.

[21] Er war wütend auf Susan. Als hätte sie ihn an der Nase herumgeführt. Als hätte sie ihn in eine Situation gelockt, in der er jetzt festsaß. Saß er fest? Er musste am nächsten Morgen nicht zu ihr zum Frühstück gehen. Oder er konnte zu ihr gehen und ihr sagen, sie könnten sich nicht mehr sehen, sie seien zu verschieden, ihre Leben seien zu verschieden, ihre Welten seien zu verschieden. Aber sie hatten gerade den Nachmittag gemeinsam vor dem Kamin verbracht und einander gelegentlich ein paar Sätze vorgelesen, sie hatten zusammen gekocht, gegessen, abgespült, einen Film angesehen und sich beide wohl gefühlt. Zu verschieden?

Er putzte seine Zähne mit einer solchen Wut, dass er seine linke Backe verletzte. Er setzte sich aufs Bett, hielt die Backe und tat sich leid. Er saß tatsächlich fest. Er hatte sich in Susan verliebt. Nur ein bisschen verliebt, sagte er sich. Denn was wusste er wirklich über sie? Was mochte er eigentlich an ihr? Wie sollte es mit der Verschiedenheit ihrer Leben und ihrer Welten gehen? Dreimal würde sie es vielleicht charmant finden, in dem kleinen italienischen Restaurant zu essen, das er sich leisten konnte. Sollte er sich danach von ihr einladen lassen? Oder sich mit Kreditkarten verschulden?

Er schlief nicht gut. Er wachte immer wieder auf, und als er um sechs merkte, dass er nicht mehr einschlafen würde, gab er auf, zog sich an und ging aus dem Haus. Der Himmel war voller dunkler Wolken, aber im Osten schimmerte es rot. Wenn Richard den Aufgang der Sonne über dem Meer nicht verpassen wollte, musste er sich beeilen und in den Straßenschuhen losrennen, die er statt der Laufschuhe angezogen hatte. Die Sohlen klatschten laut auf die Straße, scheuchten einmal einen Schwarm Krähen auf und einmal [22] ein paar Hasen. Das Rot im Osten leuchtete breiter und stärker; Richard hatte schon ein ähnliches Abend-, aber noch nie ein solches Morgenrot gesehen. Vor Susans Haus gab er sich Mühe, leise zu sein.

Dann erreichte er den Strand. Die Sonne stieg golden empor, aus einem glühenden Meer in einen flammenden Himmel – einige Augenblicke lang, bis die Wolken alles auslöschten. Richard war, als sei es plötzlich nicht nur dunkler, sondern auch kälter.

Er hätte sich keine Mühe geben müssen, vor Susans Haus leise zu sein. Sie war auch schon auf. Sie saß am Fuß einer Düne, sah ihn, stand auf und kam. Sie ging langsam; bei den Dünen war der Sand tief und fiel das Gehen schwer. Richard ging ihr entgegen, aber nur, weil er höflich sein wollte. Er sah ihr lieber zu, wie sie ging, mit ruhigem Schritt, mit sicherer Haltung, den Kopf manchmal gesenkt und manchmal gehoben und bei gehobenem Kopf den Blick fest auf ihn gerichtet. Ihm war, als würden sie im Aufeinanderzugehen etwas miteinander verhandeln, aber er wusste nicht, was. Er verstand nicht, was ihr Gesicht fragte und was für Antworten sie in seinem fand. Er lächelte, aber sie erwiderte das Lächeln nicht, sondern sah ihn ernst an.

Als sie einander gegenüberstanden, nahm sie seine Hand. »Komm!« Sie führte ihn zum Haus und über die Treppe ins Schlafzimmer. Sie zog sich aus, legte sich ins Bett und sah zu, wie er sich auszog und ins Bett legte. »Ich habe so lange auf dich gewartet.«

[23] 7

So liebte sie ihn. Als hätte sie ihn lange gesucht und endlich gefunden. Als könnten sie und er nichts falsch machen.

Sie nahm ihn mit, und er ließ es geschehen. Er fragte sich nicht: Wie bin ich?, und fragte sie nicht: Wie war ich? Als sie danach beieinanderlagen, wusste er, dass er sie liebte. Diese kleine Person mit den zu kleinen Augen, dem zu kräftigen Kinn, der zu dünnen Haut und der Gestalt, die knabenhafter war als die Frauengestalten, die er bisher geliebt hatte. Die eine Sicherheit hatte, die sie, herumgeschubst von mäßig liebevollen Eltern zu einer lieblosen Tante, nicht hätte haben dürfen. Die mehr Geld zu haben schien, als ihr guttun konnte. Die in ihm sah, was er selbst nicht sah, und die es ihm damit gab.

Er hatte zum ersten Mal eine Frau geliebt, als gebe es keine Bilder davon, wie Liebe zu geschehen hat. Als seien sie ein Paar aus dem 19. Jahrhundert, dem Kino und Fernsehen noch nicht mit ihren Bildern vorschreiben konnten, wie richtig geküsst, richtig gestöhnt, dem Gesicht der richtige Ausdruck der Leidenschaft und dem Körper die richtige Zuckung der Lust gegeben wird. Ein Paar, das die Liebe und das Küssen und Stöhnen für sich erfand. Susan schien nie die Augen zu schließen. Wann immer er sie ansah, sah auch sie ihn an. Er liebte ihren Blick, selbstvergessen, vertrauensvoll.

Sie stützte sich auf und lachte ihn an. »Wie gut, dass ich dich, als du im Restaurant nicht wusstest, was du tun solltest, angelächelt habe. Ich dachte zuerst, es sei nicht nötig. Ich dachte, du kämst auf dem direktesten und schnellsten Weg zu mir.«

[24] Er lachte fröhlich zurück. Ihnen kam nicht in den Sinn, was bei der Begegnung im Restaurant geknirscht und geholpert hatte, als Warnung zu nehmen. Sie nahmen es als Ungeschick, das von einem Lachen überwunden werden konnte.

Sie blieben bis zum Abend im Bett. Dann holten sie Susans Auto aus der Garage, einen gepflegten älteren BMW, und fuhren durch Nacht und Regen zu einem Supermarkt. Das Licht war grell, es roch chemisch sauber, die Musik klang synthetisch, und die wenigen Käufer schoben ihre Einkaufswagen müde durch die leeren Gänge. »Wir hätten im Bett bleiben sollen«, flüsterte sie ihm zu, und er war froh, dass sie von Licht und Geruch und Musik ebenso verstört war wie er. Sie seufzte, lachte, machte sich ans Einkaufen und hatte den Wagen bald voll. Manchmal tat auch er etwas hinein, Äpfel, Pfannkuchen, Wein. An der Kasse zahlte er mit seiner Kreditkarte und wusste, dass er im nächsten Monat zum ersten Mal die Abrechnung nicht würde zahlen können. Es beunruhigte ihn, aber mehr noch irritierte ihn, dass ihn an einem solchen Tag die Lappalie eines überzogenen Kreditkartenkontos beunruhigen konnte. Also kaufte er im Wein- und Spirituosenladen nebenan drei Flaschen Champagner.

Auf der Heimfahrt fragte sie: »Holen wir deine Sachen?«

»Vielleicht schlafen Linda und John schon. Ich will sie nicht wecken.«

Susan nickte. Sie fuhr schnell und sicher, und daran, wie sie die vielen Kurven nahm, merkte er, dass sie das Auto und die Strecke gut kannte. »Bist du mit dem Auto von Los Angeles gekommen?«

[25] »Nein. Das Auto gehört hierher. Clark kümmert sich um Haus und Garten und auch ums Auto.«

»Du wohnst im großen Haus nur, wenn du Gäste hast?«

»Wollen wir morgen hochziehen?«

»Ich weiß nicht. Es ist…«

»Es ist für mich zu groß. Aber mit dir würde es Spaß machen. Wir würden in der Bibliothek lesen, im Billardzimmer spielen, im Musikzimmer würdest du Flöte üben, im kleinen Salon würde ich das Frühstück und im großen das Abendessen servieren lassen.« Sie redete immer fröhlicher, immer entschlossener. »Wir schlafen im großen Schlafzimmer, in dem meine Großeltern und Eltern geschlafen haben. Oder wir schlafen in meinem Zimmer in dem Bett, in dem ich als Mädchen von meinem Prinzen geträumt habe.«

Er sah ihr lächelndes Gesicht im matten Licht der Armaturen. Susan war an ihre Erinnerungen verloren. Zum ersten Mal, seit sie sich kannten, war sie weit weg. Richard wollte fragen, von welchem Schauspieler oder Sänger sie damals geträumt hatte, wollte alles über die Männer in ihrem Leben wissen, wollte hören, dass sie alle nur Propheten waren und er der Messias. Aber dann kam ihm seine Sorge um die anderen Männer ebenso kleinlich vor wie die um das überzogene Kreditkartenkonto. Er war müde und legte den Kopf an Susans Schulter. Sie strich ihm mit der Linken über den Kopf, drückte den Kopf an ihre Schulter, und er schlief ein.

[26] 8

Über die Männer in Susans Leben erfuhr er alles in den nächsten Tagen. Er erfuhr auch von ihrer Sehnsucht nach Kindern, mindestens zwei, am liebsten vier. Mit ihrem Mann hatte es zunächst nicht geklappt, dann hatte sie ihn nicht mehr geliebt und sich von ihm scheiden lassen. Er erfuhr, dass sie auf dem College Kunstgeschichte studiert hatte, auf die Business School gegangen war und eine Firma für Spielzeugeisenbahnen saniert hatte. Sie hatte die Firma von ihrem Vater geerbt und inzwischen mit den anderen Firmen, die sie geerbt hatte, verkauft. Er erfuhr, dass sie eine Wohnung in Manhattan hatte, die sie gerade renovieren ließ, weil sie von Los Angeles nach New York ziehen wollte. Er erfuhr auch, dass sie einundvierzig war, zwei Jahre älter als er.

Immer wieder mündete, was Susan von ihrem bisherigen Leben erzählte, in Pläne für eine gemeinsame Zukunft. Sie beschrieb ihre Wohnung in New York: die breite Treppe, die vom unteren Geschoss der Wohnung im sechsten Stock zum oberen im siebten führte, die breiten Flure, die großen, hohen Räume, die Küche mit dem Essensaufzug, den Blick auf den Park. Sie war in der Wohnung aufgewachsen, bis ihre Tante sie nach dem Tod der Eltern nach Santa Barbara holte. »Ich bin die Treppengeländer runtergerutscht und in den Fluren Rollschuh gelaufen, habe in den Essensaufzug gepasst, bis ich sechs war, und konnte vom Bett das Spiel der Baumwipfel vor dem Fenster sehen. Du musst dir die Wohnung anschauen!« Sie konnte sie ihm nicht zeigen, weil sie vom Cape nach Los Angeles fliegen und den Umzug der Stiftung und den eigenen Umzug vorbereiten musste. »Triffst [27] du dich mit dem Architekten? Wir können noch alles ändern.«

Ihr Großvater hatte nicht nur die zweistöckige Wohnung, sondern das ganze Haus an der 5th Avenue günstig in der Wirtschaftskrise gekauft. Wie das Anwesen auf dem Cape und eines in den Adirondacks. »Auch das muss ich wieder herrichten. Hast du Spaß an Architektur? Am Bauen und Renovieren und Einrichten? Ich habe Pläne bekommen und mitgebracht – schaust du sie mit mir an?«

Sie erzählte von einem befreundeten Paar, das seit Jahren vergebens auf Kinder gehofft und seine Ferien gerade auf einer Fertility Farm verbracht hatte. Sie beschrieb die Diät und das Programm, das den beiden Schlaf- und Gymnastik- und Essenszeiten und auch die Zeiten vorgab, zu denen sie sich zu lieben hatten. Sie fand es lustig und war zugleich ein bisschen ängstlich. »Ihr Europäer kennt das nicht, habe ich gelesen. Ihr nehmt das Leben als Schicksal, an dem man nichts ändern kann.«

»Ja«, sagte er, »und wenn uns bestimmt ist, unsere Väter zu erschlagen und unsere Mütter zu beschlafen, dann gibt es nichts, was wir dagegen tun können.«

Sie lachte. »Dann könnt ihr eigentlich nichts gegen die Fertility Farm haben. Wenn sie eurer Bestimmung nicht hilft, kann sie ihr doch auch nicht schaden.« Sie zuckte entschuldigend die Schultern. »Es ist nur, weil es mit Robert damals nicht geklappt hat. Vielleicht lag es gar nicht an mir, vielleicht lag es an ihm, wir haben keine Tests gemacht. Trotzdem habe ich seitdem Angst.«

Er nickte. Auch er bekam Angst. Vor den mindestens zwei und höchstens vier Kindern. Davor, Susan auf der [28] Fertility Farm bei bestimmter Diät zu bestimmten Zeiten lieben zu müssen. Vor dem lauten Ticken der biologischen Uhr, bis das vierte Kind kam oder keines mehr kommen konnte. Davor, dass die Hingabe und Leidenschaft, mit der Susan ihn liebte, nicht ihm galt.

»Du musst keine Angst haben. Ich sage einfach, was mich beschäftigt. Das heißt nicht, dass das mein letztes Wort ist. Du zensierst, was du sagst.«

»Das ist wieder europäisch.« Er wollte nicht über seine Angst reden. Sie hatte recht; er zensierte, was er sagte, sie sagte, was sie gerade dachte und fühlte. Nein, sie wollte nicht den Aufenthalt in der Fertility Farm mit ihm planen. Aber sie wollte die Zukunft mit ihm planen, und obwohl er das auch wollte, von Tag zu Tag mehr, hatte er so viel weniger einzubringen als sie, keine Wohnung, keine Häuser, kein Geld. Hätten er und die Frau am ersten Pult der zweiten Geigen sich ineinander verliebt, dann hätten sie zusammen eine Wohnung gesucht und zusammen entschieden, was von ihren und was von seinen Möbeln in die neue Wohnung kommt und was sie bei Ikea oder beim Trödel suchen müssen. Susan war sicher bereit, ein oder zwei Zimmer mit seinen Sachen einzurichten. Aber er wusste, dass es nicht stimmen würde.

Er konnte seine Flöte und seine Noten mitbringen und an dem Notenständer üben, den sie sicher unter ihren Möbeln hatte. Er konnte seine Bücher in ihre Regale stellen, seine Papiere in den Aktenschrank ihres Vaters legen und seine Briefe an dessen Schreibtisch schreiben. Seine Kleider hängte er am besten gleich in ihren Schrank hier auf dem Land; in der Stadt würde er in ihnen keine gute Figur an ihrer Seite [29] machen. Sie würde ihm mit Freude und modischem Verstand neue Kleider kaufen.

Er übte viel. Meistens trocken, wie er es nannte, wenn er einfach den kleinen Finger beugte und streckte. Immer öfter auch an der Flöte. Sie wurde ein Stück von ihm, wie sie es bisher nicht gewesen war. Sie gehörte ihm, war viel wert, mit ihr schuf er Musik und verdiente Geld, er konnte sie überallhin mitnehmen, er war überall mit ihr zu Hause. Und er bot Susan mit seinem Spiel, was niemand sonst ihr bieten konnte. Wenn er improvisierte, fand er Melodien, die zu ihren Stimmungen passten.

9

Das Eckzimmer des großen Hauses war ihr Lieblingszimmer. Die vielen Fenster reichten bis zum Boden und wurden bei schönem Wetter zur Seite geschoben, bei rauhem durch Läden geschützt. Hier fühlten sie sich, wenn der Regen sie nicht am Strand wandern ließ, dem Meer, den Wellen, den Möwen, den gelegentlichen Schiffen doch nahe. Manchmal peitschte der Regen ihnen am Strand so kalt und scharf ins Gesicht, dass es weh tat.

Das Zimmer war mit Korbmöbeln ausgestattet, mit Liegen, Sesseln, Tischen und weichen Polstern auf dem harten Geflecht. »Schade«, sagte er, als sie ihn durchs Haus führte und er die Liegen sah, nur für eine Person breit genug. Zwei Tage später hielt, als sie im kleinen Salon frühstückten, ein Lastwagen, und zwei Männer in blauen Overalls trugen eine Doppelliege ins Haus. Sie passte zu den anderen Möbeln, [30] und ihr Polster trug dasselbe Blumenmuster wie die anderen Polster.

Das Wetter sorgte dafür, dass ein Tag dem anderen glich. Es regnete Tag um Tag, manchmal steigerte der Regen sich zum Gewitter, manchmal setzte er für Stunden und manchmal nur für Minuten aus, manchmal riss der Himmel kurz auf, und die Dächer leuchteten blank. Wenn das Wetter es zuließ, wanderten Susan und Richard am Strand, wenn die Vorräte ausgingen, fuhren sie zum Supermarkt, sonst blieben sie im großen Haus. Susan hatte beim Wechsel vom kleinen ins große Haus Clarks Frau Mita angerufen, die jeden Tag für einige Stunden kam, sich ums Putzen und Waschen und Kochen kümmerte. Sie tat es so diskret, dass Richard ihr erst nach einigen Tagen begegnete.

Eines Abends luden sie Linda und John zum Essen ein. Susan und Richard kochten, hatten keine Ahnung vom Kochen und taten sich schon schwer, das Kochbuch zu lesen. Aber sie brachten schließlich Steaks mit Kartoffeln und Salat auf den Tisch und hatten das gute Gefühl, gemeinsam Krisen bestehen zu können. Sonst luden sie niemanden ein und besuchten niemanden. »Für unsere Freunde ist immer noch Zeit.«

Wenn die Dämmerung einsetzte, liebten sie sich. Ihnen genügte das Licht des Abends, bis es völlig dunkel war und sie eine Kerze anzündeten. Sie liebten sich so ruhig, dass Richard sich manchmal fragte, ob er Susan glücklicher machen würde, wenn er ihr und sich die Kleider vom Leib risse, über sie herfiele und sich ihr auslieferte. Er schaffte es nicht, und sie schien es nicht zu vermissen. Wir sind keine Wildkatzen, dachte er, wir sind Hauskatzen.

[31] Bis zu ihrem großen Streit, dem ersten und einzigen, den sie hatten. Sie wollten zum Supermarkt fahren, und Susan ließ Richard im Auto warten, weil sie plötzlich ans Telefon musste und am Telefon kein Ende fand. Dass sie ihn ohne Erklärung warten ließ, dass sie ihn vergessen hatte oder einfach vernachlässigen konnte, machte ihn so wütend, dass er ausstieg, ins Haus ging und sie anfuhr, als sie gerade den Hörer auf die Gabel legte. »Ist das, was ich zu erwarten habe? Was du machst, ist wichtig, und was ich mache, nicht? Deine Zeit ist kostbar, meine nicht?«

Sie verstand ihn zunächst nicht. »Los Angeles hat angerufen. Der Vorstand…«

»Warum hast du das nicht gesagt? Warum hast du mich ewig…«

»Tut mir leid, dass ich dich ein paar Minuten habe warten lassen. Ich dachte, ein europäischer Mann sieht einer Frau…«

»Die Europäer – ich kann’s nicht mehr hören. Ich habe draußen eine halbe Stunde…«

Jetzt wurde auch sie wütend. »Eine halbe Stunde? Ein paar Minuten waren es. Wenn sie dir zu lange werden, geh ins Haus, und lies die Zeitung. Du Primadonna, du…«

»Primadonna? Ich? Wer von uns…«

Sie warf ihm unverständliches, übertriebenes Getue vor. Er verstand nicht, was unverständlich und übertrieben daran sein sollte, dass er ebenso zählen wollte wie sie, er, der nichts hatte, wie sie, die alles hatte. Sie verstand nicht, dass er auf den abwegigen Gedanken kommen konnte, er zähle nicht. Schließlich schrien sie einander an, wütend, verzweifelt.

»Ich hasse dich!« Sie trat zu ihm, er wich zurück, sie blieb [32] an ihm, und als er an der Wand stand und nicht weiterkonnte, schlug sie ihm mit den Fäusten auf die Brust, bis er sie in die Arme nahm und an sich drückte. Zuerst nestelte sie an den Knöpfen seines Hemds, dann riss sie es auf, er versuchte, ihr die Jeans auszuziehen, und sie ihm, aber es war zu mühsam und ging zu langsam, und so machten sie es selbst und zogen in einem Schwung Jeans und Unterhosen und Socken aus. Sie liebten sich auf dem Boden im Flur, hastig, drängend, leidenschaftlich.

Danach lag er auf dem Rücken und sie halb in seinem Arm, halb auf seiner Brust. »Also doch«, sagte er und lachte fröhlich. Sie machte eine kleine Bewegung, ein Kopfschütteln, ein Schulterzucken, und schmiegte sich enger an ihn. Er spürte, dass sie, anders als ihn, nicht die Leidenschaft des Streitens in die Leidenschaft des Liebens getragen hatte. Sie hatte sein Hemd nicht aufgerissen, weil sie seine Brust fühlen, sondern weil sie sein Herz finden wollte. Ihre Leidenschaft hatte der Rückkehr zur Ruhe gegolten, die sie im Streit verloren hatten.

Sie fuhren zum Supermarkt, und Susan füllte den Einkaufswagen, als blieben sie noch Wochen. Auf der Heimfahrt brach die Sonne durch die Wolken, und sie nahmen die nächste Straße ans Meer, nicht ans offene Meer, sondern an die Bay. Das Wasser war glatt und die Luft klar; sie sahen die Spitze des Cape und die andere Seite der Bay.

»Ich mag es, wenn vor dem Gewitter die Sicht so weit ist und die Konturen so scharf sind.«

»Gewitter?«

»Ja. Ich weiß nicht, ob die Feuchtigkeit oder die Elektrizität die Luft so klar macht, aber es ist die Luft vor dem [33] Gewitter. Eine trügerische Luft; sie verspricht dir gutes Wetter, und was sie bringt, ist ein Gewitter.«

»Bitte entschuldige, dass ich dich vorhin angefahren habe. Nicht nur angefahren, ich habe dich angeschrien. Es tut mir aufrichtig leid.«