cover

Martin Suter

Small World

Roman

 
 
 

 

 

 

 

 

 

 

 

Die Erstausgabe erschien
1997 im Diogenes Verlag

Covermotiv: Foto von Fulvio Roiter

Copyright © Fulvio Roiter

 

 

Für Vater

 

 

Alle Rechte vorbehalten

Copyright © 2016

Diogenes Verlag AG Zürich

www.diogenes.ch

ISBN Buchausgabe 978 3 257 23088 8 (48. Auflage)

ISBN E-Book 978 3 257 60047 6

Die grauen Zahlen im Text entsprechen den Seitenzahlen der im Impressum genannten Buchausgabe.

[5] 1

Als Konrad Lang zurückkam, stand alles in Flammen, außer dem Holz im Kamin.

Er wohnte in der Koch-Villa auf Korfu etwa vierzig Kilometer nördlich von Kerkira. Sie bestand aus einem verschachtelten Gebäudekomplex, der in Kaskaden aus Zimmern, Gärten, Terrassen und Pools zu einer sandigen Bucht abfiel. Ihr kleiner Strand war nur vom Meer aus zugänglich oder mit einer Art Drahtseilbahn, die durch alle Ebenen der Anlage führte.

Genaugenommen wohnte Konrad Lang nicht in der Villa, sondern im Pförtnerhäuschen, einem kalten, feuchten Maueranbau im Schatten des Pinienwäldchens, das die Einfahrt säumte. Konrad Lang war kein Gast der Villa, sondern so etwas wie ihr Verwalter. Gegen Kost, Unterkunft und eine Pauschale hatte er dafür zu sorgen, daß das Haus auf Abruf für Familienmitglieder und Gäste bereit war. Er hatte die Löhne der Angestellten auszuzahlen und die Rechnungen der Handwerker, die ständig mit Unterhaltsarbeiten beschäftigt waren. Das Salz und die Feuchtigkeit setzten dem Bauwerk zu.

Um die Landwirtschaft, etwas Oliven, Mandeln, Feigen, Orangen und eine kleine Schafherde, kümmerte sich der Pächter.

[6] Während der Wintermonate, die stürmisch, regnerisch und kühl waren, hatte Konrad praktisch nichts zu tun, außer einmal am Tag nach Kassiopi zu fahren und sich mit ein paar Leidensgenossen zu treffen, die den Winter ebenfalls auf der Insel verbrachten: einem alten englischen Antiquitätenhändler, der deutschen Besitzerin einer nicht mehr sehr aktuellen Boutique, einem betagten Maler aus Österreich und einem Westschweizer Paar, das ebenfalls auf eine Villa aufpaßte. Sie schwatzten in einem der wenigen Lokale, die außerhalb der Saison offen hatten, und tranken etwas, meistens zuviel.

Den Rest der Tage brachte er damit zu, sich vor der feuchten Kälte zu schützen, die bis auf die Knochen drang. Die Koch-Villa war, wie viele Ferienvillen auf Korfu, nicht für den Winter gebaut. Das Pförtnerhaus besaß nicht einmal einen Kamin, nur zwei Elektroheizungen, die er aber nicht gleichzeitig einschalten durfte. Sonst sprang die Sicherung heraus.

So kam es, daß er sich an besonders kalten Tagen und manchmal auch Nächten im Living des untersten Gästetrakts aufhielt. Ihm gefiel es dort, weil er sich an dessen Fensterfront wie ein Kapitän auf der Kommandobrücke eines Luxusliners vorkam: unter ihm ein türkisblauer Pool, vor ihm nichts als das gleichmütige Meer. Dazu kamen die Annehmlichkeiten des gut funktionierenden Kamins und des Telefons. Das Pförtnerhaus war ursprünglich das Personalhaus des untersten Gästetrakts gewesen, und er konnte Gespräche nach hier unten verlegen und so tun, als wäre er da, wo er hingehörte. Die Räume der Villa waren für Konrad nach Elvira Senns Weisungen tabu.

[7] Es war Februar. Ein stürmischer Ostwind hatte den ganzen Nachmittag die Palmen gezaust und graue Wolkenfetzen vor die Sonne getrieben. Konrad beschloß, sich mit ein paar Klavierkonzerten im untersten Gästesalon zu verkriechen. Er lud etwas Holz und einen Kanister Benzin auf die Drahtseilbahn und fuhr hinunter.

Das Benzin war nötig, um das Holz in Brand zu setzen. Er hatte vor zwei Wochen eine Ladung Mandelholz bestellt, das lange und heiß brannte, wenn es trocken war. Aber das, was man ihm geliefert hatte, war feucht. Es gab keine andere Methode, es in Brand zu setzen. Nicht sehr elegant, aber sehr wirksam. Konrad hatte es schon Dutzende Male so gemacht.

Er schichtete ein paar Scheite auf, übergoß sie mit Benzin und hielt ein Streichholz dran. Dann fuhr er in der Drahtseilbahn hinauf, um sich in seiner kleinen Küche zwei Flaschen Wein, eine halbvolle Flasche Ouzo, Oliven, Brot und Käse zu holen.

Auf dem Rückweg lief er dem Pächter über den Weg, der ihm eine Stelle an der Mauer zeigen wollte, wo der Salpeter den Verputz zerfressen hatte.

Als Konrad Lang wieder nach unten fuhr, kam ihm Rauch entgegen. Er schrieb das dem Wind zu, der von einem ungewöhnlichen Winkel vom Meer her in den Kamin blies, und machte sich keine Gedanken.

Aber als die Kabine im untersten Gästetrakt hielt, stand alles in Flammen außer dem Holz im Kamin. Es war eines jener Mißgeschicke, die einem passieren, wenn man in Gedanken ist: Er hatte die Scheite in den Kamin geschichtet, aber dann den Stoß neben dem Kamin in Brand gesetzt. Die [8] Flammen hatten während seiner Abwesenheit auf die indonesische Rattan-Sitzgruppe und von dort auf die Ikats an den Wänden übergegriffen.

Vielleicht wäre der Brand noch zu löschen gewesen, wenn nicht genau in dem Moment, als Konrad Lang die Kabine verlassen wollte, der offene Benzinkanister explodiert wäre. Konrad tat das einzig Vernünftige: Er drückte auf den obersten Knopf.

Während die Kabine langsam nach oben glitt, füllte sich der Schacht rasch mit beißendem Rauch. Zwischen der zweitobersten und der obersten Ebene fing sie an zu bocken, ruckte ein paarmal und hing dann fest.

Konrad Lang hielt sich seinen Pullover vor den Mund und schaute in den Rauch, der rasch immer schwärzer und undurchdringlicher wurde. In Panik hebelte er an der Kabinentür, brachte sie irgendwie auf, hielt den Atem an und krabbelte die Stufen neben der Trasse hinauf. Schon nach ein paar Metern erreichte er die oberste Ebene und rettete sich hustend und keuchend ins Freie.

Die Koch-Villa auf Korfu war kurz vor dem Brand von einer holländischen Innenarchitektin völlig neu eingerichtet worden. Sie war vollgestopft mit indonesischen und marokkanischen Antiquitäten, Textilien und Ethnokitsch. Das Zeug brannte wie Zunder.

Der Wind trieb die Flammen durch den Seilbahnschacht in die Wohnräume aller Etagen und von dort in die Schlafzimmer und Nebenräume.

Als die Feuerwehr kam, hatte das Feuer bereits vom Haus abgelassen und wurde vom Sturm über die Palmen und Bougainvilleen gegen den Pinienwald gejagt. Die Männer [9] beschränkten sich darauf, ein Übergreifen der Flammen auf die Pinien und die umliegenden Oliven zu verhindern. Es hatte wenig geregnet für die Jahreszeit.

Konrad verzog sich mit einer Flasche Ouzo ins Pförtnerhaus. Erst als die Königspinie vor dem Fenster in einem Flammenbündel explodierte, torkelte er hinaus und schaute von weitem zu, wie das Feuer das weiße Häuschen mit all seinen Habseligkeiten vernichtete.

Zwei Tage später war Schöller zur Stelle. Er ließ sich von Apostolos Ioannis, dem Leiter der griechischen Tochter von »Koch Ingeneering«, durch die Brandstätte führen und stocherte da und dort mit der Schuhspitze im verkohlten Schutt. Den Notizblock steckte er bald wieder weg. Die Villa war vollständig ausgebrannt.

Schöller war der persönliche Assistent von Elvira Senn. Ein dünner, akkurater Mann Mitte Fünfzig. Er besaß keinerlei offizielle Funktion im Unternehmen, seinen Namen suchte man vergebens im Handelsregister, aber er war Elviras verlängerter Arm und als solcher bis in die Konzernspitze gefürchtet.

Bisher hatte Konrad Lang seine Angst vor Schöller damit überspielt, daß er ihn mit der Herablassung des Höhergeborenen behandelte. Obwohl Schöller derjenige war, der die Weisungen erteilte, war es Konrad gelungen, sie entgegenzunehmen, als wären sie das Resultat vorangegangener vertraulicher Konsultationen mit Elvira. Auch wenn Schöller genau wußte, daß alle Kontakte zwischen Elvira Senn und Konrad Lang über ihn liefen, die Tatsache, daß die Grande Dame der Schweizer Hochfinanz für ihn immer wieder [10] Fäden zog, ihn sein Leben lang immer wieder irgendwo in ihrem weitverzweigten Imperium und ihrem internationalen Bekanntenkreis als Gesellschafter, Verwalter oder Mädchen für alles unterbrachte, nahm er dem hochnäsigen Alten persönlich übel. Nur weil dieser einen Teil seiner Jugend mit ihrem Stiefsohn Thomas Koch verbracht hatte, fühlte sie sich verpflichtet, ihn zwar auf Distanz aber doch immer irgendwie über Wasser zu halten.

Lang war eine der lästigsten Aufgaben in seinem Pflichtenheft. Schöller hoffte, der Brand würde ausreichen, um sie endlich ein für allemal abzuhaken.

Stundenlang hatte Konrad Lang starr im Widerschein der Flammen mitten im Tumult der Löschmannschaften gestanden. Nur wenn er einen Schluck aus der Flasche brauchte, bewegte er sich, oder wenn er den Kopf einzog, weil das Löschflugzeug tief über die Pinien dröhnte, um eine weitere Ladung Wasser abzuwerfen. Irgendwann kam der Pächter mit zwei Männern, die ihn zum Vorfall befragen wollten. Als sie merkten, daß Konrad Lang nicht vernehmungsfähig war, brachten sie ihn nach Kassiopi, wo er die Nacht in einer Polizeizelle verbrachte.

Am nächsten Morgen bei der Befragung konnte er sich nicht erklären, wie das Feuer entstanden war. Das war nicht einmal gelogen.

Die Erinnerungen an die Entstehung des Brandes tauchten erst im Laufe des Tages in kleinen Portionen wieder auf. Aber da hatte er schon empört jegliche Schuld von sich gewiesen und hielt diese Aussage verzweifelt aufrecht. Vielleicht wäre er damit durchgekommen, hätte der Pächter [11] nicht ausgesagt, er habe Konrad Lang an diesem Nachmittag mit einem Kanister Benzin auf dem Weg in den untersten Gästetrakt gesehen.

Lang wurde daraufhin bis zur Abklärung des Verdachtes auf vorsätzliche Brandstiftung ins Polizeihauptquartier in Kerkira gebracht. Dort befand er sich auch noch, als Schöller in seinem Zimmer im Corfu Hilton International den Ruß abduschte, sich umzog und ein Tonic aus der Minibar nahm.

Als Konrad Lang eine Stunde später aus seiner Zelle geholt und in das kahle Büro geführt wurde, in dem ihn Elviras Assistent mit einem Beamten erwartete, hatte er über fünfzig Stunden in Polizeigewahrsam verbracht und jede Überheblichkeit abgelegt. Er, der Wert darauf legte, in jeder Situation korrekt gekleidet und sauber rasiert zu sein, trug jetzt eine rußgefleckte Kordhose, verdreckte Schuhe, ein schmutziges Hemd, eine zerknitterte Krawatte und den ehemals gelben Kaschmirpullover, den er als Atemschutz benutzt hatte. Sein kurz getrimmter Schnurrbart hob sich kaum mehr von den Bartstoppeln ab, das graue Haar fiel ihm strähnig ins Gesicht, und die Säcke unter den Augen waren dunkler und schwerer als sonst. Er war fahrig und zittrig, und das kam nicht allein von der Aufregung, sondern vor allem vom brüsken Alkoholentzug. Lang war etwas über dreiundsechzig, aber an diesem Nachmittag sah er aus wie fünfundsiebzig. Schöller übersah die Hand, die sich ihm entgegenstreckte.

Konrad Lang setzte sich und wartete, bis Schöller etwas sagen würde. Aber Schöller sagte nichts. Er schüttelte nur [12] den Kopf. Und als Lang hilflos die Schultern hob, schüttelte er ihn weiter.

»Was nun?« fragte Konrad Lang schließlich.

Schöller schüttelte immer noch den Kopf.

»Das Mandelholz. Es brennt nicht, wenn es feucht ist. Ein Unfall.«

Schöller verschränkte die Arme und wartete.

»Sie haben keine Ahnung, wie kalt es hier im Winter werden kann.«

Schöller schaute zum Fenster. Draußen ging ein strahlender Tag zur Neige.

»Das ist nicht normal für diese Jahreszeit.«

Schöller nickte.

Lang wandte sich an den Beamten, der etwas Englisch sprach. »Sagen Sie ihm, daß ein Tag wie heute für diese Jahreszeit sehr ungewöhnlich ist.«

Der Beamte zuckte die Achseln. Schöller blickte auf die Uhr.

»Sagen Sie denen, daß ich kein Brandstifter bin. Sonst behalten die mich hier.«

Schöller stand auf.

»Sagen Sie denen, daß ich ein alter Freund des Hauses bin.«

Schöller schaute auf Konrad Lang herab und schüttelte wieder den Kopf.

»Haben Sie Elvira erklärt, daß es ein Unfall war?«

»Ich werde Frau Senn morgen unterrichten.« Schöller ging zur Tür.

»Was werden Sie ihr sagen?«

»Ich werde ihr empfehlen, Anzeige zu erstatten.«

[13] »Ein Unfall«, stammelte Konrad Lang noch einmal, als Schöller den Raum verließ.

Schöller nahm am nächsten Tag die einzige Maschine, die außerhalb der Saison vom Ioannis-Kapodistrias-Flughafen nach Athen flog. Er hatte einen akzeptablen Anschluß und war am späten Nachmittag in Elvira Senns Arbeitszimmer im »Stöckli«. So nannten die Kochs den Bungalow aus Glas, Stahl und Sichtbeton, den Elvira sich von einem prominenten spanischen Architekten als Alterssitz in den Park der »Villa Rhododendron« hatte bauen lassen. Der Park bestand aus etwa neunzehntausend Quadratmetern leicht abfallendem Gelände mit verschlungenen Weglein durch unzählige Arten von Rhododendren und Azaleen und alten Baumbestand. Das Zimmer war, wie alle Räume, nach Südwesten ausgerichtet und bot eine prächtige Aussicht auf den See, den Hügelzug am anderen Ufer und an klaren Tagen bis hinauf zur Alpenkette.

Elvira Senn war mit neunzehn als Kindermädchen zu Wilhelm Koch gekommen, dem verwitweten Gründer der Koch-Werke. Dessen Frau war kurz nach der Geburt ihres einzigen Kindes verstorben. Elvira hatte ihn kurz darauf geheiratet und sich zwei Jahre nach seinem frühen Tod wieder verheiratet, diesmal mit dem leitenden Direktor der Koch-Werke, Edgar Senn. Er war ein tüchtiger Mann, der in den Kriegsjahren die Werke – eine nicht sehr innovative aber solide Maschinenfabrik – zum Blühen gebracht hatte. Er produzierte nicht lieferbare Ersatzteile deutscher, englischer, französischer und amerikanischer Autos, Motoren und Maschinen. Nach dem Krieg nutzte er diese Erfahrung [14] und stellte viele der gleichen Produkte in Lizenz her. Die Gewinne der Wirtschaftswunderjahre investierte er in großem Stil in Immobilien, verkaufte rechtzeitig und verschaffte sich so die Mittel für eine breite Diversifikation. So überstanden die Koch-Werke die Rezession. Nicht ganz unbeschadet, aber gut.

Schon immer hatte man gemunkelt, seine geschickte Hand werde von der noch geschickteren seiner Frau geführt. Als Edgar Senn 1965 mit sechzig an einem Herzinfarkt starb und das Unternehmen unbeirrt weiter gedieh, fanden sich viele in diesem Verdacht bestätigt. Heute waren die Koch-Werke ein gut ausbalancierter Mischkonzern, ein wenig Maschinen, ein wenig Textil, ein wenig Elektronik, ein wenig Chemie, ein wenig Energie. Sogar ein wenig Ökotechnik.

Vor zehn Jahren, als Elvira verlauten ließ, es sei Zeit, den Jungen Platz zu machen, war sie ins »Stöckli« gezogen. Aber die Zügel, die sie laut Pressemeldung damals ihrem inzwischen dreiundfünfzigjährigen Stiefsohn Thomas übergeben hatte, hielt sie immer noch fest in der Hand. Sie blieb zwar nicht Mitglied des Verwaltungsrats, aber die Beschlüsse der Sitzungen, die regelmäßig bei ihr im »Stöckli« stattfanden, waren weitreichender und bindender als alles, was in diesem Gremium beschlossen wurde. Und das wollte sie so halten, bis Thomas’ Sohn Urs so weit war, ihre Rolle zu übernehmen. Thomas selbst gedachte sie zu überspringen. Aus Gründen, die mit seinem Charakter zu tun hatten.

Sie nahm die Nachricht vom Totalschaden in Korfu mit der erwarteten Gelassenheit auf. Ein einziges Mal in ihrem Leben war sie dort gewesen – vor über zwanzig Jahren.

[15] »Wie sieht denn das aus, wenn ich ihn ins Gefängnis bringe?«

»Sie bringen ihn nicht ins Gefängnis. Dafür ist die Justiz zuständig. Brandstiftung ist auch in Griechenland ein Offizialdelikt.«

»Konrad Lang ist kein Brandstifter. Er wird nur etwas alt.«

»Wenn Sie wollen, daß es als fahrlässige Brandstiftung gewertet wird, müssen wir zu seinen Gunsten aussagen.«

»Und was machen sie dann mit ihm?«

»Er wird zu einem Bußgeld verurteilt. Falls er es bezahlen kann, muß er nicht ins Gefängnis.«

»Ich muß Sie nicht fragen, was Sie an meiner Stelle tun würden.«

»Nein.«

Elvira überlegte. Die Vorstellung, Konrad Lang tausendfünfhundert Kilometer weiter südlich sicher verwahrt zu wissen, war ihr nicht ganz unangenehm. »Wie sind die griechischen Gefängnisse?«

»Mit ein paar Drachmen kann man es sich dort ganz erträglich einrichten, sagt Ioannis.«

Elvira Senn lächelte. Sie war eine alte Frau, obwohl man es ihr nicht ansah. Sie hatte ihr Leben lang viel Zeit, Energie und Geld darauf verwendet, nicht alt zu werden. Sie hatte mit etwas über vierzig begonnen, in regelmäßigen Abständen kleine kosmetische Korrekturen vorzunehmen, vor allem im Gesicht. Das hatte ihr eine Zeitlang zwar etwas frühzeitig Guterhaltenes verliehen, aber inzwischen war sie achtundsiebzig und sah an guten Tagen aus wie keine Sechzig. Nicht nur dank dem Geld und der Chirurgie, auch die [16] Natur hatte es gut mit ihr gemeint. Sie besaß ein rundes Puppengesicht und hatte sich daher nicht, wie andere Frauen, irgendwann zwischen Gesicht und Figur entscheiden müssen. Sie konnte es sich leisten, schlank zu bleiben. Sie war gesund, abgesehen von einer Diabetes (»Altersdiabetes« hatte es ihr Hausarzt ungalant genannt), wegen der sie sich seit einigen Jahren zweimal täglich aus einer Art Füllfeder ein Verzögerungsinsulin spritzen mußte. Sie hielt sich diszipliniert an ihre Diät, schwamm täglich, nahm Massagen und Lymphdrainagen, verbrachte zweimal im Jahr drei Wochen in einer Klinik auf Ischia und versuchte sich nicht zu ärgern, was ihr nicht immer leicht fiel.

Schöller blieb am Ball. »Man kann Ihnen wirklich keinen Vorwurf machen, nach allem, was Sie für ihn getan haben. Nach diesem Vorfall bringen Sie ihn nirgendwo mehr unter. Oder können Sie jetzt noch die Verantwortung für ihn übernehmen?«

»Es wird heißen, ich hätte ihn ins Gefängnis gebracht.«

»Im Gegenteil. Man wird es Ihnen hoch anrechnen, daß Sie ihn nicht auf Schadensersatz verklagen. Niemand wird von Ihnen erwarten, daß Sie jemanden, der Ihnen eine Fünfmillionenvilla in Brand gesteckt hat, aus dem Gefängnis holen.«

»Fünf Millionen?«

»Der Versicherungswert liegt bei etwa vier.«

»Wieviel hat sie uns gekostet?«

»Etwa zwei. Plus etwa anderthalb, die Herr Koch letztes Jahr investiert hat.«

»In die holländische Innenarchitektin?«

Schöller nickte. »So günstig werden wir ihn nie mehr los.«

[17] »Was muß ich tun?«

»Das ist ja das Angenehme: nichts.«

»Dann tu ich es.«

Elvira setzte ihre Lesebrille auf und wandte sich einem Papier zu, das vor ihr auf dem Pult lag. Schöller erhob sich.

»Und Thomas«, sagte sie, ohne aufzublicken, »Thomas muß man diesen Aspekt der Geschichte ja nicht unter die Nase reiben.«

»Von mir erfährt Herr Koch nichts.«

Noch bevor Schöller die Tür erreicht hatte, klopfte es, und gleich darauf stand Thomas Koch im Zimmer.

»Koni hat Korfu niedergebrannt.« Er bemerkte den Blick nicht, den Elvira und Schöller tauschten.

»Trix van Dijk hat eben angerufen. Die Villa sehe aus wie nach einem Bombenangriff.« Dann grinste er. »Sie war mit einem Team von The World of Interiors dort. Die wollten eine Titelstory machen und sie groß herausbringen. Aber da gab es keine Interiors mehr. Sie sagt, sie bringt Koni um. So, wie sie klang, glaube ich’s ihr.«

Thomas Koch war kahl bis auf einen schwarzen Haarkranz, der, wenn die Sonne kurz durch ein Wolkenloch ins Zimmer schien, etwas unnatürlich reflektierte. Sein Gesicht wirkte zu klein für seinen fleischigen Kopf. Auch wenn es so breit grinste wie in diesem Moment.

»Ich glaube, Schöller, Sie sollten in Korfu nach dem Rechten sehen. Erledigen Sie die Formalitäten, und halten Sie mir um Himmels willen die van Dijk vom Leib.« Koch ging zur Tür.

»Ach, und holen Sie Koni aus dem Gefängnis. Erklären Sie denen, daß er kein Brandstifter ist, nur ein Säufer.«

[18] Als Thomas Koch die Tür hinter sich schloß, hörten sie ihn noch kichern: »The World of Interiors!«

Drei Wochen später trafen sich Konrad Lang und Schöller wieder. Apostolos Ioannis hatte im Auftrag des Schweizer Hauptsitzes eine Kaution geleistet, Konrad Lang mit provisorischen Papieren, dem Allernötigsten an Kleidung, etwas Taschengeld, Schiffs- und Bahnkarten zweiter Klasse ausgestattet.

Konrad Lang war bei unruhiger See mit der Fähre acht Stunden nach Brindisi gereist und hatte sich dort drei Stunden auf dem Bahnhof herumgedrückt. Als er am nächsten Tag pünktlich um Viertel nach fünf bei der Adresse ankam, die ihm Ioannis als Treffpunkt angegeben hatte, wurde es bereits dunkel.

Tannenstraße 134 war ein Wohnblock in einer stark befahrenen Straße ohne eine einzige Tanne. Sie befand sich in einem Arbeiterviertel der Stadt. Konrad Lang stand einen Moment unschlüssig vor dem Hauseingang. Auf seinem Zettel war kein Stockwerk erwähnt. Er studierte die Namensschilder. Sie waren alle schwarz und sauber in einen Aluminiumraster eingelassen. Neben einer Klingel im dritten Stock war der Name »Konrad Lang« eingraviert. Er drückte auf den Knopf. Kurz darauf surrte der Türöffner. Drei Treppen höher erwartete ihn Schöller in einer Wohnungstür. »Willkommen zu Hause«, grinste er.

Langs Reise hatte dreiunddreißig Stunden gedauert. Er sah fast so schlimm aus wie bei ihrer letzten Begegnung im Polizeihauptquartier von Kerkira.

Schöller führte ihn durch die kleine [19] Zweizimmerwohnung. Sie war mit günstigen, einfachen Möbeln eingerichtet, in den Küchenschränken und Schubladen befand sich das Nötigste an Geschirr und Besteck. Es waren ein paar Pfannen da und ein paar Grundnahrungsmittel, im Schlafzimmerschrank lag Bett- und Frotteewäsche, im Wohnzimmer stand ein Fernseher. Alles war neu, die Böden waren mit Spannteppichen ausgelegt und die Zimmer frisch gestrichen. Wie eine noch nie benutzte Ferienwohnung, dachte Konrad Lang. Wenn das Quietschen der Trams und das Hupen der Autos nicht wäre. Er setzte sich auf den verstellbaren Fernsehsessel.

»Folgende Abmachung«, sagte Schöller, nahm auf dem kleinen Sofa daneben Platz und legte ein Papier vor sich auf das Clubtischchen. »Frau Senn kommt für die Wohnung auf. Falls Sie die Einrichtung ergänzen wollen, können Sie eine Wunschliste aufstellen. Ich bin bevollmächtigt, Ihnen innerhalb eines vernünftigen Rahmens entgegenzukommen. Versicherungen, Krankenkasse, Zahnarzt werden übernommen. Ebenso die Bekleidung. Eine Mitarbeiterin von mir wird sich morgen bei Ihnen melden und Sie beim Einkauf Ihrer Garderobe begleiten und beraten. Die Beratung wird vor allem finanzieller Natur sein. Der Spielraum, über den sie verfügt, ist beschränkt.«

Schöller drehte sein Papier um. »Schräg vis-à-vis befindet sich das Café Delphin, ein sehr angenehmes Tea-Room, in welchem Sie frühstücken können. Für die anderen Mahlzeiten ist das Blaue Kreuz vorgesehen, ein sehr reelles alkoholfreies Restaurant, vier Tramstationen von hier. Kennen Sie es?«

Konrad Lang schüttelte den Kopf.

[20] »In beiden Lokalen haben Sie eine laufende Rechnung, die von Frau Senn übernommen wird. Für Ausgaben außerhalb dieses Arrangements steht Ihnen ein Taschengeld von wöchentlich dreihundert Franken zur Verfügung, die Sie jeweils am Montag beim Leiter der Filiale Rosenplatz der Kreditbank beziehen können. Er hat Anweisung, Ihnen keine Vorschüsse zu gewähren. Frau Senn hat mich gebeten, Ihnen zu sagen, daß sie für das alles keine Gegenleistung erwartet oder wünscht. Außer, daß Sie vorsichtig mit Feuer umgehen, möchte ich dem persönlich doch hinzufügen.«

Schöller schob Konrad Lang das Papier über das Tischchen hin und holte einen Kugelschreiber aus der Brusttasche. »Lesen Sie sich das genau durch, und unterschreiben Sie es in beiden Ausfertigungen.«

Lang nahm ihm den Kugelschreiber aus der Hand und unterschrieb. Er war zu müde zum Lesen. Schöller griff sich seine Kopie, stand auf und ging hinaus. Bei der Wohnungstür drehte er sich um und kam noch einmal zurück. Er konnte es nicht lassen: »Wenn es nach mir gegangen wäre, wären Sie in Korfu geblieben. Frau Senn ist viel zu großzügig.«

Er bekam keine Antwort. Konrad Lang war im Fernsehsessel eingeschlafen.

[21] 2

Hoffentlich ist Urs nicht zu Hause, dachte Konrad Lang und drückte auf die Klingel. Früher hätte er gehört, wie es weit weg in der Villa läutete, und noch früher, als der schmiedeeiserne Glockenzug noch in Betrieb war, wie es unter dem Vordach über der Haustür schepperte. Aber jetzt war er bald fünfundsechzig und sein Gehör nicht mehr so fein wie einst.

Deswegen hörte er auch die Schritte des Paares nicht, das aus einem Geländewagen gestiegen war und jetzt auf ihn zukam. Beide trugen Reitkleidung und lehmverschmierte Stiefel. Der Mann war Ende Zwanzig, groß und gutaussehend, wenn man vom Kinn absah, das etwas zum Fliehen neigte.

Die Frau war jünger, nicht viel über zwanzig, brünett und eher niedlich als schön. Sie schaute ihren Begleiter fragend an. Der hielt den Zeigefinger an die Lippen.

Sie näherten sich leise dem älteren Herrn, der am Gartentor stand und wartete. Er trug einen Burberry und einen grünen Filzhut, der ihm von weitem etwas Junkerhaftes verlieh.

Einer der vielen Freunde des Hauses, nahm die junge Frau an, und spielte mit. Auf Zehenspitzen schlichen sie sich heran.

[22] Konrad Lang legte das Ohr ans Tor und horchte angestrengt. Sind das Schritte?

Die beiden hatten ihn erreicht, und der Mann schlug mit der flachen Hand hart auf das Torblech.

»Hallo, Koni, brauchst du Geld?« schrie er.

Konrad Lang hatte das Gefühl, in seinem Kopf sei etwas explodiert. Er drückte beide Hände an die Ohren. Sein Gesicht war verkniffen, als erwarte er einen weiteren Schlag. Jetzt erkannte er den jungen Mann.

»Urs«, sagte er leise, »du hast mich erschreckt.«

Er bemerkte die junge Frau, die konsterniert neben Urs Koch stand, nahm den Hut ab und strich sich über das graue, aus der hohen Stirn gekämmte Haar. Er wirkte, wenn auch auf eine etwas heruntergekommene Art, distinguiert.

»Konrad Lang.« Er streckte ihr die Hand hin.

Sie schüttelte sie teilnahmsvoll. »Simone Hauser.«

»Urs und ich sind alte Freunde. Er meint es nicht so.«

Urs hatte inzwischen das Tor aufgeschlossen. Es knackte in der Gegensprechanlage. »Ja?« sagte eine Frauenstimme mit Akzent. »Wer ist da?«

»Niemand, Candelaria«, antwortete Urs Koch. Er hielt Simone das Tor auf und kramte in der Tasche seiner Reithose. Als Simone sich umdrehte, sah sie gerade noch, wie Urs dem alten Herrn eine zerknitterte Note zusteckte, bevor er ihm das Tor vor der Nase zuschlug.

Der Zusammenstoß mit Urs hatte auch sein Gutes: Es waren hundert Franken dabei herausgesprungen. Vielleicht, weil Urs die rüde Attacke leid tat, oder vielleicht, weil er seine neue Freundin beeindrucken wollte, oder vielleicht [23] einfach nur, weil er in der Eile keinen anderen Schein fand. Jedenfalls waren hundert Franken eine gute Ausbeute. Normalerweise wäre er bei Urs Koch leer ausgegangen.

Bei Tomi wohl auch. Außer, er hätte ihn in einer seiner sentimentalen Launen angetroffen. Aber die waren in letzter Zeit seltener geworden. Oder Konrads Timing schlechter. Meistens war Tomi gereizt, wenn Konrad auftauchte. Er ließ sich verleugnen oder schickte ihn zum Teufel. Über die Gegensprechanlage oder, im schlimmeren Fall, persönlich am Tor.

Normalerweise öffnete ihm jemand vom Personal. Wenn er Glück hatte, Candelaria, die ihm ab und zu zwanzig oder fünfzig Franken lieh. Seine Schulden bei ihr betrugen ein paar hundert Franken, von denen er hie und da am Wochenanfang aus seinem Taschengeld ein paar kleinere Scheine zurückzahlte. Als Geste des guten Willens und aus taktischen Gründen, für das nächste Mal.

Mit hundert Franken kam man in der Bar des Grand Hotel des Alpes zwar nicht sehr weit, aber man wurde hier wie ein Mensch behandelt, und das brauchte Konrad Lang im Moment. Die Barfrau, die am Nachmittag Dienst hatte, hieß Charlotte und nannte ihn Koni, wie eine alte Freundin. Sie hätte auch das Alter, um ihn noch aus den Zeiten zu kennen, in denen er hier manchmal die Turmsuite bewohnte. Also, Tomi und er. Also, Tomi die Turmsuite und er das Zimmer direkt darunter. Aber damals, hatte sie ihm erzählt, hatte sie es noch nicht nötig gehabt zu arbeiten. Da war sie wie er: nicht reich, aber unabhängig.

»Pröschtli, Koni«, sagte sie, als sie ihm seinen Negroni brachte.

[24] »Ein Negroni«, behauptete er immer, »ist das ideale Nachmittagsgetränk: sieht aus wie ein Apéro, wirkt aber wie ein Cocktail.«

Der, den Charlotte ihm jetzt brachte, war erst der zweite. Für drei würde es reichen, wenn man Charlottes Champagner-Flûtes mit einrechnete, die sie sich jedesmal auf sein Zeichen hin einschenkte und hinter der Bar neben den Aschenbecher stellte, in dem ihre »Stella Filter« verrauchte.

»Yamas«, sagte Konrad und hob das Glas an die Lippen. Sein rechtes Ohr hallte noch von Urs’ Schlag auf das Eisentor, und seine Hand zitterte mehr als sonst um diese Tageszeit.

Die Bar war fast leer, wie meistens am späteren Nachmittag. Charlotte verteilte versilberte Schälchen mit Salznüssen auf den Tischchen. Trübes Licht drang durch die Gardinen. Hinter der Bar neben der Kasse brannte schon eine Lampe, aus deren Lichtkegel der blaue Rauch von Charlottes vergessener Zigarette stieg. Roger Whittaker sang Smile, though your heart is aching, und vom Tischchen neben dem Piano klang ab und zu das Klappern der Teetassen der beiden Hurni-Schwestern, die dort, wie immer zu dieser Stunde, schweigend auf den Pianisten warteten.

Die Hurni-Schwestern waren weit über achtzig und vor einigen Jahren ins Grand Hotel des Alpes gezogen. So, wie andere Leute, die nicht zwölf Prozent einer Bierbrauerei geerbt haben, ins Altersheim ziehen. Beide waren hager und zerbrechlich, bis auf die unförmigen Beine in hautfarbenen Stützstrümpfen, die wie Bratwürste unter ihren großgeblümten Kleidern hervorschauten. Jedesmal, wenn sie feierlich die Bar betraten, fühlte sich Konrad Lang an etwas [25] erinnert, das weit zurücklag. So weit, daß es kein Bild hervorrief, nur ein vertrautes, lange vergessenes Gefühl, das er nicht beschreiben konnte; aber es entlockte ihm immer ein freundliches Lächeln, welches von den Hurni-Schwestern jedesmal empört ignoriert wurde.

Konrad Lang nahm einen kleinen Schluck und stellte das Glas wieder auf das Tischchen. Der Negroni mußte reichen, bis der Pianist kam. Dann würde er noch einen bestellen. Und eine Flûte für Charlotte »mit einem Bier für den Mann am Klavier«. Dann müßte er sich entscheiden, ob er die übrigen zwanzig Franken in ein Taxi investieren oder das Tram nehmen und den Rest in ein paar ordinären Schnäpsen bei Barbara im Rosenhof anlegen sollte.

Es geschah nicht oft, daß eine von Urs Kochs Freundinnen Elvira Senn vorgestellt wurde. Sie waren alle vom gleichen Typ, und er wechselte sie so oft, daß Elvira sie nicht auseinanderhalten konnte. Aber in letzter Zeit hatte sie sich mehrmals nach »dieser Simone« erkundigt. Ein Zeichen dafür, daß es ihren Plänen dienen würde, wenn Urs eine festere Bindung einginge.

Als Rahmen für die Vorstellung hatte Elvira sich für den Nachmittagstee im kleinen Salon der Villa entschieden. Intim genug für einen ersten Eindruck, aber nicht so familiär wie ein Mittagessen und nicht so verbindlich wie ein Diner.

Urs und Simone, jetzt nicht mehr im Reitkostüm, saßen Hand in Hand auf einem ledernen Breuersofa. Thomas Koch schenkte Champagner in vier Gläser ein.

»Wenn es heißt ›zum Tee‹, ist damit der Rahmen [26] gemeint, nicht das Getränk«, sagte er und lachte. Er stellte die Flasche in den Eiskübel zurück, reichte jedem ein volles Glas, nahm sich selbst eines und erhob es. »Worauf trinken wir?«

»Auf unser Wohl«, sagte Elvira, um Thomas zuvorzukommen, der wieder einmal drauf und dran war, etwas Voreiliges zu sagen. Offensichtlich war das heute nicht sein erstes Glas Alkohol, und seine Gefühle gegenüber der möglichen Schwiegertochter waren euphorisch. Wie gegenüber allen hübschen jungen Frauen.

Um der Stille, die auf das Anstoßen folgte, die Peinlichkeit zu nehmen, sagte Urs: »Als wir vom Reiten zurückkamen, stand Koni vor der Tür.«

»Was wollte er?« fragte sein Vater.

»Keine Ahnung. Wahrscheinlich den Westflügel und einen Bentley mit Chauffeur und eine nach oben offene Apanage. Gegeben habe ich ihm hundert Franken.«

»Vielleicht wollte er gar kein Geld. Vielleicht wollte er nur einen Besuch machen.«

»Er hat sich jedenfalls nicht beklagt.« Beide lachten.

Elvira schüttelte den Kopf und seufzte. »Ihr solltet ihm kein Geld geben. Ihr wißt, warum.«

»Simone hält mich sonst für einen Unmenschen«, schmunzelte Urs.

Simone fühlte sich angesprochen. »Ein bißchen leid kann er einem schon tun.«

»Koni ist ein tragischer Fall«, stellte Thomas Koch fest und schenkte Champagner nach.

»Aber Urs hat Sie über Herrn Lang aufgeklärt?« wollte Elvira wissen.

[27] »Verstehen Sie mich nicht falsch. Ich finde es bewundernswert, was Sie für diesen Menschen getan haben. Und immer noch tun, nach dem, was vorgefallen ist.«

»Er ist das Maskottchen meiner Großmutter.«

Thomas Koch verschluckte sich beinahe. »Ich dachte, Maskottchen seien Glücksbringer.«

»Sie hält sich eben einen Pechbringer. Sie war schon immer etwas exzentrisch.« Die Art, wie ihn Elvira anschaute, veranlaßte Urs, aufzustehen und sie versöhnlich auf die Stirn zu küssen.

Thomas Koch beugte sich zu Simone. »Koni ist schon recht, er säuft einfach zuviel.«

»Es will ihm einfach nicht in den Schädel, daß er kein Mitglied der Familie ist. Das ist sein Problem«, fügte Urs hinzu. »Er weiß nicht, wo seine Grenzen sind. Er gehört nun einmal zu den Menschen, denen man nicht den kleinen Finger geben darf. Deswegen ist es besser, man hält ihn auf Distanz.«

»Was nicht immer einfach ist, wie Sie heute wohl gesehen haben, Simone.« Thomas Koch griff nach einem silbernen Glöckchen und klingelte. »Sie nehmen doch auch noch etwas Tee?«

»Ich weiß nicht«, antwortete sie und schaute unsicher zu Urs. Als der nickte, nickte sie auch.

Als Thomas Koch die zweite Flasche Champagner öffnete, sagte Simone: »Es ist traurig, wenn jemand seinen letzten Stolz verliert.«

Thomas tat, als verstünde er sie falsch. »Keine Angst, nach drei Gläsern Champagner verliere ich meinen Stolz noch nicht.«

[28] Vater und Sohn lachten. Simone wurde rot. Eine Frau wie geschaffen für den egozentrischen Urs, dachte Elvira Senn. Vielleicht etwas zu stark geschminkt mitten am Nachmittag, aber lieb, unkapriziös und nachgiebig.

Die Bar des Grand Hotel des Alpes hatte sich etwas gefüllt. Die Lampen über den Tischchen brannten jetzt, Charlotte nahm Bestellungen auf, und der Pianist spielte sein Cocktail-Repertoire. Die Hurni-Schwestern waren in Gedanken weit weg in einer anderen Zeit mit den gleichen Melodien. Konrad Lang stellte sich vor, er sei es, der spielte.

Im Sommer 1946 hatte er sich vorgenommen, ein berühmter Pianist zu werden. Elvira hatte ihren Stiefsohn in jenem Frühling aus dem Privatgymnasium genommen, nachdem ihr die Schulleitung schonend beigebracht hatte, daß dieser in der Sekundarschule besser aufgehoben wäre. Sie hatte ihn in ein teures Internat am Genfer See gesteckt, und Thomas hatte darauf bestanden, daß Konrad ihn begleite. Konrad, dem das Gymnasium keine Mühe bereitete, ging widerwillig mit.

Im »St. Pierre« war damals ein schöner Teil des Nachwuchses jener Schicht versammelt, die der Krieg reich oder nicht arm gemacht hatte. Das neue und das alte Geld aus dem, was von Europa übriggeblieben war, schickte seine Söhne in das Manoir aus dem 17. Jahrhundert, um sie auf ihre Aufgabe als zukünftige Elite vorzubereiten. Konrad wohnte dort mit Jungen zusammen, deren Namen er bisher nur als Motoren, Banken, Konzerne, Suppenwürfel und Dynastien gekannt hatte.

Im »St. Pierre« teilten sich jeweils vier Jungen ein [29] Zimmer. Thomas’ und Konrads Zimmergenossen waren Jean Luc de Rivière, Sproß einer alten Bankierdynastie, und Peter Court, ein Engländer. Sein Vater hatte in den Dreißigerjahren die Court-Gasmaske patentieren lassen, die praktisch von allen Alliierten in Lizenz übernommen worden war.

»Von den Koch-Werken?« fragte Jean Luc Thomas, als sie zwischen ihren Koffern im Zimmer standen und sich die Hand gaben.

Thomas nickte und fragte zurück: »Von der Bank?«

Jean Luc nickte. Dann streckte er Konrad die Hand hin und schaute zuerst ihn und, als dieser zögerte, Thomas fragend an.

Thomas war ein loyaler Freund, solange er mit Konrad allein war. Aber sobald jemand auftauchte, den er beeindrucken wollte, wechselte er mit wehenden Fahnen die Seiten.

»Er ist der Sohn einer ehemaligen Hausangestellten«, erklärte Thomas. »Meine Mutter hilft ihm.«

Damit war auch die Frage geklärt, wer das Bett an der Tür erhielt.

Von da an wurde Konrad von allen Schülern mit gönnerhafter Höflichkeit behandelt. Nie – in seiner ganzen Zeit im »St. Pierre« – war er in eine ihrer vielen Intrigen verwickelt, und nie war er das Opfer ihrer grausamen Streiche. Sie hätten es ihm nicht deutlicher zu verstehen geben können, daß sie ihn nicht als ihresgleichen betrachteten.

Konrad versuchte alles. Er übertraf die Blasiertesten an Blasiertheit, die Coolsten an Coolness, die Unverfrorensten an Unverfrorenheit. Er machte sich lächerlich, nur um sie zum Lachen zu bringen, und er provozierte Strafen, nur um [30] sie zu beeindrucken. Er kletterte über die Mauer und kaufte Wein im Dorf. Er besorgte Zigaretten und Sexmagazine. Er stand Schmiere bei den Rendezvous seiner Mitschüler mit Geneviève, der Tochter des Hauptgärtners.

Aber Konrad blieb in dieser Schule für das Leben als reicher Mann immer derjenige, der die wichtigste Voraussetzung dazu nicht mitbrachte: das Geld.

Bei der Abschiedsparty vor den Sommerferien 1946 – das »St. Pierre« begann als internationales Institut das Schuljahr im Herbst – beschloß Konrad Lang, Pianist zu werden.

Es war ein schwüler Junitag. Die Tore vom »St. Pierre«, das von einer Mauer umgeben war, standen weit offen, und auf dem großen Kiesplatz vor dem Hauptgebäude standen dicht an dicht die Limousinen. Auf dem Rasen zur Seeseite war eine kleine Bühne mit Flügel und Konzertbestuhlung aufgebaut, daneben, unter einem Baldachin, ein kaltes Büfett. Eltern, Geschwister, Ehemalige, Lehrer und Schüler standen in Grüppchen, hielten Gläser und Teller in der Hand, plauderten und blickten immer wieder besorgt zum Himmel, an dem sich schwere Wolken türmten.

Konrad stand bei Thomas Koch und Elvira Senn, die sich mit der Mutter von Jean Luc de Rivière auf französisch unterhielt. Er trug, wie alle Schüler, den Schulblazer mit dem gestickten Goldemblem aus Kreuz, Anker und Bischofsstab und die grün-blau-gold gestreifte Schulkrawatte. Die Mütter hatten ihr Haar hochgesteckt und geblümte, seidene Sommerkleidchen an, die paar Väter, die sich die Zeit genommen hatten, ihre Söhne abzuholen, dunkle Anzüge aus weichen, leichten Stoffen, weiße Hemden und Krawatten, hie und da in den Farben des »St. Pierre«.

[31] Mitten in dieser eleganten, selbstsicheren Gesellschaft, unbeachtet von den lächelnden Grüppchen, die sich ungezwungen auflösten und wieder neu formierten, stand ein gebückter, kleinwüchsiger, bleicher Mann in einem schlecht sitzenden Stresemann und nippte an seinem leeren Glas. Als Konrad ihn musterte, trafen sich ihre Blicke, und der Mann lächelte ihm zu.

Beinahe hätte Konrad zurückgelächelt, er besann sich aber darauf, wie konsequent alle anderen das Männchen geschnitten hatten, und ließ, um keinen Fehler zu machen, seinen Blick gleichgültig weiterwandern.

Erste Donner grollten über den See, und schwere Regentropfen begannen die sommerliche Garderobe der Gäste zu tüpfeln. Im Nu waren der Rasen leer, der Flügel zugedeckt und die Gesellschaft lachend und prustend in der Turnhalle versammelt, wo die Schulleitung einen zweiten Flügel und alles für das Schlechtwetterszenario vorbereitet hatte.

Während der Ansprache des Direktors und der feierlichen Verabschiedung der Maturanden suchte Konrad vergeblich die Reihen ab nach dem unscheinbaren Männchen, dessen wehmütiges Lächeln er nicht erwidert hatte. Erst als der Direktor den musikalischen Teil der Feier ankündigte, einen Klaviervortrag des Pianisten Jósef Wojciechowski, sah er es wieder. Es stand plötzlich auf der Bühne, verneigte sich, setzte sich an den Flügel und wartete mit seinem Lächeln, bis sich die Unruhe gelegt hatte im Publikum, das eigentlich lieber wieder zum gemütlichen Teil der Feier übergegangen wäre.

Als es still geworden war, ließ Wojciechowski die Hände auf die Tasten sinken.

[32] Vier stille Nocturnes von Chopin entlockte er dem Flügel. Kein Hüsteln, kein Schneuzen, nur manchmal das träge Grollen des längst besänftigten Gewitters. Nach zwanzig Minuten stand er auf, verbeugte sich und wäre gegangen, hätte ihn nicht der tosende Applaus zu zwei Zugaben gezwungen.

Später, beim Farewell Drink im großen Speisesaal, sah Konrad das Männchen wieder. Umringt, bedrängt und gefeiert von den gleichen Leuten, für die er vor einer Stunde noch Luft gewesen war. Ein polnischer Emigrant, hieß es, ein Internierter, den ein Lehrer des »St. Pierre« im Krieg als Bewacher in einem Lager in der Ostschweiz kennengelernt hatte. Niemand also.

Konrad Lang hatte sich für das Taxi entschieden. Er saß im Fond und ließ sich die kurvige Straße hinunter in die Stadt fahren, die sich langsam in der Dämmerung verkroch. Er hätte das Tram nehmen und mit den knapp zwanzig Franken bei Barbara im Rosenhof hereinschauen können. Aber er war zu deprimiert. Klaviermusik in der falschen Stimmung konnte ihn genauso deprimieren, wie sie ihn in der richtigen glücklich machen konnte. Heute hatte sie ihn deprimiert, weil er sie nach einer Demütigung gehört hatte. Sie ließ alte, schlimmere, längst verdrängte Demütigungen wieder hochkommen. Demütigungen, die er sich – da war er ganz sicher – hätte ersparen können, wenn er hätte Klavier spielen können.

Während der Sommerferien 1946, die sie in der Koch-Villa in St. Tropez verbrachten, hatte er Thomas von den Vorteilen überzeugt, Klavier spielen zu können. Die [33] Mädchen, die in dieser Zeit interessant zu werden begannen, himmelten Pianisten an, behauptete er. Thomas hatte daraufhin seine Stiefmutter mit der Mitteilung überrascht, daß er im nächsten Schuljahr Klavierstunden nehmen wolle. Was automatisch auch für Konrad galt.

Konrad war ein eifriger Schüler, ganz im Gegensatz zu Thomas. Sein Lehrer, Jacques Latour, war hingerissen von soviel Begeisterung und, das merkte er bald, Talent. Konrad konnte eine Melodie, die er nur einmal gehört hatte, nachspielen. Jacques Latour gab ihm Privatunterricht im Notenlesen. Nach kurzer Zeit konnte er vom Blatt spielen. Von Anfang an besaß er eine tadellose Arm- und Handhaltung und rasch einen vielversprechenden Anschlag. Es dauerte keine zwei Monate, bis Konrad Thomas mit flüssigen Läufen entmutigte.

Wann immer er Zeit hatte, übte Konrad im Musikzimmer, zu dem er schon bald freien Zutritt hatte, Thema und Gegenbewegung der Linken und der Rechten allein, dann zusammen, dann parallel zur Rechten, dann parallel zur Linken. Immer seltener korrigierte ihn Monsieur Latour, immer öfter hörte er ihm einfach zu, ergriffen von der Gewißheit, ein großes Talent, vielleicht sogar ein kleines Genie vor sich zu haben.

Bis zur »Mückenhochzeit«.

Bei der »Mückenhochzeit« machten sich die Hände selbständig. Die Rechte spielte ihre Melodie, die Linke begleitete sie. Und zwar nicht einfach wie ein Schatten. Sie blieb ein bißchen stehen, verschnaufte ein paar Takte, holte die Rechte wieder ein, nahm ihr gar die Melodie ab, führte sie alleine weiter, warf sie ihr wieder zu, kurz: benahm [34] sich wie ein selbständiges Lebewesen mit einem eigenen Willen.

Bis zur »Mückenhochzeit« waren Konrad seine Hände vorgekommen wie zwei perfekt aufeinander abgestimmte Zirkuspferde, die trabten, wenn das andere trabte, sich aufbäumten, wenn das andere sich aufbäumte, und die Mähne schüttelten, wenn das andere die Mähne schüttelte. Konrads Hände erhielten von seinem Kopf identische Befehle und führten sie identisch aus. Manchmal parallel und manchmal gegeneinander, aber immer im gleichen Schritt und Tritt.

»Das kommt schon noch«, sagte Monsieur Latour, »das geht allen so am Anfang.« Aber so verbissen Konrad auch übte, seine Hände blieben zwei Marionetten, die an gemeinsamen Fäden hingen. Die »Mückenhochzeit, Scherzlied aus Böhmen«, war das Ende seiner Pianistenkarriere.