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Christian Joppke

Der säkulare Staat auf dem Prüfstand

Religion und Politik in Europa und den USA

Aus dem Englischen von Gabriele Gockel und Sonja Schuhmacher

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Hamburger Edition HIS Verlagsges. mbH

Verlag des Hamburger Instituts für Sozialforschung

Mittelweg 36

20148 Hamburg

www.hamburger-edition.de

© der E-Book-Ausgabe 2018 by Hamburger Edition

ISBN 978-3-86854-947-8

© der aktualisierten deutschen Ausgabe 2018 by Hamburger Edition

© der Originalausgabe 2015 by Christian Joppke

Titel der Originalausgabe: »The Secular State Under Siege.

Religion and Politics in Europe and America«

This edition is published by arrangement with Polity Press Ltd., Cambridge

Umschlaggestaltung: Wilfried Gandras

Inhalt

Vorwort zur deutschen Ausgabe

Religion als Struktur und Akteurin

1Religion in Soziologie und Politikwissenschaft

Religion, Politik, säkularer Staat: eine Einführung

Religiöse Evolution

Religion als Irrtum: Marx und Freud

Klassische Religionssoziologie: Émile Durkheim und Max Weber

Nach den Klassikern: Säkularisierung und Probleme der Definition und Abgrenzung des Religiösen

Religion und Politik: historisch und phänomenologisch

2Säkularisierung und der lange Rückzug des Christentums

»Säkularisierung« als umstrittener Begriff

Die christlichen Ursprünge der Säkularisierung

Kein Dunkles Zeitalter: das christliche Europa des Mittelalters

Die protestantische Reformation

Varianten der Säkularisierung

Fazit

3Herausforderung für den säkularen Staat (I) Die Christliche Rechte in Amerika

Rechtlicher Säkularismus

Der Aufstieg der Christlichen Rechten

Auf dem Weg zur rechtlichen Theokratie?

Fazit

4Herausforderung für den säkularen Staat (II) Der Islam in Europa

Zwei Zivilisationen

Der Diskurs der islamischen Elite: europäische Muslime als »Minderheit« oder als »Bürger«

Das Paradox des Liberalismus

Ungeklärte Fragen: Frauen, Nichtmuslime, Rechte

Die Ansichten europäischer Muslime: »Demos« versus »Eros«

Warum es kein »Eurabia« geben wird

Scharia im Westen?

Fazit

5Islam und Christentum im säkularen Staat

Das islamische Kopftuch

Das christliche Kruzifix

Das unauflösbare Dilemma: Religion versus Liberalismus

Viel Gerede ums Recht … und wo bleibt die Politik?

Bibliografie

Zum Autor

Vorwort zur deutschen Ausgabe

Im gedrängten Markt gelehrter Abhandlungen über »Religion und Politik« verfolgt das vorliegende Buch eine doppelte Ambition. Gegenwartspolitisch geht es darum, die vieldiskutierte »Rückkehr der Öffentlichen Religion«1 einer kritischen Betrachtung zu unterziehen, zumindest was die entwickelten Gesellschaften der nordatlantischen Zone betrifft. Die Tatsache, dass die Forderungen der Christlichen Rechten in den Vereinigten Staaten und die der islamischen Einwanderer in Europa, von denen zwei zentrale Kapitel dieses Buches handeln, zumeist im Medium des Rechts und nicht der Politik (der Straße) ausgetragen werden, unterstreicht die gefestigten, höchstens am Rande berührten Konturen des säkularen Staates auf beiden Seiten des Nordatlantiks. Die aufgeregte Rede von der Rückkehr der öffentlichen Religion ist schon deshalb problematisch, weil sie zweierlei Maß anlegt – sie wird in der Regel gutgeheißen, solange es sich um die Forderungen von Minderheitenreligionen (besonders des Islam) handelt, aber an den Pranger gestellt, sobald es die Rückkehr der Mehrheitsreligion sein soll. Das Hauptproblem aber ist: die Hypostasierung der öffentlichen Religion übersieht, dass (trotz der gegenteiligen Behauptung von Casanova) »Privatisierung« und »Niedergang« der Religion immer noch die dominante Realität für die Mehrheit sind und zum Kern des Säkularisierungsphänomens gezählt werden müssen. Nicht zuletzt aus diesem Grund leben wir in den sicheren und freien Wohlstandsgesellschaften, die – der Kompass der globalen Flüchtlingsströme bestätigt es – für den Rest der Menschheit von großer Attraktivität sind.

Die Ambition dieses Buches geht aber darüber hinaus, die gegenwärtigen Herausforderungen an den säkularen Staat transatlantisch zu beleuchten. Vielmehr wird versucht, die Phänomene »Religion« und »Politik« (bzw. »Staat« als den typischen Ort der Politik) überhaupt in Bezug zu setzen. Bei organisierter Religion und Staat handelt es sich um rivalisierende Autoritätssysteme, also Systeme der umfassenden Regulierung menschlichen Verhaltens, die besonders in der europäischen Geschichte die intimsten, aber auch höchst spannungsreiche und unterschiedliche Beziehungen und Trennungsbemühungen eingegangen sind bzw. unterhalten haben. Dieses weitere Interesse bedingt Ausflüge in die klassische Religionssoziologie und -wissenschaft, von Marx über Freud bis zu Durkheim, Weber und Rudolf Otto, zur Klärung der Frage, wie Religion am besten zu begreifen ist, wenn ihr Verhältnis zu Politik und Staat geklärt werden soll.

Diese doppelte Ambition verlangt einen doppelten Blick auf Religion, als »Struktur« und als »Akteurin«. Das bisschen soziologischer Jargon sei hier aber erlaubt, um den Bogen zu schlagen zwischen einer Gegenwartsanalyse der öffentlichen Religion und einer eher grundsätzlichen Betrachtung des Verhältnisses von Religion und Politik. Religion ist gesellschaftsbildende »Struktur«, vielleicht die wichtigste in der menschlichen Geschichte überhaupt; sie ist aber auch kontingente »Akteurin« in einer zum Teil durch die (christliche) Religion selbst säkularisierten Welt. Der Untertitel »Religion und Politik« ist also ernst zu nehmen: es wird versucht, das Verhältnis beider Phänomene in seiner ganzen Bandbreite – begrifflich, historisch, gegenwartspolitisch – zu behandeln, wenn auch mit der genannten geografischen Beschränkung auf die westliche, durch das lateinische Christentum geprägte Gesellschaft.

Der englische Originaltext wurde Anfang 2014 fertiggestellt. Die vielleicht wichtigste Entwicklung seitdem ist der Durchbruch des Populismus – vollständig in den USA, zumindest teilweise in Europa. Wie wirkt sich der Durchbruch des Populismus, ob vollständig oder teilweise, auf die in diesem Buch skizzierte politisch-religiöse Landschaft aus? Beginnen wir mit der amerikanischen Seite. Ein britischer Beobachter meint, der überraschende Sieg Donald Trumps bei der Präsidentschaftswahl im November 2016 habe die amerikanischen »culture wars«, die seit einigen Jahrzehnten bereits zwischen religiös Konservativen und säkularen Liberalen ausgefochten wurden, zugunsten eines neuen »border war« in den Hintergrund gedrängt, der jetzt zwischen Nationalisten (bzw. Protektionisten) und Globalisten geführt wird.2 Der neue Akzent stimmt natürlich, aber diese Einschätzung übersieht, dass auch den »culture wars« zu neuer Aktualität verholfen worden ist, und zwar durch eine gewaltige Stärkung des konservativen Lagers. Die Trump-Präsidentschaft verstärkt die beiden wichtigsten, aber bereits vorher registrierbaren (und in Kapitel 3 dieses Buchs behandelten) Tendenzen der Religionspolitik und des religiösen Lebens in den USA: auf der einen Seite die Militanz und erneute politische Hochkonjunktur der Christlichen Rechten (um die es unter Obama stiller geworden war); und auf der anderen Seite die Abkehr, nicht unbedingt von Gott, aber von der organisierten Religion aufseiten der millennials (der seit dem Jahr 2000 Geborenen), auch in Abscheu vor einem anhaltend schrill und aggressiv-diskriminierend sich gebärdenden Evangelikalismus. Zunächst erstaunt es, dass 80 Prozent der (weißen) Evangelikalen für Trump gestimmt haben, obwohl dieser bislang nicht durch Frömmigkeit aufgefallen war.3 Philip Gorski hält Trumpism für eine »säkulare Form des religiösen Nationalismus«: »The Second Coming of Christ becomes the First Term of the Donald«.4 Seine in Blut und Apokalypse getauchte Antrittsrede zeigt tatsächlich eine krypto-prophetische Ambition; »I will heal you« war Trumps bizarre Antwort auf das schockierende Massaker an amerikanischen Schulkindern im Februar 2018 – bevor er empfahl, die Lehrer zu bewaffnen.

Trumps religiöse Klientel wurde erstaunlich schnell bedient. Eine Woche im Amt, erfolgte der »Muslim-Ban«, der übrigens zunächst von einer Ausnahme für christliche Flüchtlinge aus dem Mittleren Osten begleitet war. Niemals zuvor hatte ein amerikanischer Präsident Einwanderungspolitik dazu benutzt, »eine Religion zu erniedrigen«, aber auch nicht dazu, eine andere zu etablieren – denn darauf läuft die genannte christliche Ausnahme hinaus, die vor dem Hintergrund des amerikanischen Trennungssystems nicht weniger skandalös ist.5 Eine zweite Maßnahme, bislang nicht umgesetzt, ist die legislative Beseitigung des sogenannten Johnson Amendment (1954), das die offene Unterstützung politischer Kandidaten durch kirchliche Organisationen mit der Zurücknahme ihrer Steuerfreiheit sanktioniert. Dies wäre ein weiterer Schritt in der »Erosion der Trennung zwischen Staat und Kirche«, der allerdings nicht von allen Klerikern begrüßt wird – denn so würden die Kongregationen noch tiefer durch rechtlich enthemmte Intervention in die Politik gespalten werden. Es handelt sich hier allerdings um eine weitgehend symbolische Maßnahme, weil seit Bestehen des Johnson Amendment erst eine einzige Kongregation wegen ihrer Empfehlung für einen politischen Kandidaten ihren steuerfreien Status verloren hat.6

Der wohl wichtigste Trump-Effekt besteht in der Verschärfung des schwelenden Konflikts zwischen dem Nichtdiskriminierungsanspruch der Lesbian, Gay, Bisexuel and Transgender (LGBT)-community und einer jüngst durch den Supreme Court, in seiner kontroversen Burwell v. Hobby Lobby Stores Entscheidung (2014), gestärkten Religionsfreiheit, die jetzt gern von der Christlichen Rechten in Anspruch genommen wird, und zwar in diskriminierender Absicht. Mit voller Unterstützung der Trump-Administration, Trumps Wahlversprechen folgend, den »Attacken auf judeo-christliche Werte endlich ein kaltes Ende zu bereiten«,7 ist es jetzt möglich, unter dem Mantel der Religionsfreiheit die ohnehin schwache Stellung der LGBT-community im amerikanischen Antidiskriminierungsrecht weiter zu unterminieren. Ein 25 Seiten starkes Dokument des Attorney General, Jeff Sessions, beschreibt einen langen Katalog von im Effekt diskriminierenden Maßnahmen seitens bundesstaatlicher Behörden, durch die »religiöser Glaube und Praxis« im »größtmöglichen Maße und vom Gesetz erlaubt« unterstützt werden können.8 Der hierfür gewählte Begriff ist pikanterweise »reasonable accommodation«, die von Konservativen sonst geschasste stärkste Form des Antidiskriminierungsrechts, die hier zur Diskriminierung nichtreligiöser Minderheiten in Einsatz gebracht wird.

In der durch den Wahlsieg Trumps angeheizten Dynamik verschiebt sich der Fokus der rechtlich-politischen Mobilisierung der Christlichen Rechten von der Beseitigung des konstitutionellen Establishmentverbots zur Stärkung des Religionsfreiheitsprinzips, allerdings in diskriminierender (anti-LGBT) Absicht. Ob dies dem langgehegten Wunsch der Christlichen Rechten nach einem »christlichen Amerika« den Durchbruch verschaffen wird, ist allerdings fraglich. Ein konservativer Mitstreiter sieht das amerikanische Christentum auf »demselben Pfad des religiösen Niedergangs, den das Christentum in Europa und Kanada bereits beschritten hat«.9 Auf der einen Seite haben sich ein Drittel der millennials von der organisierten Religion abgewandt. Auf der anderen Seite steht ein zunehmend ausgedünnter Glaube, der wenig mit der christlichen Tradition zu tun hat, und den der Religionssoziologe Christian Smith als »Moralistic Therapeutic Deism« (MTD) beschrieben hat: Glücklich zu sein und sich gut mit sich selbst zu fühlen, ist demnach das Ziel des Lebens, und Gott wird eigentlich nur dann benötigt, wenn es dabei Probleme gibt. Einer verwandten und besonders schalen Form dieser post-evangelikalen Feel-Good-Religion, dem »prosperity gospel« der telegenen TV-Priesterin Paula White (demzufolge Gott will, dass die Menschen reich sind), gehört übrigens auch Donald Trump an.10

Wie wirkt sich ein nur teilweise erfolgter Durchbruch des Populismus im stärker säkularisierten Westeuropa auf die dortige politischreligiöse Landschaft aus? Seit dem Einzug der rechtspopulistischen »Alternative für Deutschland« (AfD) in den Bundestag haben ein kulturalisierter Christianismus und die komplementäre Abwehr eines Islam, der »nicht zu Deutschland gehört«, Hochkonjunktur. Das Epizentrum dieser Bewegung ist Bayern, dessen stärkste politische Partei, die katholisch-konservative CSU, bei der Bundestagswahl 2017 ca. 10 Prozent ihrer Stimmen an die AfD abgeben musste. Der ehemalige CSU-Chef und jetzige Bundesinnenminister, Horst Seehofer, ist nun auch »Heimatminister«, immerhin mit der liberalen Schleife, dass auch »Heimatpolitik stets eine Politik der Vielfalt« ist. »Heimat« knüpft an die Vorgängerbegriffe »Leitkultur« oder »Nation« an, die der Innenminister allerdings für zu »streitbelastet« hält. Den für all diese Begriffe zentralen Topos vom Christentum als Kultur formuliert Seehofer so: »Für mich [steht] im Mittelpunkt, dass das Menschenbild des aufgeklärten Christentums kulturgeschichtlich zu den Wurzeln Deutschlands zählt und unsere grundgesetzliche Werteordnung prägt.«11 Die Kehrseite kulturalisierter Religion ist, dass der Islam nicht (die Muslime allerdings schon) zu Deutschland gehört (bzw. gehören). Dass Deutschland, historisch gesehen, christlich, aber nicht islamisch geprägt ist, was die freundlichste Lesart dieser umstrittenen Aussage ist, kann nicht bestritten werden; es ist die konfrontative Zuspitzung im Kontext massiver muslimischer (Flüchtlings-)Zuwanderung, die ihr Zündstoff verleiht. Vorläufiger Höhepunkt der Heimatbewegung ist die Anordnung der CSU-geführten bayerischen Staatsregierung, ab Juni 2018 in allen ihren Behörden Kreuze anzubringen, mit der Begründung, dass »das Kreuz das grundlegende Symbol der kulturellen Identität christlich-abendländischer Prägung« ist.12

Der gemeinsame Nenner dieser Bemühungen ist es, durch die Kulturalisierung von Religion dem Rechtspopulismus das Wasser abzugraben. Ob das gelingen wird, bleibt abzuwarten. Bisher scheint es, als hätte die AfD, auch aufgrund interner Querelen und einer zunehmend völkischen Radikalisierung der Parteiführung, die von einem eher moderat eingestellten Wählerpotenzial nicht goutiert werden muss,13 mit ihren 13 Prozent bei der letzten Bundestagswahl ihr Maximum ausgeschöpft – was selbst auf diesem Höhepunkt immer noch im unteren Erfolgsbereich für rechtspopulistische Parteien in Westeuropa liegt.

Trotz der vom Rechtspopulismus angeheizten kulturchristlichen und antiislamischen Heimatbewegung steht kein grundlegender Richtungswechsel der deutschen Politik in Aussicht. Angela Merkel hat in ihrer Regierungserklärung 2018 demonstrativ ihre auf Ausgleich bedachte Haltung in der Islamdebatte bekräftigt: »Der Islam gehört zu Deutschland.« Außerdem wies sie ihren Innenminister an, die nächste Runde der Islamkonferenz vorzubereiten; denn »Religionsfreiheit und Staatskirchenverträge«, wie sie für die christlichen Kirchen und das Judentum selbstverständlich seien, müssten auch für den Islam in »zukunftsfähige Strukturen« münden.14

»Gleichheit« bleibt also der Maßstab bei der Inkorporation des Islam ins christliche Europa. Dies ist eine global gesehen einzigartige historische Erscheinung, deren Ursachen und Ausprägungen nachzuspüren ein zentrales Anliegen der folgenden Seiten ist.

Bern, im Mai 2018

1Casanova, Public Religions.

2Goodhart, The Road to Somewhere, S. 66.

3Siehe Emma Green, »How Religion Made a Global Comeback in 2017«, The Atlantic, 24. 12. 2017.

4Philip Gorski, »Why Do Evangelicals Vote for Trump?«, The Immanent Frame (SSRC), 4. Oktober 2016.

5David Cole, »Trump’s Travel Ban«, New York Review of Books, 11. Mai 2017.

6»A Push to Let Politics Back in Pulpits«, New York Times International Edition, 4.–5. 2. 2017, S. 7.

7»Trump puts faith in religious right«, CNNPolitics, 14. 10. 2017 (https://edition.cnn.com/2017/10/14/politics/donald-trump-religious-conservatives-appeals/index.html (14. 5. 2018).

8Office of the Attorney General, Memorandum for all Executive Departments and Agencies: Federal Law Protections for Religious Liberty. Washington, D.C., 6 October 2017.

9Rod Dreher, »Trump can’t save American Christianity«, New York Times, 4. 8. 2017, S. 15.

10Martyn Percy, »To know Donald Trump’s faith is to understand his politics«, The Guardian, 6. 2. 2018.

11Horst Seehofer, »Warum Heimatverlust die Menschen so umtreibt«, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 29. 4. 2018.

12»Bayern schreibt Kreuze in allen Staatsbehörden vor«, ZeitOnline, 24. 4. 2018.

13Siehe dazu die Studie der Bertelsmann-Stiftung, Die Stunde der Populisten?

14»Ein schwieriger Gastgeber«, Der Tagesspiegel, 20. 4. 2018.

Religion als Struktur und Akteurin

Ein schmales Buch über ein so weites Thema wie »Religion und Politik« ist kein geringes Unterfangen. Es wird hier aus historischer und institutioneller Perspektive angegangen, mit der doppelten Beschränkung auf Westeuropa und Nordamerika, Christentum und Islam. Das allein ist schon umfangreich genug, aber immerhin weniger als alles. Bei einer historisch-institutionellen Perspektive bleiben die Ergebnisse der sozialwissenschaftlichen Verhaltensforschung weitgehend ausgeklammert, etwa zur Korrelation zwischen Wahlverhalten oder Partei-Identifikation und religiöser Orientierung und zu ähnlich quantitativen Mikro-Themen, mit der sich besonders die amerikanische Religionssoziologie hauptsächlich befasst.1 Da der Schwerpunkt auf dem Westen liegt, bleibt, bedauerlicherweise, auch der Rest der Welt ausgeklammert, wie beispielsweise der Nahe Osten oder Südostasien, wo religiöse Konflikte natürlich viel dramatischer und folgenreicher sind als in den gemäßigten Zonen – der Rest der Welt ist schlichtweg außerhalb meiner Kompetenz, nicht zuletzt sprachlich.

Zur Religion kam ich erst spät und indirekt, über ein langanhaltendes Interesse am Nationalstaat und an seinem gegenwärtigen Wandel im Kontext globaler Herausforderungen, vor allem Migration und Multikulturalismus. Nach der »Herausforderung für den Nationalstaat«, so der Titel eines früheren Buchs,2 in dem es um Migration und Staatsbürgerschaft ging, erleben wir heute »eine Herausforderung für den säkularen Staat«, durch (re)politisierte Religion. Wir haben es hier auch mit innerakademischen Akzentverschiebungen zu tun, und es ist erstaunlich, wie viele Soziologen meiner Generation eine ähnliche intellektuelle Reise gemacht haben.3 Die wichtigere Hälfte der Geschichte spielt jedoch in der realen Welt, denn selbst im säkularisierten Westen erlebt die »öffentliche Religion« ein sichtliches Comeback, wenn sie denn jemals von der Bühne abgetreten ist.4 Das Revival der öffentlichen Religion ist teilweise, nicht jedoch ausschließlich, ein Resultat der internationalen Migration und damit der Ankunft neuer Religionen in westlichen Gesellschaften, die das festgefügte Verhältnis zwischen Religion und säkularem Staat herausfordern.

Aus historischer und institutioneller Perspektive ist »Religion« sowohl ein strukturierendes Prinzip als auch eine Akteurin. Sie ist eine Strukturgewordene Kraft, die die moderne Welt wie keine zweite geprägt hat. Aber sie ist auch kontingente Akteurin in einer Welt, die, so wie sie ist, nicht zuletzt durch Religion geworden ist. Auf der strukturellen Seite hat Religion (genauer: das Christentum) das moderne politische Leben tiefgreifend geformt, darunter das Parteiensystem, die öffentlichen Institutionen, den Staatsaufbau und die nationale Identität. Dies wird jedoch oft nicht erkannt – einer der Ersten war Carl Schmitt, der die »Souveränität« als säkularisierten theologischen Begriff entlarvt hatte.5 Niemand hat die strukturbildende Kraft der Religion besser erkannt als Tocqueville: »Es gibt fast kein menschliches Wirken, so persönlich man es sich auch geartet denke, das nicht hervorgeht aus einer sehr allgemeinen Vorstellung, die die Menschen sich von Gott, von seinen Beziehungen zum Menschengeschlecht, vom Wesen der Seele und von ihren Pflichten gegen ihre Nächsten machen. Diese Vorstellungen sind unvermeidlich die gemeinsame Quelle alles übrigen.«6

Tocqueville ist natürlich der unübertroffene Diagnostiker der liberalen Demokratie. Weniger bekannt ist sein Argument, dass in einer demokratischen Gesellschaft die Religion als Quelle von Vertrauen und Zusammenhalt noch wichtiger geworden ist als im Feudalismus: »[Der Mensch muss], ist er nicht gläubig, hörig werden, und ist er frei, gläubig sein.«7 Man könnte aber Tocqueville auch vorsichtig wenden und argumentieren, dass die liberale Demokratie, in der die Religion nicht mehr die zentrale treibende Kraft und Legitimation darstellt und die Gesellschaft säkularisiert ist, selbst nur in einem christlichen und keinem anderen religiösen Kontext entstehen konnte. Zugleich gestalteten sich die Beziehungen zwischen Staat und einer sich aus der Politik zurückziehenden Religion äußerst vielfältig, mit viel Getöse und konfliktbeladen in Europa, dagegen eher geräuscharm und konfliktlos in Amerika, jedenfalls in der Vergangenheit. Innerhalb Europas ist weiterhin danach zu unterscheiden, ob wir es mit einem protestantischen, katholischen oder gemischten Land zu tun haben, was sich in äußerst unterschiedlichen Regimen der Trennung bzw. Verknüpfung von Kirche und Staat abgebildet hat, die sich allerdings alle als säkularismuskompatibel erwiesen haben. Und eigentümlicherweise gibt es in einigen europäischen Ländern auch heute noch christdemokratische Parteien, in anderen gab es sie nie. Um diesen Strang der folgenden Untersuchung zusammenzufassen: Die Religion (genauer, das Christentum) muss als strukturierendes Prinzip sich säkularisierender oder bereits säkularisierter Gesellschaften in den Blick gebracht werden.

Aber die Religion ist auch eine kontingente Akteurin, die in säkularen Kontexten ihre eigenen Forderungen stellt. An dieser Stelle sind neue Religionen von besonderem Interesse, die durch Einwanderung Eingang in westliche Gesellschaften gefunden haben – wobei der typische Vertreter natürlich der Islam ist. Diese neuen Religionen müssen nun in die vorhandenen Regime von Staat und Kirche integriert werden. Dies ist ein Prozess mit Wendungen und Brüchen, der in einer ständig anwachsenden Literatur mit enormer Detailfreude beschrieben und analysiert worden ist. Ein Großteil dieser Literatur beklagt die Diskriminierungen und Ungerechtigkeiten dieses Prozesses für die neuen Religionen. Damit aber wird eine erstaunliche und historisch beispiellose Tatsache verschleiert: Nichts Geringeres als strikte Gleichbehandlung ist der Maßstab bei der Einbeziehung der neuen Religionen, insbesondere des Islam, in die westliche Gesellschaft. Angesichts der Macht der Religion (als strukturierendes Prinzip), ganze Gesellschaften und Zivilisationen zu prägen, die immer die Macht einer bestimmten und nicht einer jeden Religion ist (in unserem Fall des lateinischen Christentums), ist der Maßstab der Gleichbehandlung in der Tat verblüffend. Das Verblüffende ist, dass die einst dominierende Religion auf den Status von einer unter mehreren Religionen reduziert ist, mögen die anderen Religionen der jeweiligen dominierenden Kultur und Gesellschaft auch noch so fremd sein (wie der Islam es sicherlich ist). Dies ist ein Spezifikum des (christlichen) Westens mit seinen Grundsätzen der Säkularität und Neutralität. Diese Grundsätze erwachsen aus einer spezifischen Geschichte, sind aber, sobald sie einmal etabliert sind, für liberale Staaten und Gesellschaften allgemein verbindlich.

Das 1. Kapitel gibt einen kurzen Überblick über »Religion in Soziologie und Politikwissenschaft«. Im Zentrum stehen die beiden wichtigsten klassischen religionssoziologischen Theorien, die bis heute nichts an ihrer Aktualität eingebüßt haben – die von Émile Durkheim und Max Weber. Durkheim und Weber vertraten höchst unterschiedliche Auffassungen von Religion, eine funktionalistische (Durkheim) und eine substanzielle (Weber). Beide Ansätze haben ihre Stärken und Schwächen, aber der funktionalistische tut sich schwer, zu erklären, was Religion ist und warum und inwiefern sie nicht mehr allumfassend ist, sondern in einer komplexen und säkularisierten Gesellschaft nur noch eine Sphäre unter vielen bildet.

Das 2. Kapitel, »Säkularisierung und der lange Rückzug des Christentums«, handelt vom zentralen Begriff der Religionssoziologie überhaupt, der »Säkularisierung«. Casanova folgend8 wird zwar heute meist davon ausgegangen, dass mit »Säkularisierung« nur die »Differenzierung« der Gesellschaft gemeint sein kann; trotzdem stellt sich die Frage, wie mit »Säkularisierung« nicht auch der »Niedergang« und die »Privatisierung« von Religion gemeint sein können, die nach Ansicht Casanovas und seiner Adepten durch die Rückkehr der »öffentlichen Religion« anachronistisch geworden sind. Im Anschluss an Charles Taylor und andere zeige ich, dass Säkularität (als Folge der Säkularisierung) eine Grundvoraussetzung des liberal-demokratischen Staates überhaupt ist, diese sich aber in einem kontingenten historischen Prozess entfaltet hat, in dem die lateinische Variante des Christentums eine Schlüsselrolle spielte. Ohne das Christentum würden wir nicht in einem säkularen Zeitalter leben. Das ist sicher keine neue Erkenntnis, aber sie ist wichtig genug, in aller Schlichtheit wiederholt zu werden.

Im 3. und 4. Kapitel steht nicht mehr die Religion als Struktur im Mittelpunkt, sondern die Religion als Akteurin in bereits säkularisierten Kontexten. Dabei stellt die Christliche Rechte für Amerika das dar, was der Islam für Europa ist – die jeweils größte »Herausforderung für den säkularen Staat«.

Im 3. Kapitel, »Herausforderung für den säkularen Staat (I): Die Christliche Rechte in Amerika«, zeige ich, dass die Christliche Rechte ihre Hauptwirkung nicht auf politischem, sondern auf rechtlichem Gebiet entfaltet hat und Amerika von seinem strikten Trennungmodell von Religion und Staat weggeführt und, in wichtigen Hinsichten jedenfalls, zu einem Kooperationsmodell nach europäischer Art hingeführt hat.

Das 4. Kapitel, »Herausforderung für den säkularen Staat (II): Islam in Europa«, zeichnet zunächst einige Spannungen zwischen »Islam« und »Europa« nach, konzentriert sich dann aber auf die akkommodierenden Kräfte liberaler Institutionen. Ein gutes Beispiel dafür ist die zwar partielle und indirekte, jedoch keineswegs zu unterschätzende Einbindung der islamischen Scharia in die Rechtsordnung des liberalen Staates. Obwohl der »liberale Islam« eine Schimäre ist, hat der Islam trotzdem seinen Platz als verfassungsmäßig geschützte Minderheitsreligion im säkularen Europa und im Westen insgesamt gefunden. Auch wenn es bei der Integration der Muslime in Europa unbestreitbar Probleme gibt, so liegt ihr Kern nicht in einer ungenügenden rechtlich-institutionellen Integration des Islam als Religion.

Das Schlusskapitel, »Islam und Christentum im säkularen Staat«, geht der Frage nach, wie die Schlüsselsymbole der beiden Religionen, das christliche Kreuz und das islamische Kopftuch, in den Rechtsordnungen Europas und Amerikas verarbeitet worden sind. Beide sind Beispiele für »öffentliche« (also politisierte) »Religion«.9 Hier sind zwei Fragen zentral. Erstens: Wo liegt die Grenze zwischen rechtlich vorgeschriebener Inklusion und der Beeinträchtigung öffentlicher Funktionen durch ein Zuviel an Religion, insbesondere, wenn eine Religion gegen die Grundsätze des liberalen Staates verstößt (wie etwa gegen Menschenrechte und Gleichbehandlung)? Zweitens: Darf in dieser Hinsicht Parteilichkeit geübt werden, indem eine (»liberale«) Religion Privilegien erhält, die man einer anderen (»illiberalen«) verweigert? Liberale Neutralität und Säkularismus verlangen die Gleichbehandlung aller Religionen, in unserem Falle des Christentums und des Islam. Damit aber würde nicht zuletzt die Tatsache übergangen, dass das christliche Kreuz das zentrale Symbol der Mehrheitsreligion darstellt, während das islamische Kopftuch Ausdruck einer Minderheitsreligion ist, deren Präsenz im Westen lediglich den internationalen Migrationsbewegungen der jüngeren Zeit zu verdanken ist. Um diesem Unterschied Ausdruck zu verschaffen, haben oberste Gerichte in Europa und den USA die Identifikation des säkularen Staates mit dem Kreuz, und somit Parteilichkeit in diesem Bereich, dadurch zu rechtfertigen gesucht, dass sie das Kreuz als kulturelles statt als religiöses Symbol deuten, das für die Geschichte und Tradition einer bestimmten (»unserer«) Gesellschaft steht. Die Unterscheidung zwischen Religion und Kultur, so abstrus und problematisch sie vielen erscheinen mag, markiert den Triumph des Säkularismus, da sie die Privilegierung der Mehrheitsreligion nur durch ihre Umdeutung in säkulare »Kultur«, und somit durch Leugnung ihres Status als »Religion«, erlaubt.

1Der begrenzte Horizont der amerikanischen Religionssoziologie wird dort langsam erkannt (siehe Smith u. a., Twenty-Three Theses). Optimistischer stimmt der aktuelle Überblick über die europäische Religionssoziologie von Koenig und Wolf, Religion und Gesellschaft.

2Joppke (Hg.), Challenge to the Nation-State.

3Zu nennen wären hier etwa Rogers Brubaker, Ruud Koopmans und John Torpey. Natürlich gibt es auch jene, die mit Religion angefangen und auch bei ihr geblieben sind, wie etwa der bemerkenswerte Philip Gorski, der die Religion in das Zentrum von Makrosoziologie und politischer Soziologie gerückt hat wie kaum ein anderer in meiner Generation.

4Der Erste, der dies feststellte, war Casanova, siehe Casanova, Public Religions.

5Schmitt, Politische Theologie.

6Tocqueville, Über die Demokratie, S. 225.

7Ebd., S. 227f.

8Casanova, Public Religions, Kap. 1.

9Im Sinne von Casanova, Public Religions.

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Religion in Soziologie und Politikwissenschaft

Religion, Politik, säkularer Staat: eine Einführung

Im säkularen Staat sind Religion und Politik in dem Sinne voneinander getrennt, als die Religion keine Kontrolle über den politischen Prozess und die Zugehörigkeit des Individuums zum Staat ausübt. Im religiösen Staat ist das Gegenteil der Fall, hier gestaltet die offizielle Religion die Gesetze des Landes, und Nichtanhänger werden, falls überhaupt toleriert, auf einen niedrigeren Status verwiesen. Die Verschmelzung von Religion und Politik war in der Menschheitsgeschichte lange die Norm und ist bis heute in der islamischen Welt eine Tatsache – in der Islamischen Republik Iran beispielsweise hängt die volle Mitgliedschaft von der Zugehörigkeit zum islamischen Glauben ab (genauer gesagt, zu dessen schiitischer Ausrichtung), und die religiösen Gesetze der Scharia (bzw. deren schiitische Variante) gelten als übergeordnetes Recht, dem der Staat zu folgen hat. Im Gegensatz dazu ist Großbritannien trotz des Anglikanismus als etablierter Staatsreligion ein »säkularer Staat« insofern, als Mitgliedschaft bzw. Staatsbürgerschaft nicht an religiöse Zugehörigkeit geknüpft ist und Recht und Politik nicht vom Glauben, sondern vom rechtlich-demokratischen Prozess bestimmt werden. In einem säkularen Staat wie Großbritannien mag die historische Mehrheitsreligion privilegiert sein und einen öffentlichen Status innehaben, jedoch nur in Bezug auf Kultur und Identität, nicht als Glaube oder Dogma, die den Menschen und Institutionen auferlegt werden.1

So evident und überzeugend die Unterscheidung zwischen säkularem und religiösem Staat erscheint, so beruht sie doch auf einer Terminologie, die historisch bedingt und unvermeidlich säkularistisch ist, und zwar auch dann, wenn eine gegenteilige, nichtsäkulare Realität thematisiert wird. Dies ist ein Dilemma, dem man nicht entkommen kann. Tatsächlich ist auch der Begriff der Religion selbst, verstanden als »persönliche Glaubensüberzeugungen, die unabhängig von der öffentlich bekundeten Loyalität gegenüber dem Staat bestehen können«,2 das spezifische Resultat der europäischen Geschichte, vor allem der europäischen Religionskriege des 16. und 17. Jahrhunderts. Erst seit Thomas Hobbes’ »irdischem Gott« des Leviathan pflegen wir von »Religion« zu sprechen, einem Begriff, der die Möglichkeit der Distanz und der Beobachterperspektive in sich birgt, und nicht mehr von »wahrem Glauben«, »dem Gesetz« oder »der Offenbarung«, zu denen es keine Alternative gibt.3 »Bei der ›Religion‹«, schreibt Martin Riesebrodt konzis, »handelt es sich um einen abstrakten Begriff, durch den konkrete ›Religionen‹ vergleichbar werden.«4 Damit aber wird die absolute Wahrheit, die eine jede Religion für sich beanspruchen muss, zwangsläufig relativiert. Darüber hinaus wird das mit dem Wort »Religion« bezeichnete Phänomen zu einer von Politik, Wirtschaft oder anderen Bereichen geschiedenen Sphäre. Das gilt jedoch nicht universell, sondern ist die Folge der Säkularisierung, die ein Spezifikum der westlichen Moderne ist. Hierauf baut eine »postmoderne« Kritik am Religionsbegriff – als einem auf den Westen beschränkten und nicht auf andere Zivilisationen wie den Islam anwendbaren – auf.5 Dies ist eine zweifelhaft Kritik, da diejenigen, die den Religionsbegriff anprangern, ihn dann »weiterhin fröhlich verwenden«,6 und zwar schlicht deshalb, weil »ein Vergleich allgemeine Begriffe verlangt«.7

So verstanden »korreliert [Religion] mit dem Aufkommen des Staates« als einer inhärent säkularen Kraft, deren Zweck es ist, »Frieden zwischen den einander bekämpfenden religiösen Gruppierungen zu wahren«.8 In diesem Sinne ist der Begriff des säkularen Staates ein Pleonasmus, während der gegenteilige Begriff des religiösen Staates mit einem säkularistischen Vokabular eine Realität zu erfassen sucht, die gerade dessen Voraussetzungen bestreitet und zwangsläufig verzerrt.

Säkularistische Annahmen prägen auch unser modernes Verständnis von »Politik«. Man denke nur an Max Webers Definition von Politik als »Streben nach Machtanteil oder nach Beeinflussung der Machtverteilung, sei es zwischen Staaten, sei es innerhalb eines Staates zwischen den Menschengruppen, die er umschließt«.9 Dies ist eine zutiefst säkulare Definition von Politik, die in der westlichen Tradition seit Machiavelli und Hobbes vorherrscht. Sie lässt sich nicht ohne Weiteres auf andere Epochen und Regionen übertragen, in denen die säkularistischen Prämissen nicht gegeben sind oder sogar explizit infrage gestellt werden. Im säkularisierten Westen schließt ein weltliches Verständnis von Politik als Kampf um Macht oder, noch nüchterner, als Kampf darum, »wer was wann und wie bekommt«,10 sogar eine Dimension des Dienstes an der Gesamtheit und der Förderung des Gemeinwohls aus.

Hobbes war der Erste, der erklärte, es gebe kein finis ultimus (höchstes Ziel), kein summum bonum (höchstes Gut) in der Politik, nur ein summum malum (größtes Übel), den Tod, eine Folge des »ständigen und rastlosen Verlangens nach Macht und wieder Macht«, welches die Essenz des Menschseins sei. Bei der Staatskunst könne es daher nicht um die Realisierung des guten Lebens gehen, jene Illusion seit Aristoteles. Bescheidener gesagt, man könne durch das Leben in der Gemeinschaft lediglich hoffen, »sich Leben und Freiheit zu sichern«.11 Dies wäre in der Tat eine Politik, »die ihre Grenzen akzeptierte«.12 Im Liberalismus wurde dieses Politikverständnis in der Forderung zum Ausdruck gebracht, der Staat solle in Fragen des guten Lebens »neutral« sein.

Die Hobbes’sche Lösung, die bereits den Keim des Liberalismus in sich trägt, wurde fortan von einer republikanischen Tradition kritisiert, deren Ziel es ist, »höchste Güter« wieder in die Politik einzuführen, so auch eine quasi religiöse Dimension, die kürzlich Paul Kahn formulierte,13 mithilfe von Carl Schmitts Begriff der »politischen Theologie«. »Alle prägnanten Begriffe der modernen Staatstheorie«, hatte Carl Schmitt erklärt, »sind säkularisierte theologische Begriffe.«14 Das offensichtlichste Beispiel hierfür ist »Souveränität«. Wie der christliche Gott, der sowohl außerhalb als auch in dieser Welt ist, steht der Souverän »außerhalb der normal geltenden Rechtsordnung und gehört doch zu ihr, denn er ist zuständig für die Entscheidung, ob die Verfassung in toto suspendiert werden kann«.15 Dies folgt natürlich aus Schmitts berühmter Definition: »Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet.«16 Souveränität ist eine außerrechtliche, außerhalb des Normativen stehende Dezision, die nicht von etwas anderem abgeleitet werden kann, ganz wie Gott die Welt durch Selbstermächtigung aus dem Nichts erschaffen hat: »Souveränität ist höchste, rechtlich unabhängige, nicht abgeleitete Macht.«17 Schmitt geht sogar noch weiter: »Der Ausnahmezustand hat für die Jurisprudenz eine analoge Bedeutung wie das Wunder für die Theologie.«18

In der liberalen Theorie, nach der das Politische auf einem Gesellschaftsvertrag und der in ihm begründeten Norm beruht, fehlt das Element der souveränen Entscheidung, die dem Vertrag vorausgeht und das Politische mit Theologie verbindet: »In der liberalen Theorie steht der Gesellschaftsvertrag am Ursprung der politischen Gemeinschaft, in der politischen Theologie das Opfer.«19 »Staatsbürger« sind mit dem »Souverän« tatsächlich nicht durch »Vertrag« verbunden, sondern durch »Opfer«.20 Der Nachweis dafür ist die legitime Zumutung des Staates, im Falle eines Krieges zu töten und getötet zu werden. Kahn argumentiert im Sinne Schmitts: »Souveränität konstituiert sich in der Vorstellung der Opferhandlung: Die Bereitschaft, zu töten und getötet zu werden, bestimmt die zeitlichen und geografischen Grenzen des Staates.«21 Kahn macht einen blinden Fleck in der liberalen Theorie aus, denn sie kann ja nichts über den Augenblick der Schaffung – und Verteidigung – der politischen Gemeinschaft sagen, in der liberale Prinzipien verwirklicht werden sollen. Doch im Hinblick auf die geografischen Grenzen gerät er ins Wanken, denn die Logik seines Arguments sollte eigentlich frei von solchen Grenzen sein. Tatsächlich aber wird seine Theorie zu einem Traktat über Amerika mit seiner Besonderheit der »gerichtlichen Prüfung« als Ort der Volkssouveränität, wo zudem Opferung und staatliche Gewalt jederzeit zutage treten können. Im Gegensatz dazu verfolge Europa, vor allem die Europäische Union, »eine Politik ohne Souveränität: die Anwendung des Gesetzes ohne Ausnahme«.22 Hier klingt Robert Kagans Beschreibung der Amerikaner als vom »Mars« und der Europäer als von der »Venus« stammend an.23 Doch stimmt das auch? Zum einen gilt zu beachten, dass Amerikas »Bereitschaft zu töten und getötet zu werden« an Berufssoldaten ausgelagert wird (sogar wie im Römischen Reich an Immigranten, die mit dem Versprechen angelockt werden, schnell eingebürgert zu werden). Und wenn Kahn über Amerika hinausschaut, behilft er sich mit einer Metapher, indem er die allgegenwärtige Bedrohung durch den Terrorismus als den universellen heutigen »Augenblick der Einberufung«24 bezeichnet. Was Kahn hingegen nicht liefert, ist ein Beweis, dass dies heute politische Theologie ist. Trotzdem deckt die Schmitt-Kahn’sche »politische Theologie« eine Schwachstelle des Liberalismus auf. Dieser ist nämlich blind gegenüber dem Element des Willens in der Politik, dass Politik nicht nur Vernunft oder Interesse ist. Das Element des Willens verbindet unsere säkulare Politik von heute mit einer Vergangenheit, in der die Herrscher Götter waren oder vielmehr gar keine Unterscheidung zwischen Politik und Religion getroffen werden konnte.

Religiöse Evolution

An diesem Punkt ist es sinnvoll, einen kurzen Blick auf die Evolution der Religion zu werfen, von der Zeit an, da sie nicht zu trennen war von Politik, Gesellschaft und Kosmos, bis dahin, wo sie, in unserem säkularen Zeitalter, zu einem bloß privaten »Glauben« geworden ist, zu einer Option unter anderen.25 Diese Reflexion zeigt, wie voraussetzungsvoll und historisch einzigartig die Trennung von Religion und Politik ist, und ihre frühere Einheit legt nahe, dass die beiden vielleicht nie ganz getrennte Wege gehen können.

In einem klassischen Artikel,26 den er ein halbes Jahrhundert später zu einem wegweisenden Werk erweiterte,27 unterscheidet Robert Bellah fünf Stadien der religiösen Evolution, die jeweils durch eine Zunahme des »Freiheitsspielraums des Subjekts wie der Gesellschaft gegenüber den sie umgebenden Bedingungen« gekennzeichnet sind.28 Im ersten Stadium, das er als »primitiv« bezeichnet,29 besteht die staatenlose Gesellschaft aus egalitären Verwandtschaftsgruppen. Es gibt nicht nur keinen Unterschied zwischen Religion und Politik, das Politische ist auch nicht von der Gesellschaft geschieden. Riten werden gemeinsam, ohne Priester oder religiöse Spezialisten, als eine Art »Träumen« durchgeführt, das die natürliche in eine »mythische Welt« verwandelt. Der Zweck der Riten ist ein latenter Instrumentalismus, die Absicht zu bekommen, was man zum Leben braucht: »Regen, Ernte, Kinder, Gesundheit.« Aber das gemeinsame Ritual stärkt auch »die Solidarität der Gesellschaft« und entspricht daher zutiefst Durkheims Sicht auf Religion (siehe weiter unten). Individuum und Gesellschaft sind »in einem natürlich-göttlichen Kosmos vereint«, der keine transzendente Realität hat und in dem das Leben »nur eine Möglichkeit kennt«, eine Formulierung, die Bellah von einem zeitgenössischen Anthropologen übernahm.30

Im zweiten Stadium, dem der »archaischen Religion«, herrscht ein »kosmologischer Monismus«. Beispiele hierfür sind das alte Mesopotamien und das Ägypten der Pharaonen. Diese Zeit ist geprägt von der Ausdifferenzierung politischer und militärischer Macht und somit durch das Entstehen von Hierarchie. Entscheidend ist, dass die Gruppe mit dem höheren sozialen Status in diesen ersten staatlich organisierten Gesellschaften gleichzeitig auch den höheren religiösen Status für sich beansprucht. Hier taucht erstmals der »Gottkönig« auf, das heißt die »Verschmelzung des Göttlichen mit dem Menschlichen in der Person des Königs«.31 Im alten Mesopotamien hieß es: »Das Königtum ist vom Himmel herabgekommen«,32 und der ägyptische Pharao wurde als »Sohn Gottes« beziehungsweise als »Inkarnation Gottes« verehrt.33 Zeugnis der Gottgleichheit des Pharaos sind die Pyramiden, diese ehrfurchtgebietendsten aller menschlichen Artefakte, in denen die verstorbenen Herrscher mit ihren lebenden Dienern oder ihrer Familie bestattet wurden. In dem Augenblick, da »Politik« in diesen ersten Zivilisationen als eigener Bereich entstand, beanspruchten die aufkommenden Herrscher sofort auch einen höheren oder selbst göttlichen Status, als »Priesterkönige« in Mesopotamien oder, wie gesagt, sogar als »Gottkönige« in Ägypten.

Folglich hatte »Politik« in ihrer ersten Verkörperung eine religiöse Färbung, bzw. es gab keine Unterscheidung zwischen beiden. Dies ist ein Hinweis auf die womöglich älteste Funktion der Religion für die Politik: die Legitimierung von Macht. »Nichts geht je verloren«, lautet Bellahs Mantra,34 und Könige, die »durch göttliches Recht« eingesetzt sind, oder Präsidenten, die in Übereinstimmung mit einer »höheren Macht« handeln, existierten weit über diese ersten staatlich organisierten Gesellschaften hinaus, Letztere sogar bis in unsere Gegenwart.

Das dritte und folgenreichste Stadium der religiösen Evolution ist das Aufkommen der »historischen Religionen«35, die Bellah später als »Religionen der Achsenzeit«36 bezeichnete. Das Neue ist hier die Unterscheidung des Religiösen vom Politischen, womit Macht nicht nur durch den Anspruch, göttlich zu sein, legitimiert, sondern auch infrage gestellt werden konnte, und zwar durch eine neue Kategorie religiöser Spezialisten, die keine Herrscher waren, sondern »Propheten« oder »Verzicht Übende« (renouncers). Letztere empfanden, im Licht einer »transzendenten« Welt, die nicht die irdische ist oder noch erwartet wird, die existierende Welt als mangelhaft: »Immer konnten politische Ereignisse nach Prinzipien beurteilt werden, die von den politischen Autoritäten letztlich nicht zu kontrollieren waren.«37

Der Begriff »Achsenzeit« stammt von Karl Jaspers, der ihn für die Mitte des ersten Jahrtausends v. u. Z. verwendete, als fast gleichzeitig, jedoch ohne gegenseitige Beeinflussung, die großen Weltreligionen entstanden: der Konfuzianismus in China, der Buddhismus in Indien, das Judentum in Palästina, aber auch die Philosophie im alten Griechenland (die natürlich keine »Religion« war, jedoch mit ihr die neue Rolle teilte, das Bestehende im Licht transzendenter oder idealer Möglichkeiten zu verwerfen oder zu kritisieren).38 Dies war das »Zeitalter der Kritik«39 oder der »Reflexivität«40, gekennzeichnet durch eine »Spannung zwischen politischen Mächten und intellektuellen Bewegungen«.41 Die neue, zuvor undenkbare Frage lautete nun: »Wer ist der (wahre) König, derjenige, der wirklich göttliche Gerechtigkeit widerspiegelt?«42

Erst im Achsenzeitalter entstand die »Religion«, wie wir sie kennen:

Sie beschwor eine transzendentale, von dieser Welt getrennte Realität und brach die alte Immanenz des einen Kosmos auf, zu dem es keine Alternative gab.

Sie wurde von religiösen Spezialisten verbreitet, die nicht mit politischen Herrschern identisch und diesen meist untertan waren, sie aber auch infrage stellen konnten – die alten Propheten waren auch die ersten Intellektuellen und Revolutionäre.

Sie vereinte Menschen unabhängig und in Abstraktion von ihrer Familie, ihren Verwandten und selbst von ihren politischen Bindungen, womit sie den Universalismus des »Menschen als solchen«43 und auch den Gedanken der Gleichheit hervorbrachte.

Schließlich bewog sie die Menschen, sich für ihr »Seelenheil« einzusetzen, das heißt, durch eigenes Handeln die Erlösung von den Unzulänglichkeiten des irdischen Lebens zu erwirken. Damit kamen eine Dynamik und ein Anreiz zur Veränderung in die Welt, den es zuvor nicht gegeben hatte.

Das beste Beispiel für die einigenden, weltverändernden Kräfte der Achsenzeitreligion ist das Judentum mit dem zentralen Gedanken des »Bundes« zwischen Gott und den Israeliten, womit die politischen Herrscher umgangen waren. Dies war »eine neue politische Form, ein Volk im Bund mit Gott ohne einen königlichen Herrscher. Moses ist ein Lehrer und ein Prophet, kein König«.44

Mit dem Aufstieg der Achsenzeitreligionen erfuhren die beiden grundlegenden, aber von Haus aus gegensätzlichen Konstellationen des Verhältnisses von Religion und Politik, die der Legitimierung und die der Infragestellung von Macht, ihre volle Ausprägung. Doch trotz des theoretisch weltverachtenden Tenors der Achsenzeitreligionen gewann ihre Legitimationsfunktion die Oberhand über ihre kritischen Tendenzen. Wie Bellah nicht ohne Resignation feststellt, scheiterten alle Achsenzeitutopien, während die Religionen fortlebten. Dies wird beim Christentum deutlich, das rasch von einer radikalen, weltabgewandten Sekte zur offiziellen Religion des späten Römischen Reichs mutierte, schließlich für über 1500 weitere Jahre die politische Herrschaft in Europa legitimierte, ja sie sogar gelegentlich selbst ausübte.