1
Jörg Fauser: Heiße Kartoffel (Zu zwei Büchern des amerikanischen Schriftstellers Charles Bukowski). In: Der Strand der Städte. Gesammelte journalistische Arbeiten von 1959–1987. Alexander Verlag, Berlin, 2009. S. 177
2
Der Strand der Städte ist der Titel eines Textes, den Fauser für die 1978 im Verlag Eduard Jakobsohn, Berlin, 1978, erschienene Essay-Sammlung Der Strand der Städte – Zeitungsartikel und Radioessays 1975–1977 geschrieben hat.
3
Ralf Firle: Wir Schriftsteller existieren eigentlich nur in unseren Texten. Interview mit Jörg Fauser, 1985. In: Der Strand der Städte. Gesammelte journalistische Arbeiten von 1959–1987. Alexander Verlag, Berlin, 2009. S. 1518
4
Jörg Fauser: Das leise lächelnde Nein. S. 204 im vorliegenden Band
5
www.youtube.com/watch?v=Dov06nMeiCU
6
Jörg Fauser: Die Messer der Leiden. S. 240 im vorliegenden Band
7
Jörg Fauser: Kalte Fakten, kühne Träume. S. 99 im vorliegenden Band
8
Literatur in den Supermarkt. Interview mit dem Magazin Marabo, 1985. In: Der Strand der Städte. Gesammelte journalistische Arbeiten von 1959–1987. Alexander Verlag, Berlin, 2009. S. 1503
9
Jörg Fauser: Die Messer der Leiden. S. 240 im vorliegenden Band
10
Jörg Fauser: Gesegnete Wirklichkeit. S. 213 im vorliegenden Band
11
Jörg Fauser: Der Klub, in dem wir alle spielen. S. 218 im vorliegenden Band
12
Jörg Fauser: Auf der Suche nach der verborgenen Wahrheit. S. 142 im vorliegenden Band
13
Ebd.
14
Friedrich Ani: Vorwort. In: Lese-Stoff. Von Joseph Roth bis Eric Ambler. Verlag Neue Kritik, Frankfurt/M., 2003. S. 9
15
Jörg Fauser: Hommage an Hans Frick. In: Der Strand der Städte. Gesammelte journalistische Arbeiten von 1959 – 1987. Alexander Verlag, Berlin, 2009. S. 422
16
Ralf Firle: Wir Schriftsteller existieren eigentlich nur in unseren Texten. Interview mit Jörg Fauser, 1985. In: Der Strand der Städte. Gesammelte journalistische Arbeiten von 1959–1987. Alexander Verlag, Berlin, 2009. S. 1516
17
Matthias Penzel: Vorwort. Weil Schreiben das A und O ist und Überleben sonst nicht lohnt. In: Der Strand der Städte. Gesammelte journalistische Arbeiten von 1959–1987. Alexander Verlag, Berlin, 2009. S. 23
18
S. 31 in diesem Band
19
Jörg Fauser: Und was sind unsere Taten. S. 32 im vorliegenden Band
20
Ebd. S. 33
21
Jörg Fauser: Urphänomene? In: Der Strand der Städte. Gesammelte journalistische Arbeiten von 1959–1987. Alexander Verlag, Berlin, 2009. S. 45
22
Ebd. S. 42
23
Jörg Fauser: Letztlich … Die amerikanische Literatur ist vital, die deutsche schlapp. S. 394 im vorliegenden Band
24
Jörg Fauser: Und lange nachdem die Explosion schon verklungen war. S. 154 im vorliegenden Band
25
Jörg Fauser: Auf der Suche nach der verborgenen Wahrheit. S. 140 im vorliegenden Band
26
Jörg Fauser: Die hohe Kunst des Komplotts. S. 264 im vorliegenden Band
27
Jörg Fauser: Letztlich … Günter Grass. S. 393 im vorliegenden Band
28
Jörg Fauser: Beruf, Rebell. S. 319 im vorliegenden Band
29
Jörg Fauser: Die Messer der Leiden. S. 240 im vorliegenden Band
30
Jörg Fauser: Günter Eich: Prosa. S. 47 im vorliegenden Band
31
Jörg Fauser: Auf der Suche nach der verborgenen Wahrheit. S. 141 im vorliegenden Band
32
Jörg Fauser: Die Angst zwischen den Ängsten. S. 66 im vorliegenden Band
33
Jörg Fauser: Leichenschmaus in Loccum. S. 348 im vorliegenden Band
34
Ebd.
35
Jörg Fauser: Und lange nachdem die Explosion schon verklungen war. S. 153 im vorliegenden Band
36
Jörg Fauser: Auf der Suche nach der verborgenen Wahrheit. S. 141 im vorliegenden Band
37
Jörg Fauser: Die hohe Kunst des Komplotts. S. 266 im vorliegenden Band
38
Jörg Fauser: Hommage an Hans Frick. In: Der Strand der Städte. Gesammelte journalistische Arbeiten von 1959–1987. Alexander Verlag, Berlin, 2009. S. 426
39
wie 32
40
Jörg Fauser: Die Angst zwischen den Ängsten. S. 69 im vorliegenden Band
41
Jörg Fauser: Fallada. S. 289 im vorliegenden Band
42
Jörg Fauser: Playboy-Interview: Charles Bukowski. S. 110 im vorliegenden Band
43
Jörg Fauser: Kalte Fakten, kühne Träume. S. 97 im vorliegenden Band
44
Jörg Fauser: Letztlich … Die amerikanische Literatur ist vital, die deutsche schlapp. S. 397 im vorliegenden Band
45
Jörg Fauser: Die Legende des Duluoz. S. 179 im vorliegenden Band
46
Jörg Fauser: Prinz von Theben. S. 37 im vorliegenden Band
47
Jörg Fauser: Dashiel Hammett, der dünne Mann. S. 92 im vorliegenden Band
48
Jörg Fauser: Der Mann, der das 20. Jahrhundert liebte. S. 378 im vorliegenden Band
49
www.youtube.com/watch?v=-cQ4l9c5TNI
50
Jörg Fauser: Kalte Fakten, kühne Träume. S. 97 im vorliegenden Band
51
Ebd. S. 98
52
Jörg Fauser: Fallada. S. 306 im vorliegenden Band
53
Literatur in den Supermarkt. Interview mit dem Magazin Marabo, 1985. In: Der Strand der Städte. Gesammelte journalistische Arbeiten von 1959–1987. Alexander Verlag, Berlin, 2009. S. 1530
54
S. 246 im vorliegenden Band
55
Jörg Fauser: Der dunkle Ort. S. 282 im vorliegenden Band
56
Jörg Fauser: Das Risiko der Erkenntnis. S. 248 im vorliegenden Band
57
Jörg Fauser: Prinz von Theben. S. 41 im vorliegenden Band
58
Jörg Fauser: Fallada. S. 304 im vorliegenden Band
59
Jörg Fauser: Hommage für Joseph Roth. S. 201 im vorliegenden Band
60
Jörg Fauser: Schreib, mein Sachse, schreib. S. 331 im vorliegenden Band
61
Ebd. S. 333
62
Jörg Fauser: Der dunkle Ort. S. 281 im vorliegenden Band
63
Jörg Fauser: Der Unbestechliche. S. 352 im vorliegenden Band
64
Jörg Fauser: Leichenschmaus in Loccum. S. 345 im vorliegenden Band
65
S. 334 im vorliegenden Band
66
Werner Mathes, Alexander Wewerka: Diese Leidenschaft fürs Schreiben. Werner Mathes im Gespräch mit Alexander Wewerka. In: Der Strand der Städte. Gesammelte journalistische Arbeiten von 1959–1987. Alexander Verlag, Berlin, 2009. S. 1545
67
Ebd.
68
Jörg Fauser: Der Unbestechliche. S. 357 im vorliegenden Band
69
Jörg Fauser: Forsyth für jeden Tag. S. 254 im vorliegenden Band
70
Jörg Fauser: Eine Art von Zorn. S. 224 im vorliegenden Band
71
Ebd.
72
Ebd. S. 226
73
* Elias Canetti: Alles vergeudete Verehrung. Aufzeichnungen 1948–60. Hanser Verlag, München 1970
74
** Reinhard Prießnitz: Thomas Bernhard. In: Neues Forum, März 1970
Jörg Fauser, das war doch dieser Suff-Schreiber, nicht wahr? Der Typ, der fast jeden Abend an einem Kneipentresen hing und die Blondine am Zapfhahn abspannte und sich von anderen zerknitterten Typen grummeliges Zeug erzählen ließ und auch selbst gern seinen Weltbetrachtungssenf in den Nikotinnebel greinte und sich alles merkte oder gleich auf einem Thekenzettel notierte, um später am Schreibtisch mindestens ein Gedicht aus all dem Palaver zu stricken.
Fauser, das war also doch der, der aus dem krummen Alltag erzählte, von schmierigen Handelsvertretern, Drogen-Druffis, Aushilfskriminellen, vom »täglichen Überleben«1 der sogenannten kleinen Leute. Ein Experte des Sich-Durchschlagens, Fachmann des Geradeso-über-die-Runden-Kommens.
Starb er schließlich nicht sogar selbst einen so lausigen Loser-Tod, wie nur Jörg Fauser ihn hätte erfinden können? Stockbesoffen eierte er im Juli 1987, in der Nacht nach seinem dreiundvierzigsten Geburtstag, nach einer Männerrunde in einem Münchner Vorstadt-Puff, zu Fuß auf die Autobahn und lief einem Lkw in die Spur. Zack – verreckt auf deutschem Asphalt, krepiert am Strand einer großen Stadt2. Was für ein Abgang. Praktisch ja schon wieder eine Story. Fast zu schön, um wahr zu sein.
Zeitlebens galt er als Outsider im Literaturbetrieb, und einigermaßen gern hat er damit geprahlt. Kein Ehrenpreis, kein Stipendium, keine Fördergelder, kaum mal eine Erwähnung und schon gar kein Lob in einem der großen Feuilletons: Oft und ausführlich sprach und schrieb Jörg Fauser über die eigene Prekarität und die Ignoranz, die er im sogenannten Kulturestablishment festzustellen glaubte. Er wusste sich zu wehren. Die Schmach des Übersehenwerdens hat er zu einer Tugend umgemünzt, das Außenseitertum hat er zum einzig wahren Nimbus stilisiert. Ja: Das Nicht-richtig-Dazugehören – und der trotzige Versuch, genau daraus etwas zu machen, im Schreiben wie im Leben –, war (und ist) ein fester Bestandteil des von Jörg Fauser selbst mitkreierten Mythos Jörg Fauser.
»Ich glaube nicht, daß die Figuren, an denen ich interessiert bin, reine Asoziale, Außenseiter sind. Alle haben einen Bezug zur Gesellschaft, und zwar einen ganz starken – mal mehr, mal weniger. Es ist nur eine Gesellschaft, die sie einfach nicht reinläßt. […] Die Form von Bestätigung, die man von der Gesellschaft braucht – das prägt diese Leute. Das sind nicht Leute, die von sich aus sagen: Ich will damit nichts zu tun haben«3, sagt er einmal in einem Interview, und beinahe klingt das so, als spräche er nicht über sein Roman-Personal, sondern über sich selbst.
Drei Jahre vor seinem Short-Story-artigen Tod scheint er mit dem Gedanken zu flirten, vom ewigen Geheimtipp mit Underground-Aura vielleicht doch noch zu einem anerkannten Autor zu werden.
Gerade ist er vierzig geworden, endlich verdient er nennenswertes Geld mit seinen Büchern. Seine autobiographisch getönte Junkie-Geschichte Rohstoff ist im Ullstein-Verlag erschienen, solides Hardcover, schicker Schutzumschlag, und sein Kriminalroman Der Schneemann wird in mittelgroßem Stil verfilmt. Zur Überraschung vieler Vertrauter und Fans tritt Fauser im Juni 1984 dann bei den Tagen der deutschsprachigen Literatur an, beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb im österreichischen Klagenfurt – ausgerechnet bei einem Hochamt der »vermuffte[n] wie versumpfte[n] Haupt- und Staatskultur«4, über die er seit Jahren lästert.
In der Jury sitzen drei Platzhirsche aus jenem Segment: Peter Härtling, Walter Jens, Marcel Reich-Ranicki. Fauser trägt einen Text vor, in dem es um ein Liebespaar im Zypern-Urlaub geht, um den Geschlechterclinch und enttäuschte Romantikhoffnungen, und erwartungsgemäß wird sein Beitrag von den Herren Kritikerpäpsten verrissen. Ein mäßig talentierter Unterhaltungsschriftsteller sei Fauser. Einer, der Kunst nicht könne, über das Triviale nicht hinauskomme und auf den Spielplätzen der ernsthaften Literatur nichts verloren habe.
»Herr Fauser, wollen Sie etwas sagen?«, fragt der Moderator den Autor nach dem Gemetzel vor laufenden Kameras.
»Nein«, sagt Fauser, packt sein Lesemanuskript und geht5.
Sowenig die »Kassenwarte und Rentenbearbeiter unseres bundesrepublikanischen Schrifttums«6 mit seinen Geschichten anfangen können, so sehr interessiert sich die Alternativszene (Fauser) für sein Schreiben. Und so bekommt er einige Monate nach dem Klagenfurter Showdown im Ruhrpottmagazin Marabo die Gelegenheit zu erklären, wie er sich den geeigneten Umgang mit »brauchbarer Literatur«7 vorstellt:
»Ich finde, Literatur gehört in den Supermarkt, zwischen das Getränkeregal und die Kasse. Erst soll man Möhren kaufen, die Tiefkühlkost, die Butter, das Brot, und dann einen langen Blick auf das Getränkeregal werfen […] und wenn das geregelt ist und auch noch die Zigaretten und der Pfeifentabak eingepackt sind, dann müßte der Blick auf einen Stand fallen, auf dem einige gute Titel stehen. Das kann alles sein, auch Schopenhauer, es muß ja nicht alles Konsalik sein, was da steht. Es muß den Zugang erleichtern.«8
Was soll das überhaupt: das Schreiben? Worüber denn? Wie muss es klingen? Wie kann es funktionieren? Für wen? Und vor allem: Was ist das eigentlich für eine Figur – der Schriftsteller?
Immer wieder hat Jörg Fauser sich und anderen diese Fragen gestellt, und immer wieder hat er sie selbst beantwortet – in Essays, Kolumnen und Rezensionen, oft auch im direkten Gespräch mit anderen Autoren, in Interviews, Hausbesuchen, Reportagen.
Für seinen Junk- und Eckenlieger-Stoff ist er bekannt, wurde er einst belächelt, wird er bis heute verehrt. Sein eigentliches, vielleicht wichtigstes Thema, der Stoff, an dem er sich so leidenschaftlich aufgerieben und abgearbeitet hat wie an kaum einem anderen, geht dabei oft unter. Klänge es nicht so salbungsvoll, so komplett unfauserig, könnte man sagen: Die Literatur als solche war die Recherche seines Lebens. Von ebenjener Spur handelt der vorliegende Band.
Tagebücher hat Jörg Fauser, soweit bekannt, nicht hinterlassen. Solcher Schmus war nicht sein Ding. Statt sich in die »Labyrinthe der deutschen Innerlichkeit«9 zu begeben, belauschte und erforschte er lieber die »gesegnete Wirklichkeit«10, die ihn umgab, draußen, wo es öfters auch mal stank und nervte.
Dennoch haben die Texte, die hier versammelt sind, einen beinahe tagebuchähnlichen Effekt. Achtunddreißig Fauser-Überlegungen zum Schreiben an sich, dem eigenen und dem Schreiben anderer finden sind zwischen diesen Buchdeckeln. Sie sind chronologisch nach ihrem Erscheinen geordnet – den ersten Text verfasste er noch als Schüler, den letzten wenige Monate vor seinem Tod –, und sie erlauben in etwa das, was Fauser selbst bei so vielen Autoren suchte: einen intimen Blick in den Maschinenraum des Schriftstellers, seinen Kopf.
Ob es sich um Beiträge für große Illustrierte wie Playboy und Stern handelt, für kleinere Magazine wie Sounds und Transatlantik oder für längst vergessene Mikro-Blätter wie UFO und Zoom: Neben seinen Romanen, Erzählungen und Gedichten hat Jörg Fauser ein umfassendes zweites Werk hinterlassen – eine eigene kleine Literaturwissenschaft.
Stets aufs Neue ist er dabei zu der Frage zurückgekehrt, was »realistische zu populärer, populäre zu realistischer Literatur machen kann«11. So formuliert er es in Der Klub, in dem wir alle spielen, einer Buchbesprechung, die er 1982 für das Berliner Stadtmagazin tip schrieb und die dem vorliegenden Band den Namen gibt.
Die Texte, in denen Fauser sich mit der Literatur im Allgemeinen und Besonderen auseinandersetzt, zeigen den hochgebildeten und ziemlich ehrgeizigen Menschen, der hinter all den lässig erzählten Loser-Storys steht; den anspruchsvollen, manchmal missgünstigen, meist aber souverän selbstironischen »altmodischen Romantiker« und »verschrobenen Individualisten«12; den Vielleser, Schwärmer und Fan, das Lästermaul und den Studierenden auf Lebenszeit. Sie beleuchten den ideellen und künstlerischen Werdegang eines Mannes, der sich »seine Neugier nicht zuschütten lassen [will] und sein Mitleid«13 – und der doch ständig und vor allem um die eigene Selbstverortung kreist. Fausers Gedanken zu Plot, Stil, Sound, zu Produktionsbedingungen und zum Betrieb sind auch als »biographische Skizzen« zu begreifen, wie der Schriftsteller, Fauser-Kenner und Fauser-Fan Friedrich Ani es einmal formulierte14.
»Als ich jung war, wollte ich Schriftsteller werden. Schriftsteller erklärten das Leben, Schriftsteller gaben ihm einen Sinn, Schriftsteller, Dichter waren meine Helden, Helden in einer bedrohlichen, bedrohten Welt. [S]ie führten ein exemplarisches Leben, waren Vorbilder.«15 So intensiv Fauser sich als Erwachsener mit Rand- und Unterschichtsmilieus beschäftigt, immer wieder mit den Groben und Schlechterzogenen, so behütet und gebildet, sozusagen unproletarisch ist er selbst aufgewachsen. Man muss wohl von einer bescheidenen urbanen Boheme sprechen: der Vater Arthur ein feinsinniger prekärer Kunstmaler; die Mutter Maria eine feinsinnige prekäre Schauspielerin; der Haushalt voller Bücher; der Sohn Jörg Christian ein innig geliebtes, bisweilen vielleicht sogar verhätscheltes Einzelkind, ein naseweiser Gymnasiast.
Schon »mit sechs, sieben Jahren« habe er die Theaterstücke des Vormärz-Dramatikers Christian Dietrich Grabbe »komplett gelesen«16, erzählte Fauser über sich selbst. Andere erinnern sich an einen Zehnjährigen, der »über Dostojewksi redete, Shakespeare zu adaptieren suchte und sich Gedanken zur SPD machte«17, wie Fauser-Biograph Matthias Penzel bemerkt.
Gleich der erste Text in diesem Band lässt die ausgeprägten Ambitionen des jungen Mannes aufblitzen: Und was sind unsere Taten18 lautet der Titel, Fauser schrieb ihn für die linksliberal gepolten Frankfurter Hefte, als er noch nicht mal zwanzig war. Es geht um den Barock-Dichter Andreas Gryphius, und der postadoleszente Kritiker befindet wohlwollend: »Wohl nur selten hat, zumal in Deutschland, ein Dichter so klar, so hart zugreifend und in derart tief tönender Sprache zugleich die doch so sorgsam und umfassend um menschliche Bedeutungslosigkeit errichteten Schutzwälle zerschlagen.«19 Sogleich nutzt er die Gelegenheit, die »abgelenkten und ablenkenden Modernismen jeder Generation« zu bespötteln und von »künftigen Düsternissen« und der »Wasserstoffbombe« zu raunen20.
Zum einen klingen jene Zeilen selbst so »tief tönend«, als ob der sehr junge Mann, der sie formuliert, lieber schon ein ganz alter wäre, als ob er sich vorgenommen hätte, den bürgerlich-bildungshuberischen Tonfall möglichst originalgetreu zu imitieren.
Zum anderen hat Fauser hier schon das Leitmotiv formuliert, dem er selbst in seinem weiteren Schreiben folgen wird: die »Schutzwälle zerschlagen«, die um »die menschliche Bedeutungslosigkeit« errichtet sind, den Blick in die dunklen Ecken nicht scheuen.
Der Dichter sei »nur Stellvertreter […], Zeuge für die Namenlosen und ihr Chronist«21, befindet er wenig später und stellt sich selbst das Zeugnis aus: »Ich teile in ausreichendem Maße die Gedankengänge des Durchschnitts.«22
Keineswegs durchschnittlich ist die Bandbreite seiner Belesenheit. Else Lasker-Schüler, George Orwell, Joseph Roth, Hans Fallada, Raymond Chandler, Jack Kerouac, William S. Burroughs, Charles Bukowski, Hans Frick: Sie alle bewundert Fauser auf die eine oder andere Art, sie alle liest er über die Jahre immer wieder, und manchen von ihnen reist ist er bis in deren Wohnzimmer hinterher.
Dabei haben es ihm vor allem »die Amerikaner« angetan: »Ich bin ein Kind der amerikanischen Freiheit – ich wünsche Amerikas Politik zum Teufel und liebe seine Literatur.«23 Mit analytischer Brillanz untersucht der Leser Jörg Fauser die Methoden anglo-amerikanischer Autoren und schaut sich manche Tricks für sein eigenes Schreiben ab: vom afro-amerikanischen Schriftsteller Chester Himes das »szenische Fingerspitzengefühl« und den »harten und poetischen Realismus des Blues«24; von Raymond Chandler und William S. Burroughs das Prinzip des Set, den filmischen Blick: »Atmosphäre, Licht und Schatten, der Hut auf dem Vertiko […], Geräusche von der Straße, vielleicht eine Blume im Haar des blonden Mädchens«25; vom Polit-Thriller-Spezialisten Ross Thomas die Konzentration auf den Plot und den »sarkastisch-lakonischen Tonfall«26.
Sosehr er manche für ihr Schreiben liebt, so inbrünstig verachtet er andere, etwa den bundesdeutschen Großschriftsteller und Ex-Wehrmachts-Soldaten Martin Walser. Oder den »Oberpauker der Literaturnation«27 und, wie sich erst nach Fausers Tod herausstellt, Ex-SS-Mann Günter Grass. Die Vielfalt der Fauser’schen Schimpf- und Kampfbegriffe kennt keine Grenzen. Über »Sensibilisten [, die] eine Literatur der Ängstlichkeit und Wehleidigkeit«28 produzieren, zieht er her. Über schreibende »Fraktionen der Sozialarbeiter und Psychotherapeuten«29 und über den Typus des literarischen »Agitprop-Federfuchser[s], der vom Parkett der relativen, wenn auch erstickenden Sicherheit«30 operiert.
Gleich, ob es um einen Autor von dies- oder jenseits des Ozeans geht: In fast all den Elogen und Verrissen wird Fauser an der einen oder anderen Stelle emotional, geht ihm die Lakonie mitunter flöten, kippt er ins Hitzige, klingen seine Urteile manchmal hart, aber ungerecht.
Ja, in seinen journalistischen Arbeiten, wenn er nicht als fiktive Figur, sondern als Fauser himself spricht, scheint manchmal eine bitterernste Seite auf, die nur wenig Spaß versteht. Die Ansprüche, die er an sich selbst und andere Autoren stellt, ereichen stellenweise fast schon biblische Höhe: Da hat man es direkt mit den Klöpsen Glaubwürdigkeit und Wahrhaftigkeit zu tun, mit »moralischer Kraft«31, »existentieller Erfahrung«32, »Substanz«33 und »Stehvermögen«34, mit dem »eigentliche[n] Thema aller Kunst […]: Schuld und Sühne«35.
Live und in Farbe dabei zu sein, die »genaue Kenntnis des Materials«36, ist für Fauser die Grundvoraussetzung für den »demokratischen Realismus«37, den er sich von der Literatur erhofft. Und wenn er solcherlei tatsächlich einmal lesend entdeckt, wenn er festzustellen glaubt, »daß es keinen Unterschied zwischen dem Schreiben und dem Leben«38 eines Autors gibt, überschüttet er denjenigen mit Lob.
»Frick war dort, und er kann darüber schreiben«39, merkt er etwa über den Ex-Hilfsarbeiter, Ex-Büroangestellten, Ex-Handelsvertreter, Ex-Alkoholiker Hans Frick an, dessen Tagebuch einer Entziehung ihn beeindruckt. Den Junkie und Trinker in sich selbst kennt Fauser nur zu gut. Und so gerät seine Rezension von Fricks Entzugsbericht beinahe zu einem Re-Enactment, jedenfalls zu einem lebendigen, reportagehaften Text, wie man ihn im Feld der Literaturkritik nur selten findet. Ebendies macht Jörg Fausers feuilletonistische Texte so einzigartig: Es gelingt ihm, selbst den stillen Vorgang des Lesens als eine Erfahrung zu schildern, die einem bis ins Mark gehen kann. Mit jedem Satz will er zeigen, wie viel die Literatur mit dem »echten Leben« zu tun haben kann – wie die Realität sich also verschriften lässt, ohne sie dabei zu verkünsteln oder gar zu verkitschen:
»Ich habe Fricks Tagebuch in einem Stück gelesen, an einem nebligen Novembernachmittag in Frankfurt. Auf der Zeil gehen die Neonlichter an und illuminieren eine gespenstische Konsumlandschaft, in der sich Leichen auf Urlaub wie unter Wasser bewegen. Alte verkommene Männer mit geschlossenen Augen am Fuß der Rolltreppen der B-Ebene, diesem Spiegel unserer Lebensqualität. Stunden der Imbissstuben und Stehbierhallen, der Angst vor der Nacht. Aus dem Pissoir an der Friedberger Anlage taumelt ein Betrunkener, schäbiger Mantel vom Sozialamt, eine halbgeleerte Flasche Schnaps in der blutverkrusteten Hand […] Aussatz. Gewiss doch: Früher hätten wir euch alle vergast. Man kommt von Fricks Buch zurück wie von einer Reise – Bilder haben sich unter Schmerzen festgesetzt. Alptraumsplitter an der Peripherie des Bewusstseins, bis man sich umsieht und erkennt: Der Alptraum ist kein Traum, er ist Realität und schließt alles ein.«40
Fausers Schwärmen ist elektrisch, es vibriert, statt die Dinge zu verklären. Und das liegt auch daran, dass er meist sich selbst ins Spiel bringt, seine Zweifel, seine Skepsis sich selbst gegenüber. Als er vierzig ist, fährt er in die schleswig-holsteinische Kleinstadt Neumünster, wo einer seiner weiteren trinkenden und schreibenden Helden, Hans Fallada, einst lebte und unter seinem bürgerlichen Namen Rudolf Ditzen als Anzeigenverkäufer für die Lokalzeitung arbeitete, und Fauser fragt sich:
»Was hatte ich mir eigentlich gedacht, nach Neumünster zu fahren, fünfzig Jahre nachdem Ditzen die Stadt für immer verlassen hatte? Eine literarische Entdeckungsreise – Spurensicherung im Hinterland? Das war ja lächerlich.
[…] Ich hockte im Fleckenkieker, starrte nach draußen, starrte nach drinnen, ich saß mir gegenüber und starrte auf mich selbst. Wer bist du? Was hast du zu sagen? Und wenn du es gesagt hast, bist du dann davon erlöst? Ich räusperte mich. Schreiben als Erlösung, also, mein lieber Scholli, sagte ich zu meinem Gegenüber, jetzt kommen wir aber ganz schön ins Schleudern. Wenn wir jetzt noch das Heil und den Himmel dazutun, dann läuft es uns aber als Fußschweiß aus den Löchern in den Socken, es wird hier wohl nicht auffallen, aber stinken tut es doch.«41
Ein paar Jahre zuvor ist er nach Los Angeles gereist, um Charles Bukowski für ein Playboy-Interview zu treffen. Viele Fragen, die Fauser an sein, nun ja, Idol richtet, sind welche, die er genauso auch an sich selbst immer wieder stellt, unverkennbar versucht Fauser, die Begegnung auch zu einem Abgleich mit seiner eigenen Biographie zu nutzen. Besonders deutlich wird das bei der Frage nach dem leidigen Geld. »[Ich schob] elf Jahre lang Nachtschichten als Briefsortierer. Zum Schreiben brauchte mich da niemand zu ermutigen«42, sagt Bukowski. Bei Fauser selbst klingt das an anderer Stelle so:
»Hätte ich […] nicht eine Reihe von Jobs wie Gepäckarbeiter oder Nachtwächter gehabt, würde ich nicht für Rundfunk/TV/bürgerliche Feuilletons/Nackedeimagazine usw. schreiben, könnte ich mir die ›Alternativ-Szene‹ gar nicht leisten. Ich und alle anderen, die schreiben, weil Schreiben das A und O ist und Überleben sonst nicht lohnt.«43
Die Literaturkritik nennt es gern Welthaltigkeit, aber ein so großes Wort braucht es gar nicht, es ist doch ganz einfach: Wer nicht von Haus aus mit Geld gestopft ist, der muss anschaffen gehen, der muss sich unter die Leute mischen, muss tatsächlich, schon fürs pure Überleben, »live und in Farbe« dabei sein und sich dabei auch mal die Hände schmutzig machen. Nur so entsteht, mit Fauser gesprochen, »eine Literatur der Erfahrung, der Welt, des gelebten Lebens«44.
An Jack Kerouac beeindrucken ihn dessen »Jobs als Eisenbahn-Bremser, Obstpflücker«, »Waldhüter, Hilfsarbeiter«45. An Else Lasker-Schüler bewundert er das wechselhafte Dasein »in billigen Hotels und Pensionen«, den »Verzicht auf eine solide Existenz im bürgerlichen Sinne« – »[Sie blieb] arm und wurde allenfalls ärmer«46. In Dashiell Hammett verehrt er den »Autodidakt[en], der mit 14 von zu Hause fortlief und sich in vielen Berufen versuchte«47, und im britischen Thriller-Autor James Hadley Chase sieht er den »Vertreter« und »Klinkenputzer«, den »Kaufmann, der mit Geschichten [handelt] wie andere mit Südfrüchten«48.
Auf sich selbst wendet Fauser ein ähnliches Bild an: »Ich bin Geschäftsmann. Ich vertreibe Produkte, die ich herstelle, und das ist ein Geschäft. Writing is my business.«49 Dieses Business führt er als äußerst penibler Buchhalter:
»Verdient habe ich […] keine Ehrennadel des Bundesministeriums für Familie und Gesundheit und keinen alternativen Europa-Wanderpokal, sondern Geld, und zwar so viel: für meine drei Bücher bis Ende 1976 rund 600 Mark, für die Cassette nullkommanull Mark, für die Zeitschriften-Maloche insgesamt ca. 3000 Mark […] Ach ja, und dann bekam ich mal von einem Kleinverleger, der eine große Zeitung machen wollte, 50 Mark Vorschuss auf eine Kolumne, und nach der ersten Nummer wurde die Zeitung eingestellt. Macht summa summarum 3650 Mark in fünf Jahren und neun Monaten, macht pro Monat 52 Mark 90 – und damit gehöre ich wahrscheinlich noch zu den Großverdienern der Branche.«50
Die Unabhängigkeit von der staatlichen Kulturproduktionsbürokratie und ihren schönen, satten Geldern ist hart, sie führt zu einer »Literatur ohne Zensor, ohne Finanzamt, ohne Buchhalter und ohne Bankkonto, ohne Brot und ohne Preis«51. Vor allem ermöglicht sie aber ein Schreiben, wie Fauser es vorschwebt, wie er es für richtig hält: »Wenn Literatur nicht bei denen bleibt, die unten sind, kann sie gleich als Party-Service anheuern.«52
Ein politischer Schriftsteller im engeren Sinne war Jörg Fauser nicht. Wollte er auch nie sein. So aufmerksam er den Parteienzirkus in der alten Bundesrepublik beobachtete und in seinen journalistischen Texten kommentierte – besonders gern mit Blick auf die SPD, auch auf das Phänomen Helmut Kohl –, so strikt hielt er die Tagespolitik aus der Literatur heraus.
»Die deutsche Tradition ist: Der Schriftsteller nimmt an der Politik aktiv teil. Das halte ich für nicht gut. Die enge Teilnahme an irgendeiner politischen Gesinnung, wie auch immer, kann der Schriftstellerei nur schaden. Was nicht heißt, daß ich als Privatperson oder politischer Typ, wie jeder andere auch, nicht einen politischen Standpunkt hätte oder mich nicht engagieren würde. […] Allein die Darstellung der [Macht] reicht schon. Da muß ich mich nicht in Mutlangen hinsetzen, das würde ich nicht machen.«53
Zu den aus heutiger Sicht schwer verdaulichen Texten in diesem Band zählt Das Risiko der Erkenntnis54, Fausers Betrachtung zu einem Streit um den Stahlhelm-Schriftsteller Ernst Jünger. 1982 soll der mit dem Goethe-Preis der Stadt Frankfurt am Main geehrt werden. Einige Abgeordnete der gerade erst gegründeten Partei Die Grünen protestieren dagegen. Sie sehen in dem Nationalisten und Militaristen – »Ich hasse die Demokratie wie die Pest« (O-Ton Jünger) – einen »ideologischen Wegbereiter des Faschismus«, der nie eine »klare Stellungnahme« zum Nazi-Regime abgegeben habe. Fauser wiederum sieht in Jünger den »letzten großen deutschen Stilisten« und im Aufschrei der Grünen eine Einmischung von »Sittenwächtern« in die »Freiheit des Menschen« und auch der Kunst. Er wittert einen »miesen Blockwartsmief«, »geistiges Schnüffelantentum«, Anzeichen einer »Gesinnungsdiktatur« und dröhnt dabei in etwa so, wie man es heute von sogenannten Neuen Rechten kennt.
Plötzlich verteidigt er hier die Entscheidung einer durch und durch bürgerlichen Literatur-Preis-Jury. Wo er sich sonst über »drollige Robben, niedliche Vögel, Fachwerkhäuser oder Pferde im Morgentau«55 und literarische »Indianerspiele« für die gestressten Herzen des Mittelstands« echauffiert, scheint er beim »Naturforscher« Jünger auch »Meditationen über Sanduhren, Schleifen und Schmetterlinge« etwas abgewinnen zu können. Anerkennend stellt er heraus, dass Jünger stets versucht habe, »in allen Wandlungen sich treu zu bleiben, und das heißt vor allem: sich jedem politischen Zugriff zu verweigern«.56
Die notorische Verweigerung (von was auch immer, Hauptsache erst mal nein sagen) und das unbedingte Sichselbstreubleiben: Auch so kann Pathos klingen. Pathos Fauser’scher Fasson.
An der jüdisch-deutschen Avantgardistin Else Lasker-Schüler gefällt ihm, dass »auch nach 1933 keine Gedichte von ihr bekannt sind, die als Flugblätter verwendbar wären, wie man das heute gelegentlich von Schriftstellern verlangt. […] Bis zuletzt blieb sie im Privaten, für sich, ihrem Schicksal vollkommen treu«.57
Bei Hans Fallada zeigt er Verständnis für dessen Flucht in die innere Emigration, in die private »Welteinsamkeit« während des Nazi-Terrors, und dafür, dass Fallada sich »anzupassen« versuchte und beim Schreiben »in unverfängliche Themen« auswich.58
Im krassen Gegensatz dazu hält Fauser an anderer Stelle aber fest, dass der ebenfalls von ihm verehrte Joseph Roth ins Exil floh und radikal »mit jedem brach«, der in Nazi-Deutschland blieb.59 George Orwell und Ernest Hemingway genießen seinen Respekt, weil sie im Spanischen Bürgerkrieg gegen den Faschismus kämpften.
Am früheren DDR-Oppositions-Schriftsteller Erich Loest gefällt ihm wiederum, dass dieser eigentlich »unauffällig« leben und »sich aus politischen Querelen heraushalten«60 habe wollen. Loest sei »den dritten Weg zwischen Kapitalismus und Kommunismus« gegangen, »den Weg zwischen den Elfenbeintürmen und den roten Fahnen, dort, wo die Risse sind, die durch uns alle gehen«.61
»Die Risse, die durch uns alle gehen« – Jörg Fauser hat sie nicht nur rings um sich wahrgenommen, in der westdeutschen Wohlstandsgesellschaft:
»Und wie war das, bitte, mit diesem Untergang gewesen? Was war denn untergegangen? Der Staat war da, die Politik war da, die Kirche war da. Das Geschäft blühte, die Polizei blühte, die Wissenschaft blühte. Auf den Trümmerplätzen waren jetzt Terrassencafés, und nicht die Dichter berührten das Blau des Himmels, sondern die Flugzeuge und Wolkenkratzer. Die Mörder saßen mit den Opfern am Tisch. Tranken sie Brüderschaft?«62
Etliche »Risse« hat er auch in sich getragen. Beziehungsweise verdrängt. Nicht alle Unterdrückten und Ausgegrenzten genießen bei Herrn Jörg Christian Fauser die gleiche Solidarität. Für den Kampf gegen Rassismus hegt er große Sympathien, was sich etwa in seinen Elogen auf die afro-amerikanischen Schriftsteller James Baldwin und Chester Himes zeigt. Für den Kampf gegen Sexismus hat er hingegen kaum etwas übrig. Vielmehr zeigt er sich belustigt bis belästigt vom »Feminat«63 und witzelt in allerfeinst chauvinistischer Manier über »resolute Studentin[nen], [die] ihr Strickzeug wegräumen und erklären, die spezifische Problematik der Frauen sei auch diesmal wieder zu kurz gekommen«.64
Womöglich ist es für alle Beteiligten, sowohl für den Autor Fauser als auch für seine Leserinnen und Leser, ein Riesenglück, dass er den großen politischen Roman nie geschrieben hat. Ja, vielleicht war das die klügste Entscheidung, die Jörg Fauser schreibend je getroffen hat: seinen tagesaktuellen politischen Jähzorn in einzelne journalistische Texte auszulagern, statt seine Romane und Gedichte damit zu verkleistern. Danke, Jörg, ist besser so!
Man kann sich wirklich wunderbar aufregen und aufreiben an manchen Texten in diesem Buch, und das in zwei Richtungen: Man kann sich mit Jörg Fauser oder über Jörg Fauser aufregen.
In jedem Fall kann man von Jörg Fauser lernen, wie man sich aufregt, und zwar so, dass die Lektüre der Aufregung ein Vergnügen ist, bestes Entertainment.
Insbesondere der Text Leichenschmaus in Loccum65 sei in diesem Zusammenhang empfohlen: ein Crashkurs in Sarkasmus, Stufe III, für Fortgeschrittene. Fauser ist zu einer Literatur-Tagung an der evangelischen Akademie im niedersächsischen Dörfchen Loccum geladen, und die Absage, die er an den zuständigen »sehr geehrten Herrn Prof. Dr. Ermert« formuliert, gehört wohl zum Fiesesten, was ein redlich ums Wohl der Literatur bemühter Akademie-Mensch zu lesen bekommen kann. Tot wie der Mürbeteig einer »niedersächsischen Pizza« sei das »deutsche Tagungsleben«, schreibt Fauser und lästert über die »seltsame Mischung aus älteren silbergrauen Herren mit Bügelfalte und den Halfzware-Typen mit ihren Wuschelkopfgefährtinnen und dem Army-Schlafsack«, die »auf dem »ästhetischen Niveau« eines »Volkshochschulkollegs« oder einer »soziologischen Gartenlaube« über Kriminalliteratur reden wollten.
Was für ein Snob, dieser maulige, nölende Typ – nicht wahr?
»Was, wenn er tatsächlich ein Stipendium für die Villa Massimo bekommen hätte? Er hätte sich natürlich dort einquartiert«66, mutmaßte ein temporärer Weggefährte Fausers, der frühere tip-Chefredakteur Werner Mathes, zwanzig Jahre nach Fausers Tod. »Seine Attacken […] waren auch so eine Attitüde, die nicht immer ehrlich war. Ich denke auch, daß sein früher Tod heute manches verklärt, was so klar gar nicht war.«67
Da ist sie wieder: die Verklärungsgefahr, die doch so überhaupt nicht zu Jörg Fauser passt. Die Textauswahl in diesem Band soll ihr entgegenwirken. Im Idealfall lädt das hier gesammelte Material zum konstruktiven Streit mit Fauser ein. Zum Mitschwitzen, wenn er sich an der Frage der »künstlerische [n] Integrität«68 abarbeitet. Zur Zustimmung, wenn er beklagt, dass im Literaturgeschäft oft »Bluffer den Geschmack angeben, dem nur Bluffer noch Reize abgewöhnen können«.69 Und zum Widerspruch, wenn er in seinem »heiligen Zorn« (Friedrich Ani) wieder einmal »etwas zu tief in die Harfe griff« (Werner Mathes).
Jörg Fauser konnte nicht nur motzen, er konnte auch sehr großzügig sein. Statt seine Quellen, Stichwortgeber, Inspirationen geheim zu halten, hat er sie freimütig in die Welt gestreut, sozusagen nach dem Prinzip sharing is caring. Seine Texte über Literatur sind Anregungen, da weiterzulesen, wo er selbst intensiv geforscht hat, seinen Faden aufzunehmen, den Jörg-Fauser-Kanon fortzuspinnen, die Jörg-Fauser-Schule am Laufen zu halten.
Auch er selbst hat gern Tipps von denen aufgenommen, die er mochte. »Von John Fante hörte ich zum ersten Mal im September 1977«70, erinnerte er sich einmal. Charles Bukowski hatte ihn auf diesen italo-amerikanischen Autor gebracht. »Zwei Jahre später fand ich in der Bücherabteilung von Karstadt am Münchner Nordbad die amerikanische Taschenbuchausgabe eines neuen Romans von John Fante […] Ich las das Buch an einem Nachmittag […] das Buch eines Mannes, der von Anfang an wusste, was Schreiben war.«71 Enttäuscht, vielmehr entsetzt ist Fauser allerdings von dem Vorwort, das Bukowski dazu geschrieben hat: »Vielleicht war Bukowski übergeschnappt oder drosch im letzten Stadium irgendeines quasi religiösen Deliriums Texte in die Maschine, die wie Konfirmanden-Aufsätze klangen … oder wie die Literaturseite von Christ und Welt. Ich las Fante.«72
So sollten wir auch hier verfahren: Das Vorwort schnellstmöglich vergessen – Fauser lesen.
Katja Kullmann, Berlin im Sommer 2020
Andreas Gryphius wurde 1616 zu Glogau in Schlesien geboren, verlor früh die Eltern, besuchte die Schule inmitten der Katastrophen des Dreißigjährigen Krieges, begann früh zu schreiben und wurde, einundzwanzig Jahre alt, von seinem Mäzen zum Dichter gekrönt. In Holland, an der Universität zu Leyden, hielt er vier Jahre später Vorlesungen über Logik, Anatomie, Geographie, Geschichte, Mathematik, Astronomie und römische Altertümer; er schrieb etwa zehn Schauspiele, einen Roman, wurde zum Begründer des deutschen Trauerspiels, übersetzte, verfasste wissenschaftliche Werke, war ein Bewunderer des Kopernikus und glaubte doch an Geister. Im Alter von vierunddreißig Jahren ging er, als Landessyndikus seines heimatlichen Fürstentums, in die Politik, worin er, wen wundert es, Bedeutendes geleistet haben soll. Als er sechsundvierzig war, nannte man ihn den Unsterblichen. Zwei Jahre später, am 16. Juli 1664, starb er an einem Schlaganfall.
Ich bin nicht mehr denn du; ich bin, was du gewesen;
Bald wirst du sein, was ich. Mein Wissen, Tun und Lesen,
Mein Leben, meine Zeit, mein Name, Ruhm und Stand
Verschwanden als ein Rauch. Die leichte Hand voll Sand
Verdeckt denselben Leib, den vorhin viel geehret,
Den, nächst der Fieber Glut, itzt Fäul und Stank zerstöret.
Beweine, wer du bist, nicht mich, nur deine Not!
Du gehst, indem du gehst, und stehst und ruhst, zum Tod.
Derart beschaute dieser Mann, ein Wunder an Gelehrsamkeit, an Kraft und Tätigkeit, sich selbst, sein Werk, seine Welt – und, machen wir uns nichts vor, die Welt aller Tage.
Wohl nur recht selten hat, zumal in Deutschland, ein Dichter so klar, so hart zugreifend und in derart tief tönender Sprache zugleich die doch so sorgsam und umfassend um menschliche Bedeutungslosigkeit errichteten Schutzwälle zerschlagen.
Dass dies, für einen Platz an der Sonne in der Gunst der Nachwelt, keine Empfehlung war und ist, versteht sich von selbst. Über die Verbannung mehr oder weniger des ganzen Barock aus dem Vorfelde der deutschen Literatur vor allem durch das neunzehnte Jahrhundert wurde auch Gryphius dem großen Publikum entzogen. Erst unser Zeitalter, das mit seinen Kriegen und Verwüstungen, Hoffnungen und Verzweiflungen, mit Rausch und später Ernüchterung allerorts zurückzukehren scheint zu den Zeiten der Inquisition und der Verbrannten Erde, zu Massenwahn und neuen Philosophien, zu Galilei und den Scheiterhaufen (einen freilich wo nicht verfolgten, so ausgebeuteten Galilei), hat sich auch des Gryphius wieder besonnen.
Was bilden wir uns ein? Was wünschen wir zu haben?
Itzt sind wir hoch und groß, und morgen schon vergraben;
Itzt Blumen, morgen Kot; wir sind ein Wind, ein Schaum,
Ein Nebel und ein Bach, ein Reif, ein Tau, ein Schatten.
Itzt was und morgen nichts; und was sind unser Taten,
Als ein mit herber Angst durchaus vermischter Traum?
Von Brecht das Gefälle hinab zu Rühmkorf: Sie alle sind Nachfahren jenes fast vergessenen schlesischen Dichterfürsten, wie die Ängste, Nöte, Träume, die »herbe Pein« des Andreas Gryphius uns als eine Grunderfahrung der Menschen in dieser Welt gewiss sind. Die abgelenkten und ablenkenden Modernismen jeder Generation halten nicht viel her neben jener Poesie, die geboren ist aus den Ruinen eines Saeculums, sei es nun das des Dreißigjährigen Krieges oder das der Wasserstoffbombe.
Hans Magnus Enzensberger, der die verletzte Trauer und den stolzen Zorn über die Erbärmlichkeit seiner Zeit mit Gryphius teilt, und der die vorliegende Ausgabe herausgegeben hat, lässt in seinem Gedicht geburtsanzeige vernehmen:
wenn nicht das bündel das da jault und greint
die grube überhäuft den groll vertreibt
was wir ihm zugerichtet kalt zerrauft
mit unerhörter schrift die schiere zeit beschreibt
ist es verraten und verkauft.
Wer immer diese »unerhörte Schrift« schreibt, wir haben sichere Hoffnung, dass er in künftigen Düsternissen ebenso wie in vergangenen irgendwo einige wird betroffen machen.
Andreas Gryphius: Gedichte. Ausgewählt von Hans Magnus Enzensberger. Insel-Verlag, Frankfurt/M. 1962, 71 Seiten, Pappband, DM 3,–
Ihr Mythos lässt sich so schwer in Fakten eines bürgerlichen Lebens übertragen wie eine orientalische Legende. Die Chronisten haben es schwer mit ihr, die sogar, als sie einen wesentlich jüngeren Mann heiratete, den Schriftsteller Herwarth Walden (ein Name, den sie ihm gab und unter dem er bekannt wurde), ihr Geburtsjahr neun Jahre vordatierte und so, als man ihren 50. Geburtstag feierte, schon fast sechzig war. Und heute, 23 Jahre nach ihrem Tod, steht sie geheimnisvoll und rätselhaft und eigentlich jenseits von tot oder lebendig vor uns, wie man sich die Märchenerzählerin Schirasade ja auch nicht begraben vorstellen mag: Im Fabelreich stirbt man nicht. Die Durchdringung ihres Lebens mit ihrer Poesie bis zu jener Vollendung, in der eins mit dem anderen unauslöslich verbunden ist, macht – abgesehen von der Gewalt ihrer poetischen Sprache, der Tiefe und Weite ihrer Imagination, der klassischen Einfachheit ihrer Form – heute so sehr wie eh und je die Faszination ihrer Gestalt und Dichtung aus.
Das Land ihrer poetischen Fabel ist nicht das Traumreich einer Irren oder einer halluzinierten Ästhetikerin, errichtet auf dem Flugsand von Hirngespinsten, der unserer täppischen Schritte spottete. Beileibe nicht. Seine Landmarken und Bausteine und Wegweiser sind so irdisch und menschlich wie nur irgend möglich (mag sein, dass darin für uns, Kinder einer der kreatürlichen Sinnlichkeit feindlichen oder ihrer nicht mächtigen Zivilisation, eine Schwierigkeit des Zutritts liegt): der Körper der Frau und der des Mannes; das ganze Gefälle unserer Passionen, Liebe, Hingabe, Scham, Schmerz; und die Verzweiflung eines Menschen, der sich wehren muss gegen die Fesseln einer engen und sehr kalten Welt.
Das poetische Werk von Else Lasker-Schüler ist also keine Traumfabrik, der Weg zu ihm keine Flucht aus dieser Welt; im Gegenteil: ein sehr schmerzliches, sehr bewusstes Innewerden der Realität des Menschen, »mit den Füßen im Schlamm, mit dem Kopf in den Sternen«.
An meiner Wimper hängt ein Stern,
Es ist so hell,
Wie soll ich schlafen –
Und möchte mit dir spielen
– Ich habe keine Heimat –
Wir spielen König und Prinz.
Diese Verse – gerichtet an einen Mann, den sie Giselheer den Knaben, Giselheer den König, Giselheer den Heiden und den Barbaren nannte, und der im bürgerlichen Leben Dr. med. Gottfried Benn hieß – geben einen außerordentlichen Aufschluss über den Stern, unter dem ihr Leben stand, und ein immer wiederkehrendes Thema ihrer Gedichte: »Ich habe keine Heimat – Wir spielen König und Prinz«. Auf den ersten Blick zwei Feststellungen, die nichts miteinander zu tun haben, nur aus der scheinbaren Beiläufigkeit, dem halblauten Tonfall, der Einfachheit der Worte schließen wir auf die Bestimmtheit, mit der hier gleichsam das Gerippe eines Menschenlebens nicht bloß angedeutet, sondern von allen Hüllen getrennt wird, in einer endgültigen, unpathetischen Klarheit, wie eine Gebärde, die Schmerz, Trauer, Verlassenheit und auch Hoffnung zugleich ausdrücken könnte – und die Gedichte der Lasker-Schüler sind vielleicht genau das: Ergänzung, Weiterführung, Vervollkommnung der Gefühlssprache, die der menschliche Leib nur stammeln, nur radebrechen kann.
Mit der Vernunft und Unvernunft unserer Tagesgeschäfte hat ihre Dichtung nichts zu tun. Wo andere Poeten zu siedeln und Wurzeln zu schlagen und heimisch zu werden vermögen, in den Bereichen der Politik etwa, wo sich von der Realität so angenehm abstrahieren lässt, dass am Ende eine neue Wirklichkeit in Sicht ist, wenn auch nur als Fata Morgana über die Durststrecke der Reise in die Neue Welt, war sie vollkommen undenkbar. Ihrem Wesen nach, nicht einer poetischen Attitüde zuliebe, war sie eine echte Vagabundin. Obwohl in den zwanziger Jahren allgemein bekannt und gefeiert, blieb sie arm und wurde allenfalls ärmer. Seit ihrer zweiten Ehescheidung, 1912 von Walden, lebte sie in billigen Hotels und Pensionen. Wohnung, Geld, Ansehen, Sicherheit – der Verzicht auf eine solide Existenz im bürgerlichen Sinne kam aber bei ihr nicht der Beitrittserklärung für den Untergrund gleich. Dem ist ja der Spießer nicht gleichgültig, der auf ihn schimpft; und wer sein Lager in die Gosse verlegt, neidet am Ende doch dem Milchmann Heim und Herd. Else Lasker-Schüler bedeutete all das nichts. Sie wurde gleichsam im Exil geboren, sie betrachtete die Welt wie ein Verbannter die Fremde, in die es ihn verschlagen hat. Freilich geht ins Exil nur, wer eine Heimat hat; ihre Heimat, die des Prinzen Jussuf von Theben, war das Land ihrer poetischen Fabel: »Ich bin in Theben (Ägypten) geboren, wenn ich auch in Elberfeld zur Welt kam im Rheinland. Ich ging bis 11 Jahre zur Schule, wurde Robinson, lebte fünf Jahre im Morgenlande, und seitdem vegetiere ich«, so ihr Lebenslauf, den sie 1920 für die Anthologie Menschheitsdämmerung schrieb. Angesichts dieser Selbstdarstellung und Selbststilisierung erübrigen sich die Versuche einer Dokumentation: Man kann dieses Leben nicht anders darstellen als sie selbst, ihm keine bessere Legitimation verleihen als ihre eigene – ihr Werk.
1945
Ich will in das Grenzenlose
Zu mir zurück,
Schon blüht die Herbstzeitlose
Meiner Seele,
Vielleicht – ist’s schon zu spät zurück!
O, ich sterbe unter Euch!
Da ihr mich erstickt mit Euch.
Fäden möchte ich um mich ziehn –
Wirrwarr endend!
Beirrend,
Euch verwirrend,
Um zu entfliehn,
Meinwärts!
L’art pour l’art
Die dich umarmt,
Stiehlt mir von meinen Schauern,
Die ich um deine Glieder malte.
Ich bin dein Wegrand,
Die dich streift,
stürzt ab.
1933
Engel meiner Brüder
Heben mich
Aus dieser Welt voll Schmerz.
Ich bin so müde
Tag und Nächte trennen sich.
Ich lasse meinen Leib gehüllt in Flieder
Dem letzten Tag des März.
Ich schaue Gott im Himmelssüde …
So stirbt der Mensch und du und ich.
22194578
Theben
Else Lasker-Schüler: Sämtliche Gedichte. Herausgegeben von Friedhelm Kemp, in Zusammenarbeit mit Margarethe Kupper. Kösel-Verlag, München 1966, 368 Seiten, Leinen, DM 12,80. Band 134 der Reihe »Die Bücher der Neunzehn«.