Über die Autoren:

 

Tatjana Gräfin Dönhoff ist freie Journalistin und Buchautorin. Zuletzt erschien von ihr die Romanfassung des erfolgreichen ARD-Zweiteilers Die Flucht (BvT 2008).

 

Rainer Berg arbeitet seit 1988 als Drehbuchautor. 2002 erhielt er zusammen mit Peter Keglevic den Bayerischen Fernsehpreis für den TV-Film Tanz mit dem Teufel – Die Entführung des Richard Oetker.

Steckbrief der MS Wilhelm Gustloff

 

Schiffstyp:

Kreuzfahrtschiff

Radioident:

DJVZ

Kiellegung:

4. August 1936

Stapellauf:

5. Mai 1937

Indienststellung:

15. März 1938

Werft:

Blohm & Voss, Hamburg

Baunummer:

511

Eigner:

Deutsche Arbeitsfront

Reederei:

Hamburg-Südamerikanische Dampfschifffahrtsgesellschaft

Baukosten:

ca. 25 Mio RM

 

Technische Daten:

 

Vermessung:

25 484 BRT

Länge:

208,5 Meter

Breite über Spanten:

23,5 Meter

Breite Promenadendeck:

25 Meter

Höhe:

53 Meter, Kiel bis Mastspitze

Seitenhöhe:

17,3 Meter

Tiefgang:

vorn 6 Meter/hinten 7 Meter

Maschinen:

vier 8 Zylinder MAN-Diesel mit Getriebe

Anzahl Schrauben:

2

Leistung:

9500 PS

Höchstgeschwindigkeit:

16,5 Knoten

Dienstgeschwindigkeit

15,5 Knoten = ca. 29 km/h

Fahrbereich

12 000 Seemeilen bei 15 Knoten

Brennstoffvorrat:

max. 1580 Tonnen Diesel

 

Passagiere:

Fahrgäste

1405

HJ und BDM

60

Besatzung

417

 

Ausstattung:

Kabinen:

2 Bett: 248

4 Bett: 241

alle außen, auch für Mannschaft

alle mit Waschbecken:

Kalt- und Warmwasser

 

Jugendherberge für HJ und BDM je drei Schlafsäle

 

Badezimmer

50

Duschen

100

Toiletten

145

 

Sonnendeck 60 x 18 Meter, Platz für 700 Deckstühle

Schwimmhalle 10 x 5 Meter, Tiefe 1,6 Meter

Verglaste Promenade umlaufend auf Unterem Promenadendeck: 1,3 Kilometer

 

Hospital mit 2 Ärzten, 1 Zahnarzt

Röntgenraum, Operationssaal

Apotheke

Verschiedene Ladengeschäfte

Druckerei

Dunkelkammer

Friseur: Herren + Damen

 

Einsatz:

Kreuzfahrtschiff

23. März 1938 – 26. August 1939;

44 Seereisen mit 65 000 Urlaubern

Lazarettschiff

22. September 1939 – 21. November 1940

Wohnschiff

22. November 1940 –25. Januar 1945

Flüchtlingsschiff

26. Januar 1945 – 30. Januar 1945

 

Verbleib:

Am 30. Januar 1945 nach 3 Torpedotreffern des russischen U-Bootes S 13 gesunken:

Ort:

55° 4′ 12″ Nord, 17° 24′ 36″ Ost Heute ein Seekriegsgrab, in Schiffskarten als »Hindernis Nr. 73« eingetragen.

KAPITEL 1

 

28. Januar 1945. Die JU 52 fliegt einen Bogen über dem Flugfeld und setzt dann zur Landung an. Nur eine Bahn ist notdürftig geräumt. Rechts und links türmen sich schmutzige Schneemassen. Bleifarbene Wolken hängen dicht über der Erde, von dem strahlend blauen Himmel darüber ist hier unten nichts zu sehen, ebenso wenig von der Hafenstadt oder der nahen Ostsee. Alles liegt da wie in schmutzige Watte gepackt. Kaum fünfzig Meter freie Sicht meldet der Tower, dafür keinen Wind. Der rotweiße Sack vorn am Flugfeld hängt schlaff am Mast.

Mit einem Ruck setzt der Flieger auf, hopst noch ein-, zweimal, schlingert ein wenig und rollt zum Ende der Landebahn. Zwei Hangars tauchen aus dem Dunst auf, ein paar Messerschmitt-Jäger stehen unter ihren Tarnnetzen mit der Nase zum Flugfeld. Schneller Einsatz ist jederzeit möglich, wenn genug Benzin organisiert werden kann.

Als die Tür geöffnet und die Treppe herausgeklappt wird, schlägt Helmut Kehding eisige Luft entgegen. Fröstelnd zieht er den dunkelblauen Mantel enger und schlägt den Kragen hoch. Die Schirmmütze mit dem rot-weißen Reedereiabzeichen der Hamburg Süd über dem Lackschirm kann seine Ohren nicht vor dem beißenden Frost schützen. Schnell zieht Kehding seine warmen fellgefütterten Handschuhe an, die seine Mutter ihm zu Weihnachten geschenkt hatte. Das Fell stammt von einem ihrer Lämmer, die den Sommer über am Elbdeich gegrast haben und im Herbst geschlachtet worden sind, um den kargen Speiseplan auf Lebensmittelkarte aufzubessern.

Gut, dass Mutter auf dem Land geblieben ist. Da sind in diesen Zeiten noch Dinge möglich, von denen die Hamburger in ihrer zerbombten Stadt nur träumen können, denkt Helmut Kehding, während er sich und seinen kleinen abgeschabten Lederkoffer mit den bunten Aufklebern aus aller Herren Länder, Hamburg, Rio, Montevideo, Buenos Aires, durch den engen Gang zwischen den Sitzen bugsiert und den drei anderen Passagieren, alle hohe Offiziere der Kriegsmarine, aufs Rollfeld folgt. Er schaut sich um, versucht sich zu orientieren. Ein feldgrauer Kübelwagen biegt rasant um den Hangar und kommt auf ihn zugefahren. Abrupt hält der Wagen, und noch bevor er angehalten hat, springt ein Offizier heraus und kommt auf ihn zu. Korvettenkapitän, erkennt Helmut an den drei breiten goldenen Streifen am Ärmel. Er trägt das Ritterkreuz um den Hals, und seine linke Hand steckt in einem Lederüberzug. Bei genauerem Hinsehen entdeckt Helmut ein Korsett, das den Oberkörper des Mannes stützt. Wahrscheinlich eine schwere Kriegsverletzung, denkt Helmut und nimmt innerlich Haltung an.

»Kap’tän Kehding? Leonberg, neunte Sicherungsdivision! Ich bin Ihr Schutzengel und Chauffeur zum Hafen.«

Lachend streckt der Marineoffizier die Hand aus. Helmut schlägt zögernd ein.

»Sie sind mir gar nicht angekündigt worden.«

Er blickt den Korvettenkapitän, der einen guten Kopf größer ist als er, fragend an. Der lächelt ausweichend und mustert sein Gegenüber forschend.

»Sie werden also die Gustloff nach Kiel fahren?«

Helmut nickt und folgt Leonberg zum Wagen. In der Ferne ist plötzlich dumpfes Grollen zu hören.

»Die russische Artillerie lässt grüßen! Seit Tagen schon«, beantwortet Leonberg die ungestellte Frage. »Zwei Armeen liegen allein vor Königsberg, Versorgung nur noch über See möglich. Hunderttausende sind auf der Flucht, und was sagt Berlin?«

»Der Osten muss sich selber helfen!«, antworten beide Männer gleichzeitig und schauen sich an. Wie so oft in den letzten zwölf Jahren hat ein kurzer Satz, ein eindringlicher Blick geklärt, mit wem man es zu tun hat. Die beiden Fremden verstehen sich. Sie sind keine von denen, keine Hundertzehnprozentigen. Helmut entspannt sich. Man kann nicht vorsichtig genug sein, auch wenn einer nicht mit »Heil Hitler« grüßt, kann er zu denen gehören. Leonberg öffnet den Wagenschlag und lässt Helmut einsteigen, bevor er sich hinters Steuer schwingt.

»Machen Sie sich auf was gefasst: in Gotenhafen geht nichts mehr. Jedes Quartier, jeder Schuppen oder Stall ist belegt. Die Leute prügeln sich schon um die Hauseingänge. Viele sind seit Wochen auf den Beinen, die haben nur noch eine Hoffnung: ein Schiff, Ihr Schiff, Kapitän Kehding!«

Leonberg dreht den Zündschlüssel, und der Wagen fährt über das Rollfeld in Richtung Stadt.

 

In einiger Entfernung, vom Tower halb verdeckt, steht unauffällig ein schwarzer Wagen. Ein Kapitänleutnant der U-Boot-Waffe hat die Ellenbogen auf das Wagendach gestützt und beobachtet Leonberg und Kehding durch sein Fernglas.

»Na, da haben sich ja zwei gefunden …«, murmelt er mürrisch, als Leonbergs Kübelwagen sich in Bewegung setzt.

Der Kapitänleutnant steigt zurück in seinen Wagen, knallt die Tür zu und befiehlt seinem Adjutanten:

»Folgen Sie den beiden, Lehmann.«

 

Am Stadtrand von Gotenhafen steckt der Kübelwagen fest. Die Straßen sind hoffnungslos verstopft. Frauen mit Kinderwagen, andere mit Schlitten, Alte und Junge zu Fuß, Pferdefuhrwerke, hoch beladen mit Säcken und Kisten. Kinder klammern sich an den Streben fest, alte Leute ziehen Handkarren mit ein paar Habseligkeiten hinter sich her und stieren dabei mit leeren Blicken vor sich hin. Kleine Jungen stehen weinend am Straßenrand, weil sie im Gewühl verlorengegangen sind. Niemand kümmert sich um sie. Eine einzige Masse Menschen schleppt sich drängend vorwärts und nimmt dabei die ganze Straßenbreite ein. Ihr einziges Ziel ist der Hafen, ihre letzte Hoffnung, den Russen zu entfliehen. Dazwischen Männer vom Volkssturm und versprengte Soldaten in grauer Uniform auf der Suche nach einer Meldestelle. Feldpolizei an jeder Straßenkreuzung. Rot-Kreuz-Helferinnen versuchen ihr Bestes, weisen den Leuten den Weg zu einer Feldküche, nehmen den Frauen die Säuglinge ab, helfen Alten den Koffer tragen. Versorgungsfahrzeuge der Marine versuchen durch die Menge zu kommen, ohne jemanden zu überfahren. Leonberg und Kehding sind mit ihrem Wagen mittendrin. Durch den hohen Schnee ist es unmöglich, auf den Bürgersteig oder den Straßengraben auszuweichen. Zentimeterweise schiebt sich der Kübelwagen voran. Die Menschen beachten ihn nicht. Müde und mit trübem Blick setzen sie einen Schritt vor den anderen, lassen sich von dem kalten Blech der Motorhaube zur Seite schieben. Alle Geschäfte und Lokale der Stadt sind geschlossen, viele sind ausgeräumt und als Notquartiere belegt. Ziviles Leben existiert nicht mehr.

Was für eine seltsame Architektur, denkt Kehding, als sie sich Meter für Meter vorwärtsbewegen. Lange gerade Straßen wie vom Reißbrett, gerade moderne Fassaden, schnörkellos und funktional wie in Amerika. Die Polen haben diese Stadt nach 1919 aus dem Boden gestampft, nachdem ihnen im Versailler Vertrag der Landkorridor westlich von Danzig bis an die Ostsee zugesprochen worden war. Und weil sie dringend eine Basis zur Verschiffung ihrer Bodenschätze und einen Zugang zum Meer brauchten, haben sie aus dem alten kaschubischen Fischerdorf Gdingen in atemberaubendem Tempo das polnische Gdynia, den modernsten und größten Hafen in Europa, gemacht. Nach der Besetzung 1939 wurde er in Gotenhafen umgetauft, dem Gau Westpreußen und den deutschen Ostseehäfen eingegliedert.

Korvettenkapitän Leonberg reibt die Frontscheibe mit einem Lappen trocken. Die beiden Männer kommentieren die erschreckende Szenerie, die draußen an ihnen vorbeizieht, mit keinem Wort. Leonberg kennt die Zustände seit Tagen, ja Wochen. Und Helmut Kehding ist ja genau deshalb hier. Er soll, muss, will Abhilfe schaffen. Wenigstens für ein paar Tausend der armen gehetzten Menschen da draußen. So vielen wie nur eben möglich will er den Weg in den Westen ermöglichen.

»Kommen Sie direkt aus Hamburg?«, fragt Leonberg, ohne den Blick von den Menschen vor seinem Wagen abzuwenden.

»Vom Seetransportchef … Er lässt grüßen.«

»Danke! Engelhardt sammelt interessante Leute um sich, die Besten aus der Christlichen Seefahrt. Sein Motto war immer schon: Der richtige Mann an der richtigen Stelle! Das ist jetzt wichtiger denn je.«

»Auf der Gustloff ist Ostseeerfahrung gefragt. Ich hab die letzten Jahre Erzfrachter gefahren: Nordschweden – Stettin und zurück.«

Helmut übergeht die Schmeichelei des Marinemanns. Seetransportchef Engelhardt hat ihm in Hamburg von Fregattenkapitän Blanc erzählt, dem Kommandeur der 9. Sicherungsdivision, zuständig für die Danziger Bucht bis hinauf nach Kurland, und auch von seinem Stellvertreter, Korvettenkapitän Leonberg, gesprochen. »Organisationstalent sondergleichen und ein Offizier, auf den Sie sich verlassen können, Kehding. Der Mann weiß, was er tut.«

Der Korvettenkapitän zeigt jetzt nach draußen.

»Sie sehen ja, was hier los ist. Uns fehlen große Schiffe wie die Ley und die Gustloff. Die U-Boot-Leute haben vier Jahre höchst bequem darauf gewohnt, die wollen das schöne Schiff bestimmt nicht so einfach wieder hergeben.«

»Das werden sie wohl tun müssen«, sagt Helmut Kehding mit Nachdruck. »Mein Auftrag ist eindeutig: Und ich hab nicht nur diese eine Fahrt zu machen, die Gustloff soll zehntausend Menschen pro Reise mitnehmen.«

Leonberg nickt zufrieden: der richtige Mann an der richtigen Stelle. Laut empfiehlt er:

»Das sagen Sie aber man lieber nicht zu laut.«

 

Nach einer weiteren halben Stunde haben sie Oxhöft, den Marineteil des Hafenbeckens von Gotenhafen, erreicht und stecken endgültig in der sich zu den Kais schiebenden Menschenmenge fest. Nichts geht mehr. Leonberg steigt aus.

»Das letzte Stück gehen Sie besser zu Fuß, da sind Sie schneller, Kapitän. Wenn Sie etwas brauchen, meine Dienststelle ist gleich da drüben, das zweistöckige Gebäude.«

Er zeigt auf das Haus am Anfang des Kais. »KMD« für Kriegsmarine-Dienststelle steht in großen weißen Lettern auf einem Schild. Ein Wall von Sandsäcken sichert den Eingangsbereich. Zwei Posten mit Sturmgewehr und blauen Marinemänteln stehen an der Tür Wache.

Helmut sieht sich suchend um.

»Sagen Sie, die Marinehelferinnen bei der Hafenkommandantur … Wo finde ich die?«

»Marinehelferinnen? Soso.«

Leonberg mustert Kehding schmunzelnd.

»Nachschubkompanie, erste Gruppe, Flüchtlingsaufnahme …« Helmut Kehding spürt, wie er rot wird.

»Eine … eine sehr gute Freundin. Sie soll hier in Gotenhafen Dienst tun.«

»Fragen Sie mal da drüben. In dem Lagerhaus sind Marinehelferinnen untergebracht. Die werden Ihnen sicher weiterhelfen können.«

Leonberg reicht Helmut die Hand.

»Meine Tür steht Ihnen offen. Jederzeit. Viel Glück, Kehding!«

Helmut Kehding bedankt sich fürs Abholen, ergreift mit der Linken seinen Koffer, grüßt mit der Rechten an der Mütze und marschiert los.

 

Kaum ist er in der Menschenmenge verschwunden, hält vor dem Gebäude der KMD ein schwarzer Wagen. Kapitänleutnant Harald Kehding und sein Adjutant steigen aus und gehen an den salutierenden Wachsoldaten vorbei ins Haus. Auf der Treppe zu seinem Büro kommt ihnen Leonberg entgegen. Harald Kehding grüßt lässig.

»Herr Kapitän …«

Leonberg führt kurz die Hand an den Mützenschirm.

»Na, Kehding, habe gerade Ihren Bruder abgeholt. Tatkräftig der Mann. Was macht die Gesundheit?«

Harald geht nicht auf die Bemerkung über seinen Bruder ein.

»Könnte besser gehen.«

»Schonen Sie sich! Noch so einen Schuss vor den Bug überleben Sie nicht.«

Harald übergeht das. Tonlos sagt er zu sich: »Arschloch!«

Kurz vor seinen Diensträumen krümmt er sich plötzlich und stößt hörbar seinen Atem aus. Schwere Bauchkrämpfe setzen ein. Er schließt die Augen und krallt sich ans Geländer. Nach ein paar Sekunden ist alles vorbei. Harald streckt sich und geht weiter. Er setzt sich hinter seinen Schreibtisch, öffnet die linke Schublade und holt eine Dose Tabletten heraus. Zwei nimmt er raus, schluckt sie hinunter, verzieht das Gesicht und spült mit einem Schluck aus dem Wasserglas nach. Dann steht er auf und geht zum Fenster. Von hier aus hat er einen freien Blick auf die Gustloff und die Hansa dahinter, außerdem kann er den Kai und die Menschenmenge vor dem Zaun beobachten. Er nimmt sein Fernglas und schaut in Richtung Wohnschiff und hinüber zu den Hafengebäuden.

Gerade als er das Fernglas wieder auf der Fensterbank absetzt, kommt sein Adjutant ins Zimmer.

»Herr Kaleu, wir haben die Leute …«

»Rein mit ihnen, Fähnrich.«

Adjutant Lehmann tritt zur Seite, und ein Soldat mit geschultertem Gewehr führt eine junge Frau und einen nicht viel älteren Mann herein. Ängstlich um sich blickend, treten sie langsam vor den Schreibtisch von Harald.

»Stehen bleiben!«, bellt der Fähnrich die beiden an und setzt mit Schwung eine Ledertasche auf den Tisch. Er klappt die Lasche auf, sieht hinein und schaut dann auf die beiden Leute. Sie stehen unsicher da, starr vor Angst. Die Frau knetet ihren Schal und sieht immer wieder unsicher den Mann an. Der starrt geradeaus zum Fenster und zu Harald, der sich gegen die Fensterbank gelehnt hat. Die beiden sehen abgerissen aus, ihre Schuhe sind nass, die Frau trägt einen Herrenmantel und darunter wohl mehrere Schichten Kleidung. Jedenfalls erscheint sie unförmig, obwohl sehr schlanke Beine unter ihrem dicken grünen Wollrock hervorkommen. Der Mann ist groß, unrasiert, sein Haar zu lang. Auch er trägt zwei Pullover übereinander und eine schmutzige schwarze Hose. An seiner Jacke fehlen mehrere Knöpfe. Beide sehen kaum anders aus als die Flüchtlinge da draußen, denkt Harald. Aber wer weiß. Die Meldungen vom Sicherheitsdienst über mögliche Sabotageanschläge waren eindeutig und alarmierend.

 

Adjutant Lehmann packt langsam die Ledertasche aus, legt den Inhalt auf den Tisch: eine Drahtschere und fünf Eierhandgranaten.

»Drüben beim Tanklager der Marine haben wir sie aufgegriffen. Hiermit.«

»Die Tasche gehört uns nicht! Die muss da am Zaun gelegen haben!«

Die junge Frau redet schnell, Verzweiflung in der Stimme.

»Wir sind wirklich nur zufällig da vorbeigekommen … So glauben Sie uns doch!«

Harald kommt vom Fenster nach vorn und stützt sich mit ausgestreckten Armen auf den Tisch. Er schaut auf die Granaten, dann auf die beiden. Ganz leise sagt er:

»Das ist feige Sabotage …«

Und setzt brüllend hinzu:

»Ich will Namen: Hintermänner, Angriffsziele!«

Die junge Frau ist einen Schritt zurückgesprungen. Sie bebt vor Angst und sieht hilfesuchend den Mann an. Der senkt den Blick und betrachtet seine nassen Schuhe, ohne ein Wort zu sagen.

»Wir haben einen zuverlässigen Zeugen. Einer eurer ›Genossen‹ hat euch fröhlich verraten … Also spart euch die Lügen, wenn ihr hier lebend rauswollt!«

Lehmann schaut zu Harald, der nickt.

»Abführen. Verhören. Ich will Namen.«

 

Mühsam drängelt sich Helmut Kehding durch die Menschen, die hier nahe am Hafen dicht an dicht stehen. Im Hafenbecken ist ungeheurer Betrieb. Schlepper, Fischerboote, Kähne, Passagierdampfer jeder Größe, Walfänger, Tanker, Frachter und sogar Segelboote laufen ein und aus. Kein Kai oder Anleger ist unbesetzt, oft liegen mehrere Schiffe miteinander vertäut nebeneinander, so dass man über das eine steigen muss, um auf das andere zu gelangen. Im abgesperrten Marinehafen vor Oxhöft liegen ausschließlich Kriegsschiffe, grau oder mit Zickzack-Tarnanstrich: Minensuchboote, Torpedoboote, leichte Kreuzer, schwere Kreuzer, Zerstörer und U-Boote vom Typ II, Einbäume genannt, auf denen die Besatzungen ausgebildet werden.

 

Helmut Kehding biegt um einen Lagerschuppen und bleibt unwillkürlich stehen. Er hält den Atem an. Da liegt sie vor ihm: die Wilhelm Gustloff, das Symbol der NSDAP-Kraft-durch-Freude-Organisation, das Traumschiff der dreißiger Jahre. Das blendende Weiß des ehemaligen Kreuzfahrers ist einem grauen Marinean-strich gewichen, hier und da sind braune Rostschlieren zu sehen. Aber dennoch: es hat von seiner Schönheit nichts verloren. Elegant ragt der spitz zulaufende Bug gen Himmel. Vier Reihen Bullaugen übereinander im Rumpf und darüber die Promenadendecks und das Sonnendeck, die Aufbauten und ganz oben vor dem Schornstein wie ein Adlerhorst die Kommandobrücke. Am Schornstein unter dem Anstrich ist noch ganz schwach das KdF-Flügelrad zu sehen, das Symbol der Kraft-durch-Freude-Organisation. Es prangte weithin sichtbar an den Schornsteinen jeden Schiffes, das unter der Flagge des nationalsozialistischen Urlaubsunternehmens die Meere bereiste. Die Gustloff hat man mit dem Bug zum Hafenausgang festgemacht, damit sie nicht im engen Hafenbecken drehen muss, wenn sie wieder ausläuft. Im Hintergrund am Außenkai ist der schwarze Bug der Hansa zu sehen. Der Dampfer der New-York-Klasse mit den vier Masten gehört der Hamburg-Amerika-Linie und ist ebenfalls seit einigen Jahren als Wohnschiff ausgerüstet, mit seinen 21 131 BRT aber viel kleiner als die majestätische Gustloff.

Der Weg zu den Wohnschiffen ist durch hohe Zäune vom übrigen Hafen abgesperrt. Wachmatrosen sichern die Pier, an der die Gustloff liegt. Eine breite zweispurige Gangway aus Holz führt hinauf an Bord und einfache Stahl-Stellings zu den hinteren Ladedecks. Ein paar Lastwagen und ein schwarzer Personenwagen stehen am Kai. Es sind ausschließlich Marineleute von der 2. U-Boot-Lehrdivision zu sehen, denen die Gustloff als schwimmende Kaserne gedient hat, seit sie vor vier Jahren am Pier im Becken IX auf der Oxhöfter Seite festmachte. Mannsdicke Taue sichern das Schiff am Kai, die Anker liegen ungenutzt an Deck. Mehrere dicke Kabel hängen vom Bug herab und laufen gesammelt zu einem Holzkasten auf dem Kai, aus dem das Schiff mit Strom versorgt wird. Vor dem Drahtzaun stehen die Flüchtlinge in mehreren Reihen hintereinander. Hunderte, ja vielleicht Tausende. Kein Fußbreit Boden scheint unbesetzt. Immer wieder fragen die Wartenden den Wachhabenden: »Wann lassen die uns rauf? Wann läuft die Gustloff aus?«

Doch von der Wache kommt keine Antwort.

KAPITEL 2

 

Der kleine Dampfer des Ostpreußischen Seebäderdienstes kämpft sich ächzend durch die schwere See. Ostseewasser ergießt sich über das Deck, jedes Mal wenn der Bug in die Wellenberge hineintaucht. Das Wasser klatscht gegen die Bullaugen der Brücke und rinnt in Sturzbächen herab. Angestrengt versucht der Kapitän, mit dem Fernglas durch die Nässe und den Nebel etwas zu erkennen. Es sind viele kleine Schiffe und Boote von Pillau unterwegs über die Bucht, irgendwo neben und vor ihm. Doch der Dunst ist so dicht, dass er nur ein paar Meter Sicht voraushat. Da hilft nur Gottvertrauen. Der Kapitän hofft inständig, dass sie auf keine Mine laufen und der alte Dieselmotor durchhält. Für so einen Seegang ist der kleine Salondampfer nicht gebaut worden. Und auch nicht für die über vierhundert Passagiere, die sich überall im Schiff und auf dem Deck drängen. Völlig erschöpfte Frauen, Kinder, Alte, dazwischen verwundete Frontsoldaten mit blutigen Verbänden. Die Schwerverletzten liegen im Salon auf dem Boden, zwei Krankenschwestern betreuen sie, so gut es eben geht. Viel können sie nicht tun. Medizin gibt es nicht, und Verbandszeug ist knapp. Viele haben nur durchgeweichte Papierstreifen über ihren Wunden. Unter Deck stinkt es erbärmlich nach Erbrochenem. Fast jeder auf dem Schiff ist bei dem Wellengang seekrank.

Die Menschen stehen dicht an dicht, auf den Gängen, den Niedergängen, in der Kombüse, ja sogar draußen an Deck und vorn auf dem Vorschiff. Sie ducken sich in ihre Mäntel und Decken, machen sich so klein wie möglich, um sich vor dem Wetter zu schützen. Die Mützen haben sie tief ins Gesicht gezogen, Schals um Kopf und Kinn gebunden. Frauen, Männer und Kinder sind kaum voneinander zu unterscheiden. Alle sind von der unentwegt über sie spritzenden Gischt mit einer dicken Eisschicht überzogen. Haare und Schnurrbärte sind weiß verkrustet, rot gefroren sind Nasen und Stirn. Viele haben Frostbiss an Wangen und Nase oder aufgeplatzte Lippen, blutig verkrustet. Stumm und still harren die Menschen aus. Nur ab und an hört man ein leises Wimmern.

Mitten im Gedränge steht Lilli Simoneit aus Tilsit und drückt ihre Tochter Sophie, die sie in Decken eingewickelt hat, an die Brust. Neben ihr stöhnt Marianne aus Memel. Sie ist im neunten Monat schwanger und kann nicht mehr stehen. Kalli, Lillis fünfzehn Jahre alter Sohn, drängt mit dem Rücken gegen die Masse Mensch neben sich, versucht ein wenig mehr Raum für die beiden Frauen zu schaffen. Vergeblich.

»Es dauert sicher nicht mehr lange, Marianne. Halt aus, nur noch ein bisschen.« Kalli schaut die junge Frau mitleidig an. »Du musst die Füße bewegen und auch die Finger in den Handschuhen, das bringt dein Blut in Gang, und es wird gleich viel wärmer.«

Lilli sieht ihren Kalli mitleidvoll an. Der arme tapfere Junge. So lange sind sie nun schon unterwegs. Und es wird immer schlimmer.

Gegen Mittag lichtet sich der Nebel ein wenig, und die Sicht klart auf. Plötzlich geht ein Raunen durch die Massen an Deck, Motorengeräusch ist zu hören. Panisch blicken die Menschen zum Himmel. Da bricht ein Flugzeug durch die Wolken, am Heckflügel der Rote Stern, das russische Hoheitszeichen. Schreiend versuchen die Passagiere, sich in Sicherheit zu bringen, drängen, fluchen. Doch wohin, es ist nur Platz, um sich zu ducken und zu beten. Heulend stürzt sich der Flieger auf das Schiff, belegt es mit MG-Feuer. Auf dem Meer spritzen Wasserfontänen in einer geraden Linie auf das Schiff zu. Als die Kugeln den Rumpf und die Aufbauten treffen, tackert es metallisch, als schlage ein Löffel gegen einen Blechnapf. Dann ist es vorbei. Das Flugzeug dreht ab und ist augenblicklich wieder im Dunst verschwunden. Einige Passagiere sind getroffen zusammengesackt. Andere rufen um Hilfe oder stöhnen nur noch. Ein paar Männer versuchen, die Verletzten unter Deck zu tragen, was nur mühsam gelingt.

Lilli hat sich mit Sophie und Marianne hinter einem Rettungsboot in Sicherheit gebracht, Kalli konnte nur in die Knie gehen und den Kopf einziehen. Als alles vorbei ist, geht ein Aufatmen durch die Menge, man steht auf, streckt sich, hier und da ein befreites Lachen, das leicht hysterisch klingt. Und dann stellt sich an Deck wieder Schweigen ein.

Als Lilli einige Zeit später die Decken von Sophies Gesichtchen zieht, ist es bleich und eiskalt. Die Augen sind geschlossen. Sophie ist erfroren. Der kleine Körper hat nicht mehr die Kraft gehabt, der Eiseskälte zu widerstehen. Mit einem herzzerreißenden Schluchzen drückt Lilli ihre tote kleine Tochter an sich. Kalli drängelt sich zu ihr durch. Zuerst versteht er nicht, was geschehen ist, doch dann begreift auch er, dass Sophie nie wieder aufwachen wird. Stumm nimmt er seine Mutter in den Arm, deckt die graue alte Decke wieder über Sophie. Lilli wiegt ihr totes Kind, wie damals, als es noch ein Säugling war. Weinend und tonlos betet sie für seine kleine Seele. Kalli starrt voll Trauer auf die bleierne See.

Der Kapitän gibt über Bordfunk die nahe Ankunft in Gotenhafen durch. »Alle Passagiere bitte den Anweisungen vom Schiffs- und Hafenpersonal Folge leisten. Begeben Sie sich ruhig und geordnet von Bord. Das Rote Kreuz steht für die Bedürftigen bereit. Gott sei mit Ihnen.«

Nur noch wenige Minuten, und das kleine Seebäderschiff stampft in den Hafen und macht am Kai im Hafenbecken IX fest. Lastwagen stehen auf der Pier bereit, um Verwundete und Tote aufzunehmen. Rotkreuzhelferinnen mit ihren weißen Hauben und Schürzen und einige Marinehelferinnen in blaugrauen Uniformen warten auf ihren Einsatz. Feldpolizisten überwachen das Ausladen, schauen jedem ins Gesicht, vor allem den jungen und alten Männern. Sie haben die Pflicht, jeden auszusondern, der noch für den Volkssturm brauchbar scheint. Und sie werden fündig. Unter schreiendem Protest der Angehörigen nehmen sie hier einen Vater mit, kontrollieren dort die Papiere eines Jungen. Wenn sie feststellen, dass er sechzehn ist oder fast, wird auch er abgeführt.

Lilli steht mit der toten Sophie im Arm abwartend an Deck und beobachtet angespannt das Treiben auf der Pier. Als sie die Feldpolizei entdeckt, greift sie nach Kalli und sagt laut:

»Nimm du Sophie. Sie ist so schwer. Sie ist völlig fertig und schläft. Ich kümmere mich um Marianne.«

Leise fügt sie hinzu, als Kalli sie verdutzt ansieht: »Ruhig, mein Karlchen. Bleib ganz nah bei mir, hörst du? Ganz dicht zusammenbleiben.«

Lilli wickelt ihrem Sohn den Schal um den Kopf, so dass nur noch seine Nase hervorschaut, und macht sich mit der schwangeren Marianne am Arm auf den Weg.

Auf dem Kai vor dem eingelaufenen Seebäderschiff sind Berta Burkats Marinehelferinnen im Einsatz. Zehn junge Frauen hat die Oberhelferin abkommandiert und unter ihrer strengen Führung zum Entladen des Schiffes antreten lassen. Zunächst werden die Verwundeten und Toten von Marinesoldaten entladen, dann steigen die Flüchtlinge, zumeist Frauen und Kinder, die schmale Stelling herab. Am Ende der Treppe nehmen die Marinehelferinnen sie in Empfang, und nach der Überprüfung durch die »Kettenhunde« führen sie die völlig erschöpften Passagiere zum Lagerschuppen. Dort werden sie registriert, und ihnen wird eine Decke und ein Platz irgendwo in der kalten Halle zugewiesen. Schon jetzt ist dort alles überfüllt, sogar der zweite Lagerboden ist besetzt. Marineoberhelferin Burkat hält ihre Mädchen zusammen und beobachtet sie genau. Sie ist besorgt, dass hier in diesem Durcheinander alles außer Kontrolle geraten könnte. Vor allem die Galetschky hat sie im Auge. Die blonde Königsbergerin ist ihr von Anfang an unangenehm aufgefallen. Sie senkt nie den Blick, wenn sie angesprochen wird, und gibt oft Widerworte. Die kann sich einfach nicht unterordnen. Aber das wird sie noch lernen. Das hat Berta Burkat in den letzten Jahren schon ganz anderen beigebracht.

Wo kämen wir denn hin, denkt sie, wenn hier jeder macht, was er will. Zucht und Disziplin hält Deutschland zusammen. Vor allem jetzt, wo der Führer den Endsieg vorbereitet.

Kalli, mit Sophie im Arm, macht den letzten Schritt und steht auf dem Kai. Sofort hat der Feldpolizist ihn im Griff, zieht ihm den Schal vom Kopf.

»Gib das Kind ab und komm mit!«, bellt der Polizist.

Kalli rührt sich nicht. Er bleibt einfach stehen, schaut eingeschüchtert seine Mutter und Marianne an.

»Nein, nein«, fleht Lilli. »Er muss bei uns bleiben. Der Junge ist doch erst vierzehn. Seine Schwester ist krank, die Kusine hochschwanger. Wir brauchen den Jungen.«

Lilli versucht sich zwischen Kalli und den Feldpolizisten zu drängen. Marianne beginnt laut zu heulen. Die Leute hinter ihnen drängen, wollen vom Schiff. Der Polizist lässt sich nicht erweichen, er greift nach Sophie, versucht sie aus Kallis Armen zu zerren und will sie der Mutter rüberreichen. Kalli hält fest. Ein Gerangel entsteht, und ein weiterer Polizist mischt sich ein.

Erika Galetschky beobachtet das Ganze schon eine Weile, während sie sich um ein altes Ehepaar kümmert. Sie schaut kurz zur Burkat hinüber und eilt hinzu.

»Lassen Sie doch den Jungen los. Der ist doch noch minderjährig, sehen Sie das denn nicht?«

Der Feldpolizist lockert seinen Griff. Verdutzt schaut er die kämpferische Marinehelferin an. Erika gibt nicht auf.

»Was sind Sie nur für ein Mensch. Diese Leute haben schon so viel hinter sich, und jetzt wollen Sie ihnen auch noch den Jungen nehmen …«

In diesem Moment erreicht Helmut Kehding die Anlegestelle, sieht die heftige Diskussion beim Seebäderschiff und erkennt Erika mitten im Geschehen. Schnell bahnt er sich einen Weg durch die Menge.

»Vorsicht, bitte … Kurz Platz machen … Danke!«

Als Helmut die Gruppe erreicht, sagt Erika zum wiederholten Mal:

»Der Junge wird gebraucht, seht ihr das denn nicht?«

Helmut bleibt hinter ihr stehen.

»Erika! Erika Galetschky aus Königsberg!«

Erika dreht sich überrascht um.

»Helmut!«

Nur kurz begegnen ihre Blicke einander, dann sagt Erika zu dem Feldpolizisten:

»Er wird auf der Gustloff erwartet, als Schiffsjunge. Nicht wahr, Herr Kapitän?«

Helmut zögert nur kurz, er hat verstanden.

»Ja, das ist richtig … Der Junge gehört zu mir … Kehding, Fahrkapitän auf der Gustloff

Erika atmet auf, blinzelt Lilli zu – das hat geklappt!

Die Feldpolizisten mustern Helmut irritiert, erkennen seine Mütze mit dem rot-weißen Reedereiabzeichen, darunter die Buchstaben H. S. D. G. – Hamburg-Südamerikanische-Dampfschifffahrts-Gesellschaft. Und die vier Ärmelstreifen. Die lassen keinen Zweifel aufkommen. Der Mann ist ein hoher Offizier, kein militärischer, aber man weiß ja nie.

Erika wartet nicht, bis sie sich besonnen haben. Sie nimmt Kalli das Bündel mit Sophie ab. Sie schaut zwischen die Decken und bemerkt, wie kalt die Kleine ist. Sie streichelt ihr über die Wange und stockt entsetzt. Das Mädchen ist tot! Sie schaut zu Lilli, will etwas sagen, doch sie erkennt den flehenden Blick der Mutter. Erika sagt nichts und deckt das Mädchen wieder zu. Helmut hat davon nichts mitbekommen. Er greift sich Kalli und lotst die ganze Gruppe von der Anlegestelle weg. Erika geht zügig, schaut sich um, denn sie will jetzt auf keinen Fall von der Burkat angehalten werden. Helmut hält Schritt und fragt leise:

»Wer sind diese Leute?«

»Ich kenne sie nicht, sie kommen über die Bucht aus Pillau … Wie hast du mich so schnell gefunden?«

»Du hast mir doch geschrieben, in welcher Einheit du bist. Ich bin gleich zu dir.«

Erika lächelt ihn an, ihre Freude ist grenzenlos.

»Dein letzter Brief kam erst gestern hier an!«

Helmut raunt leise: »Hast du ihn vernichtet?«

»Klar … du hättest mir gar nicht schreiben dürfen, dass du kommst.«

Helmut bleibt plötzlich stehen. Er sieht sich suchend um.

»… wo ist der Junge?«

Kalli ist im Gedränge zurückgefallen, hat die anderen verloren. Er steht zwischen einigen Lastwagen und steigt auf einen Stoßdämpfer, um über die Köpfe sehen zu können. Gerade als er seine Mutter entdeckt hat und hinterherwill, hält ihn ein großer, kräftiger Mann zurück. Kalli stockt der Atem. Der Mann trägt eine Bootsmannuniform, und an der Mütze hat er das gleiche Abzeichen wie der Kapitän von der Gustloff.

»Keine Angst, Junge. Ich hab euch beobachtet und alles gehört. Aber du kannst nicht mit auf die Gustloff. Wir haben gar keine Schiffsjungen. Du musst versuchen, bei deiner Mutter zu bleiben.«

Bevor Kalli noch etwas sagen kann, fügt er flüsternd hinzu:

»Damit du künftig Ruhe hast … Pass auf!«

Der Bootsmann schaut sich um, vergewissert sich, dass sie keiner beobachtet. Dann zieht er schnell seinen rechten Arm aus der Jacke und lässt den Ärmel leer baumeln.

Kallis Augen leuchten auf – er hat es schon kapiert!

»Lass dich nicht erwischen. Viel Glück.« Und schon ist der Bootsmann verschwunden. Kalli macht sich auf, die anderen wiederzufinden. Als er dann bei ihnen als Einarmiger auftaucht, sagt Helmut besorgt:

»Sei wachsam. Das kann dir bösen Ärger einbringen.«

Zu Lilli sagt er:

»Eine Weile kann euch das vielleicht helfen, aber nicht lange.«

Erika drängt: »Nicht stehen bleiben. Kommt weiter mit!«

Am Tor zum Lagerschuppen bleibt Helmut zurück. Erika hält ebenfalls an.

»Wann kommst du?«

»Sobald es geht! Ich muss erst mal aufs Schiff.«

Er lächelt ihr zu, dreht sich um und geht. Erika schaut ihm nach, während er mit seinem kleinen braunen Koffer in der Menge verschwindet.

KAPITEL 3

 

Helmut Kehding kämpft sich durch das Gedränge und erreicht endlich die Absperrung vor der Gustloff. Ein Wachmatrose sieht gelangweilt auf den Mann, der da am Tor rüttelt. So viele Menschen versuchen, die Absperrung zu öffnen, dass er kaum noch reagiert. Doch dann erkennt er die Uniform und die Offiziersmütze und geht schnell zum Tor. Helmut zeigt seinen Marschbefehl, der Wachmatrose salutiert und macht den Weg frei. Als sich das Tor öffnet, versuchen die Wartenden nachzudrängen, werden aber rigoros zurückgeschoben. Hätten die Wachen keine Gewehre, würden die Massen wahrscheinlich den Zaun niederreißen und versuchen, das Schiff zu stürmen. Doch so hört man nur ein ungnädiges Murren, und dann breitet sich wieder eine gespenstige Stille aus, die nur ab und zu durch ein Husten, das Jammern eines Kindes oder das Scharren von Füßen auf frostigem Grund unterbrochen wird.

Helmut steht allein vor dem riesigen Schiff. Gute dreißig Meter hoch ragt die Bordwand in den Himmel, bis zur Spitze des Fahnenmasts sind es sogar sechsundfünfzig Meter. Helmut steigt die hölzerne, fest installierte Gangway hinauf und betritt das Schiff, das von jetzt an sein Schiff sein wird. Es ist warm, die Deckenleuchter der Eingangshalle tauchen alles in ein gelblich anheimelndes Licht. Die Empfangstheke, an der in besseren Zeiten die Passagiere begrüßt wurden, sich in die Bordliste eintrugen und ihre Kammerschlüssel erhielten, ist verwaist. Es herrscht Stille, nur das Summen der Aggregate ist zu vernehmen.

»Hallo? Jemand da?«

Helmut sieht sich suchend um. Ein Obermaat kommt durch eine Tür hinter der Theke. Er salutiert.

»Kann ich helfen?«

Helmut reicht ihm seine Papiere.

»Helmut Kehding. Ich soll mich bei Kapitän Johannsen melden.«

»Sie wurden schon angekündigt. Die Herren sind im Vorführsaal. Steuerbordtreppe nach oben. Unteres Promenadendeck, Mitte.«

»Finde ich schon. Danke.«

Helmut greift seinen Koffer und macht sich auf den Weg. Schon bevor er die Tür zum Vorführraum öffnet, hört er von drinnen die unverkennbare Stimme des Wochenschausprechers. In dem Raum ist es dunkel, und Helmut braucht einige Zeit, bis seine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt haben und er etwas erkennen kann. Einige der Stuhlreihen sind besetzt.

»Ruhe! Tür zu!«, ruft jemand in militärischem Befehlston. »Hinsetzen.«

Helmut lässt sich auf den erstbesten Sitz fallen und sieht sich um.

Ganz vorn sitzt ein älterer Mann, allein. Im Profil eine starke gerade Nase und eine hohe Stirn. Wahrscheinlich Kapitän Johannsen. Einige Reihen dahinter eine Truppe junger U-Boot-Offiziere mit kurzem Haarschnitt, die alle etwas steif und gerade dasitzen. Im äußersten Sessel ein etwas älterer Korvettenkapitän, wie an den Schulterklappen zu erkennen ist, der lässig seinen linken Arm über die Lehne baumeln lässt und seine in Stiefeln steckenden Beine in den Gang streckt. Auf der rechten Seite des Saals sitzen zwei Reihen Mädchen und mittendrin ein korpulenter Mann in Parteiuniform, der eine dicke Zigarre qualmt. Das Weiße an seiner Armbinde leuchtet im Halbdunkel.

Auf der großen Leinwand läuft ein Zusammenschnitt verschiedener Wochenschauen. Es geht um die Wilhelm Gustloff.

Hamburg, Blohm & Voss, Stapellauf am 5. Mai 1937. Der Führer, Robert Ley und andere Honoratioren aus Partei und Reederei stehen auf einer mit Blumen geschmückten Tribüne vor der Bugwand des neuen KdF-Schiffes der Deutschen Arbeitsfront. Hakenkreuzfahnen, KdF-Fahnen, Reedereifahnen, DAF-Fahnen und Girlanden überall. Hedwig Gustloff, Heldenwitwe des ermordeten Landesgruppenleiters der NSDAP Landesgruppe Schweiz, des ersten Blutzeugen der Bewegung, und ehemalige Sekretärin von Adolf Hitler, ist die Taufpatin. »Ich taufe dich auf den Namen Wilhelm Gustloff«, ruft sie mit hörbarem Stolz in der Stimme und wirft die Champagnerflasche klatschend gegen den weißen Schiffsrumpf. Unter frenetischem Jubel und einem Meer zum Hitlergruß hochgerissener Arme von fünfundzwanzigtausend Zuschauern gleitet das wunderbare neue Schiff rückwärts in das graue Wasser der Elbe.

Schnitt.

Sommer 1938. Man sieht das stolze KdF-Traumschiff auf Reisen entlang der italienischen Mittelmeerküste. Passagiere tanzen Walzer auf dem Sonnendeck, spielen Stockschießen, fahren mit einem Tender an Land. Später kreuzt das Schiff vor Madeira, liegt im Hafen von Lissabon, Palmen, Strohhüte, glückliche Gesichter – Schmalzmusik untermalt die Bilder.

Eine Frauenstimme im Zuschauerraum ruft im Dunkeln:

»Warum jagen wir den Russen nicht zum Teufel und fahren in die Sonne?!«

Lautes zustimmendes Gelächter. Der Film geht weiter. Jetzt sieht man die MS Wilhelm Gustloff am 10. April 1938 als schwimmendes Abstimmungslokal zum Anschluss Österreichs auf der Themse vor London. Auslandsdeutsche stecken Wahlzettel in den Schlitz einer Kiste. Schnitt.

Die Gustloff ist nun, die vierzigste Reise im Juni 1939, auf großer Fahrt nach Norwegen und liegt in einem atemberaubenden blauen Fjord, hohe Bergrücken im Hintergrund, Schnee auf den Kuppen. Deutsche Arbeiter und andere Volksgenossen stehen mit seligem Gesichtsausdruck an Deck und beobachten mit Ferngläsern den Sonnenuntergang. Ungetrübte Urlaubsstimmung, dazu gefühlvolle Klänge von Edvard Grieg.

Helmut wird ganz melancholisch. Erinnert sich an seine eigenen Reisen: Rio, der Zuckerhut, New York, die Freiheitsstatue …

Ein Trompetenstoß holt ihn zurück in die Gegenwart.

Jetzt Szenen, die die Gustloff als Transporter für die Legion Condor zeigen, wie sie Ende Mai 1939 die siegreichen Truppen aus Spanien abholt. Glückliche Kämpfer liegen in den Deckstühlen, rauchen, lachen, stoßen mit schäumenden Biergläsern an. Im Juli 1939 dient die Gustloff den Sportlern der »Lingiade«, des Weltturnfests, als Wohnschiff im Hafen von Stockholm. Dann ist sie im November 1940 als »Großes Lazarettschiff« zu sehen, mit Rotem Kreuz am Schornstein und umlaufendem rotem Streifen am Schiffskörper. Verwundete Soldaten werden aus Norwegen ins Reich zurückgeholt.

Es folgt die »Außerdienststellung« der Gustloff in Gotenhafen. Matrosen streichen die weiße Bordwand grau. Am 22. November 1940 wird die Gustloff Wohnschiff im Marinehafen Oxhöft. Hunderte zackiger U-Boot-Männer stehen stramm auf der Pier.

Schlussfanfare. Die Projektion ist zu Ende. Der Lichtstrahl aus der Vorführerkabine erlischt. Die Deckenbeleuchtung des Saals schaltet sich ein. Alle stehen auf und streben zum Ausgang. Helmut geht nach vorn zu dem Mann, den er für Kapitän Johannsen hält. Jetzt im Hellen erkennt er die Kapitänsstreifen der Handelsmarine an dessen Ärmeln.

Plötzlich schießt ein kräftiger Schäferhund auf ihn zu und verwehrt ihm mit hochgestelltem Nackenhaar und böse kläffend den Weg. Helmut bleibt wie angewurzelt stehen, hebt die Hände.

»Courage, junger Mann! Der beißt nicht, er ist nur ein deutsches Großmaul … Hasso, aus! Hierher!«

Sofort hört der Hund auf zu knurren und läuft schwanzwedelnd auf seinen Herrn zu. Der Besitzer des Hundes, der Korvettenkapitän, ist aufgestanden, grinst Helmut an, wendet sich an Kapitän Johannsen und weist auf die Leinwand.

»Das waren Zeiten, was, Johannsen? Aber die kommen wieder, die kommen wieder!«

»Ich hatte tatsächlich ganz vergessen, Petri, wie schön das Mittelmeer ist …«

Johannsens Stimme klingt ein wenig traurig. Wie überhaupt seine ganze Haltung alles andere als militärisch stramm ist. Eher etwas gebeugt und wie ein alter Mann steht er da. Das graue Haar ist schütter, und er hat dunkle Ränder unter den Augen. Rechts und links der Adlernase haben sich tiefe Falten eingegraben, und seine Haut ist fahl. Doch die Augen sind wach und blau.

»Kap’tän Johannsen?«, fragt Helmut freundlich.

Der Alte mustert ihn, nickt fast unmerklich.

»Kehding. Melde mich an Bord.«

»Ah! Der Störenfried! Unser ›Fahrer‹, nehme ich an?« Korvettenkapitän Petri schlägt mit einer Gerte zweimal an sein rechtes Hosenbein, der Hund springt sofort an seine Seite, und ohne ein weiteres Wort verlässt er den Raum. Alle anderen folgen ihm, die Mädchen schnattern wie eine Gänseherde, während sie mit den Parteigenossen nach draußen strömen. Helmut sieht ihnen irritiert nach. Er bleibt allein mit dem Kapitän zurück, der sich müde über die Augen wischt.

»Willkommen an Bord, Kehding … Lassen Sie sich Ihre Kammer zeigen und kommen Sie dann auf die Brücke.«

Ohne weitere Erklärung lässt er Helmut stehen und geht. Nach einigen Sekunden der Verwunderung über diese nüchterne Art der Begrüßung nimmt Helmut seinen Koffer und tritt hinaus auf den Gang, der inzwischen wieder menschenleer ist. Nicht mal die fröhlichen Frauen sind noch zu hören. Er macht sich auf in Richtung Eingangshalle, zum Oberbootsmaat, der wird ihm sicher sagen, wo seine Kammer ist.

Helmut ist gerade um eine Ecke gebogen, als er jemanden rufen hört.

»Kap’tän Kehding?«

Er sieht sich um. Ein Mann in Blau kommt den Gang heruntergelaufen und bleibt vor ihm stehen. Freundlich streckt er die Hand aus.

»Sterup, Bootsmann. Willkommen auf dem Schiff der Schiffe.«

Helmut nickt freundlich und schlägt ein.

»Moin, erst mal.«

»Ich soll sie zu Ihrer Kammer bringen, Herr Kapitän.«

Er nimmt Kehding den Koffer ab und geht vor, den Gang entlang und ein, zwei Treppen nach unten, wieder einen langen Gang entlang. Nummerierte Kabinen links und rechts. Helmut spricht ihn von hinten an:

»Auch der Reederei treu geblieben? Kein Interesse an der Kriegsmarine, Bootsmann?«

»Wer zwölf Jahre zum La Plata gefahren ist, den zieht’s auf kein graues Schiff … Ich denke, das kennen Sie?«

Helmut lächelt zustimmend. »… und? Welche Schiffe?«

»Cap Norte, La Coruna, Cap Arcona … und hier die Gustloff … seit 38 … Mir fehlt die Tropenluft!«

Der Bootsmann seufzt, und Helmut weiß genau, was er meint.

»Mir auch … wird schon wieder, wenn der Radau vorbei ist.«

»Ihr Wort in Gottes Ohr … hier!«

Sterup bleibt vor einer der Türen stehen, Nummer 103 steht auf einem kleinen weißen Schild. Er schließt auf, stellt den Koffer ab und gibt Helmut den Schlüssel.

»Für Sie … Gut, dass Sie da sind, Herr Kap’tän!«

»Danke … Sagen Sie, die halbe Mannschaft ist durch Kroaten ersetzt, wurde mir gesagt … Wie klappt das?«

»Na ja … viele von uns mussten an die Front … Die Kroaten muss man im Auge behalten, die fahren halt nicht so zur See wie wir.«

Helmut nickt, nimmt den Schlüssel und will sich verabschieden, da fügt Sterup hinzu:

»Unsere Väter haben sich übrigens gekannt, ganz gut sogar … Meiner sagt immer: Einen besseren Kap’tän als den alten Kehding hat’s nicht gegeben … Und ausgerechnet so einer bleibt auf See!«

Helmut versucht zu lächeln, auf so ein persönliches Wort ist er nicht vorbereitet.

»Lange her … zwanzig Jahre …«

Bootsmann Sterup spürt, dass Kehding das Thema nahegeht.

»Ja dann … bis später, ich bin oben, wenn Sie mich brauchen.«

Damit will er gehen, doch als Helmut in die Kammer blickt, entdeckt er, dass sie schon belegt ist. Frische Wäsche liegt, sauber auf Kante gefaltet, auf dem unteren Bett und eine Jacke hängt über einem der Stühle.

»Moment! Die Kammer ist belegt. Hier wohnt jemand!«

»Ja, sicher … Die Kammer gehört Kaleu Kehding, ich dachte, das wissen Sie?«

Helmut erstarrt, sieht den Bootsmann konsterniert an.

»Was? Mein Bruder ist hier!?«

»Oben sind alle Kammern belegt, tut mir leid.«

»Wie lange ist er schon hier?«

»Vier Wochen so ungefähr … um Weihnachten herum?«

»Ich dachte, der liegt in Pillau im Lazarett?«

»Lag er … Jetzt hat er ein Büro in der KMD drüben, hier bei uns schläft er nur.«

»Na gut … danke erst mal … Ich komm gleich rauf, ich will mir das Schiff ansehen, alles.«

Sterup nickt zufrieden, Helmut verabschiedet ihn mit einem Händedruck und schließt die Tür. Er setzt seinen Koffer auf das unbelegte Bett und sieht sich um. Stockbetten, ein Schrank, zwei Stühle vor einem kleinen Tisch, Waschbecken, Bullauge mit Blümchengardinen. Helmut erinnert sich, dass alle Kabinen, die sie auf der Gustloff Kammern nennen, Außenkabinen sind, also haben natürlich alle Bullaugen. An der Wand daneben hat Harald seine Fotos angeklebt. Helmut lächelt. Geht hin und besieht sie sich. Ein U-Boot pflügt durch aufgewühlte See. Harald in Paradeuniform mit Ritterkreuz, U-Boot-Frontspange und U-Boot-Kriegsabzeichen. Ein anderes Foto zeigt ihn als stolzer Kommandant mit dem U-Boot im Rücken, wahrscheinlich am Kai in Kiel aufgenommen. Die Mutter vor dem Reetdachhaus in Wischhafen. Vater und Mutter glücklich strahlend im Sonntagsstaat, und ein Bild zeigt ihn mit Harald, Arm in Arm. Da müssen sie so circa dreizehn und siebzehn gewesen sein. Er selbst trägt noch kurze Hosen. Mit einem tiefen Seufzer setzt er sich auf das untere Bett.

»Oh Mann, das kann ja lustig werden.«

 

Einige Minuten später steht Helmut Kehding schon wieder auf dem Gang, schließt die Tür ab und macht sich auf den Weg, um das Schiff zu erkunden. Erst mal eine Bestandsaufnahme, denkt er und klettert die Treppen rauf bis oben auf das Brückendeck. Niemand ist dort zu sehen.

»Hallo, ist jemand hier?«

Nur das Geräusch der Hilfsdiesel und der Lüfter antwortet ihm. Still liegt die Brücke da. Kehding tritt ein und geht zum Steuerstand, inspiziert alles. Maschinentelegrafen, Signaltechnik, Sprechrohre ins Schiffsinnere, Telefone, Barometer und Barografen, Arbeitslampen, Rauchmeldeanlage und Kreiselkompass. Ferngläser liegen auf dem Vorsprung vor den dreizehn Fenstern, die über die gesamte vordere Seite der Brücke angebracht sind und einen weiten freien Blick auf das Vorschiff und den Hafen bieten. Er sieht die Tafel mit Wacheinteilungen und eine Schalttafel mit allen Schiffdecks und verschiedenen Schaltern. An Backbord die Schottenschließanlage mit Überwachungstafel. Die modernste technische Ausstattung, die er bisher auf einem Schiff gesehen hat. Dazu das traditionelle lackierte Teakholz und das goldgelb glänzende Messing. Alles blitzblank poliert und sauber.

Nach hinten führt ein Gang, im ersten Raum links ist die Navigation untergebracht. Sauber aufgerollte Karten in ihren Röhren, dicke Bücher mit Leinenrücken, das Logbuch. Auf dem Tisch ausgebreitet die Karte vom Hafengebiet Gotenhafen bis hinauf zur Halbinsel Hela. Eine andere Karte zeigt das gesamte Ostseegebiet. Ein Handkompass und ein Zirkel liegen bereit.

Helmut geht an einigen geschlossenen Türen, Offizierskammern, vorbei. Dann steht er vor einer offenen Tür, dem Funkraum. Er sieht hinein: drei Empfangs- und Sendeplätze, an zweien fehlen die Geräte, nur einer, der hinterste, ist betriebsbereit, und da sitzt jemand am Tastenfunk, ein großer breitschultriger blonder Marinesoldat. Der Funkmaat hat Kopfhörer auf und ist scheinbar ganz auf etwas konzentriert, was er hört. Er hat vor sich einen Block Papier liegen, und ab und an notiert er sich etwas.

Helmut will ihn nicht stören und geht weiter. Die letzte Tür am Ende des Gangs führt ihn hinaus ins Freie. Er stellt sich an die Reling. Von hier oben kann er den Kai vor dem Schiff und den halben Hafen überblicken. Er sieht die vielen Schiffe jeglicher Größe und Verwendung, die dort liegen, und die Trauben hilfesuchender Menschen, die darauf hoffen, an Bord gelassen und in Sicherheit gebracht zu werden. Außer an den Stellen, die die Marine abgesperrt hat, ist kein Meter freier Boden mehr zu sehen. Nur Köpfe, wie wogendes graubraunes Wasser. Hier und da mal der rote oder grüne Tupfer einer Kinderzipfelmütze. Im Hintergrund die schwarzen Dächer der Lagerschuppen und Gotenhafen in der Ferne, das unter einem kalten Nebelschleier liegt. Was für ein Desaster! Was kann man da noch ausrichten?, denkt Helmut Kehding besorgt.

Unter ihm auf dem Sonnendeck schlägt ein Hammer auf Metall und reißt Kehding aus seinen Gedanken. Matrosen versuchen, einen Davit auszuschwenken, der festgefroren oder eingerostet ist. Andere schmieren Blöcke und Drähte, suchen Riemen und Rettungswesten zusammen. Berge von Tauen müssen entwirrt werden. Bootsmann Sterup führt das Kommando. Helmut steigt die Niedergänge hinunter und geht zum Bootsmann.