Oliver Twist

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Über dieses Buch

Oliver wird im Armenhaus einer englischen Kleinstadt geboren – der Vater ist unbekannt, die Mutter stirbt gleich nach der Geburt – und erlebt eine trostlose Kindheit. Er kommt ins Arbeitshaus, wird wenig später zu einem Sargtischler in die Lehre gegeben, ehe er nach London flieht und an eine Bande jugendlicher Taschendiebe gerät. Mit seinen drastischen Beschreibungen des Elends und der Ausbeutung von Kindern zieht Charles Dickens in seinem Roman, der in den Jahren 1837 bis 1839 in Fortsetzungen erschien, alle Register, um auf die prekäre Lage der englischen Arbeiterklasse aufmerksam zu machen.

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Enthält das E-Book in eckigen Klammern beigefügte Seitenzählungen, so verweisen diese auf die Printausgabe des Werkes.

Erstes Kapitel

Wo Oliver Twist zur Welt kam und die Umstände seiner Geburt.

Unter anderen öffentlichen Gebäuden einer gewissen Stadt, die ich aus vielerlei guten Gründen weder benennen noch ihr einen erfundenen Namen geben möchte, befand sich eines, das seit alters her in den meisten Städten, ob groß oder klein, vorhanden ist, nämlich ein Armenhaus. In diesem Haus wurde an einem Datum, das ich hier nicht zu erwähnen brauche, zumal es für den Leser im Moment nicht weiter von Belang ist, der kleine Erdenbürger geboren, dessen Name in der Überschrift dieses Kapitels geschrieben steht.

Noch eine ganze Weile, nachdem er vom Amtsarzt in diese Welt voll Kummer und Leid befördert worden war, blieb es höchst zweifelhaft, ob das Kind überleben und überhaupt einen Namen benötigen würde. In diesem Fall wäre die vorliegende Geschichte sehr wahrscheinlich nie erschienen, oder wenn, dann gebührte ihr, weil auf wenige Seiten beschränkt, das unschätzbare Verdienst, die kürzeste und genaueste Biographie in der Literatur aller Zeiten und Länder zu sein.

Auch wenn ich keineswegs grundsätzlich behaupten möchte, eine Geburt im Armenhaus sei das allerglücklichste und beneidenswerteste Schicksal, das einem Menschen widerfahren kann, möchte ich in diesem besonderen Fall doch sagen, dass es das Beste war, was Oliver Twist passieren konnte. Es bedurfte nämlich vieler Mühen, Oliver dazu zu bewegen, selbständig zu atmen; eine zwar beschwerliche, doch für unser Wohlergehen unerlässliche Tätigkeit. Einen Augenblick lang lag er keuchend auf einer kleinen, mit Wollfetzen gefüllten Matratze, unentschlossen zwischen Diesseits und Jenseits schwankend, aber eher dem letzteren zugeneigt. Wäre Oliver nun während dieser kurzen Zeitspanne von besorgten Großmüttern, ängstlichen Tanten, erfahrenen Krankenschwestern und kunstfertigen Ärzten umgeben gewesen, hätte er unweigerlich im Nu das Zeitliche gesegnet. Da jedoch nur eine Armenhäuslerin, die aufgrund des Genusses eines ungewohnten Quantums Bier leicht benebelt war, und ein Amtsarzt, der dies bloß als lästige Pflichterfüllung betrachtete, zugegen waren, mussten Oliver und die Natur die Sache unter sich ausmachen.

Nach kurzem Kampf stand das Ergebnis fest: Oliver begann zu atmen, nieste und setzte dann dazu an, den Bewohnern des Armenhauses zu verkünden, dass der Gemeindekasse eine neue Bürde auferlegt worden war, indem er so laut schrie, wie man es von einem männlichen Säugling eben erwarten konnte, der erst seit dreieinviertel Minuten über das höchst nützliche Organ einer Stimme verfügte.

Als Oliver dieses erste Zeugnis einer einwandfreien Lungentätigkeit ablegte, regte sich etwas unter der Flickendecke, die nachlässig über das eiserne Bettgestell geworfen worden war. Das bleiche Gesicht einer jungen Frau erhob sich mühsam vom Kissen, und eine dünne Stimme formte kaum vernehmbar die Worte: »Lasst mich das Kind sehen und sterben.«

Der Arzt saß am Kamin, wo er sich die Hände abwechselnd rieb und am Feuer wärmte. Als die junge Frau sprach, erhob er sich, ging zum Bett hinüber und sagte sanfter, als man es von ihm erwartet hätte: »Na, na, wer wird denn gleich ans Sterben denken?«

»Gott segne ihre arme Seele, nein!«, warf die Pflegerin ein und stopfte hastig eine grüne Glasflasche, deren Inhalt sie sich zuvor in einer Ecke mit augenscheinlichem Behagen hatte munden lassen, in die Tasche. »Gott segne ihre arme Seele. Wenn se ersma so alt is wie ich, Sir, un dreizehn Blagen zur Welt gebracht hat, die alle gestor’m sind, außer den beiden, die mit mir im Armenhaus leben, dann wird se schon zur Vernunft kommen, die arme Seele. Denkt doch, was es heißt, Mutter von so nem hübschen kleinen Kerlchen zu sein!«

Diese tröstliche Aussicht auf künftige Mutterfreuden verfehlte offensichtlich die beabsichtigte Wirkung. Die Wöchnerin schüttelte den Kopf und streckte die Hand nach dem Kind aus.

Der Doktor legte es ihr in die Arme. Sie drückte ihre kalten, bleichen Lippen leidenschaftlich auf Olivers Stirn, fuhr sich mit den Händen übers Gesicht, blickte wild umher, schauderte, sank zurück … und verstarb. Sie rieben der Frau Hände, Brust und Schläfen, aber ihr Herz hatte für immer zu schlagen aufgehört. Sie sprachen von Zuversicht und Hoffnung, doch beides war ihr schon zu lange fremd gewesen.

»Jetzt ist es vorbei, Mrs. Thingummy«, sagte der Amtsarzt schließlich.

»So sieht’s aus, die Ärmste«, pflichtete die Pflegerin bei und griff sich den Korken der grünen Flasche, der aufs Kissen gefallen war, als sie sich vorgebeugt hatte, um das Kind aufzunehmen. »Armer Wurm.«

»Ihr braucht nicht nach mir zu schicken, wenn das Kind schreit«, sagte der Arzt und streifte sich bedächtig seine Handschuhe über. »Sehr wahrscheinlich wird es ein wenig unruhig sein. Gebt ihm dann einfach etwas Haferschleim.« Er setzte den Hut auf, blieb auf dem Weg zur Tür beim Bett stehen und bemerkte: »Hübsches junges Ding, wo kam sie eigentlich her?«

»Sie wurde letzte Nacht gebracht«, erwiderte die alte Frau, »auf Anweisung des Amtsfürsorgers. Hat in der Gosse gelegen. Muss wohl ne ganze Weile gelaufen sein, denn ihre Schuhe war’n völlig durchgelatscht. Aber keiner weiß, woher sie kam oder wohin sie wollte.«

Der Arzt beugte sich über den Leichnam und hob die linke Hand an. »Die alte Geschichte«, sagte er kopfschüttelnd, »kein Ehering. Also dann, gute Nacht!«

Der Herr Mediziner begab sich zum Essen, und die Pflegerin, die nochmals dem Inhalt der grünen Flasche zugesprochen hatte, setzte sich auf einen Hocker ans Feuer, um den Säugling zu wickeln.

Der kleine Oliver Twist bot das allerbeste Beispiel dafür, dass Kleider Leute machen! In die Decke gehüllt, die bis dahin sein einziges Kleidungsstück gewesen war, hätte er sowohl Kind eines Adligen als auch eines Bettlers sein können. Selbst ein Beobachter mit ausgeprägtem Standesbewusstsein hätte Schwierigkeiten gehabt, Olivers gesellschaftliche Stellung zu bestimmen. Aber jetzt, wo er in einen alten Kattunfetzen, der in langjährigem Gebrauch ergilbt war, gewickelt wurde, bekam er einen Stempel aufgedrückt und erhielt seinen Platz in der Gesellschaft zugewiesen: als Heimkind, als Waise aus dem Armenhaus, als halbverhungerter, kuschender Kuli, den man nach Belieben drangsalieren konnte – von allen verachtet, von niemandem bemitleidet.

Oliver schrie aus Leibeskräften. Hätte er gewusst, dass er eine Waise und der fragwürdigen Gnade von Kirchenvorständen und Amtsfürsorgern ausgeliefert war, vielleicht würde er dann noch lauter geschrien haben.

Zweites Kapitel

Wie Oliver Twist aufwuchs, erzogen und ernährt wurde.

In den nächsten acht oder zehn Monaten fiel Oliver einem planmäßigen Betrug und Verrat zum Opfer. Er wurde mit dem Fläschchen großgezogen. Die Verwaltung des Armenhauses meldete den ausgehungerten und beklagenswerten Zustand des verwaisten Säuglings pflichtschuldigst an die Verwaltung der Gemeinde. Die Gemeindeverwaltung erkundigte sich in aller Form bei der Armenhausverwaltung, ob es denn »im Hause« keine Frau gebe, die in der Lage sei, Oliver Twist mit der Nahrung und dem Trost zu versorgen, derer er bedürfe. Die Verwaltung des Armenhauses erwiderte geflissentlich, dass dem nicht so sei. Daraufhin fasste die Gemeindeverwaltung den hochherzigen und menschenfreundlichen Beschluss, Oliver »in Pflege« zu geben, das heißt, er kam in eine drei Meilen entfernt gelegene Zweigstelle des Armenhauses, wo zwanzig oder dreißig andere kleine Missetäter, die mit dem Armengesetz in Konflikt geraten waren, den ganzen Tag auf dem Boden umhertollten, ohne dabei von allzu viel Nahrung oder Kleidung behelligt zu werden. Sie standen unter der fürsorglichen Aufsicht einer älteren Dame, die die Übeltäter für siebeneinhalb Pence pro kleinem Kopf und Woche beherbergte. Siebeneinhalb Pence die Woche sind ein beachtlicher Betrag für den Unterhalt eines Kindes. Für siebeneinhalb Pence bekommt man eine Menge zu essen, jedenfalls genug, um einem Kind den Magen zu verderben, so dass es sich unwohl fühlt. Die ältere Dame war eine weise und erfahrene Frau. Sie wusste, was gut für die Kinder war, und sie besaß eine ganz genaue Vorstellung davon, was gut für sie selber war. Also verwendete sie den größeren Teil des Kostgeldes für den eigenen Bedarf und setzte die heranwachsenden Heimkinder auf noch schmalere Kost, als ursprünglich für sie vorgesehen war. Indem sie also zeigte, dass es auch für jene, die bereits ganz unten sind, noch weiter bergab gehen kann, erwies sie sich als große Expertin der angewandten Philosophie.

Wir alle kennen die Geschichte eines anderen Vertreters der angewandten Philosophie, der die kühne These vertrat, ein Pferd könne ohne Futter überleben. Zum Beweis setzte er sein Pferd auf immer strengere Diät, bis es schließlich tatsächlich nur noch einen Strohhalm pro Tag benötigte. Aus dem Tier würde auch ohne Frage bald ein kraftstrotzendes und feuriges Ross geworden sein, das keinerlei Nahrung mehr bedurfte, wäre es nicht just vierundzwanzig Stunden, bevor es seinen ersten leckeren Bissen Luft zu sich nehmen sollte, überraschend gestorben. Unglücklicherweise führte die angewandte Philosophie der Dame, in deren Obhut Oliver Twist überstellt worden war, zu ähnlichen Ergebnissen. Gerade in dem Augenblick, wenn ein Kind es fertigbrachte, von der kleinstmöglichen Portion der dürftigsten Nahrung zu leben, geschah es seltsamerweise in achteinhalb von zehn Fällen, dass es aufgrund des Mangels und der Kälte erkrankte, unbeaufsichtigt ins Feuer fiel oder durch eine Unachtsamkeit halb erstickte. In jedem dieser Fälle wurden die armen kleinen Wesen für gewöhnlich ins Jenseits abberufen, zu ihren Vätern, die sie im Diesseits nie gekannt hatten.

Wenn zuweilen eine genauere Untersuchung als gewöhnlich stattfand, weil ein Kind beim Aufschütteln des Betts übersehen oder an den Badetagen versehentlich zu Tode verbrüht worden war – obwohl dies nicht oft geschah, da die seltenen »Badetage« im Heim ihren Namen kaum verdienten –, dann kam es den Gerichten schon einmal in den Sinn, unbequeme Fragen zu stellen, oder aufsässige Gemeinderäte setzten ihre Unterschrift unter Beschwerdebriefe.

Aber derartigen Unverschämtheiten wurde schnell durch Zeugnis und Aussage von Amtsarzt und Büttel Einhalt geboten. Der eine hatte stets den Leichnam geöffnet und nichts gefunden (was ja auch zu erwarten gewesen war), und der andere sagte aus, was immer die Ratsleute hören wollten, was von großem Pflichtbewusstsein kündet. Außerdem statteten die Vorstände des Armenhauses dem Heim regelmäßig Besuche ab, wobei sie sich stets einen Tag zuvor vom Büttel ankündigen ließen. Wenn sie eintrafen, waren alle Kinder stets sauber und ordentlich anzusehen, was wollte man mehr!

Es stand nicht zu erwarten, dass in diesen Heimen eine blühende Kinderschar herangezogen wurde. An seinem neunten Geburtstag war Oliver Twist ein dünnes blasses Kind von etwas zu kleinem Wuchs und entschieden zu geringem Körperumfang. Aber Natur oder Vererbung hatten ihm einen unbeugsamen Geist in die Brust gepflanzt. Dieser konnte sich dank der spärlichen Kost des Heimes ungehindert ausbreiten, und vielleicht ist es gar ihm zuzuschreiben, dass Oliver seinen neunten Geburtstag überhaupt erlebte. Wie dem auch sei, es war jedenfalls sein neunter Geburtstag, und er beging ihn gerade im Kohlenkeller, in der erlesenen Gesellschaft zweier anderer junger Herren, die, nachdem sie alle drei eine gehörige Tracht Prügel bezogen hatten, darin eingesperrt worden waren, weil sie sich erdreistet hatten, hungrig zu sein, als Mrs. Mann, die ehrwürdige Leiterin des Heimes, von dem gänzlich unerwarteten Erscheinen Mr. Bumbles aufgeschreckt wurde, dem Büttel der Gemeinde, der sich vergeblich mühte, das Gartentor zu öffnen.

»Ach du meine Güte, Mr. Bumble, seid Ihr’s wirklich, Sir?«, rief Mrs. Mann, während sie mit gespielter Freude ihren Kopf zum Fenster hinausstreckte. »(Schnell, Susan, hol Oliver und die beiden andern Bengel aus’m Keller und schrubb sie ab!) Bei meiner Seel, Mr. Bumble, da freu ich mich aber, Euch zu sehen!«

Nun war Mr. Bumble ein beleibter Mensch von aufbrausendem Charakter, der, statt diese herzliche Begrüßung ebenso zu erwidern, am kleinen Gartenpförtchen rüttelte und ihm einen Tritt versetzte, wie es nur ein Büttel zu tun vermochte.

»Mein Gott, wie dumm«, sagte Mrs. Mann und eilte hinaus, denn inzwischen waren die drei Knaben aus ihrem Verlies befreit, »wie schrecklich dumm von mir! Wie konnt ich bloß vergessen, dass ich der lieben Kleinen wegen das Tor verriegelt habe! Kommt herein, Mr. Bumble, ich bitt Euch, Sir, tretet ein!«

Obwohl diese Einladung von einem Knicks begleitet wurde, der vielleicht das Herz eines Kirchenvorstands besänftigt haben mochte, ließ sich der Büttel davon keineswegs beschwichtigen.

»Mrs. Mann«, hob Mr. Bumble an und griff seinen Stock fester, »haltet Ihr es vielleicht für ein respektvolles und angemessenes Benehmen, Amtspersonen der Gemeinde am Gartentor warten zu lassen, wenn sie in Amtsgeschäften vorstellig werden, die die Waisenkinder der Gemeinde betreffen? Darf ich Euch daran erinnern, dass Ihr Angestellte und Kostgängerin der Gemeinde seid?«

»Gewiss doch, Mr. Bumble, ich wollte ja nur einigen der lieben Kleinen, die so an Euch hängen, Euer Kommen ankündigen«, entgegnete Mrs. Mann unterwürfig.

Mr. Bumble besaß eine hohe Meinung von seiner Beredsamkeit und der Würde seines Amtes. Die eine hatte er unter Beweis gestellt, die andere verteidigt, also war er’s zufrieden.

»Nun gut, Mrs. Mann«, antwortete er in milderem Ton, »sei es, wie Ihr’s sagt. Lasst uns hineingehen, denn ich bin in offizieller Angelegenheit hier und habe Euch etwas mitzuteilen.«

Mrs. Mann geleitete den Büttel in eine kleine Stube mit Steinfußboden, schob ihm einen Stuhl hin und plazierte Dreispitz und Stock sorgfältig vor ihm auf dem Tisch. Mr. Bumble wischte sich den Schweiß, den die körperliche Anstrengung hervorgerufen hatte, von der Stirn, betrachtete selbstgefällig den Dreispitz und lächelte. Ja, er lächelte. Auch Büttel sind Menschen, und Mr. Bumble lächelte.

»Ich möchte Euch ja nicht zu nahe treten«, bemerkte Mrs. Mann mit bezwingender Liebenswürdigkeit, »aber Ihr habt einen langen Fußmarsch hinter Euch, wisst Ihr, sonst würde ich es ja gar nicht erwähnen. Wie wär’s also mit einem kleinen Schlückchen zur Stärkung, Mr. Bumble?«

»Keinen Tropfen. Keinen einzigen Tropfen«, entgegnete Mr. Bumble und winkte mit der rechten Hand bestimmt, aber nicht unfreundlich ab.

»Es würde Euch aber guttun«, hakte Mrs. Mann nach, die den Tonfall der Weigerung und die begleitende Geste wohl bemerkt hatte. »Nur’n kleines Schlückchen, mit etwas kaltem Wasser und einem Stückchen Zucker.«

Mr. Bumble hüstelte.

»Nur’n kleines Schlückchen«, sagte Mrs. Mann einschmeichelnd.

»Was habt Ihr denn da?«, erkundigte sich der Büttel.

»Nun, wovon ich immer ein wenig im Hause haben muss, um es den lieben Kleinen in die Medizin zu mischen, wenn sie krank sind«, erwiderte Mrs. Mann, als sie ein Eckschränkchen öffnete, dem sie Flasche und Glas entnahm. »Es ist Gin, Mr. Bumble, ich sag’s Euch ganz ehrlich.«

»Ihr mischt den Kindern Gin in die Medizin, Mrs. Mann?«, fragte Bumble und verfolgte aufmerksam, wie Mrs. Mann den Trunk zubereitete.

»Ja, Gott segne sie, das tue ich, auch wenn’s mich teuer zu stehen kommt«, erwiderte die alte Pflegemutter. »Wisst Ihr, Sir, ich kann sie einfach nicht leiden sehen.«

»Nein«, pflichtete Mr. Bumble ihr bei, »das könnt Ihr nicht. Ihr seid eine herzensgute Frau, Mrs. Mann.«

Sie stellte ihm das Glas hin.

»Das werde ich bei nächster Gelegenheit auch dem Vorstand mitteilen, Mrs. Mann.«

Er zog das Glas näher zu sich heran.

»Ihr seid den Kindern eine wahre Mutter, Mrs. Mann.«

Er rührte um.

»Ich … ich trinke auf Euer Wohl, Mrs. Mann«, sagte er und trank das Glas in einem Zug zur Hälfte leer.

»Und jetzt zum geschäftlichen Teil«, fuhr der Büttel fort und holte ein ledernes Notizbuch hervor. »Der Knabe, der per Nottaufe den Namen Oliver Twist erhalten hat, wird heute neun Jahre alt.«

»Gott segne ihn!«, rief Mrs. Mann und rieb sich mit dem Schürzenzipfel das linke Auge rot.

»Und trotz einer Belohnung von zehn Pfund, die später auf zwanzig Pfund heraufgesetzt wurde, trotz der größten, ja, ich möchte sagen übermenschlichen Anstrengungen, die der Gemeinderat unternommen hat«, verkündete Bumble, »ist es uns weder gelungen, herauszufinden, wer sein Vater ist, noch wo seine Mutter herkam, wie sie hieß oder welchen Standes sie war.«

Mrs. Mann hob erstaunt ihre Hände, stutzte kurz und fragte nach: »Wie kommt es dann, dass er überhaupt einen Namen hat?«

Der Büttel warf sich voller Stolz in die Brust und erwiderte: »Den habe ich ihm gegeben.«

»Ihr, Mr. Bumble!«

»Ich, Mrs. Mann. Wir benennen unsere Findelkinder in alphabetischer Reihenfolge. Der letzte war ein S – den habe ich Swubble genannt. Dieser war ein T – ihn habe ich Twist genannt. Der nächste wird ein Unwin sein, und der danach ein Vilkins. Ich habe schon bis zum Ende des Alphabets Namen parat, und wenn wir bei Z angelangt sind, geht’s wieder von vorn los.«

»Na so was, Ihr seid ja gar ein Dichter, Sir!«, rief Mrs. Mann.

»Na ja«, meinte der Büttel, der das Kompliment mit offensichtlicher Genugtuung zur Kenntnis nahm, »kann schon sein, dass ich einer bin, Mrs. Mann.« Er trank sein Glas leer und fuhr fort: »Oliver ist jetzt zu alt, um weiter hierzubleiben, der Vorstand hat entschieden, ihn wieder ins Armenhaus zu holen. Ich bin höchstpersönlich gekommen, um ihn mitzunehmen, also lasst mich ihn gleich sehen.«

»Ich werde ihn sofort herbeischaffen«, entgegnete Mrs. Mann und verließ zu diesem Zwecke das Zimmer. Oliver, dem man inzwischen so viel von der Dreckkruste, die ihm Gesicht und Hände überzog, entfernt hatte, wie man mit einmaligem Waschen abzuschrubben vermochte, wurde von seiner wohlwollenden Beschützerin hereingeführt.

»Mach einen Diener vor dem Herrn, Oliver«, sagte Mrs. Mann.

Oliver machte einen Diener, der gleichermaßen dem Büttel auf dem Stuhl wie dem Dreispitz auf dem Tisch galt.

»Willst du mit mir kommen, Oliver?«, fragte Mr. Bumble in hoheitsvollem Ton.

Oliver wollte gerade sagen, dass er nur zu gerne bereit sei, wegzugehen, mit wem auch immer, als er aufschaute und sein Blick auf Mrs. Mann fiel, die hinter den Stuhl des Büttels getreten war und ihm mit wütender Miene mit der Faust drohte. Er verstand den Wink sofort, denn diese Faust hatte zu oft Spuren auf seinem Leib hinterlassen, um nicht auch welche in seinem Gedächtnis hinterlassen zu haben.

»Wird sie mitkommen?«, erkundigte sich der arme Oliver.

»Nein, das geht nicht«, antwortete Mr. Bumble. »Aber sie wird dich hin und wieder besuchen.«

Das war dem Knaben kein sonderlicher Trost. Trotz seines jungen Alters war er verständig genug, großes Bedauern zu heucheln, fortgehen zu müssen. Es fiel dem Jungen nicht schwer, die Tränen fließen zu lassen. Hunger und jüngst erlittene Misshandlungen sind ausgesprochen hilfreich, wenn man weinen will, und so kamen Oliver von ganz allein die Tränen. Mrs. Mann umarmte ihn tausendmal und gab ihm, was Oliver weitaus mehr zu schätzen wusste, ein Stück Brot mit Butter, damit er nicht gar so hungrig aussähe, wenn er ins Armenhaus kam. Mit der Scheibe Brot in der Hand und der kleinen Armenhäuslermütze aus grobem Tuch auf dem Kopf wurde Oliver von Mr. Bumble fortgeführt, aus seinem erbärmlichen Zuhause, wo weder ein liebes Wort noch ein freundlicher Blick die Düsternis seiner frühen Kindheit erhellt hatten. Und doch überkam ihn, als die Tür des Heimes hinter ihm ins Schloss fiel, der Schmerz kindlicher Verzweiflung. So armselig seine kleinen Gefährten, die er zurückließ, in ihrem Elend auch sein mochten, so waren sie doch die einzigen Freunde, die er je gekannt hatte, und zum ersten Mal machte sich im Herzen des Kindes das Gefühl breit, ganz allein in der großen weiten Welt zu sein.

Mr. Bumble holte mit weiten Schritten aus, der kleine Oliver trabte, sich am goldbetressten Ärmel des Büttels festklammernd, neben ihm her und erkundigte sich alle Viertelmeile, ob sie schon »bald dort« seien. Auf diese Fragen gab Mr. Bumble nur kurz und barsch Antwort, denn die vorübergehende Milde, die der Gin in mancher Brust weckt, hatte sich inzwischen verflüchtigt, und er war wieder ganz Büttel.

Oliver befand sich noch keine Viertelstunde innerhalb der Mauern des Armenhauses und hatte kaum eine zweite Scheibe Brot vertilgt, als Mr. Bumble, der ihn der Obhut einer alten Frau übergeben hatte, zurückkehrte und ihm mitteilte, dass gerade eine abendliche Sitzung stattfinde und der Vorstand bestimmt habe, er solle unverzüglich vor selbigem erscheinen.

Da er keine rechte Vorstellung davon besaß, was eine Vorstandssitzung wohl sein könne, war Oliver über diese Nachricht nicht wenig erstaunt und wusste nicht, ob er lachen oder weinen sollte. Er fand auch keine Gelegenheit, darüber nachzusinnen, denn Mr. Bumble versetzte ihm mit seinem Stock einen Schlag auf den Schädel, um ihn aufzuwecken, einen weiteren in den Rücken, um ihn anzutreiben, und befahl ihm, mitzukommen. Der Büttel führte ihn in ein großes, weiß getünchtes Zimmer, in dem acht oder zehn wohlbeleibte Herrn an einem Tisch saßen. Am Kopfende des Tisches thronte in einem Lehnstuhl, noch größer als die anderen, ein besonders feister Herr mit einem kugelrunden, roten Gesicht.

»Verbeuge dich vor dem Hohen Hause«, sagte Bumble. Oliver wischte ein oder zwei Tränen fort, die ihm in die Augen getreten waren, und da er kein hohes Haus sah, sondern bloß einen großen Tisch, verbeugte er sich auf gut Glück vor diesem.

»Wie heißt du, Junge?«, fragte der Herr in dem Lehnstuhl.

Oliver war vom Anblick so vieler Herren eingeschüchtert, weshalb er zu zittern begann, und der Büttel stieß ihm erneut in den Rücken, weshalb er zu weinen anfing. Wegen beidem konnte er nur sehr leise und stockend antworten, woraufhin ein Herr in weißer Weste ihn einen Dummkopf nannte. Das war natürlich bestens geeignet, Oliver Mut zu machen und ihm seine Befangenheit zu nehmen.

»Junge«, sagte der Herr auf dem großen Stuhl, »hör mir zu. Du weißt, dass du eine Waise bist, nehme ich an?«

»Was ist das, Sir?«, fragte der arme Oliver.

»Der Junge ist wirklich ein Dummkopf … ich hab’s doch gleich gewusst«, bemerkte der Herr in der weißen Weste.

»Ruhe!«, rief der Herr, der zuerst gesprochen hatte. »Du weißt, dass du weder Vater noch Mutter hast und von der Gemeinde großgezogen wurdest, nicht wahr?«

»Ja, Sir«, erwiderte Oliver und weinte bitterlich.

»Warum weinst du?«, erkundigte sich der Herr in der weißen Weste. Und es war ja auch wirklich merkwürdig. Was sollte der Junge für einen Grund haben, zu weinen?

»Ich hoffe, du sprichst jeden Abend dein Gebet«, warf ein anderer Herr mit schroffer Stimme ein, »und bittest für die Menschen, die dir zu essen geben und für dich sorgen … wie ein guter Christ.«

»Jawohl, Sir«, stammelte der Junge. Der Herr mit der schroffen Stimme hatte, ohne es zu wissen, ins Schwarze getroffen. Oliver wäre in der Tat ein guter, ja sogar ein vorbildlicher Christ gewesen, hätte er für die Menschen gebetet, die ihn ernährten und für ihn sorgten. Er tat es aber nicht, weil es ihm niemand beigebracht hatte.

»Gut! Du bist hier, damit du erzogen wirst und ein nützliches Handwerk erlernst«, sagte der rotgesichtige Herr in dem hohen Lehnstuhl.

»Also wirst du morgen früh um sechs Uhr damit beginnen, Werg zu zupfen«, fügte der bärbeißige Herr in der weißen Weste hinzu.

Für diesen zwiefachen Segen, der in der einfachen Tätigkeit des Wergzupfens lag, verbeugte sich Oliver auf Geheiß des Büttels und wurde dann in einen großen Saal getrieben, wo er sich auf einem harten und rauhen Lager in den Schlaf schluchzte. Welch schönes Bild der fürsorglichen Gesetze Englands! Sie lassen ihre Armenhäusler schlafen gehen!

Armer Oliver! Wie er so dalag, im glückseligen Schlummer alles um sich herum vergessend, dachte er nicht im geringsten daran, dass die Vorstände am selbigen Tag einen Beschluss gefasst hatten, der sein künftiges Geschick entscheidend beeinflussen sollte. Aber das hatten sie. Und zwar wie folgt:

Die Mitglieder dieses Vorstands waren äußerst verständige, scharfsinnige und lebenskluge Männer, und als sie ihre Aufmerksamkeit auf das Armenhaus richteten, fiel ihnen sofort auf, was gewöhnliche Leute niemals entdeckt hätten: Den Armen gefiel es dort! Für das niedere Volk war es geradezu eine öffentliche Vergnügungsstätte, ein Wirtshaus, wo man nicht zu zahlen brauchte, gratis Frühstück, Mittagstisch, Teetafel und Abendbrot, das ganze Jahr hindurch, ein steingewordenes Elysium, wo man sich nur verlustierte und nicht zu arbeiten brauchte. »Oho!«, sagten die Vorstände und machten ein schlaues Gesicht. »Wir sind die Richtigen, um diese Dinge in Ordnung zu bringen, wir setzen dem im Handumdrehen ein Ende.« Also stellten sie per Verordnung alle Armen vor die Wahl (sie wollten ja niemanden zwingen, sie nicht), langsam und allmählich im Armenhaus zu verhungern oder ganz schnell außerhalb desselben. Zu diesem Zwecke schlossen sie mit den Wasserwerken einen Vertrag über die unbegrenzte Versorgung mit Wasser und mit einem Getreidehändler über die regelmäßige Lieferung kleinerer Mengen Hafermehls und gaben täglich drei Mahlzeiten dünnen Haferschleims aus, dazu zweimal die Woche eine Zwiebel und sonntags ein halbes Brötchen. Sie erließen noch weitere weise und menschenfreundliche Verordnungen, welche die Damen betrafen und hier nicht wiederholt zu werden brauchen, übernahmen es – angesichts der hohen Kosten eines Verfahrens im Gerichtshof Doctors’ Commons – freundlicherweise, arme Eheleute zu scheiden, und statt einen Mann dazu zu zwingen, für seine Familie zu sorgen, wie sie es bisher gehalten hatten, nahmen sie ihm die Seinen fort und machten ihn zum Junggesellen!

Man weiß nicht, wie viele Bittsteller aus allen Schichten der Gesellschaft in den letzten beiden Angelegenheiten um Unterstützung vorstellig geworden wären, hätte man diese nicht mit dem Armenhaus verknüpft. Die Vorstände waren jedoch Männer von Weitblick und hatten gegen diese Gefahr Vorkehrungen getroffen. Die fragliche Unterstützung war nicht ohne Armenhaus und Haferschleim zu haben, und das schreckte die Leute ab.

In den ersten sechs Monaten nach Olivers Umquartierung traten die neuen Verordnungen in Kraft. Anfangs war es recht kostspielig, weil die Ausgaben für die Leichenbestatter anstiegen und die Kleidung der Armenhäusler enger gemacht werden musste, da sie ihnen nach ein oder zwei Wochen Haferschleim um die abgezehrten, ausgemergelten Leiber schlotterte. Doch die Zahl der Armenhäusler nahm bald ebenso schnell ab wie sie selbst, so dass der Vorstand vollauf zufrieden sein konnte.

Der Saal, in dem die Jungen aßen, war ein großer Raum mit Steinfußboden, an dessen einem Ende ein kupferner Kessel stand, aus dem der Koch, zu diesem Zwecke mit einer Schürze bekleidet, zur Essenszeit mit einer Kelle den Haferschleim schöpfte, wobei ihm ein oder zwei Frauen zur Hand gingen. Von diesem Festtagsschmaus erhielt jeder Junge einen Napf voll, nicht mehr – außer an hohen Feiertagen, wenn es zusätzlich noch ein achtel Pfund Brot gab. Die Näpfe brauchten nie gesäubert zu werden, da die Jungen sie mit ihren Löffeln so blank polierten, dass sie glänzten. Hatten sie diese Tätigkeit beendet – was nie sehr lange dauerte, weil die Löffel fast so groß waren wie die Näpfe –, saßen sie da und starrten den Kessel an, mit so gierigen Augen, als wollten sie die Ziegelsteine, mit denen er eingefasst war, verschlingen, begnügten sich aber einstweilen damit, eifrig ihre Finger abzulecken, in der Hoffnung, ein paar Spritzer Haferschleim zu erwischen, die dort hängen geblieben sein mochten.

Jungen haben im allgemeinen einen gesunden Appetit. Oliver Twist und seine Gefährten ertrugen drei Monate lang die Qualen eines langsamen Hungertods, bis sie schließlich vor Hunger so toll und gierig wurden, dass ein Junge, der für sein Alter recht groß und an derlei nicht gewöhnt war (da sein Vater eine kleine Garküche betrieben hatte), sich gegenüber seinen Gefährten in düsteren Andeutungen erging: Wenn er nicht per diem einen weiteren Napf Haferschleim bekäme, dann fürchte er, eines Nachts noch den kleinen Jungen, der neben ihm schlief und zufällig ein schwächlicher Knabe zarten Alters war, zu verspeisen. In seinem Blick lag etwas derart Wildes und Hungriges, dass sie ihm ohne weiteres Glauben schenkten. Es wurde also beratschlagt und ausgelost, wer an diesem Abend nach dem Essen zum Koch gehen und Nachschlag verlangen sollte. Das Los fiel auf Oliver Twist.

Der Abend kam, und die Jungen nahmen ihre Plätze ein. Der Koch stellte sich in seiner Schürze an den Kessel, die Küchenhilfen aus dem Armenhaus gleich hinter ihm, der Haferschleim wurde ausgeteilt und vor der kurzen Mahlzeit ein langes Tischgebet gesprochen. Der Haferschleim verschwand, die Jungen tuschelten und gaben Oliver Zeichen, während seine Sitznachbarn ihn heimlich anstießen. Obwohl nur ein Kind, machten ihn der Hunger verzweifelt und die Not verwegen. Er stand vom Tisch auf, ging, Löffel und Napf in der Hand, zum Koch und sagte ein wenig erschrocken über seine eigene Kühnheit:

»Bitte, Sir, ich möchte noch mehr.«

Der Koch, ein rotwangiger, wohlgenährter Mann, wurde ganz bleich. Einige Sekunden glotzte er den kleinen Aufrührer bestürzt und verblüfft an, dann klammerte er sich haltsuchend am Kessel fest. Die Küchenhilfen waren starr vor Staunen, die Jungen vor Angst.

»Was?«, fragte der Koch schließlich mit schwacher Stimme.

»Bitte, Sir«, wiederholte Oliver, »ich möchte noch mehr.«

Der Koch schlug mit der Schöpfkelle nach Olivers Kopf, packte sich den Jungen und schrie laut nach dem Büttel.

Der Vorstand tagte gerade in streng vertraulicher Sitzung, als Mr. Bumble in heller Aufregung in den Saal stürmte und an den Herrn im hohen Stuhl gewandt sagte:

»Mr. Limbkins, ich bitte um Verzeihung, Sir! Oliver Twist hat mehr verlangt!«

Bestürzung machte sich breit. Auf allen Gesichtern zeichnete sich Entsetzen ab.

»Mehr verlangt!«, rief Mr. Limbkins. »Reißt Euch zusammen, Bumble, und antwortet geradheraus. Verstehe ich recht, dass er mehr verlangte, nachdem er die ihm zum Abendessen zustehende Ration verspeist hat?«

»Das hat er, Sir!«, erwiderte Bumble.

»Dieser Junge wird noch mal am Galgen enden«, sagte der Herr in der weißen Weste. »Denkt an meine Worte, der wird noch mal am Galgen enden.«

Niemand widersprach dieser prophetischen Aussage des Herrn. Es entspann sich eine lebhafte Diskussion. Oliver kam unverzüglich in Arrest, und am nächsten Tag wurde außen am Tor eine Bekanntmachung angebracht, die jedermann, der Oliver Twist der Gemeinde abnähme, eine Belohnung von fünf Pfund versprach. Mit anderen Worten, jedem, ob Mann oder Frau, der für welches Handwerk, Gewerbe oder Geschäft auch immer einen Lehrjungen brauchte, wurden Oliver Twist und obendrein fünf Pfund angeboten.

»Noch nie in meinem Leben war ich von etwas so überzeugt gewesen«, sagte der Herr in der weißen Weste, als er am nächsten Tag ans Tor klopfte und die Bekanntmachung las, »noch nie im Leben war ich von etwas so überzeugt gewesen, wie davon, dass dieser Junge am Galgen enden wird.«

Da ich im Laufe des Buches noch darlegen werde, ob der Herr in der weißen Weste recht behält oder nicht, würde ich bloß das Interesse an dieser Erzählung (so sie denn auf selbiges stößt) schmälern, wenn ich mich bereits jetzt in Andeutungen erginge, ob das Leben des Oliver Twist tatsächlich ein solch gewaltsames Ende nimmt.